Orgasmus im Schlaf

7.1.1 Orgasmus im Schlaf


Es war seit jeher bekannt, dass der Mensch auch im Schlaf zu sexuellen Erlebnissen fähig ist. In bestimmten Kulturkreisen und historischen Zeitabschnitten schrieb man diese Fähigkeit nur Männern zu. So steht zum Beispiel in der Bibel, dass bei den Hebräern ein Mann, der im Schlaf einen Orgasmus hatte, sich zur Reinigung eines rituellen Bades unterziehen musste. Seine ungewollte Ejakulation wurde als „Verunreinigung" bezeichnet (5. Mose 23).


Es gab keine vergleichbare Vorschrift für Frauen. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit wurde in unserer Kultur von religiösen und medizinischen Fachleuten die ganze Angelegenheit unter den Begriffen „nächtliche Pollution" oder „nächtlicher Samenerguss" diskutiert. Erst Mitte unseres Jahrhunderts legten Kinsey und seine Mitarbeiter einige verlässliche Statistiken zur Häufigkeit dieses sexuellen Erlebnisses vor, Diese Untersuchungen belegten, dass nicht nur Männer, sondern auch Frauen im Schlaf Orgasmen haben, wobei der Anteil bei Frauen jedoch etwas geringer ist. Aus diesem Grunde begann Kinsey, nicht mehr von „nächtlichen Pollutionen" zu sprechen, sondern von „nächtlichen sexuellen Träumen". Diese Bezeichnung konnte auf beide Geschlechter angewandt werden. Darunter fielen aber auch Fälle, bei denen es nicht zum Orgasmus kam. Um die Beschreibung zu präzisieren, wurde deshalb Kinseys Bezeichnung von anderen Sexualforschern durch den Begriff „nächtlicher Orgasmus" ersetzt. Dieser heute viel verwendete Ausdruck ist allerdings sehr irreführend, denn in unserer Gesellschaft ereignen sich die meisten Orgasmen ohnehin bei Nacht, einschließlich derer, die durch Koitus erreicht werden. Sexuelle Träume kann man andererseits auch beim Mittagsschlaf haben, und man müsste sie dann als „sexuelle Träume bei Tage" bezeichnen. Es scheint, dass „Orgasmus im Schlaf" die genaueste verfügbare Bezeichnung ist.


Unbeabsichtigte Orgasmen stehen fast immer mit sexuellen Träumen in Verbindung, besonders beim männlichen Geschlecht. Diese Träume können ungewöhnliches oder verbotenes Verhalten ausdrücken, wie zum Beispiel Geschlechtsverkehr mit nahen Verwandten, Kindern, Gruppensex, Exhibitionismus oder sexuelle Handlungen mit Tieren. Die normalen Hemmungen und Zwänge sind während des Schlafes weniger wirksam, und viele unserer unbewussten Wünsche kommen so in einer bildlichen Art zum Ausdruck. Das Fehlen bewusster Kontrollmechanismen hat auch noch eine weitere Auswirkung: Viele Menschen kommen im Schlaf wesentlich schneller zum Orgasmus (besonders Frauen), als es im wachen Zustand der Fall ist.


Die religiöse und medizinische Einstellung diesen Ereignissen gegenüber ist heute allgemein toleranter. Einige christliche Kirchen kümmern sich überhaupt nicht mehr darum, und die Katholische Kirche betrachtet sie nur dann als Sünde, wenn sie bewusst geplant oder als angenehm und lustbetont empfunden werden. Bestimmte Psychiater pflegten unwillkürliche Orgasmen bei Frauen früher als neurotische Störung zu betrachten. Diese merkwürdige Einstellung ist jedoch inzwischen endgültig verworfen worden. Statt dessen gilt heute weitgehend die Meinung, dass unbewusste Orgasmen im Schlaf notwendig und gesund sind, dass sie sogar eine „natürliche " Kompensation für sexuelle Abstinenz sein können. Menschen, die bewusst sexuell nicht aktiv sind, können statt dessen im Schlaf sexuelle Entspannung finden. Diese verbreitete Auffassung scheint jedoch falsch zu sein. So haben die Untersuchungen von Kinsey zum Beispiel ergeben, dass Frauen, denen plötzlich die Gelegenheit genommen wird, mehrere koitale Orgasmen pro Woche zu haben, im Laufe eines ganzen Jahres nur wenige Orgasmen mehr während des Schlafes hatten. Tatsächlich nahmen bei einigen Frauen die unbewussten Orgasmen nur dann zu, wenn sie auch häufiger bewusste Orgasmen hatten. Das bedeutet, ein Orgasmus im Schlaf ist möglicherweise eine normale Funktion des menschlichen Körpers, aber er ist kein Ersatz für bewusste sexuelle Aktivität.


 

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