Zur Geschichte der Sexualforschung
in der Tschechoslowakei

Josef Hynie

Dieser Aufsatz erschien zuerst in: "Sexualwissenschaft und Sexualpolitik" (hg. von Rolf Gindorf und Erwin J. Haeberle), Berlin 1992, S. 91-117

Inhalt:
Erster Aufenthalt in Berlin 1929
Sexualwissenschaftliche Theorien der zwanziger Jahre
Zweiter Aufenthalt in Berlin 1931
Kongreß in Brno 1932
Weitere Entwicklung der Sexualwissenschaft in der CSSR
Anmerkung
Kurzbiographie

Schon zu Anfang dieses Jahrhunderts bestand bei uns in Prag, besonders an unserer Universität und deren medizinischer Fakultät, ein günstiges Klima für die Sexuologie.

Der Internist und spätere Professor Pelnär übersetzte Forels "Die sexuelle Frage" ins Tschechische und unterstützte dann bei uns viele Jahre lang die Sexualwissenschaft in jeder Hinsicht. In den zwanziger Jahren setzte sich der Pädagoge Prof. Zähor in seinen Broschüren für die Sexualpädagogik ein, die er "Erziehung zur Elternschaft" nannte. Prof. Tryb von der medizinischen Fakultät in Brunn publizierte 1925 "Die männliche Sexualfunktion und deren Störungen" als ersten Teil seines Werkes über Sexualleiden und venerische Krankheiten. Der Dermatovenerologe Samberger hielt als Dozent der Prager Universität Vorlesungen über Sexualstörungen. Später, als Professor der Der-matovenerologie und Nachfolger von Prof. Janovsky, erreichte er, daß sein Kollege Pecirka, nach einer Schulung in Hirschfelds Institut, im Jahre 1921 direkt zum Professor für Sexualpathologie ernannt wurde. Er sollte das Institut für Sexualpathologie an der Universität errichten. Im Juni 1921 erhielt Prof. Pecirka sein Dekret, aber schon im Januar 1922 ist er, ohne seine Aufgabe erfüllen zu können, gestorben. Er hinterließ nur eine kleine Bibliothek von etwa 50 Büchern mit dem Aufdruck "Institut für Sexualpathologie". Zum Ausbau des Instituts und zur Eröffnung der Vorlesungen kam es nicht.

Doch das Vorhandensein des Dekrets vom Jahre 1921, welches die Errichtung des Instituts für Sexualpathologie begründete, bildete eine für die Zukunft wichtige Tatsache. Die von Prof. Pecirka hinterlassene Bibliothek wurde in der dermatovenerologischen Abteilung der Poliklinik deponiert. Doch die ganze Angelegenheit ist dann in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten.

Erst im Jahre 1927 hat Prof. Samberger mich als seinen Assistenten zu einer Besprechung eingeladen und sich dabei dahingehend geäußert, daß er an seiner Klinik immer einen Sexuologen haben möchte. Einige Versuche, dies zu verwirklichen, schlugen fehl. Er schätzte meine breitere Erudition und erklärte sich bereit, mir, falls ich mich für die Sexuologie entscheiden würde, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Ich begann mit der theoretischen Vorbereitung. Ich studierte besonders Molls "Handbuch der Sexualwissenschaften" und Hirschfelds "Sexualpathologie", auch manches aus der Endokrinologie und Neurologie, wozu ich eine gute Grundlage aus der Klinik des Prof. Pelnär mitgebracht hatte. Prof. Pelnär war ein ausgezeichneter Neurologe und gleichzeitig unser erster Endokrinologe. Schon vorher studierte ich Grassets große französische "Physiopathologie Clinique" und Freuds Psychoanalyse, natürlich auch Probleme der Andrologie und Gynäkologie.

Doch beim Studium der Sexualwissenschaft kamen mir Bedenken hinsichtlich der Bewältigung des umfangreichen Materials. Da griff Prof. Samberger ein und stellte mir die Möglichkeit einer Studienreise nach Berlin in Aussicht, um den aktuellen Stand der deutschen Sexuologie kennenzulernen. Im Herbst 1929 war ich schon in Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft in Berlin.

Erster Aufenthalt in Berlin 1929

Ende des Jahres 1929 und Anfang 1931 studierte ich drei Monate lang Sexuologie im "Institut für Sexualwissenschaft — Magnus-Hirschfeld-Stiftung" in Berlin. Das Institut war in zwei Häusern in der Straße In den Zelten in der Nähe des Reichstags untergebracht. Im Hauptgebäude des Instituts befanden sich im Erdgeschoß, nebst einer prunkvollen Halle, die Hauptordination und die Arbeitszimmer des Vorstands sowie die Administration und Konferenzzimmer. Die erste Etage enthielt die Abteilung für Entwicklungs- und Potenzstörungen. Dann war dort eine Eheberatungsstelle, ein reich ausgestattetes Museum mit einem Archiv und die Wohnungen des Vorstands und seines Sekretärs. — In der zweiten Etage waren die Physikaltherapie und die Röntgenapparate, die Diathermie, einige Höhensonnen und Vitaluxlampen u. ä. untergebracht. Dort waren auch Badezimmer und einige Gästezimmer. Man kann nicht direkt von Patientenräumen sprechen, weil diese Menschen sich bei der sexuellen Anomalie oder Insuffizienz nicht direkt krank fühlten.

Im zweiten, innerlich kommunizierenden Hause befanden sich hauptsächlich Wohnräume für Ärzte und Gäste. Auch ich wohnte dort. Dort war auch ein Hörsaal für Vorlesungen, Haeckel-Saal genannt, eine große Bibliothek und der Leseraum, bestehend aus zwei großen Zimmern. Dieser war der Öffentlichkeit für eine niedrige Gebühr zugänglich. Die Bücher konnte man sich ausleihen und mitnehmen. So viele sexuologische Publikationen waren in keiner Berliner Bibliothek vorhanden.

Diese zwei Häuser übergab Hirschfeld dem preußischen Staat, und er sollte sein Leben lang der Direktor des Instituts sein. — Das Institut wurde auch

vom Staat subventioniert, aber das Wichtigste waren Bezahlungen der Patienten für die Behandlungen und gerichtliche Expertisen. Die Patienten wohnten auch im Institut und zahlten je nach ihren Möglichkeiten. — Hirschfeld war eigentlich ein sozial fühlender Mensch.

Was das Personal anbelangt, so waren dort neben dem Vorstand drei ständige Ärzte: für Entwicklungsstörungen und Impotenz Dr. Bernhard Schapiro, für psychiatrische Sexuologie und sexuelle Deviation, besonders bei Gerichtsverhandlungen, Dr. Felix Abraham, der Nachfolger des Psychiatrie-Dozenten Dr. Arthur Kronfeld, der eine wertvolle "Sexualpsychopathologie" schrieb. Leiter der Abteilung für Gynäkologie, Antikonzeption und Eheberatung war Dr. Levy-Lenz. Außerdem stand eine Reihe von Ärzten und Fachmännern in Verbindung mit der Anstalt, so Dr. Linsen für Pharmakologie und Dr. Götz für Sexualethnologie. Dem Institut stand auch Dr. Besser als Graphologe, der zugleich ein guter Psychologe war, zur Verfügung. Er studierte und bearbeitete die Manuskripte der Patienten, besonders die von ihnen ausgefüllten Fragebögen mit mehr als 100 mitunter komplizierten Fragen.

Hirschfeld hatte sein Arbeitszimmer in der Mitte und kümmerte sich besonders um die Angelegenheiten der Homosexuellen. Außerdem hatte er bei seiner Wohnung oben im Institut ein kleineres privates Arbeitszimmer.

M. Hirschfeld war unverheiratet und lebte nur am Institut und nur für seine Sexuologie. Er hatte einen Sekretär namens Karl Giese, der aber nicht mit dem späteren Chef des sexuologischen Instituts in Hamburg, Hans Giese, verwandt war. Die Leitung der Rezeption versah mit viel Intelligenz und feinem Geschmack eine ältere, distinguierte Dame, die für den Empfang der Gäste und für die gesellschaftlichen Angelegenheiten zuständig war. Dann gab es einen Bibliothekar, der sich auch um die ökonomische Seite des Instituts kümmerte. Und eine Frau, die aufräumte und saubermachte, Frau Ebel. Sie stellte zugleich einen glücklich gelösten Fall des Instituts dar. Als früherer transsexueller Mann (nach Hirschfelds Terminologie: Transvestit) einer Kastration unterzogen, fühlte sie sich nun in der weiblichen Rolle sehr wohl und zufrieden. Bei vom Institut veranstalteten Vorlesungen im Hörsaal der Humboldt-Volksuniversität ließ sie sich gern vorführen und schilderte in bunten Farben ihr nun sehr glückliches Dasein.

Reguläre Vorlesungen und Diskussionen in diesem Hörsaal gehörten zu den Tätigkeiten des Instituts. Sie behandelten die Probleme junger Leute, abnormales Sexualleben, Antikonzeption, Sexualethnologie u. v. a. m. Bei jungen Menschen war besonders ein guter Freund Hirschfelds, Dr. Max Hodann, beliebt.

Es gab ambulante und Institutspatienten. Die letzteren wohnten in den Gastzimmern des Instituts und aßen gemeinsam mit den Institutsärzten und den

studierenden Gästen, so daß diese die willkommene Gelegenheit hatten, sie unauffällig auch im gewöhnlichen gesellschaftlichen Kontakt zu beobachten. Jeder Patient, besonders die Institutspatienten, wurde vom Chef aufgenommen, dann aber zur genaueren Untersuchung einem oder mehreren jüngeren, eventuell auch unauffällig einem studierenden Arzt übergeben. Die Resultate wurden mit dem Vorstand, eventuell auch im Kollegium diskutiert und das Nötige veranlaßt. Das war sehr rationell. — Sexuologische Patienten kann man nicht, besonders am Anfang der Behandlung, in Anwesenheit anderer Personen untersuchen. Die Herstellung des Kontakts mit dem Patienten und die Gewinnung ihres Vertrauens dauert eine gewisse Zeit. Dann erst sagt der Patient dem Arzt das Richtige, aber nicht jedem dasselbe. — So sparte der Vorstand Zeit und erfuhr mehr. Die studierenden Ärzte hatten dabei Gelegenheit, den Patienten direkt kennenzulernen und ihr Urteil gleich vom Chef überprüfen zu lassen.

Im Kontakt mit den Patienten betonte Hirschfeld, daß man sich besonders auf die sexuellen Angelegenheiten konzentrieren müsse. Um nichts zu vergessen, gab er ihnen den "Psychobiologischen Fragebogen" zum Ausfüllen. Das Beantworten der zahlreichen Fragen bedeutete für den Patienten eine nicht geringe Arbeit, aber dem Untersuchenden ersparte es viel Zeit. Es war schneller möglich, sich auf die wichtigsten Probleme zu konzentrieren und in der Analyse in die Tiefe zu gehen. Psychische Probleme waren für ihn auch wichtig, doch wurden sie von ihm anders betrachtet als von den Psychiatern und anderen, die unter dem Einfluß von Krafft-Ebing im Sexualleben nur eine Komponente des psychischen Lebens sahen und sich wenig um dessen eigene Gesetze kümmerten.

Hirschfeld betonte besonders den Einfluß der Hormone, der gonadalen und hypophysären, nach den Forschungen von Steinach. Schon vor deren Entdeckung formulierte Hirschfeld seine Theorie über männliche und weibliche Hormone, die er Andrin und Gynaecin nannte. Später entwickelte er mit Dr. Schapiro das Präparat Testifortan zur Steigerung der männlichen Sexualfunktion, natürlich nach Beseitigung verschiedener Hemmungen. Hirschfelds Mitarbeiter Dr. Schmidt zeigte seinen Schülern die Steinachsche Operation, die Vasoligatur zur Stärkung der männlichen Potenz.

Hirschfeld sah im Geschlechtstrieb ein Bündel verschiedener Tropismen. Der Mensch fühlt sich von Personen seines Types angezogen. Sexus sucht den Typ, die Liebe den vollwertigen Partner. Dies erklärte Hirschfeld in der Vorlesung "Anziehungsgesetze der Liebe". Aus den Konflikten zwischen Psyche und Sexus entstehen die Neurosen. Schwere Fälle erfordern fachmännische Psychotherapie; leichte Formen jedoch kann der Sexuologe selbst ausgleichen. Dazu muß er natürlich den Patienten gut kennen; der Fragebogen kann dabei behilflich sein. Wenn er ihn ausfüllt, kommt dem Patienten verschiedenes zu Bewußtsein, was fehlerhaft in seinem sexuellen Benehmen sein könnte. Und wenn er dies

einsehen kann, dann ist er auf dem richtigen Wege zur Korrektur des fehlerhaften Lebensarrangements. Hirschfeld betonte oft, daß der Patient mit seinem Sexus und mit der Welt versöhnt und zur Lebensfreude fähig gemacht werden müsse. Den Weg dazu sah er in häufigem Kontakt mit dem Patienten, besonders im gewöhnlichen Gespräch. Nach seiner Ansicht darf der Arzt die ganze Untersuchung und Therapie nicht im Zuge einer Sitzung vollenden. Bei häufigerem, kürzerem Kontakt wird dem Arzt das Bild des Patienten immer klarer und dem Patienten jedes Wort des Arztes begreiflicher.

Hirschfeld unterrichtete seine Schüler auch durch sein Benehmen und sein Vorbild. Er war kein Anhänger eines bestimmten psychotherapeutischen Systems. Aber er hatte soviel Geduld und Takt gegenüber jedem Patienten und seinen Schwächen und war gleichzeitig frei von jeder Voreingenommenheit, daß er schnell das Vertrauen jedes Patienten gewinnen konnte. Er war auch fähig, alles zu verzeihen und gleich zu vergessen, wenn jemand seinem Wunsche nicht entsprochen hatte, wenn er es nur irgendwie begründen konnte.

Was für Patienten kamen zu Hirschfeld? Den Devianten widmete er sehr viel Interesse. Von Homosexuellen sagte er, daß er etwa 30 000 beobachtet hatte; über Transvestiten und Exhibitionisten hat er auch sehr viel geforscht und geschrieben. Sie leiden darunter, daß sie sich anders als die Mehrzahl der Menschen fühlen. Sie sind nicht fähig, Leben und persönliche Disposition in Einklang zu bringen. Sie bedürfen der Führung und, wenn sie in Konflikt mit dem Gesetz geraten, der Hilfe des Sachverständigen. Das Gesetz bestrafte damals auch solche Handlungen, durch die niemand geschädigt wurde, und so war es nötig, den Devianten die Situation vor Gericht zu erleichtern.

Hirschfeld versuchte schon damals, solche Prinzipien durchzusetzen, die heute fast allgemein akzeptiert sind: daß nur Handlungen, die gesellschaftlich gefährlich sind, bestraft werden sollen. Während meines Aufenthalts in seinem Institut befaßte sich der Deutsche Reichstag mit dem Gesetzentwurf über Homosexualität. Hirschfeld lud einige Abgeordnete in das Institut ein; besonders solche, mit denen er in näherem Kontakt stand. Er machte sie mit mehreren Homosexuellen bekannt. Er ließ sie erzählen, wie sich der Sexus bei ihnen entwickelte und was sie alles zu erleiden hatten. Die Abgeordneten sollten sich davon überzeugen, daß es sich um wertvolle Menschen handelt, die nicht bestraft und verachtet werden sollen. Ihre Andersartigkeit sollte besser erkannt und anerkannt werden. Dann wurde im Gesetzentwurf die Strafbarkeit der Homosexualität abgeschafft. Es wurde nur das sogenannte Schutzalter festgesetzt, damit Minderjährige nicht gefährdet waren.

Hirschfeld betonte die Begabtheit mancher Homosexueller und hatte in seinem Kabinett ein Tableau der berühmten Homosexuellen von Sokrates und Plato bis zur heutigen Zeit. Darunter waren auch der Komponist Smetana und die

Dichter Svatopluk Cech und Julius Zeyer. In ihren Werken fühlt man gewisse dementsprechende Stimmungen, doch ihr Leben betrachtend, habe ich meine Zweifel.

Hirschfeld sprach des öfteren über die "Milieu-Therapie", die Schaffung einer Atmosphäre, in der sich niemand bedrückt fühlte; besonders für die Homosexuellen, die damals in der Öffentlichkeit sehr oft verurteilt wurden. Er arrangierte für sie Abendversammlungen, bei denen sie sich untereinander frei bewegen, unterhalten und ausleben konnten. Nach seiner Ansicht war ihnen das ein Bedürfnis. Als ich einmal dabei war, betonte Hirschfeld: "Das ist eine echte Therapie für sie. Sie sollen sich unbedrückt und glücklich fühlen." Ein anderes Mal sagte er zu mir, daß er die Homosexuellen schon mehrmals organisieren wollte, daß es ihm aber nicht gelungen sei.

Hirschfeld, selbst homosexuell, studierte Homosexualität sehr genau und widmete seine Kräfte sein Leben lang der Verteidigung der Homosexuellen, besonders durch die von ihm begründete "Weltliga für Sexualreform" (WLSR). Sie sollte Gerechtigkeit für Sexualdeviante erkämpfen. Bei den Pädophilen stritt er für die Zulässigkeit der Kastration. In Scheidungsprozessen der Masochisten und Fetischisten suchte er die Lösung im Kompromiß; natürlich mit einer genauen Belehrung der Partner.

Die Liga hielt alle zwei Jahre Kongresse mit verschiedenen Programmen ab, aber die Homosexualität und die Verhütung unerwünschter Schwangerschaft fehlten nie. Im Jahre 1926 referierte in Berlin (auf dem Kongreß von Hirschfelds Rivalen Moll) besonders die Schule von Vladimir Bechterew über Studien der männlichen Sexualreflexe. 1928 in Kopenhagen war die Antikonzeption das Hauptproblem. 1930 in Wien referierte Prof. Haberland aus Innsbruck über seine Experimente mit dem Gelbkörperhormon des Ovariums zur Verhütung der Fruchtbarkeit. Bei diesem Kongreß führte uns Hirschfeld zu Prof. Steinach, der uns die Resultate der Experimente über die Wirkung der gonadalen Hormone zeigte. Dabei betonte er, daß Hirschfeld der erste war, der über männliche und weibliche Hormone eine Theorie aufgestellt hat — über Andrin und Gynaecin. 1932 in Brunn referierte Norman Haire über die Einführung der silbernen Spirale in den Uterus als Verhütung. Aber damals wurde dies noch nicht freundlich aufgenommen.

Die Potenzstörungen stellten für Hirschfeld das Resultat des Konfliktes zwischen sexueller Libido und Widerstand dar. Dieser entspringt oft den moralischen, sozialen und religiösen Normen, sowie der Furcht. Die Affekte der Furcht und Bedrücktheit rufen Hemmungen über das vegetative Nervensystem hervor. Zur Stärkung der Libido verabreichte Hirschfeld sein Testifortan.

Zur Verhütung der Konzeption empfahl Levy-Lenz neben dem damals allgemein bekannten Mensinga-Pessar mit Antibion auch seine eigene Methode:

Nach der Ausspülung der Vagina mit verdünntem Essig einen Schwamm von ca. 6 cm Durchmesser, mit Essigwasser getränkt, einführen und nachträglich noch einmal damit ausspülen.

In der Vorlesungshalle wurden einmal wöchentlich Vorträge gehalten und zweimal monatlich Beantwortungen schriftlicher Fragen vorgenommen. Zur Zeit meiner Anwesenheit fand dort ein Kongreß über die Schulreform und eine Konferenz über Geburtenregelung statt. Jede Woche einmal war das Institutsmuseum öffentlich zugänglich, wobei genaue Erklärungen gegeben wurden. Im Institut befand sich die Redaktion der Zeitschrift "Die Aufklärung". Damals schrieb Hirschfeld sein größtes Werk "Die Geschlechtskunde".

Die Schulung in Sexuologie bei Hirschfeld war für mich sehr wertvoll. Er ließ keine Gelegenheit aus, mein Wissen über Sexuologie zu erweitern. Hirschfeld hat mich mehrmals in seine Wohnung eingeladen und mit mir verschiedene sexuologische Probleme diskutiert. Er wollte wissen, wie ich auf das Studium vorbereitet war. Das war auch das Thema unserer Gespräche auf den Spaziergängen, den Sonntagsausflügen oder wenn ich ihn irgendwohin begleitet habe. Dann gab er mir ein eigenes Ordinationszimmer, in dem ich Patienten untersuchen konnte. Ich schrieb dann ein Referat darüber und übergab es dem Direktor oder dem Leiter einer Abteilung, der auch den betreffenden Patienten untersuchte. Dann wurde ich zu der Diskussion eingeladen, in der über den Patienten entschieden wurde. So konnte ich bald unter Kontrolle selbständig mit sexuologischen Patienten arbeiten.

Hirschfeld ermöglichte mir auch den Besuch des Transvestiten-Balls. Er empfahl mir auch, Simmels Vorträge über Psychoanalyse anzuhören. Er lud mich ins Theater zu Wolffs "Cyankali" über das Abortusproblem und zu Lampls "Pennäler" über Homosexualität ein. Er empfahl mir einen Kursus an der Urologischen Klinik von Dr. Heyn über die Endoskopie der hinteren Urethra und der Ausscheidungen der Geschlechtsdrüsen. Hirschfeld besuchte mit mir auch das Endokrinologische Institut, wo Zondek und Aschheim ihre berühmten Experimente über Gonadopropine gemacht haben und wo mir Dr. Brahn die Vorbereitung der Mäuse zur Testierung der weiblichen Hormone zeigte. Hirschfeld ermöglichte mir auch den Kontakt mit Prof. Grotjahn, der zu den ersten Propagatoren der Antikonzeption gehörte, wie auch der Genetiker Goldschmidt. Bei Hirschfeld sah ich auch bekannte Sexuologen, wie z. B. Max Marcuse, den Autor des "Handwörterbuchs der Sexualwissenschaft", und die bekannte Amerikanerin Margaret Sanger, die führende Persönlichkeit im Bereich der Geburtenregelung, die dafür in New York ein Institut gründete. Ich kam dann auch in Kontakt mit ihrem Schwiegersohn und Nachfolger Abraham Stone, der mein guter Freund wurde und das Institut zusammen mit seiner Frau, geborene Sanger, leitete. Hirschfeld führte mich auch zu verschiedenen Konferenzen und Vorträgen und stellte mich immer als seinen Mitarbeiter vor.

So war er für mich ein sehr guter Lehrer, und ich habe seinen Arbeitsstil teilweise übernommen. Ich verdanke ihm auch einige wichtige Ideen: Daß für das Glück eines Menschen sein Gefühl wichtiger ist als das Aussehen seiner Geschlechtsorgane. Er hat dies z. B. an einem Hermaphroditen verdeutlicht, mit dem ich arbeitete, wobei er mir geholfen hat; aber auch an Transsexuellen, die er noch nicht von den Transvestiten getrennt hat, und an den Homosexuellen. Die Homosexualität hielt er in allen Fällen für angeboren (wobei ich ihm nicht immer zustimmen konnte), und für das Wichtigste hielt er seine Milieu-Therapie.

Man sagte über Hirschfeld, daß er ein sehr guter Psychotherapeut war. Aber er ist keinem offiziellen System gefolgt. Er war ein gutherziger, ein wenig ernst aussehender Mensch, der niemandem böse sein konnte, schon gar nicht für längere Zeit. Er war ein sympathischer Pykniker, ein wenig blaß, und hatte Diabetes. In seinem Institut hat er eine solche Atmosphäre geschaffen, daß jeder, der mit ihm in Kontakt gekommen ist, ihn in guter Erinnerung hat. Er war befähigt, in jedem Menschen Selbstbewußtsein und Lebensfreude zu erwecken.

Hirschfeld fürchtete wegen seiner politischen Einstellung um sein Leben. Von der Studienreise um die Welt in den Jahren 1930 — 1931 kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück. Er lebte bis zu seinem Tode in Nizza in Frankreich.

Die Sammlungen seines Museums wurden von den Nazis verbrannt.

Sexualwissenschaftliche Theorien der zwanziger Jahre

Im Laufe meines Aufenthalts in Hirschfelds Institut besuchte ich an der Universität heimlich den Kursus des bekannten Psychotherapeuten Arthur Kronfeld, der das Institut verlassen hatte. Von da an waren die Beziehungen zwischen Hirschfeld und ihm sehr getrübt. Ich studierte schon früher Kronfelds "Psycha-gogik", wie er die Pädagogik der Erwachsenen nannte. Er gibt dort eine Übersicht über alle damals bekannten psychotherapeutischen Methoden. Im praktischen Kursus behandelte Kronfeld besonders die Psychotherapie der Neurotiker in der täglichen Praxis. Er empfahl, zuerst "an der Fassade" durch Suggestion im wachen Zustand oder in der Hypnose zu arbeiten. Er benutzte nicht die imperative Hypnose wie "der strenge Papa", sondern die milde der "guten Mama". Bei Beginn dieser Art Hypnose teilte er dem Patienten nicht mit, daß er jetzt schlafen würde, um eventuelle Vorwürfe in dieser Hinsicht zu vermeiden. Er wollte einen solchen Zustand der somatischen und psychischen Relaxion erzielen, daß der Patient der Suggestion zugänglich wäre. Er betonte dabei, daß der Patient durch seine Mitarbeit für das Resultat der Therapie

mitverantwortlich ist. In der weiteren Behandlung wendete Kronfeld besonders Adlers Individualpsychologie an, obwohl er die Psychoanalyse hoch schätzte.

Nach sechs Wochen Aufenthalt in Hirschfelds Institut kam ich zu der Überzeugung, daß ich zwar eine erste Orientierung in der Sexuologie gewonnen hatte, aber meine Ausbildung durch weitere theoretische Vorbereitungen ergänzen müsse. So habe ich die Arbeit in Hirschfelds Institut unterbrochen, mir jedoch die Möglichkeit der Rückkehr gesichert.

Auf Empfehlung des Psychologen Besser schaffte ich mir Adlers Bücher "Über den nervösen Charakter" und "Menschenkenntnis" an. Auch Hirschfelds "Geschlechtskunde" und Marcuses "Handwörterbuch der Sexualwissenschaft", in dem eine Übersicht über die älteren Erkenntnisse aus der sexuologischen Literatur zusammengestellt war.

Auf dem von Albert Moll organisierten I. Internationalen Kongreß für Sexualforschung in Berlin 1926 hat Bechterew mit seiner Schule über das objektive Studium der männlichen Sexualreflexe referiert. Die Kongreßberichte sind 1928 erschienen, und außerdem konnte ich Bechterews "Grundlagen der Reflexologie des Menschen" erwerben, die eigentlich eine objektive Psychologie darstellen. Ich publizierte dann 1930 in der Ceská Dermátologie "Ansichten der russischen Schule von Bechterew über das Sexualleben" und zitiere daraus:

"Bechterew war bestrebt, alle Äußerungen der Lebewesen, auch die sogenannten psychischen, einheitlich und objektiv zu studieren. In seinen "Grundlagen der Reflexologie" schildert er, wie solche Funktionen, die der Orientierung, der Abwehr oder der Aggression dienen, sich entwickeln; auch die innere Gehirntätigkeit, z. B. im Schlaf. Er unterscheidet primäre, ererbte und höhere oder assoziierte Reflexe aus Begleiterscheinungen. Pawlow, der bekannter ist, nannte diese "bedingte Reflexe" und studierte sie besonders an den Verdauungsorganen. Bechterew, der mit seiner Schule die Sexualreflexe studierte, hat deswegen jedoch für die Sexuologie eine größere Bedeutung."

Für die wichtigsten Reflexe hält er die Erektion und die Ejakulation, diese nennt er sekretorisch-motorische Reflexe. Erektionen kann man schon bei Säuglingen, die einige Monate als sind, hervorrufen. Bechterew leitet sie von der Hyperämie der frottierten Haut ab. Eine solche Erektion ist noch nicht von der Erregung, von ihm mimikosomatischer Zustand genannt, begleitet. Dazu gehört auch die Errötung des Gesichts, der Augenglanz, beschleunigter Puls und Atem. Das kommt erst im 6. - 7. Lebensjahr vor. In der Pubertät ruft der gesteigerte Blutzufluß auch die Füllung der Geschlechtsdrüsen mit Sekreten und den Drang, sie zu entleeren, hervor. Die weitere Reibung steigert die Erregung und führt zur Ejakulation. Darauf folgt die Beruhigung und das Gefühl der Befriedigung. So kann die Onanie entstehen, und zwar früher als

die wirkliche Sehnsucht nach der Befriedigung durch das andere — oder eigene — Geschlecht, der eigentliche Geschlechtstrieb.

Die Männchen bei den Tieren werden bei ihrer Suche nach geschlechtlicher Entladung durch den Geruch zu den brünstigen Weibchen geleitet. Durch taktile Impulse, besonders beim Berühren der Genitalien, wird beiderseits die Erregung gesteigert, bis es zur Kopulation kommt. Bei Vögeln, bei denen die visuellen Impulse am wichtigsten sind, steigert sich die sexuelle Spannung durch Balzvorführungen und Gesang.

Beim Kulturmenschen sind die Genitalien dem Blick entzogen, und der Geruch ist schwach. Für die sexuelle Anziehung kommt den sekundären Geschlechtsmerkmalen eine größere Bedeutung zu. Die Verhüllung des Genitals und eine umschreibende Sprache können manchmal zu einer Verstärkung des inneren Impulses und zu wilderer und leidenschaftlicherer Verfolgung des begehrten Objektes führen. Ist diese vergeblich, verstärkt sich die Konzentration auf die sekundären Geschlechtsmerkmale, die nun von sich aus somatisch und funk-tionell dergestalt wirken, daß sie selbst zu reizenden, assoziierten Sexualimpulsen werden. Manchmal sind es bedeutungslose Details in Verhalten, Bekleidung, Frisur oder Geruch u. a., die als Fetische reizend wirken und eventuell eine Erregung hervorrufen.

Wir sehen oft bei Liebenden, daß verschiedenartige Impulse, die nicht störend wirken, die sexuelle Erregung steigern können, wenn diese schon vorhanden ist. Bechterews Mitarbeiter Uchtomski spricht von der Ausbildung einer Dominante in Gehirnbezirken, die an sich verschiedene, sonst unbedeutende Impulse aus ihrem ursprünglichen Kontext herauslösen und sie zur Steigerung der sexuellen Erregung ausnutzen. Eine solche übertriebene, einseitige Konzentration ruft manchmal die Distraktion der Verliebten und Nervösen hervor und bremst deren Konzentration für andere Objekte, die nicht zum Bereich der Sexualität gehören. Sie kann außerdem die Objektivität in der Beurteilung des Partners behindern.

Bechterew hält nur primitive Sexualreflexe für angeboren. Die Erregbarkeit durch einen bestimmten Typus, die Hirschfeld für angeboren hält, ist nach Bechterew erworben wie andere assoziierte Reflexe. Auch stimmt er nicht mit Freud überein, der im Ausdruck des gestillten Säuglings etwas Ähnliches wie sexuelle Befriedigung sah, denn dieser Zustand hängt nicht mit einer Erektion zusammen, die für Bechterew für die sexuelle Erregung immer kennzeichnend ist. Er studierte dies an siebenjährigen Knaben, bei denen er im Schlaf oder in der Hypnose den Saugreflex provozieren konnte. — Die Sublimation des Geschlechtstriebs erklärte er durch die Dominanz verschiedener Gehirnzentren bei verschiedenen Menschen. Wenn andere als sexuelle Zentren dominant sind und die Mehrzahl der Impulse an sich reißen und diese weiter bearbeiten, dann kann man eigentlich nicht von einer Sublimation sprechen.

Bechterew studierte mit seiner Schule, besonders mit Poussep, auch subkortikale und kortikale Sexualzentren. — Prof. Bellow untersuchte die Beziehungen der Testes zur Prostata. Er spricht von einer parallelen und gekreuzten Reziprozität. Testes stimulieren die Prostata, und deren erhöhte Tätigkeit bremst die Testes. Priapismus ohne Libido tritt bei Übergewicht der Prostata ein. Libido bei ungenügender Erektion zeigt das Übergewicht auf der Seite der Testes an. Wichtig ist natürlich auch die Vermittlung durch das Nervensystem.

Bechterew definiert den Geschlechtstrieb als die Sehnsucht nach der Kopulation zur Lösung der Spannung, die die Ansammlung der Sekrete in den Geschlechtsorganen verursacht (etwas, das Molls Detumeszenstrieb ähnelt). Er unterscheidet ihn von der bloßen sexuellen Erregung. Also kann der eigentliche Geschlechtstrieb erst bei Erwachsenen in Erscheinung treten. (Kronfeld bezeichnet die Menschen, denen es bloß um die Erregung geht, als infantil.)

Tacharow füllte die Samenblasen der männlichen Frösche mit warmer Milch. Das provozierte bei ihnen einen Umarmungsreflex, der auch wochenlang anhielt, aber nach der Entleerung (auch durch eine Punktion) gleich erlosch. Nach neuer Füllung trat der Reflex jedoch wieder in Erscheinung.

Den Geschlechtsakt hält Bechterew für einen Konzentrationsprozeß. Adäquate Eindrücke rufen bei erhöhtem mimikosomatischen Tonus Blutzufuhr zum Genital mit nachfolgender Erektion, Sekretion und Inkretion hervor. Bei der Dominante in den Sexualzentren tritt nach weiteren Impulsen die Ejakulation und der Orgasmus und schließlich das Beruhigungsgefühl ein.

Wenn eine bestimmte Person wiederholt die Quelle der Erregung darstellt, dann werden Konzentration und Reflexe auf das ganze Wesen dieser Person ausgedehnt. Die Separation ruft einen negativen mimikosomatischen Tonus hervor. Erblassen, Depression und Sehnsucht nach weiterem Zusammentreffen. Mangel an Befriedigung steigert die Konzentration und Erregbarkeit und führt bei wiederholten Erektionen zur Verstimmung. Die häufigere Befriedigung durch den Koitus löst die Spannung auf und führt zur gegenseitigen Abhängigkeit.

Bechterews Schule war der eigentliche Beginn der russischen Sexualwissenschaft. In den letzten 30 Jahren kam sie zu großer Entwicklung, besonders unter der Leitung von Prof. Posvianskij und Prof. Vasilchenko, der darüber nähere Informationen vermitteln könnte.

Während ich mich auf meinen weiteren Studienaufenthalt in Berlin vorbereitete, fand 1930 der VI. Kongreß der Weltliga für Sexualreform (WLSR) in Wien statt, der Stadt, in der Krafft-Ebing und Freud aufgewachsen waren.

Der Vorsitzende der WLSR, Magnus Hirschfeld, hielt das Einleitungsreferat. Er betonte die Notwendigkeit der Reformen in der Gesetzgebung und im Leben, an denen sich möglichst viele Nationen beteiligen sollten. Diese Kon-

gresse sollen besonders dazu verhelfen, daß alle, die an diesen Reformen arbeiten, untereinander bekannt werden und einer Einigung näher kommen. Der Kampf gegen Vorurteile im sexuellen Bereich ist besonders wichtig. Hierher gehört z. B. die Frage der außerehelichen Kinder. Warum sollen sie im Vergleich mit anderen in ihren Rechten beschränkt sein? Hirschfeld sagt, daß die Liebe ohne Ehe moralischer ist als die Ehe ohne Liebe. — Weiter leiden die Sexual-devianten, z. B. die Homosexuellen, die gewöhnlich niemandem schaden und doch wie Kriminelle behandelt werden. Es gibt zahlreiche Prominente unter ihnen.

Die Bedeutung, die den Vorurteilen in der Bemessung des Strafmaßes in verschiedenen Ländern zufällt, kann aus der Uneinigkeit der Gesetze über Homosexualität bzw. aus der Unterschiedlichkeit der Strafmaße ersehen werden. Tradition und persönliche Ansichten ungebildeter Menschen haben viel Schaden angerichtet und den Erpressern die Ruinierung vieler wertvoller Menschen ermöglicht. Manche wurden sogar in den Tod getrieben. Es ist jedoch nötig, die Vergewaltigung und jegliches Vergehen an Kindern strafrechtlich zu verfolgen. Wenn nur solche sexual- und sozialgefährlichen Menschen bestraft würden, könnte die Zahl der sexuellen Delinquenten in Deutschland von 16 000 auf 6 000 sinken. — Es würde einen großen Schritt nach vorn bedeuten, wenn bei jedem Sexualprozeß ein gebildeter und verantwortlicher Sachverständiger anwesend wäre. Seine Aufgabe wäre, die Meinung der Richter und Zuhörer, die von Tradition und persönlichen Erlebnissen beeinflußt ist, zu korrigieren.

Auch die Frauen haben nicht die gleichen Rechte wie die Männer. Sie werden als Prostituierte mißbraucht und dabei moralisch verurteilt. Für sie gelten andere Moralnormen als für Männer. — In der Liebe sieht Hirschfeld mehr als die Reproduktion. Sie ist auch der Ausdruck von Lebenswillen. Als dritter Faktor darf die Verantwortung nicht außer acht gelassen werden.

Der Kongreß sollte die Teilnehmer (es waren etwa 1000 angemeldet) mit neuesten Erkenntnissen bekannt machen und Wege zu ihrer Realisierung suchen.

Der Wiener Advokat Dr. Reich machte darauf aufmerksam, daß bei Verführung die bloße Anzeige ohne Beweise zur Verurteilung genügt. — Dr. Lampl aus Prag sprach von der Kastration der Sexualdelinquenten in Dänemark, besonders der Sadisten und Pädophilen, seltener der Exhibitionisten. Er empfahl zur Hemmung des Triebs die Epiphysenpräparate.

Die Rechte geistig und körperlich Behinderter am Sexualleben behandelte der Schwede Almquist, die Rechte der Gefangenen Toller und Frau Kern und die der Devianten Leunbach aus Dänemark. Das sind noch immer schwierige Probleme.

Bei Ehescheidungen (Bachrach, Chiavacci und Weisskopf] wurde empfohlen, größere Rücksicht auf die Gefühle der Partner zu nehmen. Als Prävention wurde Sexualerziehung empfohlen (Friedjung, Wexberg). Der Psychoanalytiker Federn sprach über die Entstehung der Neurose, Hitschmann über die Junggesellen. — Das Problem der Aborte wurde vom Standpunkt der Humanität behandelt (Frau Popp). Leunbach sprach über die Technik der Aborte und Prävention durch Antikonzeption. Norman Haire (England) berichtete über die intrauterine Silberspirale, die er an 270 Frauen getestet hatte. Das war die Vorgängerin des Intrauterinpessars.

Prof. Haberlandt aus Innsbruck referierte über seine Experimente mit Tabletten von Corpus luteum zur Empfängnisverhütung. Das war der eigentliche Beginn der hormonalen Antikonzeption.

Benjamin aus New Nork sprach über sein auskristallisiertes Hormon der Testes. Bei sexuellen Dysfunktionen bewährte es sich als Injektion besser als Steinachs Operation. Diese Behandlung kombinierte er auch mit Präparaten aus der Hypophyse. — Über sein neues Präparat aus der vorderen Hypophyse sprach auch Schapiro aus Hirschfelds Institut; in den letzten zwei Jahren hatte er damit Erfolge bei 31 Eunuchoiden.

Prof. Steinach kam nicht in die Kongreßhalle, bat jedoch fremde Ärzte und Biologen zu einem Besuch in sein Institut. Dort zeigte er die Resultate seiner klassischen Experimente mit der frühzeitigen Kastration von Tieren und nachfolgender Implantation der Geschlechtsdrüsen. Weiter sprach er auch von Experimenten über den Einfluß der Hypophyse auf die geschlechtliche Reifung und zuletzt darüber, wie man durch Injektion von Hormonen dasselbe wie durch Implantation erzielen kann. — Es war interessant, den Dialog Steinachs mit Hirschfeld zu verfolgen: die mächtige, patriarchalische Gestalt Steinachs mit dem grandiosen, rotbraunen Vollbart und der kleine Pykniker Hirschfeld. Steinach betonte, daß Hirschfeld als erster das männliche und weibliche Hormon, von ihm Andrin und Gynaecin genannt, postuliert hatte. Hirschfeld hob hervor, daß Steinach diese Hormone als erster unbestreitbar nachgewiesen hatte.

Der Kongreß endete mit zwei Resolutionen. In der ersten verteidigte er Prof. Schmerz, der in guter Absicht operative Sterilisationen durchführte und dafür verurteilt wurde. In der zweiten forderte der Kongreß, das Eherecht in Österreich zu modernisieren, wenigstens in dem Maße, wie es in Deutschland der Fall ist.

Zu dem Kongreß wurde eine Ausstellung arrangiert, an der Hirschfelds Institut besonders beteiligt war.

Die Reise zum Kongreß in Wien nutzte ich noch in anderer Weise für meine Vorbereitung in Sexuologie aus. Ich kam dort schon einige Tage vor dem Kongreß an und besuchte den Psychanalytiker Wilhelm Stekel. Ich hatte manches aus seinem zehnbändigen Werk "Störungen des Trieb- und Affektlebens" schon kennengelernt. Ich wollte mir jedoch seine Arbeit mit den Patienten direkt ansehen. Deshalb kam ich als Patient mit vorgetäuschten Depressions-zuständen. Stekel hat mich als Universitätsassistenten sehr freundlich und unter günstigen finanziellen Bedingungen aufgenommen. Er versprach mir jeden Tag eine einstündige therapeutische Sitzung. Nach der Aufnahme der Anamnese verordnete er mir, jeden Tag meine Träume aufzuschreiben. Ich mußte mich dann bei der Analyse hinlegen. Ich wußte, daß er jeden seiner Schüler analysieren wollte — und wollte dies selbst erleben. Nach drei Sitzungen war Stekel klar, warum ich gekommen war. Stekel hatte erkannt, daß ich seine Bücher studiert hatte. Er nahm mich als Schüler auf und führte seine aktive Analyse weiter durch.

Die Träume analysierte Stekel vom materiellen, psychologischen und sexuologischen Standpunkt aus. Ich wurde von dem Reichtum seiner Einfälle bei jeder Traumszene überrascht. Seine Erklärung war ein Kunstwerk; er war ein gottbegnadeter Dichter mit großer Phantasie und Intuition. Und er schrieb auch Gedichte, die nicht schlecht waren.

In einigen seiner Erklärungen fühlte ich eine starke Wahrheit. Wahrscheinlich brauchte er selbst viel Zeit dafür, den Sinn des betreffenden Traumerlebnisses zu erfassen. Das war Stekels aktive Methode, die er Psychanalyse (nicht Psycho-) nannte. Aus der Menge der Lösungsmöglichkeiten kann der Patient die für ihn geeignete auswählen. Das spart Zeit, und der Patient kann nicht nur die kausalen Beziehungen, sondern auch den Sinn seines Benehmens, das, was Adler Lebensstil nannte, begreifen. — Ich hielt es als Arzt für sehr wichtig, eine solche Analyse, solche Veränderungen der Gefühlszustände selbst zu erleben. Ich konnte danach die Wirkung der Analyse auf den Patienten besser verstehen.

Am Ende des 14tägigen Aufenthalts erklärte Stekel mich zu seinem Schüler.

Für die sexuologische Praxis war es für mich besonders wichtig zu erforschen, was man durch Stekels Methode bei bestimmten Homosexuellen feststellen kann. Sie sagen meistens, wie auch Hirschfeld betonte, daß sie nie in ihrem Leben eine positive Beziehung zu einer Frau, ausgenommen der eigenen Mutter, gehabt haben. Aber in den Träumen, die sie mitbringen, sieht man Andeutungen von heterosexuellen Beziehungen. Wenn es gelingt, durch Assoziationen mehrere solcher Erlebnisse zu erwecken, die aus dem Bewußtsein verdrängt waren, ist der Weg zu neuen derartigen Erlebnissen offen. Natürlich gilt dies aber eher bei neurotisch Bisexuellen als bei echten Homosexuellen.

Vor der zweiten Studienreise nach Berlin studierte ich auch einige von Adlers Büchern, besonders "Über den nervösen Charakter" und "Menschenkenntnis".

Er zeigt, wie man fiktive Lebensziele entdecken kann, die das Verhalten des Menschen bestimmen. Der Patient handelt dabei unbewußt, als ob er sein Ideal anstrebe. Das formt seinen Lebensstil von der Kindheit an. Darum studiert Adler auch die frühesten Erlebnisse, an die sich der Patient erinnern kann, sowie seine Träume. Es handelt sich also um einen Lebensstil, mit dem der Patient seine Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden bemüht ist. Der Minderwertigkeitskomplex spielt auch in erotischen Beziehungen eine wichtige Rolle. Darüber schrieb Adlers Schüler Dr. Wexberg in seinem Buch "Einführung in die Psychologie des Geschlechtslebens". Ein Kapitel davon, "Erotik", habe ich ins Tschechische übersetzt.

Zweiter Aufenthalt in Berlin 1931

Die zweite Studienreise (Berlin, Wien) habe ich im Janaur 1931 angetreten; diesmal mit einem Stipendium vom Ministerium für Schulwesen und Kultur. Prof. Samberger forderte von mir nicht nur klinische, sondern auch experimentelle Vorbereitung für die Arbeit in Sexuologie. Über diese Reise berichtete ich in "Ceská Dermátologie", Band XII, 1931, S. 219 ff.

Ich wohnte wieder in Hirschfelds Institut, der aber nicht in Berlin war, sondern auf seiner Weltreise. Seine Mitarbeiter gaben mir ein Ordinationszimmer, wo ich selbständig arbeiten konnte.

Ich besuchte aber auch Ambulatoria für Nerven- und Geistesstörungen, besonders für neurotische bei Sanitätsrat Flattau. Unser Lehrer war Dr. Bachrach, der sehr erfolgreich Psychotherapie, besonders im Sinne Adlers, praktizierte. Er ließ uns auch selbständig die Patienten untersuchen, überwachte unsere Protokolle und debattierte mit uns über die Schlußfolgerungen und die Therapie.

Meine selbständige Arbeit an dem vielfältigen Material in Hirschfelds Institut war der Anfang meiner sexuologischen Praxis. Ich bereitete mich auf die diagnostische und therapeutische sexuologische Arbeit bei uns vor und wollte feststellen, was ich erlernt hatte. Ich prüfte auch die Methode Stekels an den Homosexuellen und hatte auch bestimmte Erfolge in der Entwicklung der verdrängten Tendenzen, natürlich eher bei neurotischen Bisexuellen. An sexuellen Neurotikern konnte ich auch die Technik der Individualpsychologie prüfen.

In der Zeit meiner Arbeit bei Dr. Bachrach erschien auf einmal Prof. Alfred Adler selbst. Er war auf der Rückreise nach Wien aus Amerika, wo er im Wintersemester Vorlesungen gehalten hatte. Er kam zu uns und forderte ir-

gendein Protokoll, um es zu analysieren. Jemand, der den Kurs häufig besuchte, bot ihm seines an. Aber Adler war unzufrieden mit einer Passage darin. Nach seiner Ansicht paßte sie nicht zum Lebensstil des Patienten, wie er sich in anderen Teilen des Protokolls offenbarte. Da legte ich mein Protokoll über denselben Patienten vor, und Adler fand es in den fraglichen Passagen zutreffender. So kam ich in persönlichen Kontakt mit Prof. Adler. Er forderte mich auf, ihn in Wien zu besuchen, und das möglichst schon drei Tage später. Telefonisch habe ich die Zustimmung von Prag eingeholt und war zur rechten Zeit in Wien in der Wohnung von Prof. Adler.

Vor der Abreise aus Berlin habe ich mir von Hirschfelds Vertreter, Dr. Schapiro, eine Bestätigung meines Aufenthalts im Institut und ein Gutachten über meine Tätigkeit erbeten. Während meines Aufenthalts forderte ich alle Mitarbeiter Hirschfelds auf, mich über ihre spezielle Arbeit zu informieren. Sie überwachten meine Arbeit und kannten mich aus fachlichem wie aus persönlichem Kontakt. Das Gutachten wurde mir deshalb ausgestellt, und Herr Sanitätsrat Hirschfeld hat es nachträglich bestätigt und ergänzt.

Adler lud mich zuerst in das tschechische Hotel "Posta" ein und stellte mich dann seinen Mitarbeitern vor. Er forderte sie auf, sich um mich zu kümmern. Dieser Aufgabe sind sie bei diesem und auch bei meinen weiteren Besuchen in Wien bestens nachgekommen. Sie haben mich in ihre Ambulatoria für Neu-rotiker aufgenommen, und dort konnte ich passiv und auch aktiv teilnehmen besonders bei Dr. Wexberg und Adlers Tochter, Frl. Dr. Anna Adler. Sie haben mir auch entsprechende Literatur empfohlen.

Adlers Methode der Erforschung des Lebensstils und der affektiv dynamischen Elemente fand ich sehr zweckdienlich, auch bei der Behandlung der Sexualneurosen. Den Patienten war es angenehmer, ihre sexuellen Probleme von neurotischen Störungen überhaupt abzuleiten, als ihren Grund in inadäquaten sexuellen Beziehungen zu den Eltern zu suchen. Auch die Zeit war bei Adlers Methode, dem Suchen des fiktiven Ziels von der Kindheit an, viel kürzer als bei Freuds Suche nach den Kausalmomenten in Schockerlebnissen, die die Patienten in verschiedener Weise bearbeiten können.

In Wien habe ich wieder Steinachs Institut besucht, wo mir Dr. Kun und Dr. Last besondere Aufmerksamkeit widmeten.

Dort habe ich auch den Dozenten Perutz aufgesucht. Er arbeitete als Venerologe mit Dr. Merdler und anderen im pharmakologischen Institut von Prof. Wassicki mit Tierversuchen an der Physiologie und Pharmakologie der männlichen Geschlechtsorgane, besonders deren Muskulatur. Ich kannte seine Arbeiten schon aus der Literatur. Diese waren sehr wichtig für meine physiologischen und pharmakologischen Experimente am Menschen.

Wieder in Prag, begann ich mit der klinischen Arbeit in der Sexuologie an der dermatovenerologischen Klinik bei Prof. Samberger, wo eine Ambulanz für Sexualstörungen eröffnet wurde. Am Anfang arbeitete ich dort allein als Arzt, aber andere Ärzte aus dieser Klinik und anderen nahmen mit mir Kontakt auf. Unter ihnen war auch ein junger hervorragender Psychiater, der Dozent Nevole. Wir behandelten besonders funktionelle Störungen im Eheleben, sexuelle Deviationen, sexuelle Entwicklungsstörungen und andrologische Probleme, besonders männliche Sterilität. Wir arbeiteten dabei mit Gynäkologen zusammen, die die weibliche behandelten.

Außerdem begann ich mit der experimentellen Forschungsarbeit im physiologischen Institut von Prof. Hanák. Dort waren ihm besonders die Assistenten Karásek, der später Professor wurde, und Kruta behilflich. Am Ausgangspunkt des Experiments stand die Beobachtung, daß die glatte Muskulatur im Ruhezustand rhythmische, spontane Kontraktionen äußert. Ich konstruierte eine Apparatur, die solche Kontraktionen am männlichen Genital registrieren konnte. Von der Klemme hinter der Glans des Penis wurden die Kontraktionen und Relaxionen in der Corpora-cavernosa-Muskulatur registriert, von einer anderen die Auswirkungen der muskulären Tunica dartos auf das Scrotum. Mit der ersten Versuchsanordnung wurde die Bereitschaft zur Erektion, mit der zweiten die sekretorisch-exkretorische Bereitschaft in den männlichen Geschlechtsdrüsen gemessen. Die Apparatur wurde Andrograph genannt. Er war der Vorgänger des Phalloplethysmographs von Freund-Figar, mit dem zuerst am Prinzip der Volumenveränderung, später mit dem elektrischen Kapazitätsprinzip die Reaktion auf visuelle sexuelle Impulse verfolgt werden konnte.

Mit dem Andrograph studierte ich im Pharmakologischen Institut von Prof. Welich die Bereitschaftsveränderung des männlichen Genitals durch verschiedene Arzneimittel wie Pilokarpin, Atropin, Belladonna, Adrenalin, Ergotamin, Yohimbin, Ephedrin, Chinin, Hydrastinin, Pituitrin, Papaverin, Strychnin, Luminal, Nikotin, Koffein, Diedit, Brom u. a. Die Resultate publizierte ich in der Monographie "Zur Pharmakotherapie der männlichen Sexualstörungen" (1934).

Aufgrund dieser Publikation wurde ich 1934 habilitiert als Dozent der ärztlichen Sexuologie. Prof. Samberger empfahl mir, meine Vorlesungen sorgfältig vorzubereiten. So entstand schon 1940 die "Einführung in die ärztliche Sexuologie" von mehr als 400 Seiten. Diese wurde bis zum Jahre 1980 mehrmals umgearbeitet und ergänzt.

Kongreß in Brno 1932

Magnus Hirschfeld nahm nach seiner Rückkehr von der Weltreise sofort die Vorbereitung des 5. Kongresses der WLSR zusammen mit den vorherigen Präsidenten Dr. Leunbach und Dr. Haire auf. Die Wahl der Stadt, in der der Kongreß stattfinden sollte, war nicht leicht. Die Verhältnisse in Frankreich, Spanien und der Sowjetunion wurden als für ein solches Unternehmen ungünstig angesehen. Schließlich wurde dann Brno (Brünn) gewählt.

Im Jahre 1932 erhielten wir in Prag die Einladung der Weltliga für Sexualreform zu diesem Kongreß, der im September desselben Jahres stattfinden sollte. Ich nahm an diesem Kongreß aktiv teil, doch der Kongreßbericht wurde von Dr. Weisskopf und Doz. Dr. D. Panyrek verfaßt und im "Prakticky lékar" (Praktischer Arzt veröffentlicht (1932, S. 511-516, 597-599, 628-630).

Neben den Hauptreferaten waren 75 Mitteilungen angemeldet. Natürlich nahmen einige der angemeldeten Redner dann doch nicht teil, doch der Inhalt ihrer Mitteilungen konnte in einigen Fällen vom Generalsekretär Dr. Weisskopf vorgelesen werden. Aus der Gesamtzahl der Referate und Mitteilungen stelle ich hier die wichtigsten, versehen mit einigen persönlichen Bemerkungen, vor.

Dem Kongreß wurden die Ziele der Sexualreform und die zu behandelnden Hauptprobleme vorgelegt und zwar:

1. Politische, ökonomische und sexuelle Gleichberechtigung der Frau

2. Beseitigung der Eingriffe von Kirche und Staat in die Ehe, hauptsächlich bei den Ehescheidungen

3. Geburtenregelung im Sinne einer verantwortlichen Zeugung

4. Gesundheitliche Vorsorge im Hinblick auf die Nachkommenschaft (Eugenik)

5. Schutz der unehelichen Mütter und Kinder

6. Richtige und gerechte Beurteilung der Intersexuellen, bes. der homosexuellen Männer und Frauen

7. Reform des Sexualstrafrechts in dem Sinne, daß nur wirkliche Eingriffe in die Sexualfreiheit anderer Menschen verfolgt werden, nicht jedoch Handlungen erwachsener Personen im gegenseitigen Einverständnis

8. Stellungnahme zu sexuellen Deviationen als pathologische Erscheinung

9. Verhütung der Prostitution und der Geschlechtskrankheiten

10. Planmäßige Sexualerziehung und Belehrung über Äußerungen des Geschlechtslebens

Am Vorabend des Kongresses, dem 29. 9. 1932, fand im Marmorsaal des Landeshauses in Brno die Begrüßung der Gäste statt.

Vor Beginn der Veranstaltungen im Hörsaal des Anatomischen Instituts teilte der Generalsekretär Dr. Weisskopf mit, daß an dem Kongreß Vertreter aus 20

Nationen teilnehmen. Nach jedem Vortrag sollte ein kurzes Resumée eingeschaltet werden, bei fremdsprachigen Vorträgen in tschechischer, bei tschechischen Vorträgen in deutscher Sprache. Weiterhin gab er bekannt, daß der Staatspräsident T. G. Masaryk als einer der ersten dem Kongreß seine Wünsche für einen guten Erfolg übermittelt hatte. Anschließend dankte der Sekretär Magnus Hirschfeld, dem Dekan der Medizinischen Fakultät in Brno, Prof. Laufberger, dem Venerologen Prof. Tryb, dem Biologen Prof. Belehradek sowie dem Anatomen Doz. Dr. Hora für ihre tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung des Kongresses sowie dem Anatomen Prof. Völker für die Bereitstellung des Hörsaals.

Es folgte dann die Ansprache des Kongreßpräsidenten M. Hirschfeld, der die Versammelten zur Zusammenarbeit im Geiste des Genetikers Mendel und des Präsidenten Masaryk aufforderte. Er erinnerte auch an einen der Pioniere auf dem Gebiet der Sexualreform, Auguste Forel, der in memoriam zum Ehrenpräsidenten des Kongresses, gemeinsam mit Havellock Ellis, gewählt wurde. — Als weitere Pioniere auf dem Gebiet der Sexualreform erwähnte er Dr. Goldscheid und Dr. Schmidt und schloß seine Ansprache mit den Wahlsprüchen Dr. Forels — ("Labor omnia vincit") — und Masaryks ("Veritas vincit").

Der Präsident des vorhergehenden Kongresses in London, Dr. Norman Haire, schilderte anschließend die bisher geleistete Arbeit der Liga und die Schwierigkeiten, die die Entscheidung für einen geeigneten Tagungsort begleitet hatten. Als wesentlichstes Ziel des Kongresses bestimmte er die Möglichkeit für die aus verschiedenen Ländern und Milieus stammenden Mitarbeiter der Weltliga, sich untereinander kennenzulernen. Als größten Gegner der Liga betrachtete er die katholische Kirche. Seine Ansprache beschloß er mit einer mit englischem Humor vorgetragenen Schilderung des kummervollen Sexuallebens im puritanischen England, besonders in Fragen der Antikonzeption und der Abtreibung.

Der ehemalige Präsident des Kongresses der WLSR in Kopenhagen, Dr. Leun-bach, trug dann seinen Beitrag in Esperanto vor. Ihm folgten dann die Ansprachen der Vertreter der staatlichen Gesundheits-, Schul- und Verwaltungsbehörden sowie der Vertreter fremder Staaten (Deutschland, Österreich, England, Dänemark, Frankreich, USA, Belgien, Niederlande, Spanien, Schweden, Polen, Ungarn und Estland), die auch meistens aktiv an der Arbeit der Sektionen teilnahmen, und die Ansprachen der Vertreter verschiedener politischer, Fach- und Gesellschaftsorganisationen.

Die Behandlung der Spezialprobleme begann mit Eugenik und Sexualität. Gregor Mendel, der Mitglied des Augustinerordens war und in Mazara (Mähren), dessen Landeshauptstadt Brno ist, geboren wurde, hatte wegen seiner Forschungsarbeiten viele Widerwärtigkeiten seitens der übergeordneten kirchlichen Autorität zu erdulden. Unsere Zeit ehrt das Andenken des großen

Forschers durch Errichtung des bekannten Mendel-Museums in Brno. Der Leiter des Museums, Prof. Iltis, lud die Teilnehmer des Kongresses zu einem Besuch des Museums ein.

Zur Zeit des Kongresses gab es noch keine pränatale Diagnostik der genetisch bedingten Entwicklungsstörungen. Die erblichen Fehlentwicklungen wurden nur in der Familie verfolgt, die versuchte, für ein geeignetes Familienmilieu in der Kindererziehung zu sorgen. Dieses Thema behandelten Prof. Belehrádek, Prof. Iltis und Dr. Krupka, aber auch Dr. Leunbach, Dr. Steiner aus Wien und Johanne Elberskirchen aus Berlin in ihren Vorträgen.

Der zweite Arbeitstag des Kongresses befaßte sich mit der Sexualerziehung unter besonderer Berücksichtigung der Ipsation (Selbstbefriedigung). Diese behandelte Prof. Tryb, der Psychoanalytiker Dr. Stuchlik aus Kosice, der Urologie-Dozent Bedrna aus Brno (Befunde am Colliculus seminalis) und Max Hodann aus Berlin. Dieser übte besonders scharfe Kritik an der Stellungnahme der katholischen Kirche zu dieser Frage. Ähnlich äußerte sich Dr. Weisskopf.

Andere, besonders die Tschechen, sprachen im Sinne der Aufklärungstradition vom Heranreifen und der Erziehung zum Familienleben (Dozent Panyrek, der Chef der Schulärzte; Dozent Krizenecky, Dr. Novak und ich selbst).

Der Nachmittag wurde der Bedeutung der Weltanschauung für die Sexualität gewidmet (Dr. Helene Stöcker aus Berlin, der Jurist Dr. Rosenthal aus Dresden, der Chinese Li-Schiü-Tong u. a.).

Abends stand die Diskussion über den Grund der Reform vor einer breiten Öffentlichkeit auf dem Programm. Als erster sprach M. Hirschfeld und legte die Gründe dar, die die Reform notwendig machen. Prof. Tryb berichtete über den nicht besonders erfolgreichen Kampf gegen die venerischen Krankheiten. Dr. Haire betonte die Wahrnehmung, daß durch verspätete Eheschließung der Hunger nach sexuellen Erlebnissen gesteigert wird. Prof. Belehrádek konstatierte, daß das Interesse an Familie und Kindern hauptsächlich bei Land- und Industriearbeitern vorherrscht, während in anderen Schichten häufiger die Genußsucht im Vordergrund stünde, wobei der Verwendung von Präservativen und der Abtreibung eine große Bedeutung zukäme. Er setzte sich für die Durchsetzung eugenischer Prinzipien ein.

Dr. Leunbach schilderte die gerichtliche Verfolgung, der er ausgesetzt war, als er für Arme wie für Reiche gleiche Rechte auf Abtreibung durchsetzen wollte.

Ähnlich wie der Franzose Dalsace befaßte sich auch Max Hodann aus Berlin in seinem Vortrag mit den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eheleute. Seiner Ansicht nach spiegelte sich der hohe Aufwand für Miete und Lebenshaltungskosten in den Schwierigkeiten des Ehelebens wider. Eine Lösung dieses Problems sah er in der Sozialrevolution.

Dr. Chiavacci hob dann die Mißstände im Straf- und Zivilrecht im Hinblick auf Sexualfragen hervor und forderte deren Reform auf wissenschaftlicher Basis. Dr. Totis aus Ungarn berichtete über die Haltung der ungarischen Regierung und der Kirche, die das Proletariat, besonders die Frauen, unterdrücken. Es ging hier also um die Klassenfrage. — Frau Ottesen-Jensen aus Schweden schilderte in einer dramatischen Darstellung, welche Bedeutung die Belehrung über die Antikonzeption für arme Frauen mit vielen Kindern hat und setzte sich für die Legalisierung der Abtreibung auch aus sozialer Indikation ein. Diese Idee unterstützte auch der tschechische Organisator der Krankenversicherung, Dr. Max Popper, und kritisierte gleichzeitig unser Ab-olitionsgesetz über die Prostitution. — Der Chinese Li-Schiü-Tong, van Emde Boas aus Holland und unser Dr. Weisskopf befürworteten hauptsächlich die Verbesserung der Sexualerziehung für Jugendliche. (Damals diskutierte man noch darüber, wie man die Sexualerziehung institutionalisieren solle. Heute ist sie in der CSSR in den Lehrplänen des Schulministeriums, in den Programmen des Kulturministeriums und in den Eheberatungsstellen des Ministeriums für Sozialfürsorge fest verankert.)

Am dritten Arbeitstage des Kongresses behandelte man vormittags die Sexual-Ethnologie. M. Hirschfeld beleuchtete den Begriff, und dann sprachen verschiedene Wissenschaftler zu folgenden Problemen in einzelnen Ländern: über Prostitution in Frankreich Madame B. Albrecht und Dr. Dalsace, über bestimmte Sexualsymbole in den Niederlanden (der Storch, die Taube, der Schwan) Dr. Lewandowski, über die praehistorischen Tabus in europäischen und amerikanischen Gesetzbüchern Dr. Hirschel und F. S. Krauss aus Wien.

Der Nachmittag war mit einer freien Versammlung der WLSR ausgefüllt, und man behandelte Fragen wie die Verbreitung der Liga, Zeitschriften usw.

Der vierte Tag galt der Intersexualforschung. M. Hirschfeld nahm wieder an diesem Thema, für das er eine gewisse Vorliebe hatte, teil. Er wurde unter uns sehr geschätzt, weil er sich auch in dieser Frage dafür engagierte, daß jedermann, soweit er niemandem Schaden zufügt, hauptsächlich im Einklang mit seinen Empfindungen und seinem Glücksgefühl leben könne, wobei es nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob der/die Betreffende einen männlichen oder weiblichen Körper hat. Auch Mitarbeiter M. Hirschfelds, Dr. F. Abraham, Karl Giese, Dr. Linsert und die Tschechen Prof. Vondrácek, der Arzt Schönfeld und Dr. Bank beteiligten sich an dem Thema.

Der Nachmittag wurde der Sexualpathologie gewidmet. Es sprachen Dr. Scha-piro von Hirschfelds Institut (über Ejaculatio praecox), Frau Dr. Stone aus New York (über sexuelle Disharmonie), der Jurist Dr. W. Niemann aus Berlin (über Kastration bei Pädophilen). Außerdem waren auch Dr. Chiavacci aus Wien, Dr. Holz aus Berlin und Dr. Zweig, Dr. Bondy und Dr. Lampl aus der CSSR gemeldet.

Der sechste und letzte Kongreßtag war für die Themen Population und Eheprobleme sowie Sexualberatungsstellen vorgesehen. Zum Thema der Populationsprobleme sprach Dr. Julian Marcuse aus München (als Sexualhygieniker), Frl. Dr. Hildegardt aus Madrid, der Dozent Friedjung aus Wien, Prof. Pasche-Oserskij aus Kiew, Dr. Weisskopf aus Brno und Dr. Hecht aus Prag.

Im Vordergrund der Geburtenregelung standen die Probleme der Antikonzep-tion und der Abtreibung. Dr. Haire stellte noch einmal die silberne Spirale zur Einführung in die Gebärmutter vor. Frau Dr. Stone aus New York trug Erfahrungen aus ihrer Klinik für Geburtenregelung, in der sie 2000 Frauen behandelt hatte, vor. — Über die Geburtenregelung berichtete auch Dr. Ru-binraut und T. Zelenski aus Polen. Dann folgten noch Dr. Güdemann aus Wien und Frau Edith How-Martyn aus London.

Es gab damals noch keine hormonale Antikonzeption, und um die Zulässigkeit der sozialen Indikation für die Abtreibung wurde heiß gerungen. Gegenwärtig ist sie in den meisten Staaten durchgesetzt. Das heute angestrebte Ziel (auch in der CSSR) ist hohe Lebensqualität bei optimaler Familiengröße.

Über Fortschritte bei den Eheberatungsstellen sprach Fr. E. Grünhaut-Fried aus Wiesbaden, der Gynäkologe Dr. M. Matousek und Dr. M. Popper aus der CSSR.

Damals befanden sich alle behandelten Themen noch im Stadium der Vorschläge und Versuche. Heute gibt es in der CSSR in jedem Kreis und in vielen Bezirken Beratungsstellen für eheliche und voreheliche Probleme, die von fachkundigen Spezialisten, besonders von Psychologen, geleitet werden.

Die Teilnehmer waren bei Abschluß des Kongresses sowohl in fachlicher wie in gesellschaftlicher Hinsicht sehr zufrieden. — Doch gab es auch Stimmen, die das Fernbleiben einiger Gruppen deutscher Sexuologen (z. B. Moll, M. Marcuse) und weiterer Pädagogen, Soziologen und Juristen beklagten.

Heute ist unsere größte Sorge der Zerfall der Ehe und das Schicksal der Kinder aus unvollständigen Familien.

Weitere Entwicklung der Sexualwissenschaft in der CSSR

Im Jahre 1935 starb Prof. Bukovsky, der Leiter der Dermatovenerologischen Abteilung der Universitätspoliklinik in Prag. Sein Nachfolger Prof. Gawalowski teilte dem Professorenkollegium der tschechischen Medizinischen Fakultät mit, daß sich in seiner Abteilung eine Bibliothek befände, die nicht dorthin gehöre. Die Bücher waren mit einem Stempel "Ustav pro sexuálni pathologi" (Institut

für Sexualpathologie) versehen. Das war, wie gesagt, der Rest der Büchersammlung von Prof. Pecirka.

Das Kollegium der Professoren beschloß, mich zum Verwalter dieser Bibliothek zu ernennen. Ich transportierte die Bücher in die dermatovenerologische Klinik von Prof. Samberger und brachte sie dort in einem Zimmer unter, das auf Sambergers Antrag hin wieder als "Institut für Sexualpathologie" bezeichnet wurde. Dort habe ich dann die Sprechstunden für Sexualstörungen durchgeführt und im Hörsaal der Klinik meine Vorlesungen über Sexualpathologie gehalten. Im Vorlesungsverzeichnis stand unter den Kliniken und Instituten: "Institut für Sexualpathologie, provisorischer Verwalter: Dozent MUDr. Josef Hynie". Das war der Anfang unseres Instituts an der Klinik von Prof. Samberger.

Prof. Samberger wurde 1939 pensioniert. Sein Nachfolger Prof. Gawalowski unterstützte unsere Arbeit mit großer Sympathie und Verständnis, das er schon früher bei meinen ersten Schritten in der Sexualwissenschaft bewiesen hatte. Aber Prof. Samberger war auch weiterhin mein Hauptberater, besonders bei der Arbeit an der "Einführung in die ärztliche Sexuologie".

Im Zweiten Weltkrieg wurde die tschechische Dermatologische Klinik und damit auch unser kleines sexuologisches Institut aus dem Bereich des Allgemeinen Krankenhauses ausquartiert. In dem Krankenhaus "Na Slupi" bekam ich ein Zimmer und hütete dort die Bibliothek und das Inventar des sexuologischen Instituts, die sich mit der Zeit vermehrt hatten. Außerdem hielt ich dort weiter Sprechstunden für Sexualstörungen ab. Prof. Gawalowski wurde von den Deutschen als Leiter der Klinik abberufen und diese als bloße Krankenhausabteilung dem Dozenten Petrácek anvertraut.

Während der bewegten Zeit des Krieges stockte jede wissenschaftliche Arbeit, und ich hatte Zeit zum Bücherschreiben. So ist auch die "Einführung in die ärztliche Sexuologie" erschienen.

Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste behandelt die Entwicklung der Geschlechtsorgane, die somatische und psychosexuelle Entwicklung im männlichen und weiblichen Sinne unter normalen und pathologischen Bedingungen. Der zweite Teil behandelt die genaue Analyse der normalen und pathologischen Sexualfunktionen vom Erwachen des Interesses über die Annäherung, die Kopulation bis zum Orgasmus und zur Befruchtung. Der dritte Teil behandelt spezielle Probleme in verschiedenen Altersstufen, deren Störung und Vorbeugung, besonders auch die Sexualerziehung und Beratung; außerdem die Teilnahme von Sexuologen als Sachverständige in zivil- und strafrechtlichen Gerichtsverfahren.

Im ganzen Buch wird betont, daß die Reproduktion nicht die primäre Bestimmung der Sexualität in der Natur ist. Sie ist auch ohne Sexualität möglich.

Aber die Sexualität ermöglicht eine Auswahl des Partners und die Vorbereitung der Bedingungen für die Nachkommenschaft, die vollwertige Reproduktion. Beim Menschen ermöglicht die Kultivierung der männlichen und weiblichen Lebenswerte die Auswahl eines wertvollen Partners. In Annäherung und Werbung des Partners zeigen beide Teile die instinktive Tendenz, vor dem anderen die besten Qualitäten darzustellen. Das bedeutet auch die Vorbereitung des Milieus, in dem die Nachkommenschaft leben soll, doch auch die Kultivierung der ästhetischen und ethischen Tendenzen, der Intelligenz. So wird Sexualität zu einem wichtigen Faktor der Kulturentwicklung des Menschen, der physischen Kondition und Lebensfreude. Eine gute entwickelte Sexualität bedeutet kein Seufzen und Weinen, sondern wirkliche Lebensfreude.

Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aufgrund dieses Buches das Verfahren zu meiner Ernennung als Professor für ärztliche Sexuologie an der Medizinischen Fakultät der Karls-Universität eingeleitet. Im Jahre 1946 erfolgte die Ernennung (rückwirkend ab 1945). Gleichzeitig wurde ich zum Leiter des selbständigen Instituts für Sexualpathologie ernannt. Dafür sollte das ehemalige sog. Chemische Institut ausgebaut werden. Vom Oktober 1946 an konnten wir dort mit der sexuologischen Arbeit beginnen. Nach dem Kriege übersiedelte ich zuerst mit dem provisorischen Institut vom Krankenhaus "Na Slupi" zurück in die Dermatovenerologische Klinik von Prof. Gawalowski im Allgemeinen Krankenhaus. Dort arbeitete ich mit Hilfe der Ärzte der Klinik bis zur Übersiedlung in das neue Institut in Salmovska 1.

Nach der Übersiedlung wurden mir zuerst die Mediziner Raboch und Dobiás, dann auch Barták als Demonstratoren zugeteilt, im Jahre 1947 dann die Ärzte Dr. Nedoma und Raboch als Assistenten. Ich begann mit der Schulung dieser Mitarbeiter. In ihrer Anwesenheit untersuchte ich die Patienten und arbeitete mit ihnen und hielt dann in Abwesenheit der Patienten Besprechungen mit ihnen ab. Dann vertraute ich ihnen allmählich verschiedene Teiluntersuchungen an. Später ließ ich die Assistenten Dr. Nedoma, Raboch und Barták selbständig mit den Patienten arbeiten, stand ihnen jedoch bei komplizierten Fällen als Konsultant zur Verfügung. Danach wurden sie auch mit wissenschaftlichen Arbeiten, mit Referaten in wissenschaftlichen Gesellschaften und mit Publikationen in Zeitschriften betraut.

Der Name des Instituts wurde von "Institut für sexuelle Pathologie" in "Sexuologisches Institut" geändert, weil das Wort Pathologie bei uns i. a. für pathologische Anatomie, also die Arbeit an Toten, benutzt wird.

Im Jahre 1949 suchte uns ein Arzt aus Indien zu einer viermonatigen Schulung auf. Er wurde von Dr. Pillay, dem Herausgeber der Monatsschrift "Journal of Sexology" in New Dehli, geschickt. Dr. Pillay publizierte einige Jahre lang unsere Arbeiten in dieser internationalen Zeitschrift und schickte uns später

auch den Chirurgen Dr. Phadke aus Bombay, der Vasoepididymoanastomosen bei Obliteration in der Epididymis durchführte.

Im Jahre 1950 konnten wir mit unserem Institut in das neue Gebäude der Universitätspoliklinik übersiedeln. Dort konnten wir endlich in Zusammenarbeit mit anderen poliklinischen und klinischen Abteilungen und dem großen Zentrallaboratorium unsere Tätigkeit voll entfalten. Auch die Schulung der Mediziner und Ärzte konnte besser als in den Anfängen seit 1934 oder im ersten neuen Institut organisiert werden.

Die Forschungsarbeit und Schulung in der Sexualwissenschaft ist ohne klinische Praxis unmöglich, die für beide die Basis bildet. Die Ordinationen des Instituts haben schon seit 1960 die Zahl von 10000 jährlich überschritten. Alle Patienten aus der ganzen Republik konnte das Institut natürlich nicht allein behandeln. Es wurden jedoch Ärzte in der Sexuologie, die inzwischen ein eigenes Fach ist, geschult. Vor der Zulassung müssen sie bestimmte Kenntnisse an den Tag legen und eine entsprechende Praxis nachweisen. Solche Spezialisten arbeiten bei uns schon in allen Landkreisen und in manchen Bezirken. In großen Städten gibt es größere Zentren in den Kliniken und Gesundheitszentren, z. B. in Bratislava, Olmütz, Brno, Ostrava, Opava, Aussig, in Prag für Mittelböhmen u. a.

Das sexuologische Institut behandelt nicht nur die funktionellen Sexualstörungen und Deviationen, sondern auch Entwicklungsstörungen und männliche Sterilität. Die Sterilität der Frau wird traditionell von den Gynäkologen behandelt, manchmal auch die sexuellen Störungen der Frau. Männer aus sterilen Ehen sind für uns auch wertvolle Kontrollpersonen beim Studium der sexuellen Störungen. Einzelne Ärzte arbeiten nicht so vielseitig, sie sind mehr an speziellen Gruppen von Patienten interessiert. Die Spezialisten ergänzen sich gegenseitig. Solche Zusammenarbeit findet auch unter verschiedenen Kliniken und Forschungsinstituten statt, in wissenschaftlicher wie in praktischer Tätigkeit.

Ein Meister in der Organisation solcher Zusammenarbeit, besonders auf wissenschaftlichem Gebiet, ist Prof. Raboch geworden. Aufgrund seiner Kenntnisse der Weltliteratur entwickelt er Pläne für solche Zusammenarbeit, die schon eine gute Tradition hat. Gemeinsam publizierte Arbeiten mit sexuologischer Thematik erwecken den Eindruck, als wäre unser Institut viel größer, als es in Wirklichkeit ist. An unseren Forschungsarbeiten sind hervorragende Spezialisten der Endokrinologie, der Genetik, der Immunologie, der Kardiologie, der vaskulären Chirurgie, der Biochemie, der Histopathologie, der Histochemie, der Urologie, der Psychiatrie u. a. beteiligt.

Prof. Raboch ist seit 1974 mein Nachfolger in der Leitung des Instituts. Auf dem II. Internationalen Sexuologischen Kongreß in Montreal 1976 nahm er einen wichtigen Platz unter den sexuologischen Forschern ein. 1979 wurde er

zum Präsidenten der Internationalen Akademie für Sexualforschung gewählt und hat versucht, ihre wissenschaftliche Sitzung in Prag zu organisieren.

Die Aufgabe unseres Instituts beschränkt sich jedoch nicht nur auf wissenschaftliche und therapeutische Tätigkeiten und die Schulung von Medizinern und Ärzten. Es ist notwendig, für eine sozial gesunde Entwicklung der Population zu sorgen und unter jungen Menschen gesunde Prinzipien des Sexuallebens zu propagieren. Es handelt sich nicht nur um die Erziehung zu einem sozial harmonischen Zusammenleben, sondern um die Erziehung zum Ehe-und Familienleben. Dem dienen eine Anzahl populärer Vorträge, Artikel und Bücher. Von den Mitgliedern des Instituts allein sind ca. zwei Millionen solcher Aufklärungsbroschüren, natürlich auch in anderen Sprachen, erschienen. Dazu kommen mehrere größere populäre und wissenschaftliche Publikationen, nicht nur von den Mitgliedern unseres Instituts.

So entwickelte sich unsere Sexuologie von bescheidenen Anfängen zu einer Disziplin, die bestrebt ist, dem einzelnen zu einem zufriedenen Leben und der ganzen Gesellschaft zu einer sozial gesunden Entwicklung der Population zu

verhelfen.

Unser sexuologisches Institut in Prag pflegt als erstes Universitätsinstitut in Europa oder sogar in der Welt bezeichnet zu werden. Dem, was oben dargestellt wurde, ist jedoch zu entnehmen, daß dieses Institut weder aus dem Nichts noch als Schöpfung eines einzelnen Menschen entstanden ist.

Schon in alten Zeiten befaßte man sich mit Sexualproblemen (das Kama-Sutram in Indien, Ovids Ars Amatoria in Rom). Die Menschen haben immer auch in dieser Lebenssphäre, die die höchste Intimität berührte und manchmal auch als sakrosankt galt, Vollkommenheit und Weisheit gesucht.

Am Anfang dieses Jahrhunderts waren für uns die deutsche und die französische Kultur am nächsten. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, daß Prof. Pelnár 1902 das Buch von Féré übersetzte und Pecirka und ich in Hirschfelds Institut ein Vorbild gesucht haben. Es war zwar kein Universitätsinstitut, doch für seine Zeit im Hinblick auf seine ideologische Einstellung sehr modern und materiell erstklassig ausgestattet.

Hirschfeld selbst war ein bescheidener, arbeitsamer Mensch, der sein ganzes Leben seiner Wissenschaft und seinen Patienten geweiht hat. — Natürlich habe ich auch bei anderen deutschen Forschern in Berlin und Wien nach Vorbildern und Belehrung gesucht. Daneben interessierte ich mich selbstverständlich für russische Spezialisten, besonders für die Schule Bechterews, sowie für die französischen (Cotte, Carton, Grasset und Higiek, ein französisch schreibender Pole), englischen, spanischen u. a. Autoren.

Aus diesem allen ergab sich mit der Unterstützung von Prof. Samberger die grundlegende Konzeption der Sexuologie, die dann im Laufe der folgenden 40 Jahre von dem Team des Instituts ergänzt und entwickelt wurde.

Unser sexuologisches Institut wurde allmählich auch außerhalb der Staatsgrenze bekannt, und wir wurden zu Kongressen, Vorträgen, Instruktionen und Verhandlungen in die ganze Welt eingeladen. Unser Symposium Sexuologicum Pragense 1968, an dem ca. 300 Spezialisten aus 19 Ländern teilnahmen, wurde als Beginn der Sexuologischen Weltkongresse (Paris, Montreal usw.) bezeichnet.

Anmerkung

Diesen Beitrag schrieb Josef Hynie gegen Ende seines Lebens. Es wurde seine letzte Arbeit, deren Publikation er nun nicht mehr erlebt. Rückfragen, Bitten um Ergänzungen oder Korrekturen waren nicht mehr möglich. Deshalb wird der Text so gut wie unverändert abgedruckt, obwohl bei einigen Stellen Unsicherheiten verbleiben. Die redaktionelle Bearbeitung erfolgte durch Sabrina Hausdörfer. — Die Autoren-Kurzbiographie im Anhang stammt von Hynies Nachfolger im Amt, Jan Raboch.

 

Hynie, Josef; geb. 8.5.1900, gest. 23.3.1989. MUDr., DrSc., Universitäts-Professor für medizinische Sexologie. Nach dem Medizinstudium Ausbildung an der dermato-venerologischen Klinik der Prager Karls-Universität; 1934 Habilitation für das Fach Medizinische Sexologie ('Zur Pharmakotherapie der männlichen Sexualstörungen'). 1935 Verwalter des damaligen Instituts für Sexualpathologie. Unmittelbar nach Ende des 2. Weltkriegs und der Wiedereröffnung der von den Nationalsozialisten geschlossenen tschechischen Hochschulen Ernennung zum ordentlichen Professor für medizinische Sexologie (aufgrund seiner Monographie 'Einführung in die medizinische Sexologie', Prag 1940) und Vorstand des Sexologischen Instituts der medizinischen Fakultät der Karls-Universität zu Prag. Ihm gelang Konzeption, Durchsetzung und Integration der medizinischen Sexologie als neuer medizinischer Disziplin im tschechoslowakischen Gesundheitswesen. Neben seiner wissenschaftlichen Pionierarbeit leistete Hynie einen beträchtlichen Beitrag zur Durchführung der Sexualerziehung der Bevölkerung. Seine populärwissenschaftlichen Bücher erreichten eine Auflage von über einer Million.