Die sexuelle Reaktion beim weiblichen Geschlecht

3.2 Die sexuelle Reaktion beim weiblichen Geschlecht


Alle gesunden Frauen und Männer reagieren in irgendeiner Form auf sexuelle Reize. Diese Reaktion ist bei verschiedenen Individuen immer unterschiedlich, es besteht jedoch, unabhängig vom Geschlecht, ein einheitliches physiologisches Grundmuster.


Sexuelle Aktivität führt im Körper zu einer Reihe von Veränderungen, zum Beispiel zu Muskelanspannungen, zum Anschwellen bestimmter Organe, zur Steigerung von Blutdruck und Pulsfrequenz und weiteren Zeichen steigender Erregung, bis eine lustvolle, krampf- oder zuckungsähnliche Reaktion, der Orgasmus, Befriedigung und Entspannung bringt. Die Menschen waren sich natürlich dieser körperlichen Veränderungen immer bewußt, aber ihre wahre Natur und ihr Ausmaß waren lange Zeit unbekannt, bis erst in jüngerer Zeit Wissenschaftler die sexuelle Reaktion des Menschen im Labor zu beobachten und zu messen begannen. Hier sind die Pionierarbeiten von Kinsey, Masters und Johnson besonders wichtig.


Man kann nicht genug betonen, wie wichtig diese Forschung gerade für


Frauen ist. In unserer westlichen Kultur hatten Frauen lange an gesellschaftlichen Einstellungen zu leiden, die es ihnen unmöglich machten, ihre volle Sexualität zu entdecken und auszuleben. Man nahm allgemein an, Männer seien von einem kraftvollen „Sexualtrieb" besessen, der nach Befriedigung verlange. Frauen dagegen seien intensiver sexueller Empfindungen nicht fähig. Ihre einzige anerkannte biologische Funktion war es, Kinder zu gebären. Deshalb wurden Männern meist erhebliche sexuelle Freiheiten eingeräumt, während man Frauen von jeder sexuellen Erfahrung abhielt, die nicht der Fortpflanzung diente. Männer wurden dazu ermuntert, ihren sexuellen Interessen nachzugehen; Frauen wurde eingeredet, sexuelle Lust sei unschicklich oder erniedrigend. (Vgl. a. Kap. 9 „Die sozialen Rollen von Mann und Frau".)


Diese doppelte Moral hatte verhängnisvolle Auswirkungen nicht nur für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft, sondern auch für das körperliche Wohlbefinden der einzelnen Frauen. So haben Frauen oftmals Schwierigkeiten, ihre sexuelle Reaktionsfähigkeit zu entwickeln, und viele Frauen erfahren während ihres ganzen Lebens nicht, welche sexuellen Fähigkeiten sie eigentlich haben. Fast alle Männer kommen nach ausreichender sexueller Reizung problemlos zum Orgasmus, während es viele Frauen gibt, die verzweifelt und vergeblich versuchen, dieses Ziel zu erreichen. Manche Frauen erleben ihren ersten Orgasmus erst nach vielen Jahren des Geschlechtsverkehrs .


Abgesehen von seltenen Fällen körperlicher Behinderung oder Krankheit, liegen die Ursachen für diese merkwürdigen und oft überflüssigen Schwierigkeiten eindeutig in der Art und Weise, in der Frauen in unserer Gesellschaft erzogen werden. Diese Gesellschaft zwingt Mädchen in ihren Entwicklungsjahren, sexuelle Wünsche nicht einmal sich selbst einzugestehen, um Anforderungen wie „Anstand", „Sittsamkeit" und „Ehrbarkeit" zu genügen. Man gestattet ihnen, in romantischen, symbolischen Phantasien zu schwelgen, hindert sie aber gleichzeitig daran, die Sinnlichkeit zu entwickeln, die allein solche vagen Sehnsüchte in praktische Erfahrung verwandeln könnte. Es entstehen daraus Hemmungen, die so gravierend sein können, daß jede normale sexuelle Reaktion unmöglich wird. (Vgl, a. Kap. 8.2 „Sexuelle Funktionsstörungen".)


Jahrhundertelang wurde dieser beklagenswerte Zustand als „normal" hingenommen. Die sexuelle Befriedigung und damit Befreiung der Frau schien ein unerreichbares, aber auch wenig erstrebenswertes Ziel. Wer die doppelte Moral in Frage stellte, sah sich dogmatisch belehrt, daß die Ungleichheit der Geschlechter gottgegeben sei, oder es wurde vom „Geheimnis des Ewig-Weiblichen" und vom „Mysterium Frau" gefaselt. Allerdings ist es in den letzten 50 Jahren zu einer gewissen Emanzipation der Frau gekommen. Zu einem Teil ist dies wohl auch Ergebnis der Sexualforschung. Unwiderlegbare Fakten haben bewiesen, daß das sexuelle Vermögen der Frauen dem des Mannes zumindest gleichkommt, ihm in mancher Hinsicht sogar überlegen ist. Es ist auch erwiesen, daß die sexuelle Reaktion bei beiden Geschlechtern im wesentlichen nach dem gleichen Grundmuster verläuft. In einer vorurteilsfreien Welt hätten diese Entdeckungen wohl kaum Aufsehen erregt, denn sie bestätigen ja nur, was seit langem hätte klar sein sollen: daß die meisten Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht angeboren, sondern anerzogen sind, daß besonders das Sexualverhalten erheblichen sozial bedingten Einflüssen unterliegt.


Heute wissen wir, daß Frauen und Männer für die gleichen sexuellen Reize empfänglich sind. Berühren, Sehen, Riechen und Schmecken spielen eine erhebliche Rolle für die sexuelle Erregbarkeit aller Menschen. Frauen und Männer haben vergleichbare Zonen besonderer körperlicher Sensibilität, und sie können die gleichen erogenen Zonen entwickeln. Diese Aspekte wurden oben bereits besprochen, deshalb soll dies hier nicht weiter ausgeführt werden (vel Kap. 2.2 „Die sexuelle Reaktion beim männlichen Geschlecht").


Die folgende Zusammenfassung der sexuellen Reaktion beim weiblichen Geschlecht soll keine Norm oder Idealform sexuellen Verhaltens darstellen. Es ist lediglich beabsichtigt, einige grundlegende Kenntnisse über körperliche Vorgänge zu vermitteln, die mit sexueller Aktivität verbunden sind. Individuelle Unterschiede sind aber in jedem Fall zu erwarten. Die grundlegenden Reaktionen einer Frau sind allerdings ein Leben lang dieselben, unabhängig davon ob sie durch Masturbation oder die verschiedenen Arten des Geschlechtsverkehrs hervorgerufen werden (vgl. a. Kap. 7 „Formen des Sexualverhaltens"). Wenn diese Erfahrungen auch psychisch ganz unterschiedlich erlebt werden mögen, bleiben die Reaktionen des Körpers die gleichen.


 

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