Erwin J. Haeberle

Sexualwissenschaft an der Humboldt-Universität:
Eine verpaßte Chance

Zuerst erschienen in: Kleinhempel, F., Möbius, A., Soschinka, H.-U., Waßermann, M. (Hg.):
Die Biopsychosoziale Einheit Mensch - Begegnungen, Festschrift für Karl-Friedrich Wessel, Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie & Humanontogenetik, Band 10, Bielefeld, Kleine Verlag, 1996, S. 233-237

Die Feststellung, daß alles menschliche Sexualverhalten biologische, psychologische und soziale Aspekte hat, ist im Grunde eine Banalität. Ebenso banal ist auch die sich daraus ergebende Schlußfolgerung, daß zur Erforschung dieses Verhaltens eine Zusammenarbeit mindestens von Biologen, Psychologen und Soziologen notwendig ist. Nicht nur Karl-Friedrich Wessel hat, gemäß dieser Logik, in seinem Institut die Heimstatt einer in Berlin neu zu belebenden Sexualwissenschaft gesehen. Dieses, nach der "Wende" von der damaligen DDR-Regierung endlich genehmigte Interdisziplinäre Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik an der Hurnboldt-Universität sollte dem Studium des bio-psycho-sozialen Wesens Mensch gewidmet sein und bot in der Tat die beste Chance, die deutsche Sexualwissenschaft zum ersten Mal aus dem erstickenden Schatten der Medizin herauszuführen, umso mehr, als auch sehr tüchtige, junge und alte Mediziner in diesem neuen Rahmen zur fachübergreifenden Forschung bereit waren. Diese verfolgten außerdem das Ziel, wie in Polen und der Tschechischen Republik, die Sexualmedizin als eigene Fachrichtung durchzusetzen und waren so natürliche Verbündete für Pädagogen und Psychologen, die auch für die Sexualerziehung und nichtmedizinische Sexualtherapie besondere Studiengänge anstrebten. Das neue Institut aber bot ihnen allen ein Diskussionsforum zur gegenseitigen Erweiterung ihrer Fachhorizonte. So bestand für alle Interessierten die Aussicht, gemeinsam ein wirklich innovatives sexologisches Grundstudium zu entwickeln.

Es ist tragisch, daß der erste freigewählte Rektor der Humboldt-Universität nicht bereit war, diese Chance zu ergreifen oder auch nur zu sehen und stattdessen mit Außenstehenden konspirierte, jeden möglichen Beitrag aus seiner eigenen Universität abzudrängen und abzuwürgen. Zwei ausführliche Memoranden zum Thema ignorierte er demonstrativ. Unbelehrbar und mit selbstzerstörerischem Unverstand machte er sich zum Vorkämpfer eines dritten, externen Vorschlags, der einen eigenen Studiengang Sexualwissenschaft mit eigenem akademischem Abschluß ausdrücklich ablehnte.

Glücklicherweise scheiterte dieser spalterische Vorstoß sehr schnell, wenn auch aus den falschen Gründen. Gleichzeitig aber waren Universitäten in Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien dabei, sexualwissenschaftliche Lehrpläne und Prüfungsordnungen zu erstellen, und heute kann man dort Diplome, Magister- und Doktorgrade in Sexualerziehung, Sexualtherapie und klinischer Sexologie erwerben. Es ist auch nur eine Frage der Zeit, bis diese akademischen Grade, teilweise von sehr alten und angesehenen Universitäten in allen Ländern der Europäischen Union quasi automatisch anerkannt sein werden.

Die damit außerhalb Deutschlands für Europa etablierten sexualwissenschaftlichen Standards sind aber keineswegs ideal, denn sie sind weiterhin sehr 'medizinlastig', d.h. die biologischen, psychologischen und sozialen, also nichtmedizinischen Aspekte kommen immer noch viel zu kurz. Die vornehmste Aufgabe jedes Mediziners ist es ja, kranken Menschen zu helfen, und so muß er sich beim Sexualverhalten vor allem für dessen Störungen interessieren. Die Sexualtherapie und die Begutachtung von Sexualstraftaten können aber nicht der alleinige Sinn und Endzweck der Sexualwissenschaft sein. Das meiste menschliche Sexualverhalten ist weder krank noch verbrecherisch. Die populäre Gedankenverbindung 'Sexualität - Medizin' ist deshalb mehr als kurzsichtig. Sie ist irreführend.

Es wird viele Jahre dauern, bis diese unsinnige Einengung einer umfassenden Forschungsaufgabe im Laufe innereuropäischer Angleichungsprozesse aus den Lehrplänen verschwindet. Sie wird verschwinden, weil der akademische Markt dazu zwingt, auch die berufliche Qualifikation von Sexualpädagogen, Sozialarbeitern und nichtmedizinischen Sexualtherapeuten sicherzustellen, und weil dabei die entsprechenden Curricula ein eigenes Gewicht gewinnen werden. Aber auch viele andere Berufe werden ein Interesse an einer breiter angelegten Sexualwissenschaft haben: Juristen, Kriminologen, Ethnologen, Historiker, Theater- und Literaturwissenschaftler, Journalisten und Theologen etwa, um nur einige zu nennen. Sie alle werden sexologische Grund- und Fortbildungskurse begrüßen und sogar fordern. Am Ende wird es getrennte medizinische und nichtmedizinische Studiengänge in der Sexualwissenschaft geben, beide werden viel voneinander lernen und ihre Spezialisierungen auf einem gemeinsamen wissenschaftlichen Sockel aufbauen. Deutschland aber, und besonders Berlin, wird bei all diesen Entwicklungen keinerlei Rolle spielen. Hier hat sich die Hurnboldt-Universität selbst zur Irrelevanz verurteilt.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß an der Charité schließlich eine C-3-Professur für "Sexualwissenschaften" ausgeschrieben wurde (der Plural verrät schon, daß die Ausschreiber von der Sache keine Ahnung hatten). Gleichgültig, ob, wann und von wem diese Stelle besetzt wird, es wird alles keinerlei Unterschied machen, denn eine wirkliche Einflußmöglichkeit ist ihr von vornherein versagt. Da es noch nicht einmal eine Fachqualifikation zum Sexualmediziner geben wird, ist weder an medizinische Pflichtvorlesungen oder Seminare, noch an die Entwicklung eines interdisziplinären Curriculums zu denken.

Kurz, es handelt sich um die Einrichtung einer reinen 'Alibiprofessur', die keinen anderen Zweck hat, als die lästige Sexualwissenschaft in Berlin endgültig aufs tote Gleis zu schieben. Dies Manöver ist in den medizinischen Fakultäten vieler Länder seit langer Zeit bewährt, daß es aber ausgerechnet auch in der Geburtsstadt der Sexualwissenschaft angewandt wurde, ist eine besonders bittere Ironie des Schicksals.

Berliner Studenten müssen sich also damit trösten, daß es in der Europäischen Union mehr als ein Dutzend Universitäten mit sexualwissenschaftlichen Abschlüssen gibt, und zwar sowohl innerhalb wie außerhalb der Medizin. Diese Abschlüsse werden früher oder später auch in Deutschland und allen anderen EU-Ländern anerkannt sein. Nicht nur das: Es ist schon abzusehen, daß einige dieser Universitäten ihre Studiengänge teilweise oder sogar sehr weitgehend im Fernstudium anbieten werden (eine spanische Universität tut dies bereits). Wenn sich in einigen Jahren die elektronische Kommunikation weiter verbessert hat, können auch Studenten in Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Wedding und Wilmersdorf Sexualwissenschaft studieren, nämlich von ihrer eigenen Wohnung aus. Nur zu praktischen Übungen und den Prüfungen müssen sie noch ab und zu einige Wochen nach Sizilien, an die französische Riviera oder auf die Kanarischen Inseln fliegen. An all diesen Orten gibt es renommierte Universitäten mit sexologischen Studiengängen und Abschlüssen. Die Hurnboldt-Universität, Freie Universität und Technische Universität in Berlin wird man bei alledem ungestraft ignorieren können.

Überhaupt wird die Geographie beim sexologischen Studium immer weniger eine Rolle spielen. Das sehr abgelegene und für Reisende schwer erreichbare Kinsey-Institut an der Indiana University zum Beispiel bietet inzwischen nicht nur bibliographische Informationen über die eigenen Bestände, sondern auch verschiedene Volltexte (u.a. von mir selbst als ehemaligem Mitarbeiter) weltweit per Internet an. Diese Entwicklung wird sich zwangsläufig auch auf akademische Lehrmaterialien und -methoden auswirken. Schon heute arbeiten ausländische Hochschulen und auch Privatfirmen an interaktiven CDs, ja an kompletten elektronisch übermittelten Aus- und Fortbildungskursen ("Teleteaching"). Hätte man also das zukunftsweisende Institut für Humanontogenetik entsprechend gefördert, anstatt es auszuhöhlen und kaltzustellen, so hätte es sehr schnell eine in der Sexualwissenschaft konstruktiv gestaltende und weltweit beachtete Rolle spielen können. So aber hat man sich dem künftigen Diktat britischer, belgischer, französischer, spanischer, italienischer, polnischer und tschechischer Sexologen ausgeliefert. Als Generalsekretär der European Federation of Sexology habe ich selbst keinen Zweifel daran, daß alle unsere Mitglieder sich im Laufe der Zeit auf verschiedene, allerseits akzeptable sexologische Curricula einigen werden. Nur wird dies eben ohne die Mitwirkung deutscher Universitäten geschehen.

Wie töricht die Humboldt-Universität hier gehandelt hat, wird auch daran deutlich, daß es seit 1994 als allerneueste Errungenschaft an der Freien Universität ein Interdisziplinäres Zentrum für historische Anthropologie gibt. Was verbirgt sich hinter diesem Namen? Natürlich nichts anderes als die Humanontogenetik, d.h. genau das, was auch Karl-Friedrich Wessel und seine Mitstreiter wollten: Das Studium des Menschen als historisch und gesellschaftlich bestimmte Erscheinung, d.h. als bio-psycho-soziales Wesen, wobei auch das Bewußtsein von der Historizität unserer Forschungsmethoden und -interessen als notwendiges Korrektiv wirksam wird.

Wie ist angesichts all dieser Vorgänge das Versagen der Humboldt-Universität zu erklären? Ich selbst weiß darauf keine Antwort und muß die Erforschung der Gründe späteren Chronisten überlassen. Ich kann aber einige persönliche Beobachtungen mitteilen, die dafür vielleicht relevant sind:

Vom Herbst 1992 bis zum Frühjahr 1994 habe ich, nur für ein einziges Semester bezahlt, an der Universität Unter den Linden als Gastprofessor sexualwissenschaftliche Vorlesungen, Seminare und Übungen abgehalten, teilweise unter der ebenfalls gratis angebotenen Mithilfe des Kieler Sexualmediziners Prof. Reinhard Wille und seiner Schüler Priv. Doz. Dr. Beier und Dr. Bosinski. Zwar fanden alle diese Lehrveranstaltungen nur im Rahmen des Studium generale statt, aber die stetig wachsenden Hörerzahlen bis zur räumlichen Überfüllung machten das enorme Interesse der Studenten aus allen drei Berliner Universitäten deutlich (an der TU war meine Vorlesung im Nebenpflichtfach für den Studiengang Public Health anerkannt). Die Universität gab aber durch viele direkte und indirekte Hinweise immer wieder zu verstehen, daß sie unser Geschenk keineswegs schätzte. Im Gegenteil, sie griff begierig nach dem ersten Formfehler beim Verlängerungsantrag der Gastprofessur, um die Sexualwissenschaft schnell wieder aus dem Vorlesungsverzeichnis zu streichen.

Die Universitätsleitung wurde sogar noch deutlicher. Die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS), deren Präsident ich bin, hatte, in Zusammenarbeit mit den Kollegen Günther Dörner und Karl-Friedrich Wessel von der Humboldt-Universität, dort seit 1990 drei internationale sexualwissenschaftliche Kongresse veranstaltet. Der dritte davon im August 1994 trug sogar den programmatischen Titel "Vom Sinn und Nutzen der Sexualwissenschaft". Dazu sprachen Referenten aus Deutschland, Österreich, Schweden, Italien, Spanien, den USA, den Niederlanden, der Tschechischen Republik, Ungarn und China. Mitveranstalter waren das Robert Koch-Institut, die Gesellschaft für Praktische Sexualmedizin (GPS) und die Deutsche Gesellschaft für Geschlechtserziehung (DGG). Ein freundliches Einladungsschreiben an die HU-Präsidentin Dürkop, ein Grußwort zu sprechen, blieb ohne Wirkung. Weder sie selbst, noch ein Stellvertreter hielt es für nötig, bei der Eröffnung dieses 'frei Haus' gelieferten Kongresses im Universitäts-Senatssaal zu erscheinen. Es gab auch keine noch so kurze Erklärung des Bedauerns, ja, um es ganz genau zu sagen, unser Brief wurde völlig ignoriert und noch nicht einmal beantwortet.

Eine solche Mißachtung einfachster Anstandsregeln ist, wie ich aus eigener, langjähriger Erfahrung sagen kann, selbst gegenüber wissenschaftspolitischen Gegnern weder an der UC Berkeley oder der San Francisco State University, noch an der Cornell, Yale oder Indiana University, noch an den Universitäten Kiel und Genf üblich. Leider zeigte auch kein Mitglied der Charité-Berufungskommission das geringste Interesse. Für mich war damit die Botschaft klar: Die ganze Richtung paßt uns nicht! Die Humboldt-Universität war stolz auf ihren Provinzialismus und lehnte es ab, über die Landesgrenzen hinauszusehen.

Glücklicherweise entschloß sich das Robert Koch-Institut zu eben dieser Zeit, in Spandau ein Archiv für Sexualwissenschaft einzurichten, in dem ich als Leiter seither Studenten aus allen drei Berliner Universitäten sowie aus dem Ausland willkommen heiße, und wo sie bequeme Arbeitsmöglichkeiten haben. Auch Professoren, Künstler und Journalisten finden den Weg zu uns, da niemand sonst unsere Bestände bietet. Jedenfalls wird hier die Möglichkeit zu fachübergreifender Kooperattion erhalten. Wenn, eines fernen Tages, eine Berliner Universität in der Sexualwissenschaft doch noch den internationalen Anschluß suchen sollte, so wird sie bei uns einen Anknüpfungspunkt entdecken. Karl-Friedrich Wessel hatte die bessere, weil umfassende Idee für den Wiederaufbau der Sexualwissenschaft in Berlin, aber seine Universität hat ihn unbegreiflicherweise im Stich gelassen. Daher ist es uns vom Robert Koch-Instiut in Berlin eine Freude, mit unseren vielen internationalen Verbindungen wenigstens das große Thema der sexuellen Gesundheit weiterbearbeiten zu können.

 

Literatur

Erwin J. Haeberle, Berlin und die internationale Sexualwissenschaft, Öffentliche Vorlesungen, Heft 9, Humboldt-Universität zu Berlin, 1993, 32 S.

Erwin J. Haeberle u. Wolfgang Simons (Hg. v. Sexology in Europe: A Directory of Institutions, Organizations, Resource Centers, Training Programs and Scientific Journals, RKI-Heft 3, Robert-Koch-Institut, Berlin 1995, 217 S.