Reisen nach China

IV. Reise 1999

1. Zusammenfassung
2. Reiseroute
3. Reisetagebuch

1. Zusammenfassung

Auf Einladung des 14. Weltkongresses der Sexologie in Hong Kong, der Beijing Medical University, der Tianjin Medical University und anderer chinesischer Universitäten, Institutionen und Organisationen bereiste ich vom 22. August bis zum 29. September 1999 China. Dabei wurden sämtliche Kosten von meinen Gastgebern übernommen mit Ausnahme der beiden Flüge Hong Kong - Beijing und Shanghai - Hong Kong. (Es war meine dritte Reise in die Volksrepublik China, die ich schon 1989 und 1992 besucht hatte. Außerdem war ich 1990 noch Referent bei einem Kongress in Hong Kong gewesen.)

Ich hielt dieses Mal Vorträge und gab Seminare und Workshops in den folgenden neun Städten: Hong Kong, Beijing, Tianjin, Jinan, Hefei, Fuyang, Nanjing, Shanghai und Hangzhou. Ich sprach grundsätzlich frei und benutzte dabei entsprechende Abschnitte unseres Websites, entweder live oder auf CD ROM oder mithilfe von Ausdrucken auf Folien. Auf ausdrücklichen Wunsch meiner Gastgeber behandelte ich die folgenden Themen:

- "Live"-Vorführung unseres RKI-Archiv-Websites
- Geschichte der Sexualwissenschaft
- Geschichte und Zukunft der sexuellen Menschenrechte
- Sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung
- STD-Prävention als gesellschaftliche Aufgabe

Mit all dem stieß ich auf sehr reges Interesse und den Wunsch, auf dem gesamten Gebiet der Sexualwissenschaft die Zusammenarbeit zu vertiefen. Dies erklärt sich zum Teil auch daraus, daß die chinesische Führung sich nun der Herausforderung gegenüber sieht, neben der längst etablierten und gut organisierten Familienplanung eine umfassende, landesweite Sexualerziehung für Jugendliche organisieren zu müssen, die sexuell weitgehend unwissend sind und nun unter wachsendem westlichen Einfluß zunehmend die traditionelle moralische Orientierung verlieren. Unter den Umständen wird daher westliche, wissenschaftlich gesicherte sexologische Information gesucht und gerne angenommen. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren.

1. Der Weltkongress der Sexologie in Hong Kong wurde von Prof. Wu Jieping eröffnet, einem der mächtigsten Männer Chinas. Er betonte die Bedeutung der sexuellen Gesundheit und forderte verstärkte Forschungs- und Erziehungsanstrengungen, internationalen Austausch und eine Rückbesinnung auf alte chinesische Werte der sexuellen Offenheit und Toleranz. Ja, er zeigte sogar sehr eindeutige Diapositive von chinesischer erotischer Kunst, um seine Forderungen zu unterstreichen. (Noch vor wenigen Jahren waren solche Bilder als "dekadent" und "pornographisch" öffentlich verbrannt worden.) Prof. Wu genießt nicht nur hohes nationales und internationales Ansehen bei seinen medizinischen Kollegen, sondern übt auch als Vizepräsident des "Standing Committee" des chinesischen Volkskongresses wirkliche politische Macht aus. Sein Auftritt in Hong Kong war somit ein klares politisches Signal, daß Sexualforschung und Sexualerziehung in China fortan mit offizieller Anerkennung und Förderung rechnen können.

2. Die "China Family Planning Association" mit über 80 Millionen Mitgliedern bereitet nun eine landesweite Kampagne zur Sexualerziehung von Jugendlichen vor. Dabei wird es zunächst vor allem um die sexologische Aus- und Weiterbildung der 8 Millionen Hauptmitarbeiter als "Multiplikatoren" gehen. Da unser Archiv-Website entsprechende Kurse online anbietet, stieß er natürlich auf des lebhafteste Interesse. Es wurde sehr bedauert, daß unsere Kurse nicht schon jetzt in chinesischer Sprache verfügbar sind, man regte aber an, mit einer solchen Übersetzung sobald wie möglich zu beginnen. Auch ohne Internetanschluß könnten die Kurse dann auf CD ROMs in allen Regionen Chinas eingesetzt werden.

Wie diese Beispiele zeigen, ist der jetzige Zeitpunkt äußerst günstig, in China für die von uns bereitgestellten sexologischen Informationsangebote zahllose neue, dankbares Interessenten zu gewinnen. Nötig wären auf deutscher Seite dafür nur relativ bescheidene Investitionen. Der Bedarf ist jedenfalls gewaltig, wie der weitere Verlauf meiner Reise immer wieder bewies. Einzelheiten sind im Reisetagebuch weiter unten nachzulesen.

Ergebnisse

Folgende Hauptergebnisse sind festzuhalten:

1. Der Weltkongress der Sexologie in Hong Kong druckte auf eigene Kosten Auszüge aus unserem Website, die in Buchform unter dem Titel "Sexology World-wide: A Directory of Resources" kostenlos an alle Kongressteilnehmer verteilt wurden.

2. Kollegen in Portugal und Brasilien haben sich erboten, kostenlos für uns, eine portugiesische Übersetzung unseres Websites herzustellen, die wir dann als Archiv auch online anbieten können.

3. Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Städten Chinas haben begonnen, Teile unseres Websites ins Chinesische zu übersetzen. Diese Übersetzungen können nach Fertigstellung dann ebenfalls online über unseren Website angeboten werden. Voraussetzung ist allerdings die Anschaffung einer entsprechenden Software ("N.J. Star") im RKI.

4. Verschiedene chinesische Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen haben um die Zusendung von CD ROMs unseres Websites gebeten.

5. Ich wurde zum Honorarprofessor und "Senior Advisor" des 2. Volkskrankenhauses in Fuyang ernannt (Lehrkrankenhaus des Bengbu Medical College).

6. Eine schriftliche Fassung meines mündlichen, frei vorgetragenen Hauptvortrags wird im Kongressband erscheinen, der im Januar 2000 publiziert wird. Eines chinesische Übersetzung dieses Textes wird außerdem in einer chinesischen Publikation erscheinen.



World Congress of Sexology in Hong Kong 1999: Umschlag eines Verzeichnisses hg. von E. Coleman und E. J. Haeberle, das an alle Kongressteilnehmer verteilt wurde. Das Verzeichnis von 239 Seiten enthielt Print-Outs von unserem Website: The History of Sexology, Chronology of Sex Research, World-wide Directory.


2. Reiseroute


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3. Reisetagebuch

Vorbemerkung

Die gesamte Dienstreise stand unter dem Zeichen einer außerordentlichen Gastfreundschaft, wie sie heute nur in China möglich ist. Chinesische Universitäten haben ja mit ihren eigenen Hotels, Restaurants, Dolmetschern, Limousinen und Fahrern die Mittel, ausländische Besucher rund um die Uhr mustergültig zu betreuen, ja zu verwöhnen. Die USA und Europa kennen nichts Vergleichbares. Nur auf sehr hoher akademischer Ebene (etwa Institutes of Advanced Studies) mag es hier und da Entsprechungen geben. In China dagegen kann der eingeladene Wissenschaftler landesweit auch bei "Durchschnittsuniversitäten" mit dieser hervorragenden Betreuung rechnen.

Auch ein zweiter, sehr starker Eindruck ist zu verzeichnen: Das ganze Land, bis hinunter zu Kreisstädten, befindet sich in einem unübersehbaren wirtschaftlichen Aufbruch, vor allem erkennbar an einer gewaltigen Bautätigkeit, die auch neue Autobahnen, Flughäfen und Bahnhöfe einschließt. Einige Städte, die ich von meinen ersten Dienstreisen 1989 und 1992 her kannte, hatten sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert, d.h. vor allem modernisiert und vergrößert. Das Entwicklungstempo scheint schwindelerregend, wenn man es etwa mit dem gemächlichen Tempo in Berlin und dem übrigen Deutschland vergleicht. Da ich in China erhebliche Entfernungen zurücklegte und dabei alle gängigen Transportmittel benutzte (Flugzeug, Eisenbahn, öffentlicher Bus, Privatbus und Privatauto) hatte ich Gelegenheit, den augenblicklichen Modernisierungsschub immer wieder und überall zu beobachten. Dazu kommt noch, daß man in der öffentlichen und privaten Dienstleistung fast nur jungen Leuten im Alter von etwa 18 bis die 25 begegnet (Polizisten, Schaffner, Fahrkartenverkäufer, Taxifahrer, Hotelempfangspersonal, Fahrstuhlführer, Kellner usw.). Hier scheint eine bewußte Politik verfolgt zu werden, die anscheinend zwei Ziele verfolgt: 1. Man will den Eindruck einer jungen, dynamischen Nation vermitteln, und 2. Man will einer offensichtlich drohenden Jugendarbeitslosigkeit zuvorkommen oder sie doch abmildern, denn viele öffentliche Dienste scheinen auch mit den jungen Leuten deutlich überbesetzt.

Hong Kong (21.- 27. August)

Zum 14. "World Congress of Sexology" in Hong Kong (23.-27. August) war ich als "Keynote Speaker" geladen, d.h. ich war der zweite von insgesamt sechs Hauptrednern., die bei der Eröffnungsfeier auf der Bühne versammelt und dem Kongress vorgestellt wurden. Er fand in einem der modernsten und eindrucksvollsten Kongresszentren statt, die es heute in der Welt gibt. Es ragt wie ein großer Stachelrochen aus Stahl und Glas in den Hafen von Hong Kong (Victoria Harbour) hinein. Das luxuriöse Kongresshotel (Renaissance Harbour View) mit herrlicher Aussicht aufs Wasser war selbst Teil des Tagungszentrums.

Außer mir selbst waren noch zwei oder drei andere deutsche Teilnehmer mit kurzen Vorträgen in Hong Kong vertreten, die aber keine Aufmerksamkeit erregten oder verdienten. Es ist sehr bedauerlich, daß die "gestandenen" deutschen Sexualwissenschaftler so gut wie nie an den Weltkongressen der Sexologie teilnehmen und sich so der Chance berauben, eine international Breitenwirkung zu erzielen.

Leider war die Gesamtteilnehmerzahl mit etwa 600 vergleichsweise klein, und dafür gab es zwei Gründe:

1. Wegen eines heftigen Taifuns wurde der Flughafen von Hong Kong gerade vor und bei Kongressbeginn für zwei Tage geschlossen, so daß viele ausländische Teilnehmer auf anderen Flughäfen (in Taiwan, Thailand, sogar Japan) landen mußten und die ersten beiden Kongresstage versäumten. (Das letzte Flugzeug, das anfangs noch versucht hatte, zu landen, hatte sich beim Anflug im Sturm überschlagen: 2 Tote und 36 Verletzte).

Da ich selbst auf eigene Hotelkosten zwei Tage vorher angereist war, konnte ich pünktlich zur Stelle sein.

2. Viele potentielle Teilnehmer aus dem Inneren der Volksrepublik China konnten wegen plötzlicher Devisenprobleme nicht nach Hong Kong kommen, das z. Zt. noch eine andere Währung hat. Genaueres war nicht zu erfahren, aber es lagen offensichtlich irgendwelche finanzpolitische Entscheidungen der Zentralregierung vor.

Der 1. Kongresstag und seine Folgen (23. und 27. August)

Die Eröffnungsveranstaltung hatte neben den obligaten Begrüßungen und Ehrungen nur einen einzigen Redner: Prof. Dr. Wu Jieping, einen der mächtigsten Männer Chinas.

Prof. Wu, über 80 Jahre alt, ein international angesehener Androloge, ist Vizepräsident des "Standing Committee" des Nationalen Volkskongresses. Als Autor des ersten chinesischen Buches über Sexualmedizin (1982) und Gründer der "Chinesischen Sexologischen Gesellschaft" ist er von jeher für eine allgemeine Sexualerziehung in China eingetreten. Sein Eröffnungsvortrag in fließendem Englisch "Geschichte der Sexologie in China" war als programmatische Rede angelegt, sowohl für sein internationales wie für sein chinesisches Publikum.

Prof. Wu wies auf eine sexologische Tradition in China von mehreren tausend Jahren hin und stellte einige ihrer Grundsätze heraus: "Ein gutes Sexualleben führt zu guter Gesundheit; eine gute Gesundheit führt zu einem guten Sexualleben, und beide zusammen ermöglichen ein gesegnetes Alter". Vor allem aber betonte er die Bedeutung der Prävention: "Wer den Krankheiten vorbeugt, ist der beste Arzt; wer sie heilt, nur der zweitbeste." Um seinen Ausführungen besonderes Gewicht zu verleihen, zeigte er außerdem mehrere Diapositive von chinesischer erotischer Kunst, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen (z.B. beim gegenseitigen Oralverkehr). Noch vor wenigen Jahren waren solche Bilder als "pornographisch " und "dekadent" in China öffentlich verbrannt worden.

Dieser Vortrag wurde von allen Anwesenden mit großer Begeisterung und Dankbarkeit aufgenommen. Besonders den Teilnehmern aus den USA und Europa wurde klar, daß ihre eigenen Politiker(innen) einen entsprechenden öffentlichen Auftritt selbst heute noch nicht wagen könnten. Offensichtlich vorgewarnt, hatte auch die zur Begrüßung noch anwesende "First Lady of Hong Kong", Betty Tung (Gattin des terminlich verhinderten "Chief Executive" Tung Chee-hwa) vor dem Beginn der Rede den Saal verlassen.

Andererseits muß ihr aber am nächsten Tag klar geworden sein, daß sie dadurch einen mächtigen Repräsentanten der Zentralregierung brüskiert hatte. Jedenfalls lud sie Prof. Wu und uns andere Hauptredner überraschend für den letzten Kongressnachmittag zum Tee ins "Government House" ein (den früheren Amtssitz des britischen Gouverneurs). Hier nun erwies sie sich als perfekte Gastgeberin - warmherzig, taktvoll, intelligent und aufmerksam, so daß wir sie nach über 2 Stunden stark beeindruckt verließen. Sie bat auch am Teetisch förmlich dafür um Vergebung, dass sie durch Leichtfertigkeit und Dummheit den Vortrag von Prof. Wu versäumt habe, kurzum, sie nahm sowohl Prof. Wu wie auch uns andere Gäste wieder völlig für sie ein. Zu der versöhnlichen, ja herzlichen Atmosphäre trug auch der diskret-kostbare, elegant-schlichte Rahmen des Hauses bei - ein wohltuender Kontrast etwa zur teilweise geschmacklosen Ausstattung des Schlosses Bellevue in Berlin, wo oft die Vorhänge nicht zu den Teppichen und diese nicht zu den Sesselbezügen passen. Unmittelbar nach der Verabschiedung fuhr eine Staatskarosse vor und brachte Prof. Wu zum Flugzeug nach Paris, wo er an einer anderen Konferenz teilnahm.



World Congress of Sexology 1999: Empfang der Kongressorganisatoren und Hauptredner im Government House durch Hong Kongs "First Lady" Mrs. Betty Tung, Ehefrau des Chief Executive Tung Chee-hwa. Vordere Reihe von links: Dr. Claire Gellman, Prof. M. L. Ng, Prof. Eli Coleman, Mrs. Betty Tung, Prof. Wu Jieping, Dr. Maria Perez Conchillo, Prof. Beverly Whipple. Zweite Reihe zwischen Mrs. Tung und Prof. Wu Jieping: Prof. Haeberle.


Der 2. Kongresstag (24. August)

Zur Eröffnung des zweiten Konferenztages hielt ich vor dem Plenum einen 60-minütigen Hauptvortrag "Sexology and the Internet - A Live Demonstration". Dabei führte ich den zweisprachigen (englisch/spanisch) Website des RKI-Archivs für Sexualwissenschaft in Echtzeit auf einem Laptop-Computer mit Glasfaserleitung vor, dessen Bild auf eine riesige Leinwand projiziert wurde.

Die Vorführung stieß auf sehr lebhaftes Interesse, da den allermeisten Kongressteilnehmern bis dahin nicht klar gewesen war, welche enormen Mengen sexualwissenschaftlicher Information im Internet bereits heute abrufbar sind. Vor allem aber sahen sie mit Erstaunen, daß unser Website den schnellsten und billigsten Zugang zu diesen Informationen darstellt. Drei Angebote unseres Websites wurden besonders geschätzt: 1. Unsere historischen Originaldokumente, die einschließlich ihrer Übersetzungen direkt zugänglich sind. 2. Unsere kostenlosen sexologischen Aus- und Fortbildungskurse, die einschließlich der Examensfragen vollständig online verfügbar sind und notfalls auch ohne Bibliothekszugang im Fernstudium genutzt werden können. (Tatsächlich werden sie schon von Universitäten und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen in Australien, Bulgarien, Georgien, Mexico, Taiwan und Venezuela für ihre eigenen Zwecke genutzt.) 3. Unsere sehr große, nach Sachthemen geordnete Sammlung von ausgewählten Links zu anderen Websites, die weitergehende wissenschaftliche Informationen liefern.

Da viele Teilnehmer aus Ländern kamen, die noch keinen oder nur einen begrenzten Internetzugang haben (Indien, Pakistan, Afrika, Nordkorea), wurde ich immer wieder gebeten, ihnen CD ROMs zur Verfügung zu stellen. Ich hatte vorsorglich einige mitgebracht und verteilte sie gleich an Ort und Stelle. Viele Interessenten aber gaben mir einfach ihre Visitenkarten und baten um baldige Zusendung. Begeisterte Kollegen aus Portugal und Brasilien erbaten sich, kostenlos für uns, den gesamten Website ins Portugiesische zu übersetzen.

Der nächste Hauptvortrag des dänischen Physiologen Gorm Wagner beschäftigte sich mit der medikamentösen Behandlung sexueller Störungen, besonders dem neuesten Forschungsstand in Bezug auf durchblutungsfördernde Mittel wie Viagra. Bei dem enormen damit verbundenen Profit wird auf diesem Gebiet mit Hochdruck weiter geforscht, um die jetzt noch vorhandenen Nebenwirkungen zu vermindern oder aufzuheben, aber auch, um entsprechende Medikamente für Frauen zu entwickeln. Allerdings ließ der Vortrag jede weitergehende Kritik an möglichen negativen Folgen dieser Entwicklung für einzelne Paarbeziehungen, die therapeutische Praxis und die Gesellschaft allgemein vermissen. Die anschließende Diskussion zeigte allerdings, daß bei vielen Teilnehmern eine große Skepsis herrscht, die der Vortragende nicht ausräumen konnte.

Der Rest des Tages war den üblichen sexologischen Themen gewidmet wie Sexualverhalten und Sexualerziehung in verschiedenen Ländern, Transsexualismus, Sexualstraftaten, und sie Sexualität Behinderter. Die Vorträge brachten für westliche Beobachter nichts Neues, wohl aber für die vielen asiatischen Teilnehmer.

Der 3. und 4. Kongresstag (25. und 26. August)

Am 3. Tag faßte der Hauptvortrag der Amerikanerin Beverly Whipple die aktuellen Forschungen zur Anatomie und Physiologie der weiblichen Geschlechtsorgane zusammen. Dies ist in z. Zt. ein "heißes" Thema, das mehr und mehr von der Pharmaindustrie und den von ihr bezahlten Forschern besetzt wird. Auch hier hofft man auf neue Medikamente, die sexuelle Lustlosigkeit beheben bzw. den Orgasmus ermöglichen, beschleunigen oder vertiefen sollen. Die Referentin, die schon vor Jahren mit der Erforschung der weiblichen Ejakulation begonnen hatte und auch weiterhin damit beschäftigt ist, warnte vor simplen mechanistischen Auffassungen der weiblichen sexuellen Reaktion. Sie sieht heute den Hauptwert ihrer Arbeit in der möglichen Hilfe für querschnittgelähmte Frauen, denen u. U. wieder zu einem erfüllten Sexualleben verholfen werden könnte.

Die übrigen, kürzeren Vorträge beschäftigten sich wieder mit dem traditionellen Spektrum pädagogischer und therapeutischer Themen. Dabei lieferten einige asiatische Referenten teilweise ungewöhnliche Beiträge über Herbal- und Hypnotherapie, die bei westlichen Teilnehmern auf amüsiertes Befremden stießen.

Beim Hauptvortrag des 4. Tages rief die amerikanische Sexualpädagogin Peggy Brick zu einer kritischen Sexualerziehung auf. Die übrigen Vorträge befaßten sich mit Alterssexualität, der Therapie von Sexualstraftätern und der HIV-Prävention, einem Thema, das nun für Asien wachsende Bedeutung erlangt. Wirklich Neues wurde nicht gesagt.

Ich selbst gab einen Workshop zum Thema "Sexology in the Internet" vor etwa 25 Teilnehmern aus den USA, Europa, Australien und Asien. Dabei erläuterte ich die oft zu spät erkannten Probleme im Webdesign, gab Tips für den Aufbau eigener Websites in Universitäten oder in der Privatpraxis, zeigte abschreckende und empfehlenswerte Beispiele, erläuterte verschiedene Suchstrategien und demonstrierte wieder live unseren Archiv-Website als billiges und bequemes Mittel, auch entlegene und zunächst unvermutete sexologische Informationen zu finden. Zu meiner eigenen Überraschung war dieser Workshop ein besonders großer Erfolg, denn augenscheinlich sprach ich als eigentlicher "Computer-Laie" genau die Sprache, die bei den anwesenden Sexologen ankam. Auch konnte ich Lösungen für Probleme anbieten, vor denen ich selbst einmal hilflos gestanden hatte, und mit denen nun die Kollegen zum ersten Mal konfrontiert waren.

Der 5. Kongresstag (27. August)

Der Hauptvortrag des letzten Kongresstages war dem amerikanischen Sexualtherapeuten Eli Coleman, dem Präsidenten der World Association for Sexology (WAS) vorbehalten, die diesen und die meisten anderen Weltkongresse veranstaltet hatte. Nach einer positiven globalen Bestandsaufnahme (er hatte in den letzten vier Jahren viele sexologische Institutionen, Organisationen und Kongresse in vielen Ländern persönlich besucht), wandte er sich mit Emphase dem Thema "sexuelle Rechte" zu und forderte den Kongress auf, diese Rechte immer und überall anzumahnen und zu fördern. In der Tat hatte der Kongress am Tage zuvor eine entsprechende Erklärung verabschiedet. Die weiteren, kürzeren Vorträge des Tages hielten sich im üblichen Rahmen.

Am Nachmittag folgte ich mit anderen ausgewählten Gästen einer Einladung von Hong Kongs "First Lady", Betty Tung, zum Tee. (s. oben).

Fazit

Der Kongress war sicher ein Meilenstein auf dem Wege der sexologischen Entwicklung in Asien, besonders in China. Typisch für die Ambivalenz mit der diese Entwicklung dort verfolgt wird, war die anfängliche Brüskierung von Prof. Wu durch Frau Tung und ihre darauffolgende Bitte um Vergebung. Andererseits zeigte das direkte und unverblümte Auftreten von Prof. Wu, daß es in der chinesischen kommunistischen Parteiführung offensichtlich Kräfte gibt, die nun, auch auf dem Gebiet der allgemeinen Sexualaufklärung, für größere Toleranz und eine weitere Öffnung nach außen plädieren. Hierin liegt eine große Chance für westliche Sexualwissenschaftler, deren Hilfe nun durchaus willkommen ist.

Die größte Bedeutung des Kongresses für mich selbst lag aber, wie auch bei früheren Gelegenheiten, im persönlichen Gespräch mit Kollegen aus aller Herren Länder, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und die ich sonst nicht getroffen hätte. In diesen Gesprächen zeichnen sich Trends und Chancen für die weltweite Sexualwissenschaft viel deutlicher ab als in den offiziellen Programmen. Besonders in Australien und Lateinamerika eröffnen sich neue Möglichkeiten. Die japanischen Kollegen dagegen waren eher resigniert, die chinesischen, indischen und pakistanischen dagegen hoffnungsfroh. Ich traf in Hong Kong auch einige meiner chinesischen Gastgeber, die mich in den nächsten Tagen und Wochen bei sich erwarteten.

Der Kongress zeigte im Foyer auch Teile der Sammlung chinesischer erotischer Kunst des Kollegen Liu Dalin, die wir 1995 in der Staatsbibliothek in Berlin ausgestellt hatten (Mitveranstalter: RKI). Prof, Liu war gerade dabei, in Shanghai ein eigenes Museum dafür zu eröffnen, das ich dann einige Wochen später besuchte (s.u.).

Beijing (28. August - 2. September)

Bei der Landung im Flughafen Beijing wurde ich von Prof. Hu Peicheng abgeholt, der unser Archiv in Berlin ein Jahr vorher besucht und dabei seine Einladung an mich ausgesprochen hatte. Ich wurde für die Dauer meines Aufenthaltes im Gästehaus der Beijing Medical University untergebracht, im dortigen Restaurant beköstigt, und von einem Fahrer der Universität in einer Limousine der Universität in der Stadt und der Umgebung herumgefahren. Außerdem wurden mir jeden Tag von morgens bis abends Dolmetscher(innen) aus der Universität zur Verfügung gestellt.

Meine Einladung hatte einen besonderen Anlaß: Einen sexologischen Kongress, der im Anschluß an den von Hong Kong vom 30.- 31. August von der "China Sexology Association" in einem großen Hotel durchgeführt wurde (Yuanshan Hotel). Auf diesem Kongress mit etwa 100 Teilnehmern war ich der einzige nicht-chinesische Redner, und ich sprach über die Geschichte der deutschen Sexualwissenschaft und ihre frühere Verbindung zu China (Hirschfeld und sein letzter Schüler und Erbe Li Shiu Tong). Die chinesischen Kollegen sprachen ausschließlich über die Therapie von Sexualstörungen, besonders mithilfe der traditionellen chinesischen Medizin. Die Wirksamkeit dieser Behandlungen konnte und kann ich nicht beurteilen. Alle Vorträge wurden simultan ins Englische bzw. Chinesische übersetzt.

Der zweite Kongresstag brachte eine Reihe von Exkursionen innerhalb Beijings. Davon waren zwei besonders aufschlußreich:

1. Besuch bei einem Bezirkszentrum für Familienplanung.

Diese vierstöckige, moderne Gebäude enthielt einen Laden mit verschiedenen Kontrazeptiva (bes. Spirale und Kondom), aber auch mit einigen erotischen Hilfsmitteln, wie man sie in westlichen "Sex Shops" findet. Ein Stockwerk höher befand sich ein Heiratszentrum, das alles bot, was zu einer Hochzeit nötig ist: Ein feierlich dekoriertes Trauungszimmer, ein Kleiderverleih mit großer Auswahl kostbarer Kleider und Fräcke (für Braut und Bräutigam) und ein Photostudio mit Friseur und Schminkraum für das obligate Hochzeitsfoto. Wiederum ein Stockwerk höher waren Sprech- und Behandlungszimmer für ärztliche Beratung, Sexualaufklärung der Brautleute und Sexualtherapie eingerichtet. Für uns Besucher wurden entsprechende Videos vorgeführt, die, durchaus auf dem heutigen wissenschaftlichen Stand, eine chinesische Ästhetik und verblüffende Montagen zeigten (etwa die gezackte Kurve des weiblichen Lustgipfels (Orgasmus) übergeblendet in eine entsprechend gezackte Gipfelkette eines chinesischen Gebirges). Das oberste Stockwerk enthielt Büros, Empfangsund Konferenzräume. Kurz, dieses Familienplanungszentrum bot auch ärmeren Paaren die Gelegenheit, sich ohne große Kosten "nach gehobenem Standard" trauen zu lassen, mit ihren Familien zu feiern und auch eine seriöse Eheberatung und Sexualtherapie zu erhalten. Beim Hinausgehen wurden wir noch auf einen gepflegten Innenhof aufmerksam gemacht, der an ein ebenfalls sehr gepflegtes Altersheim mit großen Balkonterassen grenzte. "Ein Zeichen der modernen Zeit", sagte man uns, "früher kümmerten sich zuhause die Kinder um ihre Eltern, heute leben allzu viele alte Menschen allein. Wir werden in Zukunft noch viel mehr Altersheime bauen müssen." Wie repräsentativ das Zentrum für andere seiner Art war, kann ich nicht sagen. Offensichtlich war es ein "Vorzeigeobjekt".

2. Besuch bei einem demographischen Institut

In diesem hochmodernen, mit allen technischen Raffinessen ausgestatteten Gebäude hörten wir einen offiziellen Standardvortrag über die demographische Entwicklung Chinas. Der Redner erklärte uns anhand technisch vollendeter Grafiken in fließendem Englisch, das China auf dem besten Wege sei, in einigen Jahrzehnten ein negatives Bevölkerungswachstum zu erreichen und so sein größtes Problem, die Übervölkerung, endgültig zu lösen. Keiner von uns Besuchern war in der Lage, diese Aussagen zu beurteilen oder gar begründet anzuzweifeln.

Nach Ende des Kongresses, am 31. August, 1. und 2. September, wurde ich von der Universität zu verschiedenen Besichtigungen gefahren (Große Mauer, Ming-Gräber, verbotene Stadt, Himmelsaltar, usw.), war aber auch morgens bzw. nachmittags mehrfach zum Besuch der "China Family Planning Association" eingeladen. Das Hauptquartier dieser größten privaten Organisation Chinas befindet sich im Zentrum von Beijing in einem vielstöckigen, etwas mitgenommenen, großen Gebäude aus den 60er oder 70er Jahren. Sie hat im ganzen Land über 80 Mio. Mitglieder und 8 Mio. Hauptmitarbeiter. Sie nennt sich ausdrücklich eine "Non-Governmental Organization" (NGO), aber selbst dem flüchtigsten Besucher wird klar, daß sie von der Regierung kontrolliert wird. (Es gibt noch ein kleineres, offizielles Regierungsinstrument zum gleichen Thema, die "State Family Planning Commission".)

Ich wurde zunächst vom Vizepräsidenten, Herrn Liu Hanbin, empfangen, der mir in Gegenwart einiger Mitarbeiter von einem neuen Großprojekt erzählte: Es gelte, in den nächsten Jahren ein landesweites, umfassendes Programm der Sexualerziehung für Jugendliche zu entwickeln. China sehe sich zu diesem Schritt gezwungen nicht nur wegen der wachsenden Gefahr von AIDS und anderer STDs, sondern auch wegen einer schnell zunehmenden Zahl von Teenage-Schwangerschaften. Zur Durchführung dieses Projekts würde es wahrscheinlich notwendig sein, Sexualerzieher auszubilden und auch die 8 Mio. Hauptmitarbeiter de eigenen Organisation entsprechend zu schulen. Die Schwierigkeit bestünde darin, daß bisher keine passenden Lehrmaterialien zur Verfügung stünden und erst entwickelt werden müßten. Alle bisherigen Sexualaufklärungsmaterialien seien für junge Eheleute konzipiert gewesen.



Peking: Prof. Haeberle (links) and Liu Hanbin (rechts), Vizepräsident der China Family Planning Association. Die Association ist mit mehr als 80 Millionen Mitgliedern die größte Organisation außerhalb der Regierung. Sie plant nun erstmals eine Sexualerziehungskampagne für Jugendliche.


Ich wies auf unseren Archiv-Website hin als ein mögliches Hilfmittel, "Multiplikatoren" aus- und fortzubilden. Darauf begaben wir uns unter Führung von Frau Lily Liu Liqing, der Vizedirektorin für Öffentlichkeitsarbeit, in die Computerabteilung, wo ein Internet-Anschluß zur Verfügung stand. Ich führte unseren Website live vor und demonstrierte am Beispiel unserer "COURSES IN SEXOLOGY" verschiedene Wege, wie sie direkt in der Lehre nutzbar zu machen sind (und etwa in Taiwan auch schon genutzt werden). Diese, auch an den folgenden beiden Tagen wiederholte, Demonstration stieß auf sehr großes Interesse, besonders bei den sehr jungen Computerspezialisten. Allgemein wurde bedauert, daß der Website nicht schon in chinesischer Sprache verfügbar war, und man überlegte, wie und von wem und zu welchen Kosten eine chinesische Übersetzung herstellbar sei. Zwar haben z.Zt. nur etwa 4 Mio. Chinesen Internet-Anschluß (eine Zahl, die sich im nächsten Jahr verdoppeln wird), aber Computer sind reichlich vorhanden, und mithilfe von CD ROMs könnte man den Website deshalb dennoch landesweit nutzen. Da von chinesischer Seite keine Finanzierung zu erwarten ist, setzte man schließlich die Hoffnung auf die sehr vermögende Stiftung von Bill Gates in Seattle, die schon mehrfach erhebliche Gelder für Familienplanungsprojekte außerhalb der USA bereitgestellt hatte.

Ich bedauerte sehr, daß ich nicht in der Lage war, sofort mit einer finanziellen Zusage auf diese einmalige Chance zu reagieren. Hier böte sich für eine deutsche Stiftung eine sehr dankbare Aufgabe. Mit relativ bescheidenen Investitionen wäre eine Breitenwirkung zu erzielen, wie sie sich wohl kaum ein zweites Mal bietet. Meine eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiet lassen mich allerdings zweifeln, daß man in Deutschland diese Chance überhaupt sehen, geschweige denn ergreifen wird.

Tianjin (3.-5. September)

Auf dem Kongress in Beijing hatte ich schon meinen nächsten Gastgeber getroffen: Prof. Cui Yi Tai von der Tianjin Medical University, deren Präsident er über ein Vierteljahrhundert gewesen war. In dieser Zeit hatte er sie von einer eher unbedeutenden zu einer der führenden medizinischen Universitäten des Landes ausgebaut und sie auch mit neuen Kliniken erheblich vergrößert. Auch jetzt waren noch weitere Großprojekte im Bau.



Tianjin: (Von links nach rechts) Dr. Meng Xianwu, Prof. Haeberle und Prof. Cui Yi Tai, der langjährige vormalige Präsident derTianjin Medical University. Sie stehen vor einem soeben eingeweihten neuen Klinikgebäude.


Tianjin, mit seinen ca. 9 Mio. Einwohnern, hat in den letzten Jahren enorme Anstrengungen zur Modernisierung und Stadtverschönerung unternommen (u.a. besitzt es jetzt einen riesigen Stadtpark mit See und einen 420 m. hohen Fernsehturm als Wahrzeichen). Aber auch die Altstadt ist sehr ansehnlich restauriert mit einem historischen Einkaufsviertel, das verdientermaßen eine Touristenattraktion darstellt. Außerdem hat man kürzlich ein großes, sehr eindrucksvolles Museum/Mausoleum zu Ehren von Chou Enlai und seiner Frau Deng Yingchao eröffnet (hier soll offensichtlich ein Gegengewicht zum Personenkult um den nun weithin diskreditierten Mao Zedong geschaffen werden). Kurz, Tianjin macht den Eindruck einer dynamischen, zukunftsorientierten Metropole, die im Wettstreit der chinesischen Großstädte einen der ersten Plätze einnimmt.



Tianjin: Prof. Haeberle und Prof. Cui im neuen Stadtpark von Tianjin.


Ich reiste von Beijing mit dem Zug an und wurde von Prof. Cui und seinem Fahrer am Bahnhof abgeholt. Prof. Cui, der zeitweilig auch in den USA gearbeitet hatte, erwies sich als ein sehr kontaktfreudiges Energiebündel. Er war in der Stadt wohlbekannt und kannte selber sehr viele Menschen, die ihn überall, auch auf offener Straße, ansprachen. Ein offensichtlicher Tatmensch und Organisator, nahm er meinen Besuch persönlich in die Hand. Ich wurde im Gästehaus der Universität untergebracht, von ihm selbst morgens zum Frühstück abgeholt, den ganzen Tag über zu Besichtigungen herumgefahren, mittags und abends zu ausgiebigen Banketten eingeladen und mußte danach noch mit ihm und seinem jeweiligen Fahrer und einigen Kollegen Karaoke singen, wobei er mit starker Stimme und viel Enthusiasmus als gutes Beispiel voranging. All dies ist in dieser Form nur im heutigen China möglich. Undenkbar, daß ein Deutscher oder Amerikaner in gleicher Position so ungezwungen "von gleich zu gleich" mit seinen Chauffeuren jede Mahlzeit einnimmt und dann noch abends mit ihnen singt. Auch im alten China wäre das natürlich undenkbar gewesen. Hier zeigt sich doch ein Resultat jahrzehntelanger kommunistischer Erziehung, das sehr angenehm auf den Besucher wirkt.

Prof Cui machte mir zwei Buchgeschenke: I. Ein schmales Buch "Sexualerziehung", das er selbst vor Jahren verfaßt hatte, und 2. einen von ihm herausgegebenen, sehr ungewöhnlichen großen, schweren Prachtband "Geschichte der Medizin - dargestellt anhand von Briefmarken". Dieses seltsame, farbenreiche Werk, das Resultat über 40-jähriger philatelistischer Sammeltätigkeit, erzählt die gesamte Medizingeschichte von der chinesischen, griechischen und römischen Antike bis heute anhand von Briefmarken aus aller Herren Länder. Allein von Robert Koch enthält das Buch über 150 verschiedene Briefmarken.

Am Samstag, dem 4. September hielt ich auf Wunsch von Prof. Cui in der Universität einen 150-minütigen Vortrag vor etwa 80 Zuhöreren zum Thema "Sexuelle Rechte und sexuelle Gesundheit". Wiederum nahm ich dabei unseren Website zuhilfe und entwickelte aus verschiedenen historischen Dokumenten die heutige Forderung nach sexuellen Rechten - angefangen von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ("pursuit of happiness") über die "Universelle Erklärung der Menschenrechte" der französischen Revolution bis zur Menschenrechtserklärung der UNO. Ich wies darauf hin, daß die Idee besonderer "sexueller Rechte" zwangsläufig als Protest aus der Vernachlässigung der Rechte der Frauen in all diesen hehren Dokumenten erwachsen mußte. Deren Aufbegehren wiederum hat inzwischen alle möglichen sexuellen Minderheiten zur Formulierungen ihrer eigenen Rechte ermuntert. Zusammengefaßt finden sich nun viele dieser Forderungen in der Erklärung sexueller Menschenrechte, die der sexologische Weltkongress in Hong Kong soeben verabschiedet hatte (s.o.). Mein Vortrag, der angesichts aktueller politischer Diskussionen hätte kontrovers sein können, wurde zu meiner Verwunderung sehr wohlwollend aufgenommen, möglicherweise wegen seines feministischen Tenors, der eben in China kaum auf Vorbehalte stoßen kann (im Auditorium waren viele Frauen aus verantwortlichen Stellungen).

Jinan (5.-7. September)

Am 5. September wurde ich von einer Abordnung meiner nächsten Gastgeber (Fahrer, Dolmetscherin, Gastwissenschaftler aus Beijing) in einem Privatauto abgeholt und fuhr mit ihnen über neue, gebührenpflichtige Autobahnen in 7-stündiger Fahrt nach Jinan.

Jinan mit seinen 6,5 Mio. Einwohnern erwies sich als eine weitere pulsierende Großstadt mit weiteren spektakulären Bauprojekten. Allerdings sah ich von der Stadt selbst wenig, da wir erst bei Einbruch der Dunkelheit ankamen und sofort ein ausgedehntes, üppiges Bankett auf dem Programm stand. Danach ließ mich der Hauptgastgeber, Herr Wang Yu De, in ein modernes Hotel bringen. Der ganze nächste Tag war dann der Besichtigung des heiligen Berges Taishan gewidmet, und erst am Morgen des Abreisetages, am 7. September hatte ich Gelegenheit, vor etwa 40 Teilnehmern einen 90-minütigen Vortrag zu halten über "Sexuelle Funktionsstörungen aus westlicher Sicht". Bei diesen Teilnehmern handelte es sich um Angestellte zweier "Biotech"-Firmen ("Eve"-Boda und Unison), die "sexuelle Stärkungsmittel" nach Rezepten der traditionellen chinesischen Medizin herstellten. Diese Produkte verkauften sich augenscheinlich sehr gut, auch im Ausland, denn die Firmenbüros, die ich dann auch besichtigte, waren in luxuriösen Bauten untergebracht und auch elektronisch vernetzt. Mir wurde nicht völlig klar, was man sich von meinem Besuch versprach, ich bekam aber einen Hinweis in der Diskussion nach meinem Vortrag, in der es fast ausschließlich um die STD-Prävention ging. Es zeigte sich, daß die Zuhörer(innen) zwar einigermaßen über AIDS aufgeklärt waren, aber noch nie von Herpes genitalis, HPV und Hepatitis B als sexuell übertragbaren Krankheiten gehört hatten. Augenscheinlich spürte man aber die Notwendigkeit, neben dem Geschäft auch eine gewisse eigene sexologische Grundausbildung nicht zu vernachlässigen. Wie ich später erfuhr, hatten sich daher diese und andere chinesische Firmen zu einem Förderkreis zusammengeschlossen, der gezielt sexologische Organisationen finanziell unterstützt. Auch die Einladung an mich war auf diese Weise zustande gekommen. Hauptsächlich aber wird so die chinesische Sexologie schon seit einigen Jahren regelmäßig gefördert - ein Verhältnis zu beiderseitigem Vorteil. Zweifellos wäre dies Modell auch in Deutschland nachahmenswert.



Jinan: Prof. Haeberle präsentiert einen sexologischen Workshop für die Hersteller traditioneller chinesischer Medizinartikel.


Hefei (7.-9. September)

Von Jinan flog ich mit einer chinesischen Propellermaschine nach Hefei und wurde dort am Flughafen von neuen Gastgebern abgeholt.



Hefei: Ankündigung eines Vortrags von Prof. Haeberle in der Tageszeitung "Jiang Huai Chen Bao",
7. September 1999.


Hefei hat etwa 1 Mio. Einwohner (weitere 4 Mio. im unmittelbaren Einzugsgebiet) und ist die Hauptstadt der Provinz Anhui. Es ist eine schöne Stadt mit einem Ring von Parks, die den eigentlichen Stadtkern umgeben. Auch hier sah man große Bauprojekte zur weiteren Modernisierung und elegante neue Hotels nach bestem westlichen Standard. In einem dieser Hotels an einer großen Einkaufsstraße wurde ich untergebracht.

Mein Hauptgastgeber war ein Arzt, Dr. Li Ze You, der in der Innenstadt eine sexologische Klinik betrieb. Sie war u.a. auch eine offizielle Klinik des Roten Kreuzes, wurde aber ganz privatwirtschaftlich betrieben. Eine Besichtigung machte mir klar, daß die Arbeit hier keineswegs ein Verlustgeschäft war. Auf mehreren Etagen wurde alles geboten, was irgendwie sexualmedizinisch relevant sein konnte: Empfängnisverhütung, Infertilitätsbehandlung, STD-Behandlung und Beratung, chirurgische, medikamentöse und psychotherapeutische Therapie sexueller Störungen. Es wurden sowohl westliche wie traditionell chinesische medizinische Verfahren angewandt. Überall herrschte große Geschäftigkeit.

Dr. Li hatte aber auch gute Beziehungen zur Universität und dort für mich einen Vortrag in der neuen Psychiatrischen Klinik organisiert. Am Morgen des 8. September hielt ich also im sehr modernen psychiatrischen Hörsaal vor etwa 100 Professoren und Ärzten einen 90-minütigen Vortrag über "Sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung". Der Hörsaal war insofern bemerkenswert, als alle technischen Hilfsmittel (Dias, Folien, Videos, CD ROMs und live Internet-Demonstrationen) vom Redner selbst an seinem Pult zu kontrollieren waren. Dabei war die Wiedergabe dank einer Spezialleinwand besonders deutlich. Diese neueste technische Perfektion sah ich dort zum ersten Mal.



Hefei: (Von rechts:) Dr. Li Shidong (Fuyang), Prof. Lu Ren Kang (Wuhu), Prof. Haeberle und die Übersetzerin
Ms. Chang vor dem Universitätsklinikum.


Am Nachmittag des selben Tages hielt ich im selben Hörsaal einen zweiten 120-minütigen Vortrag vor dem selben Publikum zur Geschichte der Sexualwissenschaft. Dabei betonte ich ihre Entstehung in Berlin und ging besonders auf die China-Reise Magnus Hirschfelds 1931 und seinen letzten Schüler und Erben Li Shiu Tong ein.

Fuyang (9.-11. September)

Dr. Li stellte den Kleinbus seiner Klinik samt Fahrer zur Verfügung für die etwa fünfstündige Fahrt nach Fuyang, meiner nächsten Station. Mit uns fuhren noch zwei chinesische Mediziner, die ebenfalls in Fuyang zu Vorträgen erwartet wurden: Prof. Lu Ren Kang aus Wuhu und Dr. Li Shidong, der neue Direktor der andrologischen Klinik in Fuyang, der sich auf der Rückreise von Hong Kong befand, wo er an dem Weltkongress teilgenommen hatte.

Fuyang mit nur etwa 350 000 Einwohnern ist, im Vergleich zu den bisher erwähnten Städten ein Provinznest, hat aber einen wichtigen Bahnhof, der fast genau auf der halben Bahnstrecke zwischen Beijing und Hong Kong liegt und damit verkehrstechnisch die Mitte im Reich der Mitte einnimmt. Auch hier waren große Bau- und Modernisierungsprojekte unübersehbar. Ich selbst wurde in einer luxuriösen Suite in einem hochmodernen Hotel untergebracht, anschließend aber sofort zu einer Orientierungsfahrt abgeholt.



Fuyang: Das Volkskrankenhaus Nr. 2, ein Lehrkrankenhaus des Bengbu Medical College. Das Krankenhaus ist dabei, eine neue große andrologische Abteilung einzurichten.


Eine Überraschung war das 2. Volkskrankenhaus, wo ich meinen Vortrag halten sollte. Der Präsident, Gao Xuezhong, führte mich selbst durch die verschiedenen neuen und alten Bauten und alle Abteilungen. Besonders eindrucksvoll waren dabei verschiedene medizinische Großgeräte von der Fa. Siemens, die viele Millionen DM gekostet hatten. Offensichtlich ist beabsichtigt, das 2. Volkkrankenhaus in Fuyang zu einem medizinischen Zentrum auszubauen, das für gewisse schwere Krankheiten dann für sein gesamtes Einzugsgebiet von etwa 13 Mio. Einwohnern zuständig sein soll. Es ist jetzt schon Lehrkrankenhaus des "Bengbu Medical College". (Die Stadt Bengbu liegt nordöstlich von Fuyang.) Sehr interessant war auch das "Research and Publicity Department", das eine eigene Zeitschrift herausgab und mit allen elektronischen Möglichkeiten (Internet-Anschluß) ausgestattet war. Zum Abschluß fuhren wir noch auf die Baustelle einer neuen, mehrstöckigen andrologischen Klinik, an der man u.a. auch die Psychotherapie von Sexualstörungen anbieten wollte.



Fuyang: (Vordere Reihe von links nach rechts) Prof. Sun Chengzhai, Krankenhauspräsident Gao Xuezhong, Prof. Haeberle und (stehend) Dr. Li Shidong, Leiter der neuen Andrologischen Klinik.


Am 10. September hielt ich dann vor ca. 150 Ärzten im Krankenhaushörsaal zwei Vorträge von je 120 Minuten - morgens zum Thema "Sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung"; nachmittags über die "Geschichte der Sexualwissenschaft". Beide wurden sehr dankbar aufgenommen, ja, zu meiner völligen Überraschung erschien der Präsident und überreichte mir unter allgemeinem Beifall eine Ernennungsurkunde zum "Honorary Professor and Senior Advisor". Dabei gab er der Hoffnung Ausdruck, daß sich zwischen uns eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickeln möge.

Fuyang: Links: Chinesische Urkunde über die Ernennung von Prof. Haeberle als Honorarprofessor am Volkskrankenhaus. Rechts: Offizielle englische übersetzung der Urkunde. (Zur Vergrößerung Bild anklicken.)


Hefei (11. September)

Mit dem Klinikbus von Dr. Li fuhren wir nach Hefei zurück, wo ich abends noch ein Radio- und ein Zeitungsinterview gab ("Hefei Abendzeitung" Aufl. 800 000).

Nanjing (12. -15. September)

Am 12. September fuhr ich mit regulärem Linienbus in etwa drei Stunden nach Nanjing, wo ich zum Vortrag am "Nanjing College for Population Programme Management" eingeladen war. Wie sich herausstellte, hatte dieses sehr erfolgreiche, schnell expandierende College ein eigenes, neues, großes Gästehaus nach dem Standard eines westlichen Dreisternehotels, wo ich auch wohnte. Ich wurde vom Vizepräsidenten Prof. Sun Xiaoming und vom Leiter der Abteilung "Internationale Beziehungen", Prof. Huang Sen, empfangen. Beide sprachen fließend Englisch. Das College war völlig auf Studenten aus dem In- und Ausland eingerichtet und arbeitete sowohl mit den Instanzen der nationalen Familienplanung wie mit denen der UNO zusammen. Es lag sehr verkehrsgünstig und landschaftlich reizvoll zwischen Stadtzentrum und einem bewaldeten Hügelkomplex, wo sich die berühmten historischen Observatorien und das Grabmal von Sun Yat Sen befinden. Wiederum wurde mir eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt, die mich auf Wunsch überall hin begleitete und alle Taxifahrten bezahlte.

Der 13. September war verschiedenen Besichtigungen gewidmet (Altstadt, Konfuzius Tempel, Sun Yat Sen's Wohnung und Arbeitsstätte, Grabmal, Observatorien usw.).

Am 14. September hielt ich morgens im College vor Teilen des Lehrkörpers einen Vortrag von über drei Stunden zum Thema "Sexologie im Internet". Dabei nutzte ich, der Einfachheit halber, eine CD ROM unseres Archiv-Websites. Dieser Vortrag fand großen Anklang und rief eine lebhafte Diskussion hervor. Ich wurde gebeten, dem College zu bald wie möglich 20 solche CD ROMs für Unterrichtszwecke zuzuschicken. Unter den Zuhörern war auch Prof. Chu von der Universität Nanjing, der 1992 dort mein Gastgeber gewesen war und 1998 unser Archiv in Berlin besucht hatte.



Nanjing: Prof. Haeberle (Mitte) nach einer live Demonstration unseres Websites am
Nanjing College for Population Programme Management.


Der Nachmittag galt wieder Besichtigungen (alte Stadtmauer, Seepark). Der Gesamteindruck der Stadt, die ich schon von einem früheren Besuch kannte (1992) war außerordentlich positiv. Nanjing mit seinen vielen Bäumen im Zentrum und seinen historischen Gebäuden war immer schon eine der schönsten und saubersten Städte Chinas gewesen. Nun war sie noch außerdem von einer beschleunigten Modernisierungswelle erfaßt, die fast überall gewaltige Hotelpaläste, Bürohochhäuser und Shopping Centers aus dem Boden schießen ließ. Gleichzeitig bemühte man sich aber, bestehende Grünanlagen zu verschönern und auszubauen, so daß man ein Gefühl wohlkontrollierter Dynamik und sichtbarer, schneller Verbesserung bekam. Man spürte dies auch am Bürgerstolz der Einwohner, die nirgendwo anders leben wollen.

Shanghai (15.-22. September)

Am Morgen des 15. September wurde ich in der Limousine des College-Präsidenten zum Bahnhof gebracht, von wo ich mit einem sehr angenehmen Schnellzug in etwa 3 1/2 Stunden nach Shanghai fuhr. Dort wurde ich am Bahnhof von Herrn Lin Zu Hua abgeholt, dem Geschäftsführer des neuen Museums erotischer Kunst, das mein alter Freund Prof. Liu nach jahrelangem Kampf soeben eröffnet hatte. (Das RKI war 1995 Mitveranstalter gewesen, als Teile seiner Sammlung in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden ausgestellt worden waren.) Prof. Liu war gerade wieder in den Niederlanden, wo er eine neue Ausstellung seiner Objekte eröffnete; er sollte aber in wenigen Tagen zurück sein. Herr Lin brachte mich zunächst in ein Hotel und dann ins neueröffnete Museum. Hier nun erlebte ich wieder eine große Überraschung.

Das "Museum alter chinesischer Sexualkultur" befindet sich in der allerbesten Lage nicht nur Shanghais, sondern, wie man versucht ist zu sagen, ganz Asiens. Um dies zu verdeutlichen, sei folgendes vorausgeschickt: Shanghai, das ich vor 10 Jahren zum ersten Mal besucht hatte, ist heute mit seinen 14 Mio. Einwohnern und seinem Wald von Wolkenkratzern eine Art asiatisches New York, nur eben größer, schöner, moderner und sauberer. Noch nie habe ich eine Stadt sich innerhalb von nur zehn Jahren so verändern sehen. Verglichen damit, herrscht in Berlin Stillstand, und alle Berliner Neubauten und Baustellen zusammengenommen wirken im Vergleich zu denen in Shanghai geradezu niedlich. Vor allem hat man auf der früher vernachlässigten Flußseite mit Pudong einen neuen Stadtteil geschaffen, der an Pracht und Großzügigkeit seinesgleichen sucht. Gleichzeitig hat man das ganze Gebiet um den berühmten "Bund" zu einer eleganten, breiten, abends faszinierend beleuchteten Flußpromenade ausgebaut, von der aus man am anderen Ufer Pudong mit seinem Fernsehturm "Perle des Orients" erblickt, der in vielen Farben schimmert. Dieser ganze innerstädtische Raum gehört zu dem Großartigsten, was man heute auf der ganzen Welt sehen kann. Außerdem hat Shanghai seit 1989 schon zwei moderne, neue Flughäfen eröffnet (in Berlin-Schönefeld wird immer noch geplant).

Nicht weit von all dieser Uferpracht liegt die berühmteste Einkaufsstraße Shanghais, die Nanjing Road mit ihren großen Kaufhäusern. An der besten Stelle dieser Straße liegt nun das Museum, eine Adresse, die man in New York nur mit "5th Ave.und 55th St." vergleichen könnte. Dazu kommt aber noch, daß, fast gleichzeitig mit der Museumseröffnung, die Stadt Shanghai gerade diesen Straßenabschnitt zur ersten Fußgängerzone Chinas umgestaltet hat. Mithilfe eines französischen Architekten (Charpentier) hat man hier eine hochelegante, verkehrsfreie Flaniermeile mit neuen Bäumen, Blumenrabatten, Ruhebänken, Kiosken und Straßenlaternen geschaffen, die Tag und Nacht von Tausenden von Menschen wimmelt - Einheimischen wie Touristen. Nicht weit davon befinden sich außerdem das spektakuläre neue Opernhaus und das Stadtplanungsmuseum des gleichen Architekten sowie das neue architektonische Juwel "Shanghai Museum". Kurz, der Kollege Liu hatte es geschafft, für seine Sammlung den besten überhaupt möglichen Ort zu finden. Natürlich war ich sehr gespannt, zu erfahren, wie ihm das gelungen war, aber zunächst mußte ich noch einige Tage auf seine Rückkehr warten.

Inzwischen machte ich mich mit dem Museum vertraut, das ansprechend gestaltet und mit einem Verkaufsraum und Cafe am Eingang sehr geschickt gegliedert ist. Es zeigt auf ca. 1 000 qm etwa 1200 Objekte aus allen historischen Epochen Chinas. Außerdem nutzte ich die Gelegenheit, einige Beschriftungen, Broschüren und anderes Werbematerial zu redigieren, das teilweise in unbeholfenem oder gar falschem Englisch gedruckt war. In der übrigen Zeit fuhr mich Herr Lin zu verschiedenen Besichtigungen herum (wir waren auch auf dem Fernsehturm).

Am 20. September schließlich war Prof. Liu aus den Niederlanden zurückgekehrt und holte mich morgens selbst vom Hotel ab. Nun erfuhr ich auch, wie es ihm gelungen war, die ideal gelegenen Museumsräume zu bekommen: Er selbst hatte gar nichts dafür getan. Stattdessen hatten offizielle Vertreter der Stadt Shanghai ihm ein überraschendes Angebot gemacht. Man bot ihm die Räume in bester Lage mietfrei unter der einfachen Bedingung, daß er 40% des Profits an die Stadt abfuhren würde; 60% dürfe er selber behalten. Natürlich hatte er dies sehr vernünftige Angebot ohne Zögern angenommen. Wie aber kam die Stadt dazu, das Angebot zu machen? Offensichtlich hatte man die Sammlertätigkeit von Prof. Liu seit Jahren mit Interesse verfolgt und auch seine internationalen Erfolge zur Kenntnis genommen. (Teile der Sammlung waren nicht nur in Deutschland, sondern auch in Taiwan, Japan und Australien gezeigt worden.) Im Zuge der Stadtverschönerung, besonders beim Ausbau der Nanjing Road als Fußgängerzone, suchte man nun nach einer zusätzlichen Attraktion und fand sie in Prof. Lius einmaliger Sammlung. Es kommt hinzu, daß Shanghai dringend einen Zuwachs des Tourismus braucht, denn man hat viel zu schnell viel zuviel gebaut. Viele Hotels und Bürogebäude stehen fast leer. Zwar scheint auf lange Sicht jeder Optimismus gerechtfertigt, aber zur Zeit erlebt die Stadt eine gewisse Wachstumskrise. Die Begünstigung des Museums ist also im Zusammenhang mit vielen anderen Maßnahmen zu sehen, die den internationalen Tourismus ankurbeln sollen. Inzwischen hat sich dies alles auch woanders herumgesprochen, so daß nun schon die Stadt Xian, ein bekanntes Touristenziel, an Prof. Liu wegen eines zweiten Museums herangetreten ist. Die ganze Episode sagt - auf lokaler Ebene - sehr viel über die heutige politische Führung in China, ihre Arbeitsweise, ihre Interessen, ihre Prioritäten. Ich selbst habe keine Zweifel, daß die beiden Museen erotischer Kunst des Kollegen Liu alle Erwartungen der Lokalpolitiker erfüllen werden. Davon abgesehen, sind sie aber auch kulturhistorisch sehr wertvoll und können für das ganze Land eine nützliche volkspädagogische Arbeit leisten. Dies wiederum entspricht den Prinzipien, die Prof. Wu Jieping als Vertreter der Zentralregierung auf dem Weltkongress in Hong Kong verkündet hatte.



Shanghai: Prof. Liu Dalin (links) and Prof. Haeberle (rechts) im neuen Museum of Ancient Chinese Sex Culture.


Am 21. September hielt ich, vermittelt durch Prof. Liu, einen Vortrag für Professoren und einige Studenten im Institut für Soziologie der Shanghai Akademie der Sozialwissenschaften. Im Wesentlichen handelte es sich dabei wieder um eine live Demonstration unseres Websites , die, wie immer, auf großes Interesse stieß. Anschließend wurde ich vom Direktor, Prof. Lu Hanlong, in den Faculty Club zum Essen eingeladen, wo ich bemerkte, daß gleichzeitig andere, amerikanische Professoren von anderen chinesischen Gastgebern bewirtet wurden. Ich fragte mich, wieviel Deutsche hier wohl im Laufe des Jahres auftauchten, vermutete aber, daß es nur wenige waren.

Hangzhou (22.-23. September)

Am 22. September fuhr ich mit der Bahn nach Hangzhou, meiner nächsten Reisestation. Meine dortigen Gastgeber arbeiteten an der "Zhejiang Sanitary and Anti-Epidemic Station", einer dem RKI ähnlichen Behörde mit ca. 400 Mitarbeitern, die allerdings nur für die Provinz Zhejiang zuständig ist.

Ich war schon vor zehn Jahren in Hangzhou gewesen und erkannte die Stadt nicht wieder. War sie damals eine verschmutzte, von chemischen Abgasen verpestete Fabrikstadt von lieblosen, billigen Zweckbauten gewesen, so präsentierte sie sich nun unter strahlend blauem Himmel als elegante, moderne Touristenmetropole. Diese Metamorphose war ebenso erfreulich wie sie dringend notwendig gewesen war, denn Hangzhou liegt an dem berühmten "Westsee" mit seinen alten Tempeln und Klöstern in einer der schönsten Landschaften Chinas. Das ganze Gebiet - eine Art altehrwürdiges, religiöses Potsdam - gehört mit Recht zum Weltkulturerbe und verdient besonderen Schutz.

Ich wurde von meinem Hauptgastgeber, Dr. Mo Shihua, in einem eleganten, modernen Hotel untergebracht und nachmittags zu meinem Vortrag im Hauptgebäude der Behörde abgeholt.

Wiederum lieferte ich vor etwa 100 Ärzten in zweieinhalb Stunden eine live Demonstration unseres Websites, die wiederum großes Interesse fand. Diesmal wollte man aber besonders unsere Links zu STD-relevanten Informationen nutzen, und daraus ergab sich eine lebhafte Diskussion. Es stellte sich heraus, daß viele der anwesenden Ärzte im Auftrag der WHO damit beschäftigt waren, genauere Zahlen über HIV-Infektionen zu gewinnen und auch entsprechende Präventionsstrategien zu entwerfen. Schließlich fragte man mich rundheraus: "Wenn Sie, mit aller nötigen Macht ausgestattet, die AIDS-Prävention in China organisieren müßten, was würden Sie tun?" Ich entgegnete: "Ich bin hier zu fremd, um Ihnen eine ausreichende Antwort zu geben, aber eines würde ich sicher tun: Ich würde jeden einzelnen Ihrer jetzt noch überschaubaren Zahl von Testpositiven genau danach befragen, wie er sich infiziert hat. (Die Zahlen der HIV-Infizierten in China schwanken, je nach Quelle, zwischen offiziell wenigen zehntausend und inoffiziell wenigen hunderttausend.) Die Antworten würde ich sammeln und analysieren und dann genau dieser Analyse entsprechend gezielte Präventionsmaßnahmen ergreifen. Ich würde keine allgemein gehaltenen Kampagnen starten, von denen ich nicht weiß, ob sie überhaupt sinnvoll sind." Darauf scholl es mir fast im Chor entgegen: "Was Sie vorschlagen, wäre sinnvoll, ist aber politisch nicht durchsetzbar." In der Tat, eine junge Ärztin bekannte folgendes: "Ich nehme die Tests ab und befrage die Testpositiven auch nach der Infektionsquelle. Ich habe aber das Gefühl, daß die Patienten mich belügen." Meine Antwort: "Dies Gefühl täuscht Sie wohl nicht, denn wer soll Ihnen schon die Wahrheit sagen, wenn seine Antwort Teil seiner Patientenakte wird? Die Befragung, von der ich spreche, ist nur sinnvoll, wenn sie außerhalb jedes medizinischen Kontextes von unabhängigen Sozialwissenschaftlern durchgeführt wird, die glaubhaft völlige Anonymität zusichern können". Und wiederum erhielt ich die Antwort: "Das ist bei uns politisch nicht durchsetzbar". Diese Diskussion ist mir so deutlich im Gedächtnis geblieben, weil sie in seltener Klarheit den wunden Punkt der AIDS-Prävention nicht nur in China, sondern auch in vielen anderen Ländern bezeichnete.

Am 23. April holte man mich zur obligaten Besichtigung einiger Tempel und zur Bootsfahrt auf dem Westsee ab. Es war ein herrlicher, unvergeßlicher Tag an einem der bezaubernsten Plätze der Erde. Am Spätnachmittag fuhr ich dann mit der Bahn wieder nach Shanghai.

Hong Kong (24. - 29. September)

Am Morgen des 24. September flog ich von Shanghai nach Hong Kong zurück, um dort noch einige Tage Urlaub zu machen. Leider zeigten sich kurz nach meiner Ankunft erste Symptome einer viralen Infektion, die mir bald Schnupfen, Husten und Fieber bescherte. Da sich mein Zustand langsam, aber stetig verschlimmerte, blieb mir wenig übrig, als im Hotel das Bett zu hüten (Gottseidank mit herrlicher Aussicht auf den Hafen!) Immerhin schleppte ich mich noch zu zwei wichtigen Besprechungen:

1. Ich besuchte meinen Kollegen Prof. M. L. Ng, den Präsidenten des voraufgegangenen Weltkongresses, in seiner Universitätsklinik. Dort lagerten noch mehrere hundert Exemplare des Bandes "Sexology world-wide", der ja auf unserem Website beruhte. Prof. Ng erbot sich, mir diese Restexemplare zum eigenen Gebrauch zuzusenden, wenn ich die Versandkosten von mehreren hundert Mark übernehmen würde. Da ich das nicht zusagen konnte, kam es zu keiner Entscheidung. Z. Zt. liegen die Bände immer noch dort. Sie könnten, wie ursprünglich in Hong Kong, noch gut als kostenlose Kongressunterlagen für die Teilnehmer unseres EFS-Kongresses in Berlin 2000 Verwendung finden, aber im Augenblick ist ja noch nicht einmal dessen Finanzierung gesichert.

2. Ich besuchte den Leiter des Goethe-Instituts in Hong Kong, Herrn Dr. Ulrich Sacker. Er sagte mir, daß für den Sommer 2000 in Berlin ein großes Kulturfestival "Berlin/Hong Kong" geplant sei, bei dem das "Haus der Kulturen der Welt" eine wichtige Rolle spielen würde. Er wußte auch, daß diese Kongresshalle auf dem Gelände des früheren ersten Instituts für Sexualwissenschaft liegt, und daß dessen Gründer, Magnus Hirschfeld auf seiner Weltreise 1931 in Hong Kong gewesen war. Als ich ihm von Hirschfelds letztem Schüler und Erben Li Shiu Tong, einem Bürger Hong Kongs, erzählte, schlug er vor, der Sache nachzugehen und zu überlegen, wie man diese in das Festival einbauen könnte. Ich nahm daher noch am Ort Kontakt zu einem chinesischen Schriftsteller namens Xiaomingxiong auf, von dem ich wußte, daß er des Deutschen mächtig und mit dem Schicksal Hirschfelds vertraut war. Ich versprach, ihm weitere Informationen zu schicken, so daß er mit genaueren Recherchen beginnen könne. Dies habe ich inzwischen getan, wir stehen weiter in Verbindung, und ich warte nun hoffnungsvoll auf erste Ergebnisse.

Am 29. September flog ich, immer noch krank, von Shanghai nach Berlin zurück.