Erwin J. Haeberle Auguste Forel - der erste Schweizer Sexologe |
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Forels Ruhm auf den traditionellen Gebieten der Wissenschaft ist wohlgesichert. Weniger bekannt sind aber sein Beitrag zur Entwicklung der Sexualwissenschaft und seine Zusammenarbeit mit Hirschfeld im Präsidium einer Weltliga für Sexualreform, die schon damals in Kopenhagen, London, Wien und Brünn vielbeachtete internationale Kongresse abhielt. Gerade diese Tätigkeiten haben anderseits zu gewissen Angriffen deutscher Sexologen gegen Forel geführt, die nun auf einmal in ihm einen Vorreiter von Sterilisierungs- und Ausrottungsprogrammen der Nazis erkennen wollen.
Wirbel um ein Buch
Forel hatte, nach zwanzig Jahren harter Arbeit, die Direktion des Burghölzlis sozusagen "auf der Höhe des Lebens"
aufgegeben und sich als Privatmann wieder ins Waadtland zurückgezogen, als er 1905 mit seinem Buch "Die sexuelle
Frage" wissenschaftliches Neuland betrat. Historisch war dies das erste Werk überhaupt, in dem das menschliche
Sexualleben umfassend von biologischer und soziologischer Seite behandelt wurde. Es fand nicht nur in vielen Sprachen enormen Absatz, sondern wurde auch zur Zielscheibe heftiger Angriffe, vor allem aus kirchlichen Kreisen.
Schon gleich im Erscheinungsjahr wetterte ein Pfarrer Ritter im Zürcher Fraumünster bei einer Festtagspredigt von der
Kanzel: "Ein Buch wie ein Faustschlag . . . Mit einer . . . zielbewussten Unverfrorenheit wird hier der Mensch als
entwickeltes Tier behandelt, dem . . . sittliche Verantwortlichkeit völlig abgeht.. . , weshalb auch gesetzliche
Zulässigkeit für Dinge verlangt wird, die selbst dem Heidentum ein Greuel waren . . . Solche Denkweise . . . ist eine sittliche Verirrung, ein Nebeldunst, aufgestiegen aus den Sumpfniederungen des Fleisches."
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Was aber waren das für Greuel, die Forel gesetzlich zulassen wollte? Es waren zunächst einmal die völlige Gleichberechtigung der Geschlechter und die Anerkennung der weiblichen Hausarbeit als gleichwertig mit männlicher Berufsarbeit. Zudem forderte er die Straffreiheit des Konkubinats und überhaupt aller einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Erwachsenen, einschliesslich der Blutschande und aller "Perversionen", solange sie eben keine Rechte anderer verletzten. Im Falle der Homosexualität bedauerte er es sogar, dass die Heirat zwischen Männern verboten sei, die doch " sozial sehr harmlos" sein würde. Weiter verlangte Forel die freie Verfügbarkeit von Empfängnisverhütungsmitteln , und selbst die Abtreibung wollte er freigeben in Fällen von Notzucht, Gefährdung der mütterlichen Gesundheit, Geisteskrankheit und ähnlichem. Es versteht sich von selbst, dass zu Anfang unseres Jahrhunderts solche Programmpunkte aus dem Munde eines renommierten Wissenschafters provozierend wirken mussten. Forel hatte sich all dies aber sehr sorgfältig überlegt und begründete es ausführlich, wenn auch ohne Bezug auf die traditionelle christliche Ethik. Obwohl in frommer calvinistischer Atmosphäre aufgewachsen, war Forel schon früh zum religiösen Zweifler geworden und hatte deshalb mit 16 Jahren sogar die Konfirmation verweigert. Die Willensstärke, die aus dieser jugendlichen Auflehnung spricht, blieb auch später für ihn bezeichnend. Wenn es um seine ehrliche Überzeugung ging, scherte er sich wenig um das Zartgefühl anderer Leute.
Unverblümte Sprache
Nicht nur in der Sache, sondern auch in der Form war er immer bewusst unverblümt. So forderte er etwa die Reform
des Sodomiegesetzes mit drastischen Worten: "In der Not eines unbefriedigten Sexualtriebes begattet sich zum
Beispiel ein armer Dummkopf, der von allen Mädchen verschmäht wird, in der stillen Dunkelheit des Stalles mit einer
gemütlich fressenden Kuh, die sich nicht weiter darum kümmert und wohl weder in ihrem Schamgefühle noch in ihrem
sonstigen Wohlbefinden dadurch gestört wird . . . Woher nimmt sich das Strafgesetz das Recht, eine solche Handlung
zu bestrafen? . . . Das ist ein Überrest religiöser Mystik, etwas Ähnliches wie die Bestrafung der Sünde gegen den Heiligen Geist."
Von solchen Frivolitäten wollte Forel das Strafrecht befreien, das seiner Meinung nach nur als rationalistisch-utilitaristisches System eine Daseinsberechtigung hatte. Diese Säkularisierung des Rechts war aber auch eine Forderung vieler anderer Forscher aus den verschiedensten Disziplinen, die eine "vernünftige" Regelung der sexuellen Frage erstrebten, d. h. eine umfassende Sexualreform auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis. Forels grossangelegtes Werk trug so entscheidend zur baldigen Begründung einer besonderen Sexualwissenschaft bei, für die Hirschfeld dann den passenden Wahlspruch prägte: Per scientiam ad iustitiam!(Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit!)
So war es nur recht und billig, dass Forel 1908 auch als Beitrag er der ersten "Zeitschrift für Sexualwissenschaft" in Erscheinung trat, die Hirschfeld in Berlin herausgab. Weitere Autoren waren die damals noch recht umstrittenen Psychoanalytiker Sigmund Freud, Alfred Adler und Wilhelm Stekel , die etablierten akademischen Grössen Paolo Mantegazza, Cesare Lombroso und viele andere. Während die meisten Freudianer aber das praktische sozialpolitische Engagement scheuten und sich allmählich aus dem Umkreis der Sexualreformer entfernten, blieb Forel als leidenschaftlicher Aktivist bis zu seinem Tode mit Hirschfeld in Kontakt. Ausserdem wurde er Mitherausgeber einer eigenen sexualreformerischen Zeitschrift "Vererbung und Geschlechtsleben" und schrieb für Helene Stöckers feministische "Neue Generation". Drei Jahre vor seinem Tode nahm er dann noch mit Hirschfeld und Havelock Ellis die Präsidentschaft der Weltliga für Sexualreform an, die versuchte, seine Forderungen auch international so weit wie möglich durchzusetzen.
Forel und die Eugenik
Als Psychiater hatte Forel früh die individuell und sozial verheerenden Folgen des Alkoholismus kennengelernt und den
Kampf dagegen zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Als Kreuzzügler für Alkoholabstinenz baute er vor allem auf Überredung und die Kraft des Beispiels, war aber auch naiv genug, sich hier Besserung durch gesetzliche Verbote zu
erhoffen. Den grotesken Fehlschlag der amerikanischen Prohibition nahm er nicht mehr richtig wahr. Ähnlich gutgläubig war er in bezug auf die amerikanischen Gesetze zur Zwangssterilisierung, die angeblich sehr strikt nur in
Ausnahmefällen angewandt werden sollten. Ihr rassistischer Missbrauch blieb ihm verborgen. Ja, Forel pries solche
Gesetze als "eugenisch" und glaubte allen Ernstes, sie würden einen Beitrag zur "Höherzüchtung" des
Menschengeschlechts liefern. Als leidenschaftlicher Friedenskämpfer beklagte er die " Kakogenik", d. h. die
Gegenauslese des Krieges, der die Gesündesten und Besten hinschlachtete, während die Alten und Kranken in der Heimat überlebten. Umgekehrt glaubte er, durch Empfängnisverhütung und freiwillige Sterilisierung Erbkranke von der
Fortpflanzung abhalten zu sollen. Seltsamerweise wurde die männliche Sterilisierung (Vasektomie) durch die Behauptungen des Hormonforschers Eugen Steinach damals viel weniger zur Verhütung bei den Armen als zur
"Verjüngung" bei den Reichen populär. Viele sonst kritische Geister glaubten an die illusionäre Wirkung, und selbst Sigmund Freud unterzog sich in diesem Glauben einer "Steinach-Operation".
Forel aber lag besonders an der Zunahme "höherwertiger" Rassen und Individuen und an der Abnahme der "Minderwertigen". Ja er stellte sogar die prompte Euthanasie in Fällen schwerster Missbildungen bei der Geburt zur Debatte. Über solche Gedanken, im damals noch unschuldigen Fachjargon vorgetragen, ist mittlerweile der Schatten der Nazigreuel gefallen, und so besteht heute die Gefahr einer Rückprojektion, durch die Forel nachträglich zum Gesinnungsgenossen Himmlers wird. Dieser Gefahr erlag denn auch gleich nach der deutschen Kapitulation der "Solothurner Anzeiger", der am 28. Juli 1945 schrieb: "Abscheu und Entsetzen gingen durch die Welt, als die Greueltaten aus den deutschen Vernichtungslagern bekannt wurden . . . Es genügt aber nicht, nur die SSUntermenschen auf die Richtstätte zu schleppen . . . Im Jahre 1942 ist in einem Schweizer Verlag das von Auguste Forel geschriebene Buch „Die sexuelle Frage" in 17. Auflage (!) erschienen . . . Dieses Werk kommt nach Ausführungen über die minderwertigen Rassen (!) und die Zuchtwahl (!) zur Frage, ob geborene Krüppel und Kinder mit schweren Missbildungen unter allen Umständen am Leben zu erhalten seien . . . Von der Vernichtung dieser Krüppel aber zur Vergasung der Alten und Gebrechlichen und. zum modernen Vernichtungslager für sogenannte minderwertige Rassen ist nur noch ein kleiner Schritt . . . Wer andere zu einem Morde auffordert, kann nach unseren Gesetzen bestraft werden. Wenn aber einer im Namen der Wissenschaft zum Morde an Hunderttausenden aufruft, drückt man beide Augen zu und entsetzt sich nachher pharisäerhaft über die praktische Anwendung dieser Theorien. Wie lange will das Schweizervolk in seinem Hause solchen Nazigeist noch dulden?" Ebenso vereinfachend behauptete kürzlich der deutsche Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch von Forel: "Die Ausrottung der „Entarteten" und „Minderwertigen" steht als Frage, Sorge, Absicht bereits auf seinem Programm."
Rassische Zuchtwahl?
Diese simplistischen Suggestionen, die Forels Gedanken aus ihrem wissenschaftlichen und historischen Kontext
reissen, halten keinem genaueren Studium stand. Forel war zwar in vielen Irrtümern seiner Zeit befangen und teilte mit
ihr auch eine merkwürdig imperialistische Attitüde gegenüber der "schwarzen" und "gelben" Rasse, war aber anderseits
viel zu ehrlich, gewissenhaft und selbstlos, um sich jemals für die geringste Unmenschlichkeit herzugeben,. Im
Gegenteil, jeder gründliche Leser seiner Schriften muss darüber staunen, wie unermüdlich Forel jedes Vorurteil, jede
Diskriminierung und jede Ungerechtigkeit angriff, die ihm zu Ohren kam. Den Nazistaat und seine Rassenpolitik hätte er
zweifellos mit allen Kräften bekämpft. Noch im hohen Alter unterschrieb er Appelle gegen die Todesstrafe und gegen
den Antisemitismus, ja überhaupt gegen jeden Rassismus, wobei er auf die Mischung in seiner eigenen Familie verwies.
Selbst wo er nach unseren heutigen Begriffen fragwürdig wurde, entwaffnet er am Ende durch seine selbstkritische, wenn auch sonst bizarre Logik. So schlug er z. B. einmal allen Ernstes vor, die Streitfrage nach dem höheren Wert der "weissen" oder der "gelben" Rasse durch gegenseitige Adoption von Säuglingen zu lösen. Die in Europa europäisch erzogenen Ostasiaten und die in Ostasien asiatisch erzogenen Europäer sollten dann als Erwachsene miteinander verglichen werden. Die rassische "Zuchtwahl" war für ihn jedenfalls eine freiwillige und auf Jahrhunderte berechnet. Die Vorstellung eines heutigen Idealmenschen lehnte er ab: "Einen Idealmenschen gibt es nicht . . . Doch dank unseren vielen Rassenkreuzungen gibt es bessere, d. h. sozialere, ethischere Menschen . . . die sich nach einer unerreichbaren Vollkommenheit wirklich sehnen, wenn auch nur für die Zukunft. Sie wollen eine internationale Menschheit, ohne Kriege, ohne Genussgifte unseres Gehirnes, ohne Geldkapital erreichen. Dies erlaubt uns die Eugenik, aber niemals vollständig, durch ständige Bekämpfung unserer egoistischen Triebe. Sie braucht Zeit und Geduld."
So versteht es sich auch von selbst, dass Forels Buch "Die sexuelle Frage" in Nazideutschland verboten war. Ja es liegt uns sogar ein eigenes Gutachten des Nazi-Psychiaters M. H. Göring von 1938 vor, das die Gründe für das Verbot nennt. C. Müller, der Leiter des Forel-Archivs in Lausanne-Cery, hat es vor zwei Jahren veröffentlicht, und es beweist ein für allemal, dass Forel für die Zwecke der Nazis nicht zu gebrauchen war. Wie Göring penibel aufzählt, waren Forels Aussagen zu Rassenfrage, Todesstrafe, Homosexualität, Gleichberechtigung, Empfängnisverhütung, Abtreibung und Sterilisation unakzeptabel.
Forels sexologisches Vermächtnis
Wenn also nun in Zürich den Anfängen der Sexologie besonders gedacht wird, so darf man sich auch mit Stolz an ihren
grossen schweizerischen Pionier erinnern. Sein Weg zur Sexologie war folgerichtig und unausweichlich, und die Impulse, die er ihr gab, wirkten noch lange nach. Forel war vor allem Wissenschafter und gewohnt, Probleme, auch
sexuelle Probleme, rational anzugehen. Als Arzt und Psychiater lag ihm ausserdem die Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft am Herzen. Es entsprach aber seinem Pflichtgefühl und leidenschaftlichen Temperament, dass er
seine Einsichten in ein praktisches soziales Engagement umsetzte.
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Sein Zürcher Assistent, der spätere ärztliche Aktivist Fritz Brupbacher, schilderte ihn, so: "Jede seiner Vorlesungen war ein Fest . . . Immer sprudelte Forel, selbst immer voll von Problemen, riss er uns mit, leuchtete, funkelte, packte. Wo es ein Vorurteil gab, nahm er's an den Kragen, wo ein mutig Wort nötig war, sagte es Forel zum Schrecken seiner Kollegen und auch zum nicht geringen Schrecken der zürcherischen Regierung . . . Er bekämpfte aber bei der Jugend immer den Egozentrismus und das Übermenschentum, suchte sie immer hineinzuziehen in soziale Tätigkeit."
Für Forel wie für die anderen Sexualforscher, mit denen er in Verbindung stand, war eine sexualethische Reform auf wissenschaftlicher Grundlage das treibende Motiv. Wenn uns nun heute das Vertrauen dieser Vorkämpfer in die Kraft der Vernunft teilweise naiv erscheint, so bleibt aber doch gerade Forels persönliches Beispiel vorbildlich. Trotz körperlichen Gebrechen arbeitsam bis ins höchste Alter, anspruchslos und bescheiden im täglichen Leben, aber kämpferisch und unerschrocken in der Öffentlichkeit, war er ein starker und glaubwürdiger Anwalt der neuen Wissenschaft.
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Glücklicherweise erlebte er die Zerstörung dieser jungen Wissenschaft durch die Nazis nicht mehr. Mit Hitlers Machtergreifung wurden in Deutschland nicht nur Forels eigene Bücher verboten, sondern auch die aller anderen frühen Sexologen. Diese selbst wurden, soweit sie noch lebten, ins Exil getrieben. Hirschfelds erstes Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wurde schon 1933 geplündert, die sexologischen Gesellschaften mussten sich auflösen, und auch die Weltliga für Sexualreform überlebte den Tod ihrer Präsidenten Forel und Hirschfeld nicht lange.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Sexologie ihre Wiedergeburt, diesmal in den Vereinigten Staaten mit den bahnbrechenden Studien von Kinsey und Masters und Johnson . Auch sexologische Weltkongresse fanden wieder statt. In Paris (1974), Montreal (1976), Rom (1978), Mexico City (1979), Jerusalem (1981), Washington (1983) und Delhi (1985). Damit ist die bedeutende Vorkriegstradition wiedererstanden, und 1987 wird Heidelberg der nächste Kongressort. Bis dahin wird auch die europäische Sexologie wieder bedeutende Beiträge leisten können. Die Schweiz hat sogar seit einigen Jahren eine sexologische Universitätsabteilung - die Unité de Sexologie an der Universität Genf . Für Kenner der Geschichte liegt darin eine schöne poetische Gerechtigkeit. So lebt heute Forels sexologisches Vermächtnis am Genfersee fort, von wo er, wie vor ihm Voltaire und Rousseau, für die ganze Menschheit gewirkt hat.
*) Anfänge der Sexualwissenschaft. Wechselausstellung in der Medizinhistorischen Sammlung der Universität Zürich,
Rämistrasse 71, Zürich. Bis Herbst 1986.
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