Medizinische Traditionen

Intersexualität - Unser Umgang mit der Intersexualität

Soziokulturelle Einstellungen: Medizinische Traditionen

Ebenso wie das Recht hat auch die Medizin religiöse Wurzeln. Für viele tausend Jahre konnten nur Geister, Götter oder Gott Heilung bringen. Wenn ein Schamane, Medizinmann oder Priester es unternahm, jemanden zu heilen, dann wussten alle Beteiligten, dass dies allein niemals ausreichen konnte. Entscheidend war vielmehr der Beistand übersinnlicher Kräfte. In der westlichen Welt wurde diese Tradition zuerst von den Ärzten im griechischen und römischen Altertum gebrochen. Sie begannen, das Übersinnliche zu ignorieren und objektive wissenschaftliche Prinzipien in die Medizin einzuführen. Im Mittelalter wurde ihr Werk dann von bedeutenden islamischen Ärzten bewahrt und weiterentwickelt. Das so überlieferte Wissen lieferte die Grundlage für die ersten medizinischen Fakultäten in Europa, und die dort konzentrierte und weitergeführte Forschung führte schließlich zu den enormen wissenschaftlichen Fortschritten der Neuzeit.
Es gab aber eine Ausnahme:
Bis weit ins 20. Jhdt. hinein blieb die Sexualmedizin unbefragten religiösen, also vorwissenschaftlichen Vorstellungen verhaftet. Sie taufte einfach die alten Sünden und Laster in Krankheiten um und sah ihre Aufgabe darin, eine allgemeine sexuelle Konformität zu bewahren oder wiederherzustellen. Daher hatten die Ärzte, wie vor ihnen die Theologen, wenig Geduld mit sexuellen Variationen, gleich welcher Art. Im Falle der Intersexualität bedeutete dies gewöhnlich, dass so früh wie möglich eine Geschlechtszuordnung und eine chirurgische „Korrektur“ der untypischen Geschlechtsorgane vorgenommen wurde.
Man zweifelte nicht, dass die schnellstmögliche “Normalisierung” eines intersexuellen Körpers immer “im besten Interesse des Kindes” sei. Schließlich gab es ja nur zwei Geschlechter, und alles “dazwischen” musste als ungesund ausgeschaltet werden. Medizinische Fachausdrücke wie “Defekt”, “Missbildung“, „Fehlentwicklung“ und “Abnormität” verrieten diese Grundannahme.
Natürlich waren die Ursachen der Intersexualität für sehr lange Zeit unbekannt.
Erst die moderne Genetik und Hormonforschung haben die Tür zu den entscheidenden Entdeckungen geöffnet, aber selbst heute ist noch längst nicht alles erklärt. Dennoch: Die Ärzte haben inzwischen soviel gelernt, dass sie nun viel vorsichtiger geworden sind. Heute gestehen sie allen Patienten selbstverständlich das Recht auf Selbstbestimmung zu. Solange diese mit ihrer atypischen körperlichen Entwicklung zufrieden sind, haben sie von ärztlicher Seite keine Einwände mehr zu erwarten. Schließlich vermindert selbst ein “unkorrigierter” intersexueller Befund in keiner Weise die Menschenwürde. Diese bleibt in jedem Fall unantastbar.

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