Dieser Text eröffnet die Neu-Edition aller 25 Jahrgänge der
Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen
im Schutter Verlag, Leipzig, 2011

 

Erwin J. Haeberle

Grußwort

 

Das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen (1899-1922) stellt ein einzigartiges Dokument der europäischen Zeit- und Kulturgeschichte dar. Es ist heute leider nur noch in wenigen Bibliotheken vollständig vorhanden, weil es, wie viele andere Zeugnisse emanzipatorischer Wissenschaft, den systematischen „Säuberungen“ der Nazibarbarei zum Opfer fiel. Gerade diese Zeitschrift aber erregte den besonderen Zorn der Nazis, weil sie von dem jüdischen Herausgeber Magnus Hirschfeld initiiert, vor allem der Befreiung von Homosexuellen und anderen Minderheiten gewidmet war, die nicht dem Bild einer damals noch weithin herrschenden vorwissenschaftlichen, ja geradezu primitiven Gechlechterideologie entsprachen.

Diese Ideologie sah in den drei Grundaspekten der menschlichen Sexualität eine Art kompakte und unauflösliche Heilige Dreifaltigkeit: Das körperliches Geschlecht, die psychosoziale Geschlechtsrolle und die sexuelle Orientierung waren Ausdruck ein- und derselben unwandelbaren „Natur“. Es kam niemand in den Sinn, innerhalb dieser „Natur“ Übergänge wahrzunehmen oder sich die drei Aspekte als von einander unabhängig vorzustellen.

Deshalb war allein schon den Begriff von „sexuellen Zwischenstufen“ für die breite Öffentlichkeit eine Provokation. Er stellte nämlich eine kulturelle Tradition in Frage, die unser Abendland seit der Heraufkunft des Christentums geprägt hatte, und die selbst wiederum auf eine noch ältere jüdische Tradition zurückging.

Es war die uralte Tradition der monotheistischen, patriarchalischen Religionen, die unnachgiebig auf einer klaren Unterscheidung der Geschlechter und ihrer gesellschaftlichen Rollen bestand und gleichzeitig ihren erotischen Ausdrucksweisen sehr enge Grenzen zog. Judentum, Christentum - und später der Islam - waren sich da völlig einig: Geschlecht, Gechlechtsrolle und sexuelle Orientierung waren von Gott als klare Kontraste einheitlich und untrennbar ein-für allemal festgelegt:

1. Geschlecht
Ein Mensch war - gottgewollt - entweder männlich oder weiblich. Ein Drittes war „unnatürlich“ und wurde nicht zugelassen.
(1. Buch Moses 27: “Gott schuf sie als Mann und Weib”).

2. Geschlechtsrolle
Männer und Frauen spielten - gottgewollt - verschiedene soziale Rollen. Ein Rollenwechsel war „unnatürlich“ und wurde nicht zugelassen.
(
Paulus: 1. Epheser 5: 22: "Die Frauen seien ihren Männern untertan"; Timotheus 2:12: "Dass eine Frau lehre, gestatte ich nicht, auch nicht, dass sie sich unabhängig erhebe über den Mann" ; 1. Korinther. 14.34. Die Frau schweige in der Kirche.)  

3. Sexuelle Orientierung
Das erotische Begehren war - gottgewollt - immer nur auf das andere Geschlecht gerichtet. Eine gleichgeschlechtliche Erotik war „unnatürlich‘“ und wurde nicht zugelassen
(3. Buch Moses 20.13: “Wenn ein Mann einem Manne beiwohnt wie einem Weibe, so haben sie ein Gräuel getan und sollen beide des Todes sterben.“ ).

Wie gesagt, diese Grundüberzeugungen prägten, oft unausgesprochen oder gar unbewusst, die abendländische Kultur bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Hier und da sind sie selbst heute noch lebendig. Inzwischen aber hat die Wissenschaft gelernt, dass die überkommene monotheistische Sicht der Dinge der Realität nicht gerecht wird.

Hirschfeld zitierte deshalb gerne einen seiner Lieblingssätze: „Natura non facit saltus“ (die Natur macht keine Sprünge). Dieses Prinzip war schon von Aristoteles und später Leibniz und Newton angeführt worden, aber es war vornehmlich Charles Darwin, der es in seiner Evolutionslehre anschaulich machte. So lernte man allmählich von ihm, dass sich bei genauerer Naturbetrachtung schon innerhalb einzelner Arten gewisse Bandbreiten und Abstufungen wahrnehmen lassen, und dass auch Übergänge von einem Naturphänomen zum anderen erkennbar sind, wenn man nur genau genug hinsieht.

Die Biologen begannen also zu begreifen und zu bewundern, dass die Natur eine erstaunliche Fähigkeit besitzt, immer neue Variationen hervorzubringen. Ja, sie erkannten, dass genau diese Fähigkeit die Quelle alles Lebens auf unserem Planeten ist. Gleichzeitig entdeckten Ethnologen und Kulturhistoriker, dass die Geschlechtsrollen keineswegs unveränderlich sind, sondern je nach Ort und Epoche variieren. Schließlich bewies der Zoologe Alfred C. Kinsey mit seinen Statistiken, dass auch die sexuelle Orientierung keine Frage von „schwarz oder weiß“ ist, sondern, wie alles sonst in der Natur, auf einem Kontinuum liegt.

Zur Zeit der ersten von Hirschfelds Jahrbüchern aber waren diese Einsichten keineswegs weit verbreitet. Der Begriff der „Zwischenstufen“ wurde in Satireblättern und Karikaturen lächerlich gemacht, und auch viele sozialpolitisch engagierte Homosexuelle lehnten ihn ab, da sie sich als besonders maskulin der „Männer- und Jünglingsliebe“ verschrieben hatten und nicht mit irgendwelchen „weibischen“ Übergangstypen zusammen in einen taxonomischen Topf geworfen werden wollten.

Hirschfeld war Mitbegründer der weltweit ersten Schwulenorganisation - des wissenschaftlich-humanitären Komitees (1897), für welches er auch das Jahrbuch herausgab. Er war aber von vornherein ideologisch weit weniger festgelegt als die meisten seiner Mitstreiter. Im Gegenteil: Er interessierte sich ganz besonders für die weniger maskulinen Abweichler, die von den meisten „gestandenen“ Homosexuellen belächelt, gemieden oder gar verachtet wurden. Ihm lag daran, die sexuellen Übergänge durch immer genauere Unterscheidungen deutlich zu machen, und dies gelang ihm auch durch jahrelange, sorgfältige Beobachtung. Fasziniert studierte er die damals noch so genannten Hermaphroditen (heute: Intersexuellen). Selbstverständlich nahm er auch die Bisexuellen wahr und die vielen Übergänge, die es innerhalb dieser Gruppe gab. Außerdem war er der erste, der für bestimmte Personen die neuen Bezeichnungen „Transvestiten“ und „Transsexuelle“ erfand und sie damit von den Homosexuellen unterschied. Vorher hatte man alle diese sexuellen Minderheiten mit dem Pauschalbegriff „Invertierte“ abgetan.

Wie Hirschfeld aber klar erkannte, ist beim Menschen alles Sexuelle eine Sache des jeweiligen individuellen Ausprägungsgrades. In der Natur hat man es eben nicht mit festen Eindeutigkeiten oder klar abgegrenzten Alternativen zu tun, sondern immer mit einem Spektrum von Möglichkeiten - und in der Praxis - mit einem Spektrum von Realitäten. Hirschfelds Bemühen als Herausgeber des Jahrbuchs galt daher der Sammlung immer neuer Belege für seine wissenschaftliche Überzeugung und der Darstellung des gesamten sexuellen Spektrums. So hieß denn auch bald sein Leitspruch: „Geschlechtsunterschiede sind Gradunterschiede“, und diese These wiederholte er sehr emphatisch bis zum Ende seines Lebens, besonders auch in seinen späteren, fünfbändigen Hauptwerk, der „Geschlechtskunde“ (1926-1930).

Die Bände des Jahrbuchs (zusammen über 11 000 Seiten) liefern eine überwältigende Fülle von Belegen für Hirschfelds These - Beiträge vieler Autoren zur Geschichte, Ethnologie, Medizin, Politik, Rechtswissenschaft, Biologie, Literatur, Kunst und Religion. Auch aktuelle Presseberichte zu relevanten Themen wurden diskutiert. Außerdem lieferte der Jurist Eugen Wilhelm unter dem Namen Numa Praetorius mit regelmäßigen Ergänzungen eine umfassende Bibliographie der Homosexualität, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte. Kurz: In seiner Gesamtheit stellt das Jahrbuch eine fast unerschöpfliche literarische Fundgrube dar, deren bisher immer noch weitgehend ungehobene Schätze uns ein faszinierendes Bild der „Welt von Gestern“ vermitteln können, und zwar aus einem ganz besonderen Blickwinkel.

Es ist der Blickwinkel von gebildeten, fortschrittlichen Bürgern aus der Mitte der Gesellschaft, die sich wegen ihrer fehlenden sexuellen Konformität trotzdem ausgegrenzt, ja geradezu vom Staat bedroht fühlen. Ihr Blick ist scharf wie bei allen Außenseitern, und das gilt eben nicht nur für die Autoren, sondern auch für die meisten ihrer Leser, die als „Betroffene“ die Texte jedes Jahr dankbar studierten. Ihre Sicht ist natürlich nicht objektiv, und sie sind sich auch untereinander nicht in allem einig. Gerade das aber erhöht nun für uns den Erkenntniswert. Das Jahrbuch berichtete eben von Ideen, Dingen und Vorgängen, die von der üblichen Geschichtsschreibung vernachlässigt werden. Uns Heutigen aber helfen sie, den Verlauf gewisser geistiger Untergrundströmungen zu verfolgen, die das frühe 20. Jahrhundert mit geformt haben.

Jedenfalls sehen wir, wie diese Außenseiter wider Willen sich selbst allmählich als unterdrückte Minderheit wahrnehmen und erste Schritte zu ihrer Selbstbefreiung unternehmen. Diese soll das Ergebnis öffentlicher Aufklärung sein, nach einem weiteren Motto Hirschfelds: „Per scientiam ad justitiam!“ (Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit!). Für diese geistig interessierten und gründlich belesenen sexuellen Abweichler waren also wissenschaftliche Publikationen die Mittel der Wahl, um sich zunächst Gehör und endlich Gerechtigkeit zu verschaffen.

Von diesem gewollten Hauptanliegen abgesehen, reflektieren die Bände ungewollt aber noch etwas anderes: Sie reichen ja von der fortschrittsgläubigen und militaristischen, wenn zunächst auch noch friedlichen Kaiserzeit über den ernüchternden 1. Weltkrieg und die schließliche deutsche Niederlage bis in die ersten, wirren Jahre der Weimarer Republik hinein. Dies war die Zeit des großen Umbruchs nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, und der spiegelt sich indirekt auch in dem Jahrbuch wieder. Dennoch ist es für uns heutige Leser verstörend zu sehen, wie in über zwei Jahrzehnten regelmäßiger Publikation die politischen Ereignisse für die Autoren keinerlei praktischen Fortschritt bringen. Die alte Sexualideologie beweist - trotz aller sozialen Erschütterungen - eine erstaunliche Beharrungskraft und lässt die Reformpläne scheitern. Schließlich war ja ein Hauptziel des Wissenschaftlich-humanitären Komitees die Abschaffung es berüchtigten § 175, der im Deutschen Reich homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Um dieses Ziel zu erreichen, gab das Komitee deshalb nicht nur das Jahrbuch heraus, sondern zirkulierte auch eine entsprechende Petition an den Reichstag, die von vielen damaligen Prominenten unterschrieben wurde, aber erfolglos blieb.

Wenn das Jahrbuch zu seiner Zeit also überhaupt eine Breitenwirkung hatte, selbst eine indirekte, so war diese doch sehr gering. Hirschfeld selbst aber ließ sich nicht entmutigen und kämpfte weiter. Ja, 1928 weitete er seinen Befreiungskampf noch aus als Mitbegründer einen neuen Weltliga für Sexualreform (WLSR) die in Kopenhagen ihren ersten Kongress abhielt (weitere Kongresse folgten noch in London 1929, Wien 1930 und Brünn 1932). Schließlich trieb er die Globalisierung seines Anliegens im wahrsten Sinne des Wortes noch persönlich weiter voran, indem er von 1930-1932 mit seinen Vorträgen einmal um die Welt reiste. Wer weiß, was sich aus alledem noch hätte entwickeln können, hätten nicht die Nazis und dann der Zweite Weltkrieg des Gesamtwerk Hirschfelds und seiner Kollegen zerstört?

Aber noch einmal zurück zum Jahrbuch: In all dieser Zeit und nach all diesen Bänden sind ihre Autoren bis in die Weimarer Republik hinein eigentlich keinen Schritt weiter gekommen. Nach wie vor finden sie in der Politik kein Gehör, und der § 175 bleibt weiterhin gültig. Ja, in der dann folgenden Nazizeit wird er sogar noch verschärft. Dies wiederum hängt auch mit restaurativen Geschlechterideologie der Nazis zusammen, die ironischerweise auf das Alte Testament der Bibel und den Apostel Paulus - also auf jüdische Wurzeln -  zurückgreift (siehe oben).

Der Mann als harter Krieger und bestimmender Haushaltsvorstand, die Frau als gefühlvolle, unpolitische Herdhüterin und möglichst vielfache Mutter  - so sah das ideale Paar des „Dritten Reiches“ aus, wenigstens am Anfang. Erst als die Frauen, wie schon vorher im 1.Weltkrieg, wegen wachsenden Männermangels in immer größerer Zahl in die ihnen vorher verschlossenen Arbeitsplätze nachrückten,  zeigte sich erneut, wie überholt und unhaltbar dies Idealbild war.

Jedenfalls: Nachdem Deutschland auch den Zweiten Weltkrieg verloren hatte, gab es hier für die alte Geschlechterideologie keine große Zukunft mehr. Es folgte noch eine Nachkriegsphase des Stillstandes, aber die Einführung der empfängnisverhütenden Pille in den sechziger Jahren, die neu erwachende Frauenbewegung der siebziger Jahre, die gleichzeitig erstarkende Schwulenbewegung, der Beginn der AIDS-Epidemie in den achtziger Jahren und die damit notwendig werdende Propagierung von  Kondomen und „safer sex“, änderten das öffentliche Diskussionsklima auf radikale Weise. Und damit wuchs dann allmählich auch die Bereitschaft, die sexuelle Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt wahrzunehmen. In den neunziger Jahren kam dann noch die elektronische Revolution hinzu: Das Internet ermöglichte völlig neue Wege weltweiter, direkter Kommunikation.

Heute wird diese Möglichkeit von immer mehr Menschen genutzt, auch von den „sexuellen Zwischenstufen“.  Diese haben sich inzwischen organisiert und immer weiter ausdifferenziert. Als Interessen- und Selbsthilfegruppen unterhalten sie in vielen Ländern und vielen Sprachen eine Vielzahl von Websites, um sowohl die allgemeine Öffentlichkeit aufzuklären als auch die eigenen Mitglieder und ihre Familien zu unterstützen. Jedermann, jede Frau und jedes Kind findet nun mühelos im Internet alle nötigen Informationen, bereitgestellt von jeder bekannten sexuellen Minderheit - den Homosexuellen, Bisexuellen, Intersexuellen, Transvestiten, Transsexuellen, und sogar von den Asexuellen. Dazu meldet sich in letzter Zeit auch noch eine große Gruppe zu Wort, die, quer über die älteren kategorischen Grenzen hinweg, viele sexuelle Nonkonformisten unter dem neuen Begriff des Transgenderismus vereinigt. Ursprünglich meinte dieser Begriff die Entscheidung von Transsexuellen, für sich selbst jede „geschlechtsumwandelnde“ Operation abzulehnen und so bewusst dem bipolaren „männlich oder weiblichen“ Menschenbild ihrer Umwelt  zu trotzen. Inzwischen aber bezieht sich der Transgenderismus gar nicht mehr unbedingt auf einen bestimmten Körperbau, sondern drückt die Grundhaltung aller Menschen aus, die in ihrem Lebensstil gegen die traditionellen Geschlechtsrollen opponieren. So definieren und formieren sich also bestimmte sexuellen Abweichler noch einmal neu. Dazu kommen außerdem spezielle Untergruppen wie die Fetischisten und Sadomasochisten, die selbst wieder eigene Untergruppen gebildet haben  -  Zwischenstufen, wohin man blickt.

Es geht also gar nicht mehr allein um die Homosexualität und ihre gesellschaftliche Duldung, sondern um die Anerkennung aller sexuellen Varianten, die zu Unrecht diskriminiert werden. Schließlich ist jetzt die seinerzeit von Hirschfeld  behauptete sexuelle Mannigfaltigkeit für alle Menschen überall in der Welt augenfällig geworden. Ein Jahrbuch als Beweissammlung brauchen wir also nicht mehr. Das heißt aber leider nicht, dass die sexuellen Minderheiten nun auch überall anerkannt oder gar unterstützt werden. In allzu vielen Ländern ist ihre Unterdrückung schlimmer denn je. Und sehr oft ist auch wieder die wissenschaftlich überholte, aber nach wie vor sozialpolitisch mächtige monotheistische Geschlechterideologie dafür verantwortlich. So müssen Intersexuelle und Transsexuelle vielerorts immer noch um ihre Rechte kämpfen, weil sie nicht in die starre, biblische Alternative „Mann oder Weib“ passen. Viele Gesellschaften halten mit religiösen Argumenten auch immer noch an den uralten, Geschlechtsrollen fest, die für Frauen eben keine Gleichberechtigung vorsehen. Und was die sexuelle Orientierung angeht, so sieht es keineswegs überall nach Fortschritt aus. Ein aktuelles Beispiel: In Uganda fordern nun - zu Beginn des 21. Jahrhunderts - ganz besonders bibeltreue Christen wieder die alttestamentliche Todesstrafe für homosexuelle Handlungen.

Die Liste solcher Rückfälle lässt sich beliebig verlängern. Andererseits sind aber auch die Verbesserungen unübersehbar: In der Mehrzahl der Länder sind homosexuelle Handlungen nicht mehr strafbar, ja, in einigen von ihnen werden sogar gleichgeschlechtliche Ehen anerkannt.

Die gesamte widersprüchliche Entwicklung hat aber noch einen weiteren, zunehmend wichtigen Aspekt, seit die Vereinten Nationen 1948 ihre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet haben. Zwar erwähnt diese Erklärung keine Rechte  sexueller Minderheiten, aber aus ihrem Kern und geistigen Impetus heraus lassen sich dennoch weitergehende Forderungen entwickeln, und das wurde und wird auch immer wieder versucht, so etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953, die seither durch mehrere Zusatzprotokolle ergänzt worden ist. Inzwischen geht man aber noch weiter, z.B. in den EU -Antidiskriminierungs-Rechtsvorschriften vom Jahre 2000. Diese verbieten u.a. ausdrücklich jede Benachteiligung wegen sexueller Orientierung. Schon ein Jahr vorher, 1999, hatte die World Association for Sexology (heute: World Association for Sexual Health), in Hong Kong ihre Erklärung sexueller Rechte verabschiedet, die bisher umfassendste dieser Art. Auch ihre Forderungen warten allerdings in vielen Teilen der Erde noch auf ihre Erfüllung.

Kurz: Wir müssen uns heute nicht mehr so sehr mit biologischen, sondern eher mit kulturellen und sozialpolitischen Zwischenstufen befassen, teilweise sogar innerhalb einzelner Länder. Biologisch ist das Thema nicht mehr strittig. Was aber die Politik gegenüber sexuellen Minderheiten angeht, so reicht sie  - weltweit gesehen - von völliger Unterdrückung bis zur problemlosen Akzeptanz. Wir sehen also Rückständigkeit und Fortschritt, Freiheitsbeschränkung und Freiheitserweiterung, Beharrung und Bewegung, in seltsamen Mustern und Schattierungen über den Globus verteilt - eine „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, die es zwar immer  gegeben hat, die aber noch nie für so viele Menschen so deutlich sichtbar war wie heute. Da die Welt nun aber immer schneller und immer weiter elektronisch vernetzt wird, kann jede tiefe Kluft zwischen den Kulturen über alle Landesgrenzen hinweg zu Spannungen führen, ja, sie kann künftig gefährlich weitreichende Konflikte auslösen. Wenn das Internet die Welt tatsächlich in ein „globales Dorf“ verwandelt, wo „jeder jeden kennt“, dann erfordert ein friedliches Zusammenleben eben auch ein allgemein höheres Maß an Toleranz. Man sollte daher, in unser aller Interesse, die weltweite sexualpolitische Ungleichheit - am besten in einem internationalen Verbund - wissenschaftlich untersuchen oder zumindest genauer beobachten.

Das ist eine Aufgabe für unsere heutigen Soziologen, Ökonomen, Ethnologen, Juristen und Kulturhistoriker. Vertreter dieser Fächer waren zwar schon bei Hirschfelds Jahrbuch beteiligt, aber bei der nun erkennbar gewordenen Vielschichtigkeit und globalen Bedeutung des Problems müssen sie sehr viel tiefer schürfen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Scheinbar liegt nun alles offen zutage, aber tatsächlich ist es viel komplizierter geworden als es vor 100 Jahren war. Das gründliche Studium der alten Bände kann aber immer noch ein hilfreicher Einstieg sein, auch für die künftige Forschung. Es wäre zu wünschen, dass es bald einem neuen Hirschfeld gelingt, wieder Mitstreiter zu organisieren, die sich gemeinsam an diese lohnende Arbeit machen.