Alfred C. Kinsey als
Homosexualitätsforscher

Erwin J. Haeberle

Ursprünglich leicht gekürzt erschienen in:
R. Lautmann (Hg.): Homosexualität - Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte
Campus Verlag, Frankfurt/M., New York, 1993, S. 230-238

Leben
Werk
Würdigung
Quellen
Sekundärliteratur

Leben

Alfred C. K., 1894 in Hoboken, N.J. (USA), geboren, promovierte 1920 als Biologe an der Harvard University und wurde im gleichen Jahr Assistenz-Professor in der Abteilung Zoologie der Indiana University in Bloomington. Er heiratete dort ein Jahr später. 1929 wurde er zum Professor ernannt.

K. spezialisierte sich auf das Studium der Gallwespe, eines kleinen Insekts, von dem er auf ausgedehnten Reisen in den USA, Mexiko und Guatemala Hunderttausende von Exemplaren sammelte. In seinem Labor untersuchte er sie dann unter dem Mikroskop auf 28 verschiedene Merkmale, um ihre Entwicklungsgeschichte aufzuzeichnen. Diese jahrelange Arbeit machte ihn schließlich zur ersten Autorität auf seinem engen Gebiet. Er war aber auch ein geschätzter Dozent und publizierte ein erfolgreiches allgemeines Lehrbuch der Biologie.

Im Jahre 1938 wurde er von der Universität gebeten, einen Kurs über „Ehe und Familie“ zu übernehmen. Da er die einschlägige Literatur für unzureichend hielt - sie basierte seiner Ansicht nach auf viel zu kleinen und nicht-repräsentativen Stichproben -, versuchte er, mit Hilfe von Dutzenden, dann Hunderten und endlich Tausenden von persönlichen Interviews (nicht Fragebögen!), so viele Tatsachen wie möglich über das menschliche Sexualverhalten herauszufinden.

Dieses Vorhaben wurde bald auch durch die Rockefeller-Stiftung finanziell gefördert. K. konnte eine Forschungsgruppe um sich versammeln und sich völlig seiner neuen Aufgabe widmen, die er ebenso unermüdlich verfolgte wie vorher seine Gallwespenjagd. Das Resultat legten er und seine Mitarbeiter 10 und 15 Jahre später vor: die beiden "K. Reports" über männliches und weibliches Sexualverhalten. 1947 war es K. außerdem möglich, ein förmliches Institut für Sexualforschung an der Universität zu grunden, für das er eine erhebliche Sammlung von Büchern, Bildern, Manuskripten und Artefakten zusammenbrachte.

Das große Aufsehen, das der inzwischen weltberühmte Forscher mit seinem Werk erregte, führte zu heftigen konservativen Angriffen, und so wurden ihm auf religiösen und politischen Druck hin weitere Forschungsgelder vorenthalten. K., dessen ehrgeizige Zukunftspläne auch eine besondere Studie homosexuellen Verhaltens vorsahen, versuchte erfolglos, den Verlust durch verstärkte Anstrengungen auszugleichen. Völlig überarbeitet, erlag er am 25. August 1956 einem Herzversagen.

Werk

K.s wesentlicher Beitrag zur Homosexuellenforschung findet sich in den beiden Reports von 1948 und 1953. Diese basieren auf persönlichen, vertraullchen Interviews mit über 11000 Männern und Frauen jeden Alters, jeder Religion, aller Einkommens- und Bildungsgrade sowie aus allen ländlichen und städtischen Gebieten der USA. Die Bücher enthalten zahlreiche Statistiken, vor allem über sechs verschiedene sexuelle "outlets" oder Ausdrucksmöglichkeiten, d. h. Verhaltensweisen, die zum Orgasmus führen können: bewußte Selbstbefriedigung, sexuelle Träume, heterosexuelles Petting, heterosexueller Koitus, homosexueller Kontakt jeder Art und Sexualkontakt mit Tieren.

Es ging K. also zunächst um eine erste, generelle Datenbasis, nicht um sexuelle Spezialprobleme. Sein Ansatz war rein taxonomisch, rein deskriptiv klassifizierend, d.h. er betrieb hier eine bewußt werturteilsfreie Fliegenbeinzählerei, wie er es von seinem Gallwespenstudium her gewohnt war. K.s nüchtern-prosaisches Vorgehen wird schon in den Buchtiteln selbst signalisiert, die sich demonstrativ in die biologische Tradition stellen. Wörtlich übersetzt heißen sie nämlich "Sexualverhalten beim menschlichen Männchen" und "Sexualverhalten beim menschlichen Weibchen". Die Präposition "beim" (engl. "in") macht außerdem klar, daß der Autor keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Endgültigkeit erhebt, sondern nur gewisse, wenn auch relativ umfangreiche Beobachtungen innerhalb einer Spezies mitteilt.

K.s Methode wurde aber nicht nur durch seine strikte biologische Schulung bestimmt, sondern auch durch persönliche Eigenschaften wie Sammlereifer, Zähigkeit, Präzision, Pünktlichkeit, Kontaktfreudigkeit und Einfühlungsvermögen. Sein Mangel an sexuellen Vorurteilen war nicht nur rein wissenschaftlich begründet, sondern entsprang auch einer anfangs echten Naivität, der eines sexuell durchaus unerfahrenen Provinzlers. Er war eben kein "Mann von Welt". Erst im Verlaufe seiner Arbeit begann er auch privat sexuell zu experimentieren, wobei er aber im Kreise seiner engsten Vertrauten und deren Partnerinnen verblieb. Seine enthusiastische, fast kindliche Neugier öffnete ihm nun die Augen besonders weit und verschaffte ihm außerdem menschlichen Zugang zu vielen, sonst leicht übersehenen oder schwer erreichbaren sexuellen Gruppen und sozial geächteten Individuen. Die gleichen Qualitäten der wissenschaftlichen Genauigkeit bei völliger Offenheit und Freundlichkeit verlangte K. auch von seinen Mitarbeitern. Die gesamte Forschungsgruppe bestand außer dem Biologen K. noch aus dem Psychologen Wardell B. Pomeroy, dem Soziologen Clyde E. Martin und dem Anthropologen Paul H. Gebhard. Die meisten Interviews wurden von K. und Pomeroy durchgeführt (je etwa 45 %, zusammen 90 %).

Das sogenannte "Kinsey-Interview" bestand aus einem persönlichen Gespräch von etwa 30-90 Minuten, je nach Fall, dem eine Standard-Liste von 300-500 Fragen zugrunde lag. Die Antworten wurden verschlüsselt in unbeschriebenen Kästchen auf einem einzigen Blatt eingetragen (nur bei besonders extensivem homosexuellem Verhalten und bei Prostitution gab es entsprechende Zusatzblätter). Es wurde grundsätzlich davon ausgegangen, daß alle Befragten alle denkbaren sexuellen Handlungen ausgeführt hatten. Wenn nicht, dann mußten sie in jedem einzelnen Fall ausdrücklich verneint werden.

Der Fragenkatalog ähnelt in vieler Hinsicht dem in Hirschfelds "Psychobiologischen Fragebogen" (1908-1933), war aber präziser und detaillierter. K. kannte Hirschfelds Werke. Die Interviewblätter wurden gesammelt und schließlich statistisch ausgewertet. Die Resultate überraschten sowohl K. als auch seine akademischen Kollegen und die breitere Öffentlichkeit.

Was speziell die "Ausdrucksmöglichkeit" homosexuelles Verhalten betrifft, so widerlegten die Statistiken die Vorstellung von zwei säuberlich trennbaren Gruppen: den "Homosexuellen" und den "Heterosexuellen". "Homosexuell" ist nicht eine Person, sondern eine Beziehung oder ein Stimulus. K. drängte sich diese Einsicht durch die eigenen Zahlen auf, die ihm klar bewiesen, daß sich nur wenige Menschen ihr ganzen Leben hindurch exklusiv homosexuell verhalten und daß auch exklusiv heterosexuelles Verhalten nicht so weit verbreitet Ist wie allgemein angenommen. Vielmehr liegen zwischen diesen beiden Extremen sehr Viele Individuen, die im Laufe ihres Lebens sowohl heterosexuelle wie homosexuelle Kontakte und psychische Reaktionen in verschiedener Häufigkeit und Ausprägung aufweisen. Heterosexuelles und homosexuelles Verhalten liegen auf einem Kontinuum der Mischungsverhältnisse. Es erwies sich, daß zahlreiche Menschen im Laufe der Jahre auf diesem Kontinuum auf- und abwandern, also heute mehr heterosexuelle, morgen mehr homosexuelle und übermorgen wieder mehr heterosexuelle Erlebnisse haben. K. stellte das von ihm vorgefundene Kontinuum graphisch in einer Bewertungsskala für heterosexuelles und homosexuelles Verhalten dar, der heute sogenannten "Kinsey­Skala". Hier werden die verschiedenen Möglichkeiten von ausschließlich heterosexuellem Verhalten (Stufe 0) bis zu ausschließlich homosexuellem Verhalten (Stufe 6) etwas vereinfachend in sieben verschiedenen gleitenden Abstufungen veranschaulicht. Die Stufen 1-5 stellen Übergänge zwischen diesen Extremen dar, wobei Individuen auf der Stufe 3 gleichviel heterosexuelles wie homosexuelles Verhalten zu verzeichnen haben.

Es ist wichtig zu bemerken, daß in dieser einen Skala eigentlich zwei verschiedene Skalen kombiniert sind - die der wirklichen Sexualkontakte und die der rein psychischen Reaktionen, die nicht zu äußerlichen Handlungen führen. D. h. ein Mann, der überhaupt keine tatsächlichen sexuellen Kontakte hat, aber ständig nur von Frauen phantasiert und von ihnen sexuell erregt wird, gehört auf die Stufe 0. Umgekehrt gilt das gleiche für jemanden auf Stufe 6. Auf diese letztere Stufe gehört aber auch jemand, der lauter wirkliche homosexuelle Kontakte und überhaupt keine heterosexuellen Interessen hat. Andererseits könnte ein Strichjunge, der fast täglich homosexuelle Kontakte hat, aber daneben noch viele heterosexuelle Kontakte und fast ausschließlich heterosexuelle Phantasien, etwa auf Stufe 2 eingeordnet werden. Es käme also auch hier auf das relative Verhältnis zwischen heterosexuellen und homosexuellen Interessen an, nicht auf absolute Zahlen. Solche reinen Kontaktzahlen können eben sehr in die Irre führen. Allgemein zeigt sich jedenfalls, daß die heterosexuellen Interessen in der Bevölkerung insgesamt weit überwiegen.

Es handelt sich bei der K.-Skala also nicht - -wie leider in der deutschen K.Ausgabe falsch übersetzt - um ein "heterosexuelles-homosexuelles 'Gleichgewicht'", sondern um eine "balance" im zweiten möglichen Sinn des Wortes, z.B. einen "Ausgleich" zwischen den Verhaltensweisen. Anders gesagt, die ganze Skala repräsentiert 100 % des Verhaltens, und wenn ein kleinerer oder größerer Abschnitt herausgenommen wird, dann stellt der verbliebene Rest immer die fehlende Prozentzahl bis 100 dar. Auf dieser Basis kam K. zu folgenden Ergebnissen - und, wie man sieht, kann dabei von "Gleichgewicht" gar keine Rede sein: 37 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben wenigstens eine reale homosexuelle Erfahrung bis zum Orgasmus zwischen Jugendzeit und hohem Alter; 30 % aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren; 25 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben mehr als einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren; 18 % der Männer haben mindestens genau soviele homosexuelle wie heterosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 36) über mindestens drei Jahre im Alter von 16 und 55 Jahren; 10 % der Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten (Werte 5 oder 6) durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 und 55 Jahren; 4 % der weißen Männer sind ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten nach Beginn der Pubertät (1984:650f.). Da nur 50 % der Bevölkerung als Erwachsene ausschließlich heterosexuell und nur 4 % der Bevölkerung während ihres gesamten Lebens ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten sind, scheint es, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung als Erwachsene (46 %) sowohl heterosexuell als auch homosexuell betätigt oder auf Personen beiderlei Geschlechts reagiert hat (ebd.:656). Die Grunderkenntnis über fließende Übergänge bewahrheitet sich auch in der Studie über das weibliche Sexualverhalten, obwohl dort die entsprechenden Prozentzahlen, allgemein gesprochen, um die Hälfte niedriger liegen, was homosexuelles Verhalten betrifft.

Somit schoben K.s trockene Statistiken die Homosexualitätsdiskussion auf eine neue, völlig andere Ebene. Sie zerbrachen die herkömmlichen Denkmuster, Stereotypen und Schablonen, wenigstens in den USA. Es kann also auch nicht verwundern, daß gerade dieses unerwartete Ergebnis über homosexuelles Verhalten, das doch nur Teil einer viel breiter angelegten Studie war, einen besonders großen Sturm der Entrüstung auslöste. Selbst heute wird es von vielen immer noch nicht akzeptiert.

Würdigung

Zur Bewertung von K.s Studien ist es wichtig, dreierlei zu bedenken: 1 . Er begann mit einer allgemeinen Fragestellung: "Was tun die männlichen und weiblichen Mitglieder der Spezies homo sapiens sexuell?" Er wollte ohne ideologische Scheuklappen einfache, wenn auch möglichst vollständige, kontrollierbare Daten sammeln. Seine Ergebnisse über homosexuelles Verhalten kamen zustanden, weil er nicht "das Problem der Homosexualität" oder "die Homosexuellen" studierte. Das wären für K. schon verfälschende Vorentscheidungen gewesen. 2. K. hatte an seinen Gallwespen gelernt, daß man anhand von wenigen Dutzend, ja wenigen hundert Fallbeispielen noch nicht einmal über Insekten allgemeingültige Aussagen machen kann. Um wie viel weniger war das bei Menschen möglich! Die ihm verfügbare Literatur - und das gilt eigentlich bis heute - beruhte aber auf dieser unzulänglichen Basis. Besonders trifft dies auf die psychoanalytische Literatur zu, die deshalb für K. reine Spekulation darstellte. Er selbst wollte zunächst nichts weiter als ausreichende Fallbeispiele sammeln. 3. K. war sich aber auch der vielen Unzulänglichkeiten seiner eigenen Arbeit bewußt und plante daher, sie erheblich auszudehnen und zu verfeinern. Vor allem die Relation zwischen heterosexuellem und homosexuellem Verhalten sollte noch einmal besonders untersucht werden. K.s früher Tod machte diese Pläne leider zunichte, und so stellt sein Werk eigentlich nur ein Fragment dar.

Auch durch diesen fragmentarischen Charakter seines Werkes bedingt, wurden (und werden) K.s Absichten und Ergebnisse weithin mißverstanden. Viele Kritiker bemängeln z.B. immer wieder gewisse statistische Probleme und Unsauberkeiten, um die Hauptresultate nicht akzeptieren zu müssen. Eine mögliche, geringe Irrtumsspanne für einige Prozentzahlen K.s war aber alles, was diese Kritik wirklich nachweisen konnte. - Besonders die Zahlen für homosexuelles Verhalten in der männlichen Gesamtbevölkerung wurden immer wieder angezweifelt. Diese Zweifel wurden anscheinend sogar von zwei späteren Forschern aus K.s Institut, William Simon und John Gagnon, bestätigt (1967). Ihr Argument lief hauptsächlich darauf hinaus, daß K. unverhältnismäßig viele Strafgefangene mit ebenso unverhältnismäßig vielen homosexuellen Erfahrungen interviewt hätte. Folglich seien die entsprechenden Zahlen nach unten zu revidieren. Einige Jahre später griff einer von K.s ursprünglichen Mitarbeitern, Paul Gebhard, die Frage noch einmal auf und gab implizit wenigstens Simon und Gagnon teilweise recht (1979:8). Andererseits aber wies er auf weiterhin bestehende Vergleichsprobleme hin, die das Zugeständnis wieder relativieren (ebd.:28f., 43f.). Am Ende faßte Gebhard die Diskussion so zusammen: "Der Leser, der in der Interpretation von Statistiken unerfahren ist, sei davor gewarnt, unseren Zahlen eine Genauigkeit zuzuschreiben, die sie nicht haben. Er ( ... ) sollte Trends ausfindig machen und mit den Zahlen in einem generellen Sinn umgehen." (ebd.:42) "Die Ergänzung und Säuberung unserer Stichproben hat ihren Wert merklich gehoben; sie hat uns aber noch nicht veranlaßt, irgendeine wichtige Feststellung zu widerrufen." (ebd.:9) Ein neuerer Aufsatz Gagnons ist der Diskussion der „Kinsey-Skala“ gewidmet. Darin entwickelt Gagnon K.s Grundidee weiter, indem er sie im Lichte der Hypothese "sexueller Skripte" neu untersucht (in: McWhirter 1990:177-207). Der gesamte Band enthält viel konstruktive Kritik an K., ohne seine Verdienste zu schmälern und auch ohne die hier referierten Ergebnisse als solche ernsthaft in Frage zu stellen. Seither hat sich gezeigt, daß diese Mängel den Wert der Gesamtaussage grundsätzlich nicht beeinträchtigen. Vor allem ist seit K.s "Reports" keine wirklich vergleichbare Studie unternommen worden, die sie hätte widerlegen oder auch nur ernsthaft modifizieren können.

Es ist eine andere Frage, ob K.s Statistiken ausreichen, gewisse wichtige Auskünfte zu geben. Diese Frage muß man besonders im Fall des homosexuellen Verhaltens wohl verneinen, und es ist deshalb bedauerlich, daß er seine geplante Sonderstudie des Problerns nicht mehr durchführen konnte. So sagen z.B. die K.-Skala und die dazugehörigen Tabellen in der vorliegenden Form nichts darüber, wieviel Prozent der Bevölkerung jeweils auf die Stufen 1-5 gehören. Nur die Zahlen für die Extrempositionen werden genannt (bei Männern 0 = 50 % und 6 = 4 %). Die 46 % mit bisexuellem Verhalten sind aus verschiedenen Gründen nicht exakt zu plazieren, unter anderem auch deshalb, weil viele von ihnen im Laufe der Jahre den Skalenplatz wechseln. So findet man für sie nur kumulative Angaben wie 1-6, 2-6, 3-6 usw. Es ist aber auch nicht völlig gegen K.s Intentionen, daß man bei ihm keine genauen Zahlen für die verschiedenen Unterarten der "Bisexuellen" findet; sein wichtigstes Forschungsergebnis bestand ja gerade darin, solche festen Kategorien als wissenschaftlich hinderlich aufzulösen.

Ein weiteres Problem besteht darin, daß die Positionen auf der Skala nichts über die Häufigkeit der homosexuellen (oder heterosexuellen) Akte und Reaktionen aussagen. Beispielsweise plazierte K. tatsächlich einen Strichjungen mit 10 000 homosexuellen Kontakten (aber insgesamt viel mehr heterosexuellen Kontakten, Phantasien und Interessen) auf die Stufe 2. Ebenso wurden viele heterosexuell aktive Ehemänner mit weit über-wiegenden homosexuellen Phantasien (aber ohne entsprechende Aktivität) der Stufe 4 zugeordnet.

Es ist eins der Hauptprobleme von K.s Studie, daß er einerseits vor allem sexuelle "outlets" zählt, also körperliche Handlungen, die zum Orgasmus führen, andererseits aber die Begriffe homosexuelles "Verhalten" und homosexuelle "Erfahrung" in einem sehr viel weiteren Sinn gebraucht, der auch psychische Reaktionen (ohne körperliche Handlungen) einschließt. Dieser Sprachgebrauch ist zwar legitim und sinnvoll, führt aber leicht zu Mißverständnissen, ja zu Unklarheit. So bleibt die K.­Skala ein zwar instruktives, aber auch etwas zwittriges Gebilde.

Kritiker der Skala haben sie zudem als naiv, simplistisch und überflüssig bezeichnet, da sie im Grunde nicht mehr Einsicht vermittle als die alte Dreiteilung "heterosexuell-bisexuell-homosexuell" (Robinson 1976:73f.). Das ist aber nicht völlig richtig, denn die größere Differenzierung trägt dazu bei, K.s Auflösung des Begriffs von "Homosexuellen" als besonderen Personen augenfällig zu machen. Diese Zerstörung oder auch Ablehnung einer besonderen Kategorie "Homosexuelle" durch K., seine Verneinung einer "homosexuellen Identität" wiederum trug ihm besonders schwere Vorwürfe ein (Dannecker 1978:61).

Im Gefolge der von K. mitausgelösten sexuellen Liberalisierungswelle formierte sich zuerst in den USA, dann aber auch in den übrigen westlichen Ländern, eine kämpferische "homosexuelle Minderheit", die aus politisch-sozialen Gründen gezwungen war, eine eigene Identität als Merkmal der Zugehörigkeit zu fordern. Zwar erreichte man damit nur einen geringen Teil der tatsächlich homosexuell reagierenden Männer und Frauen - ja, man schloß die Mehrheit geradezu aus -, aber die nun bewußt auftretenden "Schwulen" erwiesen sich in ihrem Kampf als weitgehend erfolgreich. Von ihrem Standpunkt aus mußte K.s Ansatz nun als "veraltet", wenn nicht gar als "reaktionär" erscheinen. Inzwischen hat sich aber diese Kritik, wenigstens in der amerikanischen "Schwulenbewegung", wieder etwas abgeschwächt, da diese sich selbst immer weiter ausdifferenziert hat und da nun auch die "Bisexuellen" sich als eigene Minderheit zu Wort melden. Ein ähnlicher Vorwurf steckt aber auch in der marxistischen Kritik, K. lasse jedes historische Bewußtsein vermissen (Escoffier 1985). Wenn K. in seiner Skala alle sozialen Gegensätze und Konflikte ausklammerte, wenn er bei seiner prosaischen Addition von "outlets" alle psychologischen Unterschiede ignorierte, so ebnete er in blinder Gleichmacherei die gesamte, historisch gewachsene sexuelle Landschaft ein. Das galt aber auch für das individuelle Sexualschicksal, das sich - nach K. - angeblich nur aus dem "total outlet" zusammensetzte, also der Summe aller erlebten Orgasmen, gleichgültig wo, wie und mit wem sie zustande kamen. Dieser scheinbare Materialismus war besonders für die Psychoanalytiker unakzeptabel. K. war indessen kein Materialist im strikten Sinne, sondern ein "Behaviorist", radikaler Empiriker und Nominalist; für ihn definierte sich der Mensch nur durch sein Handeln: "Der Mensch ist, was er tut." Um aber festzustellen, was er tut (besonders auf sexuellem Gebiet), muß man eine ausreichend große Stichprobe haben. Im Individualfall wiederum muß man in einer erschöpfenden "sex history" alle "outlets" erfassen. Der Unterschied zum Essentialisten Freud könnte nicht größer sein.

Was den Unterschied zwischen männlichem und weiblichem homosexuellen Verhalten betrifft, so reduzierte sich dieser für K. wiederum hauptsächlich auf einen quantitativen. Spätere lesbische Autorinnen haben diese Zahlen als zu niedrig angezweifelt. Für K. jedoch wäre dies einen Streit nicht wert gewesen. Ihm kam es auf das Prinzip des heterosexuell-homosexuellen Kontinuums an. Das fand sich bei beiden Geschlechtern und war schon im ersten "Report" etabliert. So konnte der zweite eigentlich zu diesem besonderen Thema nichts Neues mehr bringen. Die Bedeutung des zweiten lag vielmehr auf anderen Gebieten des weiblichen Sexualpotentials, das er bestätigte und bekräftigte wie kaum ein Werk vor ihm. K. leistete hier dem bald neu erstarkenden Feminismus einen erheblichen Dienst. Gerade K.s relativ undifferenzierte Behandlung der weiblichen Homosexualität zeigt aber auch wieder die (selbstauferlegten) Grenzen seiner Forschungsarbeit. Er konnte und wollte in seinen beiden Büchern nicht alles sexologisch Wissenswerte untersuchen und darstellen. Sie waren nicht mehr als Anfänge, "Eröffnungssalven" einer Expeditionskampagne in unbekanntes Gelände. Immerhin genugten sie, viele wissenschaftliche Kollegen aufzuschrecken. Für seine Zeitgenossen allgemein wurde K. zum großen "Entmythologisierer" und Entmystifizierer der Sexualität. Er nahm ihr bewußt den sakralen Zauber, profanisierte, entdramatisierte und demokratisierte sie. Prinzipiell war auch das Sexualverhalten beim Säugetier Mensch in allen Formen natürlich. So erweiterte gerade K.s enge biologische Sicht für seine Leser das Spektrum des "Normalen", und wie sich erwies, war homosexuelles Verhalten nur ein selbstverständlicher Teil davon.

Quellen

1974: Sex Behavior in the Human Animal, Annals of the NY Academy of Sciences;XLVII:635­7. 1948: mit Pomeroy, W.B. u.a.: Sexual Behavior in the Human Male, Philadelphia (dt. 1964). 1949: mit Pomeroy, W.B. u.a.: Concepts of Normality and Abnormality in Sexual Behavior, in: Psychosexual Development in Health and Disease, hg. von P. H. Hoch u.a., New York. 1953: mit Pomeroy, W.B. u.a.: Sexual Behavior in the Human Female, Philadelphia (dt. 1963).

Sekundärliteratur

Bell, Alan P. u.a.: Homosexualities, New York 1978 (dt. 1978). Sexual Preference, Bloomington 1981. Dannecker, Martin: Der Homosexuelle und die HomosexualitätFrankfurt/M. 1978. Escoffier, Jeffrey: Sexual Revolution and the Politics of Gay Identity, in: Socialist Review, July/Oct. 1985:123-6. Gebhard, Paul H. u.a.: The Kinsey Data: Marginal Tabulations of the 1938-1963 (Interviews Conducted by the Institute for Sex Research), Philadelphia 1979. Haeberle, Erwin J.: "Einleitung" zu Magnus Hirschfeld: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes - Nachdruck der Erstausgabe von 1914, Berlin 1984. journal of Homosexuality: insbes. Nature and Causes of Homosexuality 1981;6.4. Homosexuality and Social Roles 1983;9.1. Bisexual and Homosexual Identities 1984;9.2/3. Bisexualities 1985; 11. 1/2. McWhirter, D. P. u.a. (Hg.): Homosexuality/Heterosexuality: Concepts of Sexual Orientation, New York 1990. Pomeroy, Wardell B. u.a.: Taking a Sex History, New York 1982. Simon, William u.a.: Homosexuality, in: Journal of Health and Social Behavior 1967;8:177-185. Robinson, Paul: The Modernization of Sex, New York 1976.