Alfred C. Kinsey als Homosexualitätsforscher
Erwin J. Haeberle
Ursprünglich leicht gekürzt erschienen in: R.
Lautmann (Hg.): Homosexualität - Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte Campus
Verlag, Frankfurt/M., New York, 1993, S. 230-238
Leben Werk Würdigung Quellen Sekundärliteratur
Alfred C. K.,
1894
in Hoboken, N.J. (USA),
geboren, promovierte
1920
als Biologe an der Harvard
University und wurde im gleichen Jahr Assistenz-Professor in
der Abteilung Zoologie der Indiana University in Bloomington.
Er heiratete dort ein Jahr später.
1929
wurde er zum Professor
ernannt.
K. spezialisierte sich auf das
Studium der Gallwespe, eines kleinen Insekts, von dem er auf
ausgedehnten Reisen in den USA, Mexiko und Guatemala
Hunderttausende von Exemplaren sammelte. In seinem Labor
untersuchte er sie dann unter dem Mikroskop auf
28
verschiedene Merkmale, um ihre
Entwicklungsgeschichte aufzuzeichnen. Diese jahrelange Arbeit
machte ihn schließlich zur ersten Autorität auf seinem engen
Gebiet. Er war aber auch ein geschätzter Dozent und
publizierte ein erfolgreiches allgemeines Lehrbuch der
Biologie.
Im Jahre
1938
wurde er von der Universität
gebeten, einen Kurs über „Ehe und Familie“ zu übernehmen. Da
er die einschlägige Literatur für unzureichend hielt - sie
basierte seiner Ansicht nach auf viel zu kleinen und
nicht-repräsentativen Stichproben -, versuchte er, mit Hilfe
von Dutzenden, dann Hunderten und endlich Tausenden von
persönlichen Interviews
(nicht
Fragebögen!), so viele
Tatsachen wie möglich über das menschliche Sexualverhalten
herauszufinden.
Dieses Vorhaben wurde bald auch
durch die Rockefeller-Stiftung finanziell gefördert. K. konnte
eine Forschungsgruppe um sich versammeln und sich völlig
seiner neuen Aufgabe widmen, die er ebenso unermüdlich
verfolgte wie vorher seine Gallwespenjagd. Das Resultat legten
er und seine Mitarbeiter 10 und
15
Jahre später vor: die beiden
"K.
Reports" über
männliches und weibliches Sexualverhalten.
1947
war es K. außerdem möglich, ein
förmliches Institut für Sexualforschung an der Universität zu
grunden, für das er eine erhebliche Sammlung von Büchern,
Bildern, Manuskripten und Artefakten zusammenbrachte.
Das große Aufsehen, das der
inzwischen weltberühmte Forscher mit seinem Werk erregte,
führte zu heftigen konservativen Angriffen, und so wurden ihm
auf religiösen und politischen Druck hin weitere
Forschungsgelder vorenthalten. K., dessen ehrgeizige
Zukunftspläne auch eine besondere Studie homosexuellen
Verhaltens vorsahen, versuchte erfolglos, den Verlust durch
verstärkte Anstrengungen auszugleichen. Völlig überarbeitet,
erlag er am
25.
August
1956
einem Herzversagen.
K.s wesentlicher Beitrag zur
Homosexuellenforschung findet sich in den beiden Reports
von
1948
und
1953.
Diese basieren auf
persönlichen, vertraullchen Interviews mit über 11000 Männern
und Frauen jeden Alters, jeder Religion, aller Einkommens- und
Bildungsgrade sowie aus allen ländlichen und städtischen
Gebieten der USA. Die Bücher enthalten zahlreiche Statistiken,
vor allem über sechs verschiedene sexuelle "outlets" oder
Ausdrucksmöglichkeiten, d. h. Verhaltensweisen, die zum
Orgasmus führen können: bewußte Selbstbefriedigung, sexuelle
Träume, heterosexuelles Petting, heterosexueller Koitus,
homosexueller Kontakt jeder Art und Sexualkontakt mit
Tieren.
Es ging K. also zunächst um
eine erste, generelle Datenbasis, nicht um sexuelle
Spezialprobleme. Sein Ansatz war rein taxonomisch, rein
deskriptiv klassifizierend, d.h. er betrieb hier eine bewußt
werturteilsfreie Fliegenbeinzählerei, wie er es von seinem
Gallwespenstudium her gewohnt war. K.s nüchtern-prosaisches
Vorgehen wird schon in den Buchtiteln selbst signalisiert, die
sich demonstrativ in die biologische Tradition stellen.
Wörtlich übersetzt heißen sie nämlich "Sexualverhalten beim
menschlichen Männchen" und "Sexualverhalten beim menschlichen
Weibchen". Die Präposition "beim" (engl. "in") macht außerdem
klar, daß der Autor keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder
Endgültigkeit erhebt, sondern nur gewisse, wenn auch relativ
umfangreiche Beobachtungen innerhalb einer Spezies
mitteilt.
K.s Methode wurde aber nicht
nur durch seine strikte biologische Schulung bestimmt, sondern
auch durch persönliche Eigenschaften wie Sammlereifer,
Zähigkeit, Präzision, Pünktlichkeit, Kontaktfreudigkeit und
Einfühlungsvermögen. Sein Mangel an sexuellen Vorurteilen war
nicht nur rein wissenschaftlich begründet, sondern entsprang
auch einer anfangs echten Naivität, der eines sexuell durchaus
unerfahrenen Provinzlers. Er war eben kein "Mann von Welt".
Erst im Verlaufe seiner Arbeit begann er auch privat sexuell zu
experimentieren, wobei er aber im Kreise seiner engsten Vertrauten
und deren Partnerinnen verblieb. Seine enthusiastische,
fast kindliche Neugier öffnete ihm nun die Augen besonders
weit und verschaffte ihm außerdem menschlichen Zugang zu vielen, sonst
leicht übersehenen oder schwer erreichbaren sexuellen Gruppen
und sozial geächteten Individuen. Die gleichen Qualitäten der
wissenschaftlichen Genauigkeit bei völliger Offenheit und
Freundlichkeit verlangte K. auch von seinen Mitarbeitern. Die
gesamte Forschungsgruppe bestand außer dem Biologen K. noch
aus dem Psychologen Wardell B. Pomeroy, dem Soziologen Clyde
E. Martin und dem Anthropologen Paul H. Gebhard. Die meisten
Interviews wurden von K. und Pomeroy durchgeführt (je etwa 45
%, zusammen 90 %).
Das sogenannte
"Kinsey-Interview" bestand aus einem persönlichen Gespräch von
etwa
30-90
Minuten, je nach Fall, dem
eine Standard-Liste von
300-500
Fragen zugrunde lag. Die
Antworten wurden verschlüsselt in unbeschriebenen Kästchen auf
einem einzigen Blatt eingetragen (nur bei besonders extensivem
homosexuellem Verhalten und bei Prostitution gab es
entsprechende Zusatzblätter). Es wurde grundsätzlich davon
ausgegangen, daß alle Befragten alle denkbaren sexuellen
Handlungen ausgeführt hatten. Wenn nicht, dann mußten sie in
jedem einzelnen Fall ausdrücklich verneint werden.
Der Fragenkatalog ähnelt in
vieler Hinsicht dem in Hirschfelds "Psychobiologischen
Fragebogen"
(1908-1933),
war aber präziser und
detaillierter. K. kannte Hirschfelds Werke. Die
Interviewblätter wurden gesammelt und schließlich statistisch
ausgewertet. Die Resultate überraschten sowohl K. als auch
seine akademischen Kollegen und die breitere
Öffentlichkeit.
Was speziell die
"Ausdrucksmöglichkeit" homosexuelles Verhalten betrifft, so
widerlegten die Statistiken die Vorstellung von zwei
säuberlich trennbaren Gruppen: den "Homosexuellen" und den
"Heterosexuellen". "Homosexuell" ist nicht eine Person,
sondern eine Beziehung oder ein Stimulus. K. drängte sich
diese Einsicht durch die eigenen Zahlen auf, die ihm klar
bewiesen, daß sich nur wenige Menschen ihr ganzen Leben
hindurch exklusiv homosexuell verhalten und daß auch exklusiv
heterosexuelles Verhalten nicht so weit verbreitet Ist wie
allgemein angenommen. Vielmehr liegen zwischen diesen beiden
Extremen sehr Viele Individuen, die im Laufe ihres Lebens
sowohl heterosexuelle wie homosexuelle Kontakte und psychische
Reaktionen in verschiedener Häufigkeit und Ausprägung
aufweisen. Heterosexuelles und homosexuelles Verhalten liegen
auf einem Kontinuum der Mischungsverhältnisse. Es erwies sich,
daß zahlreiche Menschen im Laufe der Jahre auf diesem
Kontinuum auf- und abwandern, also heute mehr heterosexuelle,
morgen mehr homosexuelle und übermorgen wieder mehr
heterosexuelle Erlebnisse haben. K. stellte das von ihm
vorgefundene Kontinuum graphisch in einer Bewertungsskala für
heterosexuelles und homosexuelles Verhalten dar, der heute
sogenannten "KinseySkala". Hier werden die verschiedenen
Möglichkeiten von ausschließlich heterosexuellem Verhalten
(Stufe 0) bis zu ausschließlich homosexuellem Verhalten (Stufe
6) etwas vereinfachend in sieben verschiedenen gleitenden
Abstufungen veranschaulicht. Die Stufen 1-5 stellen Übergänge
zwischen diesen Extremen dar, wobei Individuen auf der
Stufe
3
gleichviel heterosexuelles wie
homosexuelles Verhalten zu verzeichnen haben.

Es ist wichtig zu bemerken, daß
in dieser einen Skala eigentlich zwei verschiedene Skalen
kombiniert sind - die der wirklichen Sexualkontakte und die
der rein psychischen Reaktionen, die nicht zu äußerlichen
Handlungen führen. D. h. ein Mann, der überhaupt keine
tatsächlichen sexuellen Kontakte hat, aber ständig nur von
Frauen phantasiert und von ihnen sexuell erregt wird, gehört
auf die Stufe 0. Umgekehrt gilt das gleiche für jemanden auf
Stufe 6. Auf diese letztere Stufe gehört aber auch jemand, der
lauter wirkliche homosexuelle Kontakte und überhaupt keine
heterosexuellen Interessen hat. Andererseits könnte ein
Strichjunge, der fast täglich homosexuelle Kontakte hat, aber
daneben noch viele heterosexuelle Kontakte und fast
ausschließlich heterosexuelle Phantasien, etwa auf Stufe 2
eingeordnet werden. Es käme also auch hier auf das relative
Verhältnis zwischen heterosexuellen und homosexuellen
Interessen an, nicht auf absolute Zahlen. Solche reinen
Kontaktzahlen können eben sehr in die Irre führen. Allgemein
zeigt sich jedenfalls, daß die heterosexuellen Interessen in
der Bevölkerung insgesamt weit überwiegen.
Es handelt sich bei der
K.-Skala also nicht - -wie leider in der deutschen K.Ausgabe
falsch übersetzt - um ein "heterosexuelles-homosexuelles
'Gleichgewicht'", sondern um eine "balance" im zweiten
möglichen Sinn des Wortes, z.B. einen "Ausgleich" zwischen den
Verhaltensweisen. Anders gesagt, die ganze Skala repräsentiert
100 % des Verhaltens, und wenn ein kleinerer oder größerer
Abschnitt herausgenommen wird, dann stellt der verbliebene
Rest immer die fehlende Prozentzahl bis 100 dar. Auf dieser
Basis kam K. zu folgenden Ergebnissen - und, wie man sieht,
kann dabei von "Gleichgewicht" gar keine Rede sein: 37 % der
gesamten männlichen Bevölkerung haben wenigstens eine reale
homosexuelle Erfahrung bis zum Orgasmus zwischen Jugendzeit
und hohem Alter; 30 % aller Männer haben zumindest einzelne
homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen (Werte 1-6) über eine
Periode von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16
und 55 Jahren; 25 % der gesamten männlichen Bevölkerung haben
mehr als einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen
(Werte 2-6) über mindestens drei Jahre zwischen dem Alter von
16 und 55 Jahren; 18 % der Männer haben mindestens genau
soviele homosexuelle wie heterosexuelle Erlebnisse oder
Reaktionen (Werte 36) über mindestens drei Jahre im Alter von
16 und 55 Jahren; 10 % der Männer sind mehr oder weniger
ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten (Werte 5 oder 6)
durch mindestens drei Jahre im Alter von 16 und 55 Jahren; 4 %
der weißen Männer sind ausschließlich homosexuell in ihrem
Verhalten nach Beginn der Pubertät (1984:650f.). Da nur 50 %
der Bevölkerung als Erwachsene ausschließlich heterosexuell
und nur 4 % der Bevölkerung während ihres gesamten Lebens
ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten sind, scheint
es, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung als Erwachsene
(46
%)
sowohl heterosexuell als auch
homosexuell betätigt oder auf Personen beiderlei Geschlechts
reagiert hat (ebd.:656). Die Grunderkenntnis über fließende
Übergänge bewahrheitet sich auch in der Studie über das
weibliche Sexualverhalten, obwohl dort die entsprechenden
Prozentzahlen, allgemein gesprochen, um die Hälfte niedriger
liegen, was homosexuelles Verhalten betrifft.
Somit schoben K.s trockene
Statistiken die Homosexualitätsdiskussion auf eine neue,
völlig andere Ebene. Sie zerbrachen die herkömmlichen
Denkmuster, Stereotypen und Schablonen, wenigstens in den USA.
Es kann also auch nicht verwundern, daß gerade dieses
unerwartete Ergebnis über homosexuelles Verhalten, das doch
nur Teil einer viel breiter angelegten Studie war, einen
besonders großen Sturm der Entrüstung auslöste. Selbst heute
wird es von vielen immer noch nicht akzeptiert.
Zur Bewertung von K.s Studien
ist es wichtig, dreierlei zu bedenken: 1 . Er begann mit einer
allgemeinen Fragestellung: "Was tun die männlichen und
weiblichen Mitglieder der Spezies homo sapiens sexuell?" Er
wollte ohne ideologische Scheuklappen einfache, wenn auch
möglichst vollständige, kontrollierbare Daten sammeln. Seine
Ergebnisse über homosexuelles Verhalten kamen zustanden, weil
er nicht "das Problem der Homosexualität" oder "die
Homosexuellen" studierte. Das wären für K. schon verfälschende
Vorentscheidungen gewesen. 2. K. hatte an seinen Gallwespen
gelernt, daß man anhand von wenigen Dutzend, ja wenigen
hundert Fallbeispielen noch nicht einmal über Insekten
allgemeingültige Aussagen machen kann. Um wie viel weniger war
das bei Menschen möglich! Die ihm verfügbare Literatur - und
das gilt eigentlich bis heute - beruhte aber auf dieser
unzulänglichen Basis. Besonders trifft dies auf die
psychoanalytische Literatur zu, die deshalb für K. reine
Spekulation darstellte. Er selbst wollte zunächst nichts
weiter als ausreichende Fallbeispiele sammeln. 3. K. war sich
aber auch der vielen Unzulänglichkeiten seiner eigenen Arbeit
bewußt und plante daher, sie erheblich auszudehnen und zu
verfeinern. Vor allem die Relation zwischen heterosexuellem
und homosexuellem Verhalten sollte noch einmal besonders
untersucht werden. K.s früher Tod machte diese Pläne leider
zunichte, und so stellt sein Werk eigentlich nur ein Fragment
dar.
Auch durch diesen
fragmentarischen Charakter seines Werkes bedingt, wurden (und
werden) K.s Absichten und Ergebnisse weithin mißverstanden.
Viele Kritiker bemängeln z.B. immer wieder gewisse
statistische Probleme und Unsauberkeiten, um die
Hauptresultate nicht akzeptieren zu müssen. Eine mögliche,
geringe Irrtumsspanne für einige Prozentzahlen K.s war
aber alles, was diese Kritik wirklich nachweisen konnte. -
Besonders die Zahlen für homosexuelles Verhalten in der
männlichen Gesamtbevölkerung wurden immer wieder angezweifelt.
Diese Zweifel wurden anscheinend sogar von zwei späteren
Forschern aus K.s Institut, William Simon und John Gagnon,
bestätigt (1967). Ihr Argument lief hauptsächlich darauf
hinaus, daß K. unverhältnismäßig viele Strafgefangene mit
ebenso unverhältnismäßig vielen homosexuellen Erfahrungen
interviewt hätte. Folglich seien die entsprechenden Zahlen
nach unten zu revidieren. Einige Jahre später griff einer von
K.s ursprünglichen Mitarbeitern, Paul Gebhard, die Frage noch
einmal auf und gab implizit wenigstens Simon und Gagnon
teilweise recht (1979:8). Andererseits aber wies er auf
weiterhin bestehende Vergleichsprobleme hin, die das
Zugeständnis wieder relativieren (ebd.:28f., 43f.). Am Ende
faßte Gebhard die Diskussion so zusammen: "Der Leser, der in
der Interpretation von Statistiken unerfahren ist, sei davor
gewarnt, unseren Zahlen eine Genauigkeit zuzuschreiben, die
sie nicht haben. Er ( ... ) sollte Trends ausfindig machen und
mit den Zahlen in einem generellen Sinn umgehen." (ebd.:42)
"Die Ergänzung und Säuberung unserer Stichproben hat ihren
Wert merklich gehoben; sie hat uns aber noch nicht veranlaßt,
irgendeine wichtige Feststellung zu widerrufen." (ebd.:9) Ein
neuerer Aufsatz Gagnons ist der Diskussion der „Kinsey-Skala“
gewidmet. Darin entwickelt Gagnon K.s Grundidee weiter, indem
er sie im Lichte der Hypothese "sexueller Skripte" neu
untersucht (in: McWhirter 1990:177-207). Der gesamte Band
enthält viel konstruktive Kritik an K., ohne seine Verdienste
zu schmälern und auch ohne die hier referierten Ergebnisse als
solche ernsthaft in Frage zu stellen. Seither hat sich
gezeigt, daß diese Mängel den Wert der Gesamtaussage
grundsätzlich nicht beeinträchtigen. Vor allem ist seit K.s
"Reports" keine wirklich vergleichbare Studie unternommen
worden, die sie hätte widerlegen oder auch nur ernsthaft
modifizieren können.
Es ist eine andere Frage, ob
K.s Statistiken ausreichen, gewisse wichtige Auskünfte zu
geben. Diese Frage muß man besonders im Fall des homosexuellen
Verhaltens wohl verneinen, und es ist deshalb bedauerlich, daß
er seine geplante Sonderstudie des Problerns nicht mehr
durchführen konnte. So sagen z.B. die K.-Skala und die
dazugehörigen Tabellen in der vorliegenden Form nichts
darüber, wieviel Prozent der Bevölkerung jeweils auf die
Stufen 1-5 gehören. Nur die Zahlen für die Extrempositionen
werden genannt (bei Männern 0 = 50 % und 6 = 4 %). Die 46 %
mit bisexuellem Verhalten sind aus verschiedenen Gründen nicht
exakt zu plazieren, unter anderem auch deshalb, weil viele von
ihnen im Laufe der Jahre den Skalenplatz wechseln. So findet
man für sie nur kumulative Angaben wie 1-6, 2-6, 3-6 usw. Es
ist aber auch nicht völlig gegen K.s Intentionen, daß man bei
ihm keine genauen Zahlen für die verschiedenen Unterarten der
"Bisexuellen" findet; sein wichtigstes Forschungsergebnis
bestand ja gerade darin, solche festen Kategorien als
wissenschaftlich hinderlich aufzulösen.
Ein weiteres Problem besteht
darin, daß die Positionen auf der Skala nichts über die
Häufigkeit der homosexuellen (oder heterosexuellen) Akte und
Reaktionen aussagen. Beispielsweise plazierte K. tatsächlich
einen Strichjungen mit 10 000 homosexuellen Kontakten (aber
insgesamt viel mehr heterosexuellen Kontakten, Phantasien und
Interessen) auf die Stufe 2. Ebenso wurden viele heterosexuell
aktive Ehemänner mit weit über-wiegenden homosexuellen
Phantasien (aber ohne entsprechende Aktivität) der Stufe 4
zugeordnet.
Es ist eins der Hauptprobleme
von K.s Studie, daß er einerseits vor allem sexuelle "outlets"
zählt, also körperliche Handlungen, die zum Orgasmus führen,
andererseits aber die Begriffe homosexuelles "Verhalten" und
homosexuelle "Erfahrung" in einem sehr viel weiteren Sinn
gebraucht, der auch psychische Reaktionen (ohne körperliche
Handlungen) einschließt. Dieser Sprachgebrauch ist zwar
legitim und sinnvoll, führt aber leicht zu Mißverständnissen,
ja zu Unklarheit. So bleibt die K.Skala ein zwar
instruktives, aber auch etwas zwittriges Gebilde.
Kritiker der Skala haben sie
zudem als naiv, simplistisch und überflüssig bezeichnet, da
sie im Grunde nicht mehr Einsicht vermittle als die alte Dreiteilung "heterosexuell-bisexuell-homosexuell" (Robinson
1976:73f.). Das ist aber nicht völlig richtig, denn die
größere Differenzierung trägt dazu bei, K.s Auflösung des
Begriffs von "Homosexuellen" als besonderen Personen
augenfällig zu machen. Diese Zerstörung oder auch Ablehnung
einer besonderen Kategorie "Homosexuelle" durch K., seine
Verneinung einer "homosexuellen Identität" wiederum trug ihm
besonders schwere Vorwürfe ein (Dannecker 1978:61).
Im Gefolge der von K.
mitausgelösten sexuellen Liberalisierungswelle formierte sich
zuerst in den USA, dann aber auch in den übrigen westlichen
Ländern, eine kämpferische "homosexuelle Minderheit", die aus
politisch-sozialen Gründen gezwungen war, eine eigene
Identität als Merkmal der Zugehörigkeit zu fordern. Zwar
erreichte man damit nur einen geringen Teil der tatsächlich
homosexuell reagierenden Männer und Frauen - ja, man schloß
die Mehrheit geradezu aus -, aber die nun bewußt auftretenden
"Schwulen" erwiesen sich in ihrem Kampf als weitgehend
erfolgreich. Von ihrem Standpunkt aus mußte K.s Ansatz nun als
"veraltet", wenn nicht gar als "reaktionär" erscheinen.
Inzwischen hat sich aber diese Kritik, wenigstens in der
amerikanischen "Schwulenbewegung", wieder etwas abgeschwächt,
da diese sich selbst immer weiter ausdifferenziert hat und da
nun auch die "Bisexuellen" sich als eigene Minderheit zu Wort
melden. Ein ähnlicher Vorwurf steckt aber auch in der
marxistischen Kritik, K. lasse jedes historische Bewußtsein
vermissen (Escoffier 1985). Wenn K. in seiner Skala alle
sozialen Gegensätze und Konflikte ausklammerte, wenn er bei
seiner prosaischen Addition von "outlets" alle psychologischen
Unterschiede ignorierte, so ebnete er in blinder
Gleichmacherei die gesamte, historisch gewachsene sexuelle
Landschaft ein. Das galt aber auch für das individuelle
Sexualschicksal, das sich - nach K. - angeblich nur aus dem
"total outlet" zusammensetzte, also der Summe aller erlebten
Orgasmen, gleichgültig wo, wie und mit wem sie zustande kamen.
Dieser scheinbare Materialismus war besonders für die
Psychoanalytiker unakzeptabel. K. war indessen kein
Materialist im strikten Sinne, sondern ein "Behaviorist",
radikaler Empiriker und Nominalist; für ihn definierte sich
der Mensch nur durch sein Handeln: "Der Mensch ist, was er
tut." Um aber festzustellen, was er tut (besonders auf
sexuellem Gebiet), muß man eine ausreichend große Stichprobe
haben. Im Individualfall wiederum muß man in einer
erschöpfenden "sex history" alle "outlets" erfassen. Der
Unterschied zum Essentialisten Freud könnte nicht größer
sein.
Was den Unterschied zwischen
männlichem und weiblichem homosexuellen Verhalten betrifft, so
reduzierte sich dieser für K. wiederum hauptsächlich auf einen
quantitativen. Spätere lesbische Autorinnen haben diese Zahlen
als zu niedrig angezweifelt. Für K. jedoch wäre dies einen
Streit nicht wert gewesen. Ihm kam es auf das Prinzip des
heterosexuell-homosexuellen Kontinuums an. Das fand sich bei
beiden Geschlechtern und war schon im ersten "Report"
etabliert. So konnte der zweite eigentlich zu diesem
besonderen Thema nichts Neues mehr bringen. Die Bedeutung des
zweiten lag vielmehr auf anderen Gebieten des weiblichen
Sexualpotentials, das er bestätigte und bekräftigte wie kaum
ein Werk vor ihm. K. leistete hier dem bald neu erstarkenden
Feminismus einen erheblichen Dienst. Gerade K.s relativ
undifferenzierte Behandlung der weiblichen Homosexualität
zeigt aber auch wieder die (selbstauferlegten) Grenzen seiner
Forschungsarbeit. Er konnte und wollte in seinen beiden
Büchern nicht alles sexologisch Wissenswerte untersuchen und
darstellen. Sie waren nicht mehr als Anfänge,
"Eröffnungssalven" einer Expeditionskampagne in unbekanntes
Gelände. Immerhin genugten sie, viele wissenschaftliche
Kollegen aufzuschrecken. Für seine Zeitgenossen allgemein
wurde K. zum großen "Entmythologisierer" und Entmystifizierer
der Sexualität. Er nahm ihr bewußt den sakralen Zauber,
profanisierte, entdramatisierte und demokratisierte sie.
Prinzipiell war auch das Sexualverhalten beim Säugetier Mensch
in allen Formen natürlich. So erweiterte gerade K.s enge
biologische Sicht für seine Leser das Spektrum des "Normalen",
und wie sich erwies, war homosexuelles Verhalten nur ein
selbstverständlicher Teil davon.
1974:
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