Sexualwissenschaft: Neuere Entwicklungen

Sexualwissenschaft: Neuere Entwicklungen


Die Sexualwissenschaft wurde, nach ihrer zeitweiligen Zerstörung durch den Faschismus in Europa, zunächst besonders in den Vereinigten Staaten wiederbelebt. Wichtig waren hier vor allem die Arbeiten von Kinsey, Masters und Johnson (s. auch S. 516-518). Kinsey brachte außerdem eine bedeutende Sammlung von ursprünglich deutschem Material zusammen, das die Entwicklung und den Umfang der Sexualforschung vor 1933 sehr weitgehend dokumentiert. Sein früher Tod und der Mangel an deutschsprachigen Sexualwissenschaftlern am Ort verhinderten jedoch zunächst die Auswertung.


So ist die Geschichte der ursprünglich in Deutschland entstandenen Sexualwissenschaft bisher ungeschrieben. Die fehlende Verankerung in der eigenen, nun weithin vergessenen Tradition behindert aber bis heute den gesunden Fortschritt der Sexualwissenschaft, die, theoretisch ungeortet und weitgehend missverstanden, immer noch keine feste Heimstatt im akademischen Alltagsbetrieb gefunden hat. Man begreift zwar, dass die Sexualität eine biologische und eine sozial-historische Seite hat und dass Sexualforschung daher sowohl naturwissenschaftliche als auch geisteswissenschaftliche Aufgaben erfüllen muss. Das Weitere aber bleibt unklar, und dieser Zustand kann sich nicht wirklich ändern, solange die Geschichte und historische Logik dieser Forschung selbst nicht aufgearbeitet sind. Dies bleibt daher das vordringlichste Ziel für die Zukunft.


Ohne die frühere Theoriediskussion wirklich zu kennen, erhob Kinsey allerdings von sich aus die gleiche Forderung, die auch stets von den deutschen Pionieren Bloch, Moll, Hirschfeld und Max Marcuse aufgestellt worden war (vgl. S. 513-515). Es war dies die Forderung nach einem interdisziplinären Vorgehen. So schrieb er im Vorwort zu seinem ersten „Report":


„Während der neun Jahre der laufenden Untersuchung waren viele Stunden der Beratung mit Spezialisten, die nicht unserem Arbeitsstab angehören, gewidmet, besonders mit Wissenschaftlern aus folgenden Gebieten:


Anatomie, Anstaltsverwaltung, Anthropologie, Astronomie (statistische), Biologie, Eheberatung, Endokrinologie, Entwicklungsgeschichte, Frauenheilkunde, Fürsorge, Geburtshilfe, Geschlechtskrankheiten, öffentliche Gesundheitspflege, Kindliche Entwicklungslehre, Medizin (verschiedene Zweige), Meinungsbefragung, Militärwesen, Neurologie, Allgemeine Physiologie, Menschliche Physiologie, Polizeiwissenschaft, Psychiatrie, Psychoanalyse, Allgemeine Psychologie, experimentelle Psychologie, Klinische Psychologie, Sexualerziehung, Soziologie, Statistik, Strafrecht, Strafvollzug, Tierisches Verhalten, Urologie."


Kinsey erklärte außerdem, dass er nicht erwarte, zukünftige Sexualforscher würden sich auf diese vorläufige Liste beschränken. Er bot daher eine grobe Skizze für eine sexualwissenschaftliche Bibliothek an, die seiner Ansicht nach mindestens die folgenden Gebiete umfassen müsste:


„Biologie, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Medizin, Eheberatung, Kindliche Entwicklung, Personalführung, Meinungsforschung, Radiosendungen, Philosophie, Ethik, Religion, Pädagogik, Geschichte, Recht, Polizei, Literatur, Kunst und Erotika."


Wie man sieht, reichten Kinseys Interessen sehr weit und tatsächlich legte er selbst den Grundstock für eine solche Bibliothek, die nach seinem Tod von seinen Nachfolgern weiter ausgebaut wurde. Sie ist heute als Teil des Kinsey Institute die umfangreichste sexualwissenschaftliche Spezialbibliothek der Welt.


Außer dem Kinsey Institute, das auch weiterhin auf verschiedenen Gebieten Sexualforschung betreibt, gibt es inzwischen auch das Masters-and-Johnson-Institute in St. Louis, das qualifizierte Bewerber mit entsprechender Vorbildung zu Sexualtherapeuten ausbildet. Schließlich besteht in San Francisco eine private sexualwissenschaftliche Hochschule, das Institute for Advanced Study of Human Sexuality, das staatlich anerkannte akademische Grade speziell für Sexualwissenschaft verleiht. Darüber hinaus haben mehrere Universitäten in den Vereinigten Staaten Studienprogramme über menschliche Sexualität eingeführt, so etwa die San Francisco State University, die University of Pennsylvania in Philadelphia, die New York University und die Indiana University in Bloomington/Indiana.


Eine weitere vielversprechende Entwicklung ist die Neuorganisation sexualwissenschaftlicher Weltkongresse. Getragen von einer World Assodation for Sexology, der sexualwissenschaftliche Gesellschaften aus aller Welt angehören, sind diese Kongresse seit 1974 (Paris) in verschiedenen Kontinenten abgehalten worden: 1976 in Montreal, 1978 in Rom, 1979 in Mexico City, 1981 in Jerusalem, 1983 in Washington, D. C. und 1985 in Neu-Delhi. Für das Jahr 1987 ist ein Kongress in Heidelberg geplant. Die Weltkongresse fördern nicht nur den wissenschaftlichen Austausch und schaffen persönlichm Kontakte, sondern machen auch deutlich, dass die Sexualwissenschaft international rapide wächst. Besonders viele Entwicklungsländer zeigen ein großes Interesse an der wissenschaftlichen Bewältigung sexueller Fragen.


In Europa besteht noch seit 1921 das älteste sexualwissenschaftliche Universitätsinstitut in Prag. Außerdem besitzt die Katholische Universität Leuven (Belgien) eine „Abteilung für familiale und sexologische Wissenschaften" und verleiht darin einen speziellen Doktorgrad. In der Bundesrepublik Deutschland haben die Universitäten Hamburg und Frankfurt/M. ähnliche Abteilungen, und die Universität Kiel besitzt eine sexualmedizinische Forschungs- und Beratungsstelle. Zudem gibt es mehrere deutsche und österreichische wissenschaftliche Gesellschaften, die sich vornehmlich mit sexuellen Fragen befassen. Deutsche Sexualwissenschaftler sind auch Mitglieder einer Internationalen Akademie für Sexualforschung, deren Sekretariat seinen Sitz in New York hat. Die wichtigsten hier erwähnten Einrichtungen und Organisationen sind im folgenden mit ihren Adressen aufgeführt:


Institut für Sexualforschung


Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik der Universität Hamburg


Martinistraße 52, 2000 Hamburg 20


Abteilung für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt am Main Theodor-Stern-Kai 1, 6000 Frankfurt/M. 10


Sexualmedizinische Forschungs- und Beratungsstelle Klinikum der Universität Kiel Hospitalstr. 17/19 2300 Kiel l


Sexualwissenschaftliche Gesellschaften:


Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, Abteilung für Sexualforschung der Universität Martinistr. 52 2000 Hamburg 20


Gesellschaft für praktische Sexualmedizin, Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. R. Wille Sexualmedizinische Forschungs- und Beratungsstelle Klinikum der Universität Kiel Hospitalstr. 17/19 2300 Kiel l


Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung Vorsitzender: Prof. Dr. Ernest Borneman Sekretariat: Gerresheimer Str. 20, 4000 Düsseldorf


Sexualwissenschaftliche Zeitschrift:


Sexualmedizin


Verlag Medical Tribüne GmbH


Rheinstr. 19, 6200 Wiesbaden 1


 

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