Erwin J. Haeberle

“Paraphilie” -  ein vorwissenschaftlicher Begriff
Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte

Eine kürzere Fassung dieses Aufsatzes erschien zuerst in der Zeitschrift
Sexuologie, Bd. 18, 2011, Heft 3-4, S. 185-192

Vorbereitung eines neuen Handbuchs
Eine neue Definition von „Paraphilie“
Historische Beispiele
Zur Begriffsgeschichte
  1. Von der Sünde zur Krankheit
  2. Von der Perversion zur Paraphilie
Für wertneutrale Fachausdrücke
Literaturnachweise

Zu meiner Zeit als Universitätsprofessor habe ich meinen Studenten immer wieder gesagt, dass die Geschichte der Sexualforschung zum großen Teil eine Geschichte von Ideen ist, und zwar allzu oft eine von dummen Ideen. 

Man erkennt dies unter anderem an der “wissenschaftlichen” Sprache, die zu verschiedenen Zeiten zur Bezeichnung von verschiedenen Sexualverhalten üblich war. Wir brauchen nur uns an unsere eigenen Pioniere, die Wegbereiter der Sexologie, zu erinnern, um festzustellen, dass viele ihrer Fachausdrücken inzwischen “veraltet” sind. Wenn man nun nach dem Grund dafür sucht, so findet man bald, dass es nicht einfach „der wissenschaftliche Fortschritt“ war, sondern dass hier noch ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. In der Tat, wissenschaftliche Bemühungen unterliegen nicht selten, sowohl direkt wie indirekt, außerwissenschaftlichen Einflüssen  -  etwa der Religion, dem Straf- und Zivilrecht, der Parteipolitik, gesellschaftlichen Tabus, intellektuellen Moden, dem Druck mächtiger  Interessengruppen, der Verfügbarkeit von Forschungsgeldern, den Vertragsbedingungen von Krankenkassen, den Massenmedien und noch vielen, vielen anderen.

Vorbereitung eines neuen Handbuchs

Blickt man einige Jahrhunderte zurück in die Geschichte, so kann man eine vorläufige allgemeine Beobachtung machen: In unseren säkularen westlichen Gesellschaften haben die außerwissenschaftlichen Einflüsse vor allem zwei große kulturelle Tendenzen befördert -  die Kriminalisierung und die Medikalisierung des menschlichen Sexualverhaltens. Jede dieser beiden Tendenzen hat ihre eigene, faszinierende Geschichte, aber dies ist nicht der Ort, darauf einzugehen. Begnügen wir uns hier mit der Feststellung, dass es im Laufe der Zeit auch entsprechende Gegentendenzen gegeben hat., d.h. Versuche, zu ent-kriminalisieren und zu ent-medikalisieren. Was diesen letzteren Versuch betrifft, so kämpften Psychiater an beiden Fronten: Manchmal traten sie als wahre “Missionare der Medikalisierung” auf und erfanden immer neue Diagnosen, ein andermal unterstützten sie die gegenläufige Bewegung und reduzierten die Anzahl wieder. Im Großen und Ganzen aber hat sich inzwischen die Tendenz zur Reduktion als stärker erwiesen: Heute ist die Liste der Diagnosen kürzer, spezifischer und genauer. Auf jeden Fall wurde und wird unsere sexologische Fachterminologie, positiv oder negativ, von all dem Hin und Her beeinflusst - von ideologischen Auseinandersetzungen, professionellen Grabenkämpfen, Befreiungsbewegungen sexueller Minderheiten, der gegenwärtigen elektronischen Revolution usw. usf.

Neuerdings wird  - reichlich spät - der überkomme Begriff “Paraphilie” in Frage gestellt und von der Fachwelt lebhaft diskutiert, und zwar in Vorbereitung einer Neuausgabe des amerikanischen psychiatrischen Handbuchs  Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der American Psychiatric Association (APA).

Allerdings: Jeder kritische Beobachter, der sich ein wenig in der Philologie und Philosophie auskennt, hat schon immer gesehen, dass dieser Begriff  ganz eindeutig moralistisch und somit vorwissenschaftlich ist. Außerhalb psychiatrischer und sexologischer Zirkel konnte daher kein Forscher jemals verstehen, warum man den Ausdruck “Paraphilie”, nicht schon längst verworfen hat, ebenso wie andere ideologische, ungenaue und irreführende Begriffe wie  “Perversion”, “Deviation”, “vorzeitiger Samenerguss” bzw. „ejaculatio praecox“, ”coitus interruptus”, “Geburtenkontrolle”, “Gegengeschlecht” und ähnliches. Für Details hier klicken.

Man weiß aber auch, dass, von Ausnahmen abgesehen, Sexologen im Allgemeinen wenig Gespür für sprachliche Nuancen besitzen und sich noch weniger um die Herkunft ihrer Fachausdrücke kümmern. Das gilt besonders für diejenigen, die gleichzeitig Ärzte und Psychiater sind. Als Berufsgruppe haben sie kaum jemals Interesse an Semantik und Etymologie gezeigt. Wenn sich ein Fachjargon erst einmal  etabliert hat, dann halten sie daran fest, ganz gleich wie oft man ihn schon als unpraktisch, unlogisch, unsinnig oder gar als völlig falsch kritisiert und enttarnt hat. In dieser Beziehung sind selbst einige radikale Sexologen merkwürdig konservativ.

Traditionellerweise haben Psychiater eine “Paraphilie” ganz einfach als “sexuelle Störung (disorder)” definiert, wobei sie oft hinzufügten, dass sie sich in “deviantem” oder “abnormen” Verhalten äußere. Die neueste Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV-TR) etwa definiert Paraphilien als

“conditions which ‘‘…are characterized by recurrent, intense sexual urges, fantasies, or behaviors that involve unusual objects, activities, or situations.” (1)    

Deutsch:
Beschwerden (bzw. Zustände), gekennzeichnet durch wiederholte, intensive sexuelle Impulse, Phantasien oder Verhaltensweisen, die mit  ungewöhnlichen Objekten, Aktivitäten oder Situationen in Zusammenhang stehen.“ (2)

Es ist nicht schwer, das Hauptproblem dieser Definition auszumachen: Es liegt in dem Wort „ungewöhnlich“, denn wer dieses Wort benutzt, gibt damit vor, zu wissen, was im menschlichen Sexualverhalten „gewöhnlich“ ist. Woher aber will er das wissen? Geht man nun dieser unausweichlichen Frage nach, so zeigt sich sehr bald, dass es sich weniger um ein Wissen als um einen Glauben handelt - eine irgendwie von irgendwoher abgeleitete Überzeugung oder Vorstellung vom „Normalen“. Damit ist nun aber nicht etwa eine prinzipiell objektiv nachweisbare statistische Normalität gemeint, wie sie das Wort „gewöhnlich“ suggeriert, sondern ein moralisch als positiv bewerteter Standard. Die Begründung für diesen Standard bleibt aber im Dunkeln. Kurz: Es wird hier aufgrund einer stillschweigenden Annahme ein verschleiertes Werturteil gefällt. Die gewöhnliche Bedeutung des Wortes „gewöhnlich“ wird von den Psychiatern unbewusst (oder bewusst?) geändert, indem sie ihm einfach einen moralisierenden Inhalt unterschieben. So machen sie unversehens aus einer Beschreibung eine Bewertung  und hoffen dabei, dass ihr semantischer Trick niemandem auffällt.

Wer also das Wort “Paraphilie” verwendet, behauptet damit indirekt gleichzeitig zu wissen, was beim menschlichen Sexualverhalten richtig oder falsch ist. Das „Normale“ markiert  einen Bereich, in dessen Grenzen  man sich gesundheitlich ungestraft bewegen darf. Überschreitet  man aber diese Grenzen, dann betritt man das „ungesunde“ Gebiet der „Paraphilie“ und wird zum Patienten.

Dennoch erhebt sich von Zeit zu Zeit immer wieder die Frage, ob das jeweilige Handbuch die „Normalität“ nicht zu eng gefasst hat, und ob so manches „Ungewöhnliche“ nicht eigentlich doch sehr gewöhnlich ist. Tatsächlich haben die Psychiater auf diese Frage im Laufe der Zeit sehr verschiedene Antworten gegeben.

Zu Zeit kritisieren einige von ihnen zum Beispiel wieder einmal ihr aktuelles diagnostisches Handbuch  (DSM IV). Für die nächste  Ausgabe dieses Werkes (DSM V) wollen sie deshalb Klarstellungen und schärfere Unterscheidungen einführen. Damit hoffen sie, den Begriff  der “Paraphilie” zu rehabilitieren und ihm wieder größere Akzeptanz zu verschaffen.

Eine neue Definition von „Paraphilie“

Ein typisches “progressives”, “aufgeklärtes” Beispiel findet sich in einem neuen Lehrbuch:

A paraphilia is  a “powerful and persistent sexual interest other than in copulatory or precopulatory behavior with phenotypically normal, consenting adult human partners.”  (3)

Deutsch:
Eine Paraphilie ist ein “starkes und andauerndes sexuelles Interesse an etwas andererm als kopulativem oder präkopulativem Verhalten mit phänotypisch normalen, einverstandenen erwachsenen menschlichen Partnern.”

Für mich ergibt sich aus dieser Definition eine Reihe von Fragen: Wie stark muss das Interesse sein und wie lange genau muss es andauern, um unter die Definition zu fallen? Und welche Art der Kopulation soll dem “präkopulativen” Verhalten folgen? Nur Koitus? Oder auch Analverkehr? Darf es auch Oralverkehr sein oder Manualverkehr (gegenseitige Masturbation)? Anscheinend nicht, denn auf Anfrage sagt man mir: “Vorbereitendes Streicheln ist OK, wenn es zu Koitus oder Analverkehr führt; es wird aber zur Paraphilie, wenn es in Oralverkehr und gegenseitiger Masturbation mündet.“ Diese Auskunft lässt mich ratlos zurück: Warum soll Analverkehr „korrekter“ sein als Oralverkehr und gegenseitige Masturbation? Das ist eine Logik, der ich nicht folgen kann.

Und warum überhaupt diese Betonung der Kopulation als Endziel und einziger Rechtfertigung aller sexuellen Aktivitäten?  Schließlich wissen wir ja, dass Therapeuten älteren Paaren oft anraten, “nicht-koitale Alternativen auszuprobieren,” wenn Erektions- und Lubrikationsprobleme den Vaginalverkehr erschweren. Ermuntern diese Therapeuten etwa zur Paraphilie? Locken sie ihre Patienten vielleicht in dunkle erotische Seitengassen, weg vom leuchtenden Pfad der Tugend, der einzig zur echten Erfüllung führt?  Brauchen diese Patienten Potenzpillen und Gleitmittel, damit sie vorschriftsmäßig kopulieren und so eine „wahre Liebe“ finden können, die den Beifall von Psychiatern findet?

Doch nun hinab in den realen, „ordinären“ sexuellen Alltag:
Die obige Lehrbuchdefinition dehnt den Begriff der Paraphilie auch auf ein einvernehmliches Verhalten aus, das heutzutage immer häufiger im Internet praktiziert wird: Die gegenseitige Beobachtung per PC cam - über weite Entfernungen hin - bei der Selbstbefriedigung. Auf diese Weise können “Voyeure” und “Exhibitionisten” sich gegenseitig Lust verschaffen - auf eigene Initiative, aber auch innerhalb größerer “Amateur”-Netzwerke. In der Tat, angesichts der neuen elektronischen Kommunikationsmittel könnte man sich fragen, ob die alten Klischeevorstellungen vom  “Spanner” und „Pimmelzeiger“ noch eine große Zukunft haben. Immerhin können heute auch “Durchschnittsbürger” das Internet nutzen, um sich in sichtbar voller Erregung zu entblößen und auch andere dabei zu beobachten. Ein solcher Drang scheint weiter verbreitet zu sein, als man früher dachte, denn das wachsende Angebot entsprechender Online-Videos lässt auf eine erhebliche Nachfrage schließen.

Andererseits brauchen aber viele Internet-Nutzer gar keine Interaktion, sondern sind damit zufrieden, die jetzige Überfülle an frei zugänglichen Porno-Videos einfach für sich allein als Masturbationshilfen zu nutzen. Besonders männliche Jugendliche scheinen dies zu tun, aber auch ältere Männer - ob ledig oder verheiratet. Will wirklich jemand ernsthaft behaupten, dass sie alle „paraphil“ sind?  Nun werden einige Psychiater sagen: Nein, dieses Verhalten ist nicht unbedingt “paraphil”, solange es nicht exklusiv ist und eben nur als Ersatz für die eigentlich gewünschte, aber nicht verfügbare Kopulation dient. Solche Haarspaltereien überzeugen mich aber nicht. Denn wer will hier letztlich entscheiden? Wer kann beurteilen, was hier wofür als Ersatz dient und was exklusiv oder vorübergehend ist und warum? Jede Behauptung, hier klar unterscheiden zu können, erscheint mir als professionelle Arroganz und vorsätzliche Blindheit - eine Weigerung, das ganze Spektrum  der heutigen sexuellen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

Und was ist mit der Internet-Prostitution? Hier können die Teilnehmer sich gegenseitig sehen, aber nicht anfassen. Mit anderen Worten: Eine wirkliche Kopulation ist von vornherein ausgeschlossen. Also hat man behauptet, dass diese Art der Prostitution ebenfalls „paraphil“ sei. Mir leuchtet das aber nicht ein, denn es handelt sich nur um eine technisch verfeinerte Variante eines uralten Geschäftes. (Prostitution „ohne Anfassen“ hat es in Bordellen auch schon früher gegeben.) Übrigens: Soll man den Begriff der “Paraphilie” hier auf die Kunden, auf die Prostituierten oder auf beide anwenden? .

Außerdem:
Die obige Lehrbuchdefinition spricht von Kopulation mit einem „phänotypisch normalen, erwachsenen Partner“”. Auch daraus ergeben sich wieder Fragen:

1. Was ist phänotypisch normal? Ist jemand paraphil, weil er „starkes und andauerndes sexuelles Interesse“ an einer Person entwickelt, die alle Symptome des Turner-Syndroms oder des Klinefelter-Syndroms aufweist? Oder gelten diese Liebesobjekte als „phänotypisch normal“? Wenn ja, was ist dann mit  PAIS oder CAIS?  Wo genau soll man hier die Grenze ziehen? War die Frau des Philosophen Moses Mendelssohn paraphil, weil sie sich in einen Buckligen verliebte?

2. Was genau ist mir dem Wort “erwachsenen” gemeint? Alle Personen über 18? Oder über 21? Schließlich gelten ja in verschiedenen Ländern verschiedene Altersgrenzen für den Status des Erwachsenen. Oder soll man hier eine besondere psychiatrische Altersgrenze einführen, die für alle Menschen, alle Zeiten und alle Länder gilt? Wenn ja, welches Alter soll man dafür festlegen? 

Historische Beispiele

War der römische Kaiser Hadrian paraphil, weil er ein „starkes und andauerndes sexuelles Interesse“ an dem 16-jährigen Antinous hatte, der schon als 20-jähriger starb und somit nie „erwachsen“ wurde? Oder doch? Wurden Jugendliche im alten Rom schon mit 16 erwachsen? Oder vielleicht noch früher? Oder vielleicht doch später? (4) War in diesem Fall Hadrians erotische Besessenheit gar nicht  paraphil? Oder sollte man im Nachhinein selbst für die Antike einen Unterschied zwischen juristischem und bio-psychischem Erwachsensein einführen? Dann war Hadrian möglicherweise nur in den ersten beiden Jahren seiner Beziehung paraphil, aber in den letzten beiden Jahren nicht mehr. Wie relevant ist das alles überhaupt und für wen? Wer nimmt so etwas wichtig und warum? Wozu brauchen wir ein psychiatrisches Etikett  für eine der größten Liebesgeschichten aller Zeiten?

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Hadrian (76-138) und sein jugendlicher Geliebter Antinous (110-130).

Und was ist mit Shakespeares Romeo und Julia, die ein „starkes und andauerndes sexuelles Interesse“ an einander hatten, allzu früh starben und nie erwachsen wurden? (OK, das zählt wohl nicht, denn beide waren vermutlich im gleichen Alter.) Aber betrachten wir einmal ein anderes jugendliches Paar - Romulo (18) und die eindeutig minderjährige Jutta (13)! Übergehen wir der Einfachheit halber den strafrechtlichen Aspekt, der Romulo zu schaffen machen könnte!  Hier ist für uns etwas anderes wichtiger: Da er fünf Jahre älter und somit -  je nach örtlicher Rechtslage - ein “Erwachsener” ist, könnte man seine Gefühle paraphil und ihn selbst einen “Hebephilen” nennen (vom Griechischen hebe: jung). "Hebephilie" - dies ist ein neuer, hocheleganter Ausdruck für das erotische Interesse von Erwachsenen (meistens Männern) an Jugendlichen in oder kurz nach der Pubertät (13-16 Jahre). Einige Autoren setzen das betreffende Alter früher an und meinen Jugendliche beider Geschlechter, andere schränken den Begriff auf männliche Jugendliche ein. In diesem Fall sprechen diese Fachleute dann auch von “Ephebophilen” (Gr. ephebos: Jüngling), aber manchmal werden die Begriffe auch als austauschbar behandelt oder haben noch andere Bedeutungen. Der Sprachgebrauch ist zurzeit noch etwas schwankend.(5)

Doch noch einmal zurück zu Shakespeares Tragödie: Wir wissen ja, dass es im elisabethanischen England keine Schauspielerinnen gab, und dass Julia - wie jede andere weibliche Rolle - deshalb von einem „boy actor“ gespielt wurde, also einem Jungen vor seiner Geschlechtsreife, d.h. im Alter von etwa 12-15 Jahren.  Das verlieh dem Theater damals einen ganz eigenen Reiz, der aber heute, im Zeitalter der Hebephilie-Diagnostiker, bei uns nicht mehr geduldet wird. Der androgyne Zauber dieser Jungen, das Aufblühende, Unreife an ihnen, hatte nämlich für die Zuschauer durchaus eine erotische Komponente. Im Falle von „Romeo and Juliet“ ergab sich noch zusätzlich ein besonderer Reiz, denn der Darsteller des Romeo kann ja kaum älter als der seiner Juliet gewesen sein. Das erfordert  ganz einfach der Text. Bei den Liebesszenen des Stücks agierten also zwei sehr zarte Jünglinge miteinander, der eine kurz vor dem Stimmbruch, der andere kurz danach.(6)

Wir können davon ausgehen, dass der damit gegebene homoerotische Unterton dieser Szenen dem damaligen Publikum keineswegs verborgen blieb. In der Tat, Shakespeare wusste diesen und ähnliche Reize sehr wohl für sein Bühnenunternehmen  zu nutzen. So stiftet er z.B. in der Komödie „As you like it“ für sein Publikum absichtlich eine delikate geschlechtliche Vieldeutigkeit, denn darin gibt sich das von einem Jungen gespielte Mädchen Rosalind als ein Junge namens Ganymede aus. In einer Liebesszene tut dieser dann so, als sei er ein Mädchen, und lässt sich - trotz männlicher Kleidung - als weibliches Wesen umwerben. Also: Ein Junge spielt ein Mädchen, das einen Jungen spielt, der ein Mädchen spielt - die erotische Raffinesse dieser Szene lässt sich heute nur noch erahnen, nicht mehr erleben, und selbst mit den besten Schauspielerinnen kann man sie nicht mehr nachspielen.

Der kommerzielle Erfolg der geschlechtlich uneindeutigen Doppelfigur Rosalind/Ganymede brachte Shakespeare alsbald dazu, das Verwirrspiel in der Komödie „Twelfth Night“ noch einmal auf die Bühne zu bringen. Hier spielt der „boy actor“ ein Mädchen Viola, das die Rolle eines Jungen namens Cesario annimmt, in den sich dann eine Frau verliebt. (7)

Kurz, die erotische Anziehungskraft vorpubertärer bzw. pubertierender Knabenschauspieler in Mädchen- und Frauenrollen wurde von Shakespeare bewusst als Kunstmittel eingesetzt und zweifellos von seinen Zuschauern  guten Gewissens genossen. Waren diese nun alle „hebephil“?

Interessant ist übrigens der Name Ganymede in der erstgenannten Komödie. Das damalige Londoner Publikum verstand diesen Hinweis auf die antike griechische Mythologie sehr wohl und genoss deshalb das Spiel umso mehr: Ganymed war der hübsche Knabe, in den sich der Göttervater Zeus verliebte. Er ließ ihn deshalb von einem Adler entführen, um ihn im Olymp als Mundschenk immer um sich zu haben. War also auch „Zeus“ hebephil?

Als Antwort darauf verzichte ich hier auf den offensichtlichen, vielstrapazierten Verweis auf die  “Paiderastía” im alten Griechenland. Stattdessen stelle ich nur die unbestreitbare Tatsache fest, dass kein einziger antiker Text  - die Bibel eingeschlossen -  es jemals in irgendeiner Weise bemerkenswert fand, wenn Erwachsene ein erotisches Interesse an Jugendlichen in oder kurz nach der Pubertät zeigten. Die meisten dieser Liebesobjekte hatten dann sowieso schon ihre “Initiationsriten” hinter sich und waren längst als vollwertige Mitglieder in die Gemeinschaft aufgenommen (Beispiel: Bar und Bat Mitzvah). Wenn es also in der Menschheitsgeschichte so etwas wie ein sexuelles „Schutzalter“ gegeben hat, so endete dies gewöhnlich mit der Pubertät. War ein Mädchen geschlechtsreif, so galt sie damit als „mannbar“, d. h. als heiratsfähig. In der Tat, jahrtausendelang haben erwachsene Männer sehr junge, gerade pubertierende Mädchen geheiratet. Waren diese Männer alle “hebephil” und damit “paraphil”?  

Noch im 18. Jahrhundert war es dem Professor Georg Christoph Lichtenberg möglich, offen mit einer 13-Jähigen zusammenzuleben, und zwar in einer Provinzstadt wie Göttingen (sie starb 5 Jahre später mit 18 Jahren). (8)  Hätte man ihn damals „hebephil“ und damit „paraphil“ nennen sollen? Sollte man das heute noch im Nachhinein tun? Welchem Zweck wäre damit gedient?

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Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Weiter: Noch zu Lichtenbergs Lebzeiten schrieb Mozart seine Opern „Le Nozze di Figaro“ und „Don Giovanni“. In der ersteren verfolgt der pubertierende, etwa 13-15 Jahre alte Page Cherubino die verheiratete Gräfin mit stürmischen Liebesanträgen  -  ein Handlungselement, das vom Publikum als selbstverständlich akzeptiert und amüsiert beklatscht wurde. (9) Hier geht die sexuelle Initiative also eindeutig von einem Jugendlichen aus: Noch vor seinem Stimmbruch begehrt er eine erwachsene Frau. Soll man auch das „paraphil“ nennen?

Und was ist mit „Don Giovanni“?  Was sollen wir heute von dessen Charakter denken? Er jagt unterschiedslos allem Weiblichen nach - ein Schürzenjäger wie kein zweiter - aber sein Diener Leporello, der über die Eroberungen seines Herrn genauestens Buch führt, weiß: “Sua passion predominante è la giovin principiante”. Für die Opernliebhaber des 18. Jahrhunderts war dies natürlich keine Überraschung. Im Gegenteil, es bestätigte nur, dass der Don, mit all seinem aggressiven und vielleicht zwanghaften Verhalten zumindest in einem Punkt völlig “normal” war - in der Wahl seiner bevorzugten erotischen Opfer. So unsympathisch er ansonsten auch wirkte, mit dieser Vorliebe konnte sich jeder Mann im Publikum identifizieren. Abgesehen von dieser „typisch männlichen“ Neigung, haben Mozart und da Ponte ihrem Bühnenhelden aber durchaus eigene, außergewöhnliche Züge verliehen: Abwechselnd zärtlich schmeichelnd und brutal, ist er ein Egoist mit guten Manieren, ein hochmütiger, hochfahrender Menschenverächter und furchtloser Nihilist. Dieser Don Giovanni hat im Laufe von über zwei Jahrhunderten viele Interpretationen herausgefordert. Verstehen wie ihn (und damit die Oper) wirklich besser, wenn wir ihn zu allem anderen auch noch einen „Hebephilen“ nennen? 

Viele Psychiater werden natürlich einwenden, dass sie selbst den Ausdruck “hebephil” niemals auf Don Giovanni anwenden würden und auch nicht auf die Millionen von Männern, die in der Vergangenheit pubertierende Mädchen geheiratet haben. Schließlich haben diese Männer ja in der Regel ihre Beziehungen fortgesetzt, wenn ihre einstmals blutjungen Bräute erwachsen wurden und sogar, wenn sie die Wechseljahre erreichten. Auch Don Giovanni kopulierte mit vielen hundert Frauen in vielen Ländern:“In Italia seicento e quaranta, in Almagna duecento e trentuna, cento in Francia, in Turchia novantuna, ma in Ispagna son già mille e tre!" Da muss man natürlich annehmen, dass die meisten dieser weiblichen Wesen erwachsen waren. Deshalb, so könnten die Psychiater sagen, sollte man nicht behaupten, Don Giovanni und die anderen Männer hätten ein starkes und andauerndes Interesse vor allem an sehr jungen Mädchen gehabt. Einige der Männer hatten vielleicht dieses Interesse, aber genau kann man heute nicht mehr sagen. Es wäre damals ja sowieso so gut wie unmöglich gewesen, die “Hebephilen” als Sonderkategorie wahrzunehmen, denn es war eben der Brauch, und so „taten es alle“.

Ein interessantes Argument, aber es wirft nur noch weitere Fragen auf: Wenn eine ganze Gesellschaft “nach Brauch und Sitte” sehr junge Mädchen an erwachsene Männer verheiratet, welchen Sinn hat es dann  noch, von „Hebephilie“ und „Hebephilen“ zu sprechen? Nach welchen Kriterien soll man sie da von den anderen unterscheiden? Und warum sollte man das überhaupt versuchen?  In diesem Zusammenhang kann das Beispiel einer anderen”Paraphilie” aufschlussreich sein - das des Fußfetischismus:

Wie wir alle wissen, gab es im kaiserlichen China etwa 1000 Jahre lang den Brauch, jungen Mädchen die Füße zu verkrüppeln. Dies soll unter anderem auch eine erotische Komponente gehabt haben: Extrem kleine Füße machten eine Frau sexuell begehrenswert, denn ihre „Lotus-Füße“ erregten und erhöhten angeblich die Lust des Mannes. Ob dies wirklich gestimmt hat, und wenn ja, für wie viele Männer, ist heute natürlich nicht mehr festzustellen. Eines ist aber sicher: Im kaiserlichen China wäre es sinnlos gewesen, von „Fußfetischismus“ als einer besonderen „Paraphilie“ zu sprechen. Ebenso wenig hätte man „Fußfetischisten“ als besondere Gruppe von der „Normalbevölkerung“  unterscheiden können. Eine solche Unterscheidung wäre geradezu als absurd erschienen, denn die Überzeugung, dass weibliche kleine Füße erotisch besonders attraktiv seien, war viel zu tief in der chinesischen Kultur verankert.

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“Lotus-Schuhe”
Das chinesische erotische Ideal war ein kleiner weiblicher Klumpfuß von etwas 7-8 cm Länge – der sogenannte „Lotus-Fuß“. Etwas längere Füße nannte man Silber-Lotus“ (10 cm) und “Eisen-Lotus”, wenn sie noch länger waren. Die erotische Faszination bezog sich auch auf die entsprechenden Schuhe. Von links: 1. Porzellan- Weinbecher, Länge 8,5 cm, Qing Dynastie. 2. und 3. Seiden-“Lotus Schuhe”. 4. Foto des verkrüppelten Fußes einer Chinesin.
 Courtesy China Sex Museum, Tongli

Wie dies Beispiel zeigt, können also kulturelle Faktoren bei der Entwicklung und Bewertung sexueller Vorlieben eine entscheidende Rolle spielen. Diese Faktoren sind natürlich auch heute bei uns noch am Werke, wenn man auf einmal glaubt, das früher kaum beachtete sexuelle Interesse an Jugendlichen als „Hebephilie“ diagnostizieren und tadeln zu müssen. Was früheren Generationen gleichgültig war und sogar als selbstverständlich galt, wird neuerdings zum psychiatrischen Problem. Hier haben sich also ganz offensichtlich die kulturellen Maßstäbe geändert. Dessen sollte man sich aber bewusst und nun doppelt vorsichtig sein, wenn man darangeht, “objektive” diagnostische Kriterien für die Beurteilung menschlichen Sexualverhaltens aufzustellen. Das heißt keineswegs, dass Psychiater in bestimmten konkreten Situationen nicht intervenieren sollen. Es bedeutet aber, dass dies nur dann wirklich sinnvoll und ethisch vertretbar ist, wenn sie  dabei auf Absolutsheitsansprüche verzichten, die auf uneingestandenen, zeitlich gebundenen und unrealistischen Moralvorstellungen beruhen. Damit kommen wir nun zum Begriff der “Paraphilie” selbst. Zunächst ein kurzer historischer Rückblick:

Zur Begriffsgeschichte

1. Von der Sünde zur Krankheit

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Constantin I (ca. 280-337)
Erster christlicher römischer Kaiser

Im 4. Jahrhundert n.Chr. bekehrte sich der römische Kaiser Constantin I. (“der Große”) auf seinem Sterbebett zum Christentum, und unter seinen Nachfolgern wurde es dann bald zur Staatsreligion. In der Folge übernahm Europa allmählich  die christliche Lehre von der menschlichen Sexualität. Diese Lehre verband ältere jüdische Traditionen mit gewissen asketischen Philosophien der “heidnischen” Antike und überdauerte auch  den Untergang des römischen Reiches. Ja, sie beherrschte die westliche Welt und ihre Kolonien bis weit in die Neuzeit hinein. Nach christlicher Auffassung  waren sexuelle Handlungen nur gerechtfertigt, wenn und soweit sie der Fortpflanzung dienten. Alle  Formen des Sexualverkehrs, die diesen Zweck verfehlten, waren sündig. In der Tat, einige davon, wie etwa der Oral- oder Analverkehr oder der Sexualkontakt mit Tieren und der zwischen Männern, galten als solch abscheuliche Gräuel, dass man sie jahrhundertelang als schwere Verbrechen bestrafte. Erst vor etwa 200 Jahren begannen einige europäische Länder, religiöse Einflüsse aus ihrem Strafrecht zu entfernen. Die sexuellen „Gräuel“ wurden dem zunehmend säkularen Staat nach und nach gleichgültig.  Wenn niemand konkret zu Schaden kam, blieben Polizei und Gerichte untätig. 

Wo sich das Strafrecht zurückzog,  trat aber bald die Medizin auf den Plan. Die aufstrebende Psychiatrie verwandelte die alten Sünden und Laster in Krankheiten, und so erlebten die alten „Gräuel“ ihre Wiedergeburt als “sexuelle Psychopathologien”. Ja, die Psychiater übernahmen dafür sogar das Vokabular der früheren Inquisitoren und sprachen von  „Perversion“, „Aberration“ und „Deviation“.  Im Mittelalter hatte man damit Ketzereien bezeichnet, also Formen des „falschen“ Glaubens, nun aber war damit  „falsches“ Sexualverhalten gemeint, und so wurden aus den früheren Ketzern und Verbrechern moderne „Geisteskranke“. Für diese war nicht Bestrafung, sondern Behandlung angemessen.

Ein Paradebeispiel für diese Entwicklung ist die Krankheit Homosexualität, die 1869 in Berlin an der Charité von dem „modernen“ Psychiater Carl Westphal erfunden wurde. Das konservative Establishment um Rudolf Virchow hatte sich im gleichen Jahr noch ausdrücklich geweigert, hier ein medizinisches Problem zu sehen, aber die „progressiven Neuen“ wie Westphal und besonders von Krafft-Ebing, überzeugten bald sich und andere, dass die „conträre Sexualempfindung“  in ihr schnell expandierendes Fachgebiet fiel.(10) So wurden in der christlichen Welt über ein ganzes Jahrhundert lang Homosexuelle wegen ihrer vermeintlichen Krankheit behandelt, bis 1973 amerikanische Psychiater diese Diagnose aus ihrem diagnostischen Handbuch  (DSM III) entfernten.

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Carl Westphal (1833-1890)
Erfinder der Krankheit Homosexualität

Die zunehmend “aufgeklärten” Autoren mussten endlich einsehen, dass ein Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mit stillschweigend unterstellten Wertungen nicht vereinbar ist. So wurden dann in weiteren Revisionen weitere religiös begründete “Abweichungsdiagnosen” wie etwa die „Sodomie“ (d.h. „Unzucht mit Tieren“) aus dem Handbuch gestrichen, und man bemühte sich, objektive Kriterien für die Beurteilung des menschlichen Sexualverhaltens zu finden. Man wollte nicht mehr verdeckt theologisch von “Perversionen” sprechen und suchte nach  einer moralisch neutralen Fachsprache.

2. Von der Perversion zur Paraphilie

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Friedrich Salomon Krauss (1859 -1938)
prägte den Ausdruck “Paraphilie”

Auf der Suche nach einem rein deskriptiven, nicht moralisierenden Fachausdruck für „ungewöhnliches“ Sexualverhalten einigte man sich schließlich auf das von Friedrich S. Krauss  eingeführte, wissenschaftlich scheinbar unanstößige Wort  „Paraphilie” (von Gr. para: neben, und philia: Liebe). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dies keine Verbesserung darstellt: Eine Paraphilie, ist per definitionem  eine Liebe zweiter Klasse. Der Begriff unterstellt nach wie vor, dass es eine „wirkliche“, „korrekte“, „wahre“ und „natürliche“  Liebe (Philia) gibt, und dass neben oder hinter dieser zweitrangige Schwestern stehen, gerade so wie das paramedizinische  Personal hinter dem „richtigen Doktor“. Das ist aber eine unwissenschaftliche Unterstellung. Wer den Ausdruck „Paraphilie“ gebraucht, behauptet damit indirekt immer noch, dass er die “wahre” Bedeutung und Bestimmung des Sexualverhaltens kennt und somit die Autorität besitzt, es zu korrigieren, wenn es  seiner Idealvorstellung nicht entspricht. Er ist ein Ideologe, obwohl ihm dies vielleicht nicht bewusst ist.

In der Tat, wer als medizinischer Laie etwa im Internet schnell nach einer Definition von “Paraphilie” sucht, findet noch nicht einmal die einfachsten Anforderungen an Objektivität erfüllt. Was er da zu lesen bekommt, ist zumeist undurchdacht, naiv und vage oder sogar tautologisch.  So definieren einige Autoren ein Sexualverhalten als paraphil, “ das untypisch und extem ist“(11) Andere sprechen von “Erregung durch Sexualobjekte oder Situationen, welche die Fähigkeit beeinträchtigen kann, gegenseitige, liebevolle sexuelle Handlungen auszuführen(12).  Wieder andere stellen fest: “Paraphilien sind Störungen des sexuellen Impulses, charakterisiert durch Verhalten, das als deviant gilt(13). Diese letztere Definition ist besonders inhaltsleer, denn sie behauptet allen Ernstes: „Paraphilien sind Störungen und daher deviant" (14). Ebenso einleuchtend hatte ja schon Fritz Reuters Onkel Bräsig erklärt: “Die Armut kommt von der Powerteh”. Die nächste Definition ist noch geistreicher: “Paraphilien sind  psychiatrische Störungen, die sich in deviantem Sexualverhalten manifestieren(15).  Genau so gut könnte man sagen: “Eine außereheliche Affäre manifestiert sich in Ehebruch”. Hier wird noch einmal deutlich, warum solche Leerformeln in wissenschaftlichen Diskursen mehr als unnütz sind. Sie erklären nichts und sind für die verschiedensten Deutungen offen.

Leider sind die anderen zitierten Definitionen aber um nichts besser: Viele menschliche Verhaltensweisen sind  “untypisch” ohne dass sie eine psychische Störung anzeigen: Bergsteigen im Himalaya, eine Radtour rund um den Globus, Eintritt in ein Kloster, Orchideenzucht, das Sammeln von Weinetiketten oder Porzellan-Fingerhüten und vieles mehr. Die Bedeutung des Wortes “extrem” ist relativ und ändert sich je nach den Umständen und Bezugspunkten. “Die Fähigkeit, gegenseitige, liebevolle sexuelle Handlungen auszuführen “  ist ein kulturelles Ideal der westlichen sozialen Mittelschichten und keineswegs universell, weder historisch, noch geographisch.  Andererseits aber können viele der sogenannten paraphilen Beziehungen durchaus liebevoll sein und auf Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung beruhen. Kurz, der Begriff „Paraphilie“ ist ebenso ideologisch und vorwissenschaftlich wie seine Vorgänger, die er ersetzen soll.

Man kommt einfach nicht darum herum: Das Wort “Paraphilie” spricht ein negatives Werturteil aus; es beschreibt keine objektive Tatsache. Psychiater tun sich selbst aber keinen Gefallen, wenn sie solche moralisierenden Begriffe verwenden.  Wenn ihnen auch künftig an ihrem beruflichen Ansehen gelegen ist, dann sollten sie nach neuen Fachausdrücken suchen. 

Für wertneutrale Fachausdrücke

Selbstverständlich sind Psychiater Ärzte, die heilen wollen, und dies ist ohne Werturteile gar nicht möglich. Sie müssen ja dafür sorgen, dass es ihren Patienten besser und nicht schlechter geht, d. h. dass sie vom  Ausnahmezustand der Krankheit wieder in einen wie auch immer konzipierten „Normalzustand“ der Gesundheit versetzt werden. Dieser angestrebte „Normalzustand“ kann durchaus relativ sein, etwa wegen des Alters oder wegen Vorerkrankungen eines Patienten. Es geht also nicht unbedingt darum, einen gesundheitlichen Idealzustand herzustellen.

Allerdings: Die wiederholten Versuche “sexuelle Gesundheit” zu definieren und die prompte Kritik an diesen Versuchen, sind schon ein Hinweis darauf, wie schwierig es ist, hier ideologiefrei zu formulieren. (16) Um so mehr gilt dies für das Umgekehrte  - Definitionen von „sexueller Krankheit“.  Wie die obige neue Definition von „Paraphilie“ zeigt, verfallen Psychiater dabei leicht in ein quasi-juristisches Denken, das, in Analogie zum Strafrecht, spezifische „Tatbestände“ akribisch auflistet und sie, je nach Bewertung, ein- oder auschließt. Das wiederum ruft verschiedene „Verteidiger“ und „Ankläger“ auf den Plan, die dieses oder jenes Definitionselement präzisiert, entfernt oder neu einbezogen sehen wollen. So artet das Ganze dann bald in einen Streit von „Experten“ aus, die schließlich „in Revision“ gehen, d.h. eine Änderung des psychiatrischen Handbuchs verlangen und damit das Problem an einen „Obersten Gerichtshof“ von „Superexperten“ delegieren. All dies kann aber die „Laienrichter“, d.h.  die Nicht-Experten, also die breite Öffentlichkeit, nur verwirren, denn  allzu oft folgt - wie auch im Strafrecht -  einer Textrevision früher oder später eine weitere. Kurz: Der Versuch, bei der Definition von „Paraphilien“ möglichst genau zu sein, demonstriert nur seine eigene Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit und führt sich am Ende selbst ad absurdum.

Das eigentliche Problem liegt aber tiefer: Strafrechtler haben es sehr offen mit Wertungen zu tun. Ihre Gesetze sind eben nicht deskriptiv, sondern präskriptiv d.h. sie beschreiben nicht, was geschieht, sondern schreiben vor, was geschehen oder nicht geschehen soll. Ihre Gesetze sind also normativ, d.h. sie stellen bewusst Normen auf, die man zu beachten hat. Strafbar oder nicht?  - das ist für jede Strafverfolgung die entscheidende Frage. Dabei wissen Juristen sehr wohl, dass man die gesetzlichen Normen auch wieder ändern kann und von Zeit zu Zeit auch tatsächlich ändert.

Davon will aber die anscheinend naturwissenschaftlich begründete Medizin nichts wissen. Ihre Normen sollen „objektiv“, rein deskriptiv und unveränderlich sein. Dann wäre es aber eigentlich umso mehr geboten, jede gedankliche Nähe zur Juristerei meiden. Kein juristisches Modell kann für wirkliche Naturwissenschaftler jemals Vorbild sein. Die Gleichsetzung und Vermengung von präskriptiven und deskriptiven Gesetzen ist eo ipso vorwissenschaftlich. Sie ist typisch für die Naturrechtslehre früherer Epochen, an der zwar die katholische Kirche noch festhält, die aber aus gutem Grund in der modernen Naturwissenschaft keinen Platz mehr hat. 

Was nun die Psychiatrie als ärztliche Kunst betrifft, so müssen Psychiater sich ein- für allemal eingestehen, dass sie „Diener zweier Herren“ sind, also eine Doppelrolle spielen: Ja, sie sind einerseits objektiv beobachtende Wissenschaftler, anderseits aber auch von ihrer Gesellschaft beauftragte Kontrolleure, die sozial störendes oder unerwünschtes Verhalten unterbinden oder wenigstens  einschränken sollen. In diesem Sinne werden Werturteile von ihnen erwartet, und so besteht ihr berufliches Problem vor allem darin, dass sie - quasi als Doppelagenten -  die Interessen sowohl ihrer Patienten wie die der Gesellschaft vertreten sollen. Die stillschweigende Annahme aber, dass diese Interessen immer identisch sind, ist wissenschaftlich unhaltbar. Hier muss sich die Zunft ehrlich machen  - zum Erhalt und zur Stärkung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit.

Die schwierige Aufgabe des Psychiaters wird nicht dadurch erleichtert, dass er angeblich objektive Befunde mit moralisch wertenden Begriffen bezeichnet. Das verleitet ihn nur zum Missverständnis seiner Aufgabe  - ja, letztlich zum Selbstbetrug. Begriffliche Neutralität aber schafft Abstand, bringt Ernüchterung und Befreiung und gibt ihm so eine gewisse Eigenständigkeit zurück. Sie kann ihm und seinen Patienten nur nützlich sein.

Deshalb sollte der vorwissenschaftliche Begriff der Paraphilie endlich aufgegeben werden. Stattdessen empfiehlt es sich, auch terminologisch offenzulegen, worum es in Wirklichkeit geht, nämlich allein um Sexualverhalten, das die Handelnden selbst belastet und/oder anderen Schaden zufügt. Es geht also nicht um die  - wenn auch nur indirekte - Beschwörung abstrakter Moralbegriffe, sondern um konkrete um Hilfe für sehr reale Menschen.

Man sollte doch annehmen, das sich dafür mithilfe gewiefter Altphilologen passende, ideologiefreie Ausdrücke finden lassen. Diese würde immer noch ein gewisser Nimbus von klassischer Bildung umgeben, und so wären dann auch die fremdwortverliebten Psychiater zufrieden. Dann  käme die jetzige fruchtlose terminologische Debatte zu einem guten Ende.

Literaturnachweise

(1) The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV-TR); American Psychiatric Association, 2000 definiert ‘‘paraphilia,’’ u.a. als “conditions which ‘…are characterized by recurrent, intense sexual urges, fantasies, or behaviors that involve unusual objects, activities, or situations…’’ (p. 535).

 

(2) Meine obige Übersetzung ist unvermeidlich etwas frei, denn eine strikt wörtliche Übersetzung ist fast unmöglich. Sie würde deutschen Lesern auch sehr holprig vorkommen. Dies allein ist schon ein Hinweis auf ein auch inhaltliches Problem.

 

(3) Cantor, J. M., Blanchard, R., & Barbaree, H. E. Sexual disorders in P. H. Blaney & T. Millon (Eds.), Oxford textbook of psychopathology (2nd ed.). New York: Oxford University Press 2009 (pp. 527–548).

(4) Im alten Rom durften männliche Jugendliche etwa ab 15 oder 16 die Toga tragen als Zeichen ihres Erwachsenseins. Andererseits erreichten sie die bürgerliche „Vollreife“ (plena maturitas) erst mit 25. Robert Kastenbaum (ed), Encyclopedia of Adult Development, Oryx Press, Phoenix AZ 1993, p.31

(5) Der britische Kinderarzt  James M. Tanner  (1920- 2010) entwickelte als erster ein Schema zur Messung der pubertären sexuellen Entwicklung - die heute nach ihm benannte Tanner- Skala bzw. die Tanner- Stufen. Mit Bezug auf diese Stufen,  schlagen  Ray Blanchard und seine Kollegen - siehe oben  (3) - die folgenden Altersgruppen für ihre Definitionen vor:
Pädophilie (vorpubertäre Kinder auf Tanner -Stufe 1,  Alter generell 10 oder jünger),
Hebephilie (frühpubertäre Kinder auf denTanner-Stufen 2 und 3, Alter generell  11 bis 14),
Ephebophilie (spätpubertäre Jugendliche auf Tanner- Stufe  4, Alter generell  15 und 16),
Teleiophilie (Erwachsene auf Tanner-Stufe  5, zwischen körperlicher Vollreife und Verfall),
Gerontophilie (alte Menschen)

(6) Es mag hier Ausnahmen gegeben haben, wenn Romeo aus praktischen Gründen doch von einem älteren Schauspieler gespielt werden musste. Das ändert aber nichts an Shapespeares offensichtlichen Intentionen.

(7) Ähnliche Rollen für “boy actors” bei Shakespeare sind: Sylvia (Two Gentlemen of Verona) sowie Portia, Nerissa und Jessica (The Merchant of Venice) und Imogen (Cymbeline).

(8) Die Geschichte wurde vor einigen Jahren zu einem Roman verarbeitet: Gert Hoffmann, Die kleine Stechardin, 1999

(9) Die “Hosenrolle” des Cherubino ist für Sopran/Mezzosopran geschrieben, was auf ein Alter vor dem Stimmbruch hindeutet. Hätte Mozart einen Jüngling nach dem Stimmbruch darstellen wollen, so hätte er für einen „Spieltenor“ komponiert, wie etwa für die Rolle des Pedrillo in der „Entführung aus dem Serail“. Die von einer Sängerin gespielte „Hosenrolle“ machte außerdem einen Effekt möglich, der umgekehrt auch schon von Shakespeare genutzt worden war (siehe oben im Text „As you like it“). In einer Szene von Mozarts Oper wird nämlich Cherubino in Frauenkleider gesteckt:  Ein Mädchen spielt hier also einen Jungen, der ein Mädchen spielt.  Übrigens: Die Vorlage für Mozarts „Figaro“ war das Mittelstück einer Komödientrilogie von Beaumarchais: „Le barbier de Seville“, „Le mariage de Figaro“ und „La mère coupable“. In diesem dritten (bisher von niemandem komponierten) Stück stellt sich heraus, dass Cherubino später mit der Gräfin ein Kind gezeugt hat. (Das erste der drei Stücke wurde von zuerst von Giovanni Paisiello (1782) und dann noch einmal von Gioachino Rossini (1816) als Oper komponiert: „Il barbiere di Siviglia“.) 
Der Effekt mit der Hosenrolle des Cherubino wurde übrigens von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss später noch einmal benutzt und weiter ausgebaut  für die Titelfigur des „Rosenkavalier“ (1911).  Dieser 17-jährige, androgyne Graf Rofrano liegt beim Aufgehen des Vorhangs mit einer verheirateten Frau im Bett. Gerade vorher - bei noch geschlosssenen Vorhang - hatte  das Orchester auf sehr drastische und witzige Weise „in Echtzeit“ den voraufgehenden Koitus dargestelltt - von der Erektion des Jünglings, seiner Penetration und allzu hastigen Stoßbewegungen bis zu seiner sehr frühzeitigen - und orchestral deutlich hörbar gemachten - Ejakulation. Witzig ist diese Musik auch deshalb, weil der orchestral illustrierte eigentliche Koitus nur etwa 1 Minute und 10 Sekunden dauert. Danach folgt eine letzte, liebevoll heftige Umarmung, und in den restlichen 2 Minuten schildert die Musik nur noch seine selige Erschlaffung nach dem Orgasmus. So illustriert Richard Strauss die jugendliche Unerfahrenheit und sexuelle Unzulänglichkeit seines Titelhelden, und dies wiederum wirft ein erhellendes Licht auf die folgende Handlung, das aber von vielen Opernregisseuren gar nicht wahrgenommen wird. Zumeist ruinieren sie dann auch prompt die Eröffnungszene, eben weil sie den Witz der kurzen musikalischen Einleitung nicht bemerken oder nicht verstehen.

(10) Im Jahre 1869 hatte der preußische Justizminister Leonhardt die königlich-preußische Medizinaldeputation gebeten, sich zur Strafwürdigkeit "widernatürlicher Unzucht" zu äußern. Zu dieser Deputation gehörten Virchow, Langenbeck, Housselle und Bardeleben. In ihrem Gutachten verwiesen die das Proble unmißverständlich scharf aus dem Bereich der Medizin hinaus. Nach der Feststellung, daß "von seiten der medizinischen Wissenschaft" kein Unterschied zwischen der strafbaren "widernatürlichen" und anderen, straffreien Arten der Unzucht zu erkennen sei, weigerte sich die Kommission, das gesetzgeberische Hauptargument überhaupt zu erörtern: "Ein Urteil darüber, ob in der zwischen Personen männlichen Geschlechts verübten Unzucht eine besondere Unsittlichkeit ... liegt, dürfte kaum zur Kompetenz der medizinischen Sachverständigen gehören." Das Gutachten schließt daher mit dem Resultat, daß Gründe für ein besonderes Strafgesetz nicht gefunden werden konnten. (Der volle Text in M. Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 1914, Jubiläumsausgabe bei de Gruyter, Berlin 1984, S. 961-963.) Hier sprach das damalige medizinische "Establishment". Wenn dieses nun implizit die Straffreiheit "widernatürlicher Unzucht" empfahl und sich vor allem sträubte, sie in den Rang eines medizinischen Problems zu erheben, so tat es dies aufgrund einer echt konservativen Wissenschaftsauffassung, die sich nicht vor den Karren des "gesunden Volksempfindens" spannen lassen wollte. Leider aber wurde ihre Empfehlung nicht beachtet, und ihr medizinischer Konservatismus wurde noch im gleichen Jahr von einer neuen, "progressiven" Psychiatrie "überwunden“. Ihr Verteter war ein anderer Berliner, der Psychiater Carl Westphal, der in seiner Zeitschrift den ersten Fall der neuen Geisteskrankheit beschrieb: „Die conträre Sexualempfindung, Symptom eines neuropathischen (psychopathischen) Zustandes“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. 11, 1, S. 73-108. Daraufhin bekam Westphal für seine Zeitschrift von vielen Kollegen, darunter Richard von Krafft-Ebing,  immer neue Fälle berichtet, und so wurde die neue Diagnose bald unbefragt „wissenschaftlich“ etabliert.

(11) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 1994. “A paraphilia involves sexual arousal and gratification towards sexual behavior that is atypical and extreme.”

(12) depression-guide.com http://www.depression-guide.com/paraphilias.htm

(13) Associated Content http://www.associatedcontent.com/article/166962/whats_a_sexual_paraphilia.html

(14) WordiQ.com  http://www.wordiq.com/paraphilia

(15) ENCYCLO- Online  Encyclopedia http://www.encyclo.co.uk/define/Paraphilia

(16) siehe course 5 „Critical Introduction“ ff.
http://www.sexarchive.info/ECE5/meaning_of_sexual_health.html