Der ledige Erwachsene

6.3.1 Der ledige Erwachsene


Die heute gültige Moral bindet Geschlechtsverkehr an die Ehe; daher stehen junge Männer und Frauen unter einem enormen moralischen und sozialen Druck, sich zu verheiraten. Tatsächlich heiraten heute mehr Menschen als je zuvor, und dies trotz der Tatsache, dass viele dieser Ehen mit Scheidung enden. Die betroffenen Männer und Frauen ziehen aus der Scheidung in der Regel aber nicht die Schlussfolgerung, dass mit der Institution der Ehe irgend etwas nicht stimmt oder dass sie persönlich dafür nicht geeignet sind. Im Gegenteil, die meisten von ihnen glauben, dass sie nur mit einem geeigneten Ehepartner bleibendes Glück finden können. Deshalb gibt es Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens vier-, fünf- oder sechsmal verheiraten und wieder scheiden lassen. So herrscht in unserer Gesellschaft nach wie vor die unerschütterliche Überzeugung, dass jeder heiraten sollte und dass man nur in der Ehe die vollkommene sexuelle Erfüllung finden kann.


Diese Überzeugung ist allerdings eher neueren Datums. Selbst bis weit in das 19. Jahrhundert hinein nahm man als selbstverständlich hin, dass bestimmte Leute für die Ehe nicht geschaffen waren. Menschen, die für ihren eigenen Lebensunterhalt nicht aufkommen konnten, durften oft von Gesetzes wegen nicht heiraten. Andere, denen kein Gesetz im Wege stand, hatten dennoch keine Möglichkeit, passende Partner zu finden: So bestanden viele Eltern darauf, dass zumindest eine Tochter im Hause bleiben müsse, damit sie im Alter versorgt waren. Bis die Eltern dann starben, war diese Tochter eine „alte Jungfer", die nicht mehr hoffen konnte, einen Ehemann zu finden.


Es wäre aber falsch zu glauben, dass diese „alten Jungfern" oder „ewigen Junggesellen" der Vergangenheit immer mit ihrem Schicksal unzufrieden waren. Zum einen wurde ganz allgemein die Ehe nicht so sehr im heutigen romantischen Licht gesehen. Darüber hinaus waren alleinstehenden Erwachsenen die Freuden und Vorteile des Familienlebens nicht unbedingt verwehrt. Die traditionelle Großfamilie bestand aus Kindern, Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und verschiedenen näheren oder entfernteren Verwandten einschließlich der Hausangestellten. In einem solchen Haushalt war dann auch Raum für unverheiratete Männer und Frauen. (Weitere Einzelheiten über die Großfamilie finden sich in Kap. 11 „Ehe und Familie".)


Heute leben die meisten unverheirateten Erwachsenen allein. Obwohl dies sicher gelegentlich deprimierend sein kann, hat es auch seine Vorteile. Alleine zu leben ist vor allem in unseren großen Städten unter Umständen erstrebenswert. Es gibt besondere Apartmenthäuser, Altenheime und Wohnanlagen, die speziell auf Alleinstehende zugeschnitten sind. Auch die Städte selbst mit ihren Büchereien, Museen, Theatern, Klubs, Sporteinrichtungen, Schwimmbädern, Restaurants, Cafés usw. bieten viele Annehmlichkeiten, die vermutlich nur ein Alleinstehender wirklich nutzen kann. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Anonymität des Stadtlebens zu relativ großer sexueller Freiheit führt. Unverheiratete Männer und Frauen treffen sich in verschiede-


nen Gruppeneinrichtungen, auf Partys, in besonderen Bars für Ledige oder sie lernen sich durch Inserate kennen. Sie können für längere oder kürzere Zeit zusammenleben, sich dann wieder trennen und ohne allzu große Schwierigkeiten neue Partner kennenlernen. All das trifft für Unverheiratete, Verwitwete oder Geschiedene zu, für Junge und Alte, für Heterosexuelle und Homosexuelle. Es scheint deshalb, dass ein moderner Alleinstehender - zumindest in sexueller Hinsicht - in einer ausgesprochen günstigen Situation lebt.


In vielen Fällen trügt dieser Eindruck jedoch. Die unverheirateten Erwachsenen, die am Rande der Städte, in Kleinstädten oder auf dem Lande wohnen, sind oft in ihren sexuellen Möglichkeiten sehr eingeschränkt, besonders im mittleren Alter. Selbst in Großstädten geraten ältere Männer und Frauen häufig in Schwierigkeiten, wenn sie sich offen gegen die sexuellen Normen ihrer Nachbarn stellen. Manchmal hat ein Paar dennoch gar nicht die Möglichkeit zu heiraten, weil dadurch eine Pension oder andere finanzielle Ansprüche verlorengehen würden. Aus diesem Grunde leben heute viele ältere Paare zusammen, ohne verheiratet zu sein. Als Alleinstehende müssen sie dann jedoch eine Reihe von Benachteiligungen hinnehmen. Sie bezahlen meist höhere Steuern, und es ist für sie häufig schwieriger, eine berufliche Beschäftigung zu finden. Diese berufliche Diskriminierung wird unter Umständen noch wesentlich offener und unverblümter, wenn ein Bewerber homosexuell ist. Alleinstehenden drohen darüber hinaus in den meisten Staaten der USA, aber auch in anderen Ländern, infolge einer antiquierten Sexualgesetzgebung strafrechtliche Konsequenzen, wenn sie sich sexuell betätigen. Dies gilt besonders für Homosexuelle, in manchen Staaten aber auch für Heterosexuelle. Man sollte sich auch daran erinnern, dass viele Menschen unverheiratet bleiben, weil sie wenig attraktiv, behindert oder chronisch krank sind. Wieder andere leiden unter sexuellen Funktionsstörungen, oder sie haben ungewöhnliche sexuelle Interessen, die sie als Ehepartner wenig geeignet erscheinen lassen. Solche Erwachsenen haben unter Umständen ein sehr unglückliches Leben. Einige von ihnen finden vielleicht bei Prostituierten zumindest ein gewisses Maß an Befriedigung, aber auch das versuchen die Gesetzgeber oder die Polizei in manchen Ländern zu verhindern.


Zumindest in den Vereinigten Staaten kann man die alleinstehenden Erwachsenen heute als unterprivilegierte Gruppe betrachten. Man begegnet ihnen eher mit Misstrauen und Ablehnung, denn in der amerikanischen Gesellschaft (und in vielen westeuropäischen Ländern) genießen nur der „Familienvater" und die „Ehefrau und Mutter" das volle Ansehen des „verantwortungsbewussten" Bürgers. So bleibt ein sozialer Druck zur Eheschließung bestehen. Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis die Menschen begreifen, dass dieser Druck nicht unbedingt im Interesse der Allgemeinheit ist. Mancher Mensch kann in der Ehe einfach nicht glücklich werden, wieder andere sind als Eltern ganz und gar ungeeignet. In einer sexuell weniger konformistischen Kultur fühlten sie sich vielleicht weniger verpflichtet, Kinder zu bekommen. Da die Welt heute von Überbevölkerung bedroht ist, muss eine Reihe von Ländern vielleicht dazu übergehen, den staatlichen Schutz der Ehe zurückzunehmen (oder zumindest das Heiraten in jungen Jahren zu erschweren) oder Bürger zu belohnen, die unverheiratet bleiben.


Dank moderner Verhütungsmethoden ist es möglich geworden, dass Männer und Frauen Geschlechtsverkehr haben können, ohne unerwünschte Schwangerschaften befürchten zu müssen. Daher gibt es keinen vernünftigen Grund mehr, warum ein alleinstehender Erwachsener sexuell abstinent leben sollte. (Weitere Gesichtspunkte zu den Problemen Alleinstehender finden sich in Kap. 9 „Die sozialen Rollen von Mann und Frau".)

 

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