Reisen nach China

III. Reise 1992

I. BERICHT
1. ZUSAMMENFASSUNG
2. TAGEBUCH
II. DOKUMENTATION
DIE KONFERENZ IN SHANGHAI
Konferenzergebnisse

I. BERICHT

1. ZUSAMMENFASSUNG

Vom 1. - 19. September 1992 besuchte ich auf Einladung dortiger chinesischer Kollegen Universitäten in Beijing, Nanjing und Shanghai.

In Beijing und Nanjing hielt ich je ein Seminar (Kolloquium) zu sexologischen Themen ab, und in Shanghai nahm ich als Referent am ersten internationalen sexologischen Kongress in China teil. Bei dieser Gelegenheit wurde auch meine Ausstellung zur "Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933" gezeigt und das in chinesischer Sprache publizierte Buch "Sexualverhalten im modernen China - Bericht über die landsweite Befragung von 20 000 Personen" vorgestellt, bei dem ich als Co-Autor mitgearbeitet hatte.

In Shanghai wurden auch die erste förmliche Vorstandssitzung und die erste Generalversammlung der 1990 in Hong Kong gegründeten und inzwischen dort offiziell inkorporierten Asian Federation for Sexology abgehalten, und ich wurde wiederum in den Vorstand gewählt. In meiner Rolle als "internationaler Berater" der Föderation wurde ich gebeten, ein internationales Verzeichnis sexologischer Institutionen, Programme und Standards zu erstellen.

Die Kollegen aus Beijing zeigten großes Interesse an meiner Ausstellung. Sie wollen versuchen, sie mithilfe des Goethe-Instituts nach Beijing zu bringen.

2. TAGEBUCH

Um Reisekosten zu sparen, waren Monate vorher ein Billigflug nach und von China mit unverückbaren Daten gebucht worden sowie innerchinesische Flüge und Hotels in Beijing und Hong Kong. Die gesamten Reisekosten trug ich selbst.

2. - 5. September

Ankunft in Beijing und Versuche der Kontaktaufnahme mit Prof. Wang, meinem sexologischen Kollegen an der Beijing Medical University. Diese Versuche blieben zunächst erfolglos, da Prof. Wang kein privates Telefon besitzt und sein Bürotelefon aus technischen Gründen außer Betrieb war. Der Kontakt gelang schließlich mithilfe von mehreren Telegrammen. Dagegen kam der telefonische Kontakt mit dem Kollegen Prof. Chu in Nanjing sofort zustande, der mich gemäß meiner Flugbuchung am 7. September in Nanjing erwartete. Leider stellte sich nun aber heraus, daß die chinesische Fluglinie die Buchung nicht anerkannte, und daß außerdem alle Flüge von Beijing nach Nanjing für die ganze Woche ausgebucht waren. Den 5. September verbrachte ich daher damit, das Problem aufzuklären und, mit dem Taxi kreuz und quer durch Beijing fahrend, von einem Reisebüro zum anderen nach Alternativen zu suchen. Dabei ergab sich folgendes:


Von links: Prof. Wang und Prof. Haeberle an der Beijing Medical University


Es ist grundsätzlich zwecklos, vom Ausland her innerchinesische Flüge zu buchen, da diese Buchungen, obwohl korrekt durchgeführt, von den dortigen Fluggesellschaften einfach ignoriert werden. Es ist nur sinnvoll, solche Flüge in China selbst zu buchen.

Meinem Berliner Reisebüro (EuroLloyd) und mir selbst war dies nicht bekannt gewesen, und so hatte ich nun ein weiteres Problem: Meine Flugbuchung am 18. September von Shanghai nach Hong Kong wurde ebenfalls nicht anerkannt. Wiederum waren alle Sitze ausgebucht, und deshalb schien es unmöglich, den Rückflug Hong Kong - Berlin mit seinem unverrückbaren Datum zu erreichen. Nur durch Zufall gelang es mir schließlich, bei einer anderen Fluggesellschaft ein letztes Erste-Klasse-Ticket aus China hinaus zu kaufen.

Für die Reise Beijing - Nanjing blieb mir nur die Eisenbahn, die allerdings auch bis zum 9. September ausverkauft war. Daher konnte mein in Nanjing für den 8. September groß angekündigtes ganztägiges Seminar nicht stattfinden. Über 400 Interessenten, die teilweise von weit her angereist waren, mußten zurückgeschickt werden. (Ich erwähne diese Schwierigkeiten hier nur zur Warnung an mögliche andere Reisende nach China.)

6.-8. September

An der Beijing Medical University hielt ich am 6. September ein Kolloquium mit etwa einem Dutzend sexologisch interessierter Kollegen (zumeist Mediziner, aber auch Soziologen und klinische Psychologen). Mein Gastgeber war Prof. Wang Xiao Dao, der Präsident einer landesweiten Chinesischen Gesellschaft für Sexologie, die schon aktiv ist (u.a. mit einer eigenen Zeitschrift "Sexology of China"), aber noch auf ihre offizielle Anerkennung und rechtliche Inkorporierung wartet. Als Dolmetscherin fungierte Frau Li Cui Yun, die fließend deutsch sprach, da sie als Vizedirektorin des Internationalen Austauschzentrums der Universität seit Jahren regelmäßig nach Essen reist, wo mit der dortigen Gesamthochschule eine wissenschaftliche Kooperation besteht.


3. und 4. von links: Prof. Haeberle und Prof. Wang
mit dessen Kollegen an der Beijing Medical University


Ich stellte zunächst die aktuelle internationale Lage der Sexualwissenschaft dar, ihre verschiedenen Fachgebiete (Sexualforschung, Sexualtherapie, Sexualerziehung) sowie die mögliche Rolle, die sie bei der Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten spielen könnte. Es wurde bedauert, daß es kaum Informationen über die heute in der Welt verfügbaren sexologischen Zeitschriften, Institute, Curricula und Standards gebe, so daß es äußerst schwierig sei, vernünftige eigene Programme aufzubauen. Die Unkenntnis der internationalen wissenschaftlichen Szene auf diesem Gebiet führe zu einer lähmenden Unsicherheit. Ich sagte zu, dies Thema beim Kongress in Shanghai zur Sprache zu bringen und mich für eine Lösung einzusetzen. Das Gespräch wandte sich darauf praktischen Fragen zu wie etwa der Verhaltenstherapie sexueller Funktionsstörungen. Diese ist offensichtlich für China neu und von großem Interesse. Auch die sexualmedizinische Ausbildung und Fortbildung wurden angeregt diskutiert sowie die Sexualerziehung Jugendlicher. Sehr dringend wurde der Wunsch nach verstärkter Kooperation ausgesprochen, wofür ich aber keine konkrete Zusagen machen konnte. Der Mediziner Prof. Ma Xiao Nian, der schon Masters & Johnsons Buch über die sexuelle Reaktion übersetzt hatte, erbot sich, mein Lehrbuch "Die Sexualität des Menschen" aus seiner amerikanischen Ausgabe ins Chinesische zu übersetzen, wozu ich ihm als Inhaber der Rechte meine schriftliche Zustimmung gab.

Prof. Ma zeigte mir später privat auch ein 9-stündiges Video, das er zur sexualmedizinischen Ausbildung in Gesundheitsberufen hergestellt hatte. Es zeigte u.a. die sexuelle Entwicklung beider Geschlechter, Fortpflanzung und Empfängnisverhütung, die sexuelle Reaktion sowie sexuelle Funktionsstörungen und ihre Therapie. Wissenschaftlich war das Video trotz einiger technischer Mängel durchaus auf der Höhe. Es wird sehr erfolgreich an vielen chinesischen Universitäten eingesetzt. Allerdings wird es oft unvermittelt minutenlang von malerischen Landschaftsaufnahmen unterbrochen. Wie Prof. Ma mir sagte, bedeutet dies, daß die entspechenden Abschnitte der Zensur zum Opfer gefallen sind. Jeder chinesische Student versteht dies aber und weiß aus dem verbliebenen Rest dennoch genug Informationen zu gewinnen.

Am 7. und 8. September organisierten meine sexologischen Kollegen für mich Ausflüge in die Umgebung Beijings (Sommerpalast, Ming-Gräber, große Mauer) wobei jeweils einige mich begleiteten und wir unsere Gespräche fortsetzten.


Von links: Prof. Ma und Prof. Haeberle
im Garten des kaiserlichen Sommerpalastes


9. - 10. September

Am Nachmittag des 9. September begleitete mich Prof. Ma zum Bahnhof, um sicherzustellen, daß ich den richtigen Zug bestieg. Tatsächlich wäre dies ohne seine Hilfe wohl unmöglich gewesen, da sowohl die Fahrkarte wie alle Bahnsteigschilder in chinesischer Sprache abgefaßt waren und niemand vom Bahnpersonal eine Fremdsprache sprach.

Nach 18-stündiger Bahnfahrt erreichte ich gegen Mittag am 10. September Nanjing, wo Prof. Chu Zhao Rui und mehrere andere Kollegen sowie eine Dolmetscherin, Frau Lan Yingbo, auf mich warteten. Ich wurde sofort zu einem vorbereiteten opulenten Mittagessen gefahren, an dem noch weitere 10-15 Personen teilnahmen, die alle Wert auf diese gastfreundliche Begrüßung legten. Anschließend wurde ich in das Gästehaus der Universität gebracht und dann für eine Stadtbesichtigung herumgefahren. Gegen Abend folgte ein weiteres Bankett mit chinesischer Musik in einem bekannten Restaurant der Altstadt.


2. u. 3. von links: Prof. Haeberle und Prof. Chu an der Gedenkstätte für Sun Yatsen


Sofort nach dem Essen, etwa um 21:00 Uhr, fuhren wir dann zurück zur Universität, wo ich bis 24:00 Uhr ein Kolloquium für etwa 25 Teilnehmer hielt. Themen waren, wie in Beijing, die Entwicklung und heutige Situation der Sexualwissenschaft, Sexualerziehung und Sexualtherapie. Im Wesentlichen beschränkte ich mich darauf, die vielen Fragen der Kollegen zu beantworten. Es war offensichtlich, daß auch in Nanjing ein wachsendes Interesse an der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Sexualität besteht.

11. - 16. September

Am 11. September morgens fuhr ich zusammen mit Prof. Chu mit der Eisenbahn nach Shanghai, wo wir nach 4-stündiger Fahrt mittags ankamen. Wir wurden am Bahnhof erwartet und zur Jiao-Tong-Universität gebracht, wo am folgenden Tag die Shanghai Conference of Sexology beginnen sollte. Bei der Registrierung traf ich Prof. Liu Dalin, den Hauptautor unseres Berichtes zum chinesischen Sexualverhalten. Stolz überreichte er mir ein Exemplar des umfangreichen Buches, das soeben vom Drucker geliefert worden war: "Sexualverhalten im modernen China - Bericht über die landesweite Befragung von 20 000 Personen" (S. Dokumentation). Anschließend fuhr ich in das für die ausländischen Teilnehmer reservierte Galaxy Hotel, einen luxuriösen Neubau mit westlichem Standard, wo auch ein besonders Tagungsbüro untergebracht war. Im Hotel traf ich meine amerikanischen Kollegen und alten Freunde Prof. Milton Diamond (Honolulu) und Prof. John Money (Johns Hopkins, Baltimore).


Von links: Prof. Chu und Prof. Haeberle im Zug nach Shanghai


Am 12. September morgens wurde die Konferenz eröffnet mit einigen Begrüßungsreden von Wissenschaftlern und Vertretern der Stadt Shanghai. Ich selbst hatte die Ehre, als erster und einziger nicht-chinesischer Referent in diesem Eröffnungsrahmen zu sprechen, und zwar über die Entwicklung und heutige internationale Situation der Sexualwissenschaft. Dabei machte ich mir die Forderung der chinesischen Kollegen zu eigen, ein ausführliches internationales Verzeichnis aller sexologischen Zeitschriften, Institutionen, Programme, Organisationen, Curricula und Standards zu schaffen als ersten notwendigen Schritt zu verstärkter Kooperation. In der anschließenden Diskussion wurde dieser Vorschlag sehr begierig aufgegriffen. Ich selbst wurde gebeten, die Initiative zu ergreifen und alle Informationen zu sammeln, die man mir bereitwillig zuschicken würde. Aus jedem der vertretenen Länder wurden mir von einem Kollegen entsprechende Listen zugesichert (China, Taiwan, Hong Kong, Singapur, Indonesien, Nord-Korea, Japan, Indien).

Am Nachmittag folgten verschiedene wissenschaftliche Referate (S. Konferenzergebnisse). Anschließend wurden zwei Ausstellungen eröffnet:

1. "Sexualität und Erotik in der chinesischen Geschichte und Kunst" (organisiert von Prof. Liu Dalin),

2. "Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933" (org. Haeberle. Diese Ausstellung von 50 Schautafeln hatte ich ursprünglich 1983 für den Weltkongress der Sexologie in Washington, D.C. geschaffen. Sie wurde seither gezeigt in Hamburg, Kiel, Kopenhagen, Göteborg, Stockholm, Marburg, Oldenburg, Zürich und Hong Kong. Nach Shanghai wurde sie mithilfe des deutschen Generalkonsulats gebracht auf Bitten des dortigen Zentrums für Familienplanung.) Die Kollegen aus Beijing zeigten sich daran interessiert, die Ausstellung mithilfe des Goethe-Instituts nach Beijing zu bringen.


Von links: Prof. Haeberle und Prof. Liu am Eingang der Ausstellung
"Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933"


Die nächsten 4 Tage der Konferenz verliefen Dank der hervorragenden Organisation glatt und ereignislos mit einer ganztägigen Stadtbesichtigung und einer langen Reihe von Referaten (S. Konferenzergebnisse). Es nahmen etwa 300 sexologisch interessierte Fachleute (Medizin, Pädagogik, Soziologie, Familienplanung, Polizei, Strafvollzug) aus 8 asiatischen Ländern teil, sowie aus den USA und England.

Während der Konferenz fanden zwei Vorstandssitzungen und eine Generalversammlung der in Hong Kong 1990 gegründeten und inzwischen dort inkorporierten Asian Federation for Sexology statt, wobei ich wieder in den Vorstand gewählt wurde. Herr Prof. Kothari aus Bombay wurde zum Präsidenten gewählt, und es wurde beschlossen, die nächste Konferenz 1994 in Indien zu organisieren (Bombay oder Neu-Delhi). Ich selbst wurde beauftragt, die von allen Konferenzteilnehmern gewünschte weltweite Liste sexologischer Institute, Programme und Standards zu erstellen.

Am Rande der Konferenz verliefen noch verschiedene Gespräche, von denen die folgenden besonders zu erwähnen sind:

- Die nicht-chinesischen Teilnehmer wurden zu einem Gespräch bei der Tageszeitung Wen Hui eingeladen, die für Lehrer ein sexualpädagogisches Fortbildungsprogramm bietet. Der Leiter dieses Programms, Chefreporter Lu Wen, empfing uns im modernen Hochhaus der Zeitung, von dem sich eine sehr gute Aussicht über die ganze Stadt bot. Er erläuterte das einjährige Kursprogramm, durch das bisher schon etwa 1000 Lehrer ein Diplom as Sexualerzieher erworben haben. Für eine Kursgebühr von etwa einem Monatsgehalt erhalten die Teilnehmer, die in allen Regionen Chinas wohnen, per Post insgesamt 6 Broschüren (alle zwei Monate eine), in denen ein sexualpädagogisches Basiswissen vermittelt wird. Dieses Wissen wird durch Korrespondenz vertieft und dann in einer Prüfung in Shanghai abgefragt. Zwischendurch haben die Teilnehmer aber auch die Gelegenheit, in Shanghai persönlich mit ihren Professoren zu sprechen. Ganz offensichtlich ist dies Programm ein Beispiel für eine kommerzielle Privatinitiative, die zu einer staatlich anerkannten Qualifikation führt.

- Aus Tianjin war eine Journalistin, Frau Wang Zhui Zhi, angereist, die mich um ein Gespräch bat. Wie sie sagte, mache sie jeden Samstag um 23:00 Uhr eine 50-minütige Radiosendung, bei der Hörer telefonisch um Rat und Hilfe bitten. Im Studio sind dann verschiedene Experten, die kompetente Antworten geben. Ihre Hörerzahl schätzte Frau Wang auf etwa 10 Millionen. Sie suchte das Gespräch mit mir aus zwei Gründen: 1. Eine rasch wachsende Anzahl der Anrufe gilt sexuellen Themen und 2. Die Sendung soll ab Frühjahr 1993 im Fernsehen ausgestrahlt werden. Angesichts dieser Entwicklung glaubte Frau Wang, auf den Rat ausländischer Sexologen nicht verzichten zu können. Ihr Vertrauen in die Sachkenntnis chinesischer Experten war begrenzt. Sie bat mich daher dringend, ihr sexuelles Aufklärungmaterial zu schicken, ganz gleich, in welcher Sprache. Sie würde alles für den Sender übersetzen lassen, damit ihre Informationen wirklich dem neuesten wissenschaftlichen Stand entsprächen.

- Ein Mitarbeiter der großen japanischen Tageszeitung Asahi Shimbun, Herr Nishigaito Masaru, bat mich um ein Interview über die Beziehungen zwischen der deutschen und japanischen Sexualwissenschaft (die Asahi Shimbun hatte 1931 einige Vorträge Magnus Hirschfelds in Japan "gesponsert"). Da 1995 der Weltkongress der Sexologie in Yokohama stattfinden soll, besteht nun ein Interesse daran, der früheren Geschichte dieser Wissenschaft nachzuspüren. Ich gab ihm einen knappen Überblick und verwies ihn auf einige vergessene Spuren in Japan, denen er noch nachgehen könnte. Ich versprach, ihm weiteres Material von Berlin aus zuzusenden.

- Herr Prof. Liu bat mich, Herrn Prof. Diamond und Herrn Dr. Ng (Hong Kong), einen Vormittag freizuhalten für ein ausführliches Gespräch mit einigen Sponsoren des Kongresses. Es handelte sich um eine Arzneimittelfabrik, die ein neues Breitbandantibiotikum anbot, eine andere Fabrik, die ein neues Sterilisationsverfahren und -gerät für chirurgische Tuben und Schläuche entwickelt hatte, und eine erfolgreiche neue Firma, die sterilisierte Hygienebinden für Frauen verkaufte. Nachdem man uns die Produkte ausführlich erklärt hatte, wurden von uns Werturteile und Verbesserungsvorschläge erwartet. In dieser delikaten Situation beschränkten wir uns im Falle des Sterilisationsgeräts auf besorgte Fragen nach der Sicherheit und den Vorschlag, die komplizierte Bedienung so narrensicher wie möglich zu machen. Im Falle des Antibiotikums warnten wir vor einer prophylaktischen Anwendung, da es rezeptfrei überall zu kaufen ist und auch gegen sexuell übertragbare Krankheiten wie Gonorrhöe und Syphilis helfen soll. Wir rietem dem Pharmakologen der Firma, auf dem Beipackzettel vor prophylaktischem Gebrauch zu warnen, waren aber im Stillen überzeugt, daß unser Rat nicht befolgt werden würde.

Im Falle der sterilen Hygienebinden hielten wir nicht mit unserem Lob zurück, da bisher in China nicht-sterile Binden üblich waren, die nicht selten zu Infektionen verschiedenster Art führten. Dann machten wir einen Vorschlag, der begeistert aufgegriffen wurde: Die Firma sollte in jede Packung einen größeren Zettel oder ein Faltblatt legen, das in einfacher Sprache und u. U. mit einfachen Illustrationen über Empfängnisverhütung, Geschlechtskrankheiten, sexuelle Störungen und andere sexuelle Probleme, ja selbst HIV/AIDS-Prävention aufklärt. Die jeweilige Information, die auch Anlaufadressen enthalten würde, könnte etwa alle 6 Monate gewechselt werden. So würden im Laufe der Zeit sexologische Grundinformationen in jeden chinesischen Haushalt kommen - ein Programm sexueller Volksaufklärung, das viel Nutzen für die öffentliche Gesundheit stiften könnte. Herr Prof. Liu erklärte sich bereit, mit seinen Kollegen die nötigen Texte zu liefern.

17. September

Für diesen Tag war mit den ausländischen Kongreßteilnehmern ein Tagesausflug nach Suzhou organisiert, einer alten Stadt, die für ihre Gärten berühmt ist. Wir besichtigten zwei dieser Gärten, ein Museum und einen buddhistischen Tempel, der, wie viele andere im heutigen China, unter der Leitung geschäftstüchtiger Mönche (Restaurant, Andenkenläden, Trauerfeiern usw.), ein lebendiges touristisches und religiöses Leben beherbergt.


Von links: Prof. Liu und Prof. Haeberle
in einem der berühmten Gärten Suzhous


18. - 19. September

Am Morgen meines Abreisetages besuchte ich das deutsche Generalkonsulat, um mich für die Hilfe beim Transport meiner Ausstellung zu bedanken. Der Vizekonsul, Herr Zander, bat sich ein Exemplar unseres Buches zum chinesischen Sexualverhalten aus, da seine Frau, eine Chinesin, sich dafür interessiere und es leicht lesen könne. Am Nachmittag flog ich nach Honkong, von wo ich nach einer Übernachtung nach Berlin zurückkehrte.


II. DOKUMENTATION

DIE KONFERENZ IN SHANGHAI

Die "Shanghai Conference of Sexology" war der Hauptgrund für meine Reise, denn ich hatte dort eine dreifache Rolle: 1. als Referent, 2. als Organisator einer Ausstellung und 3. als Vorstandsmitglied der Asian Federation for Sexology, die Mitveranstalterin war.


Von links: Prof. Haeberle (mit Dolmetscher) spricht zur Eröffnung des Kongresses.


Die Konferenz war nur unter großen Schwierigkeiten und persönlichen Opfern der chinesischen Kollegen zustande gekommen. (Sie war ursprünglich für April 1992 angekündigt und kurzfristig abgesagt worden.) Es war daher sehr wichtig, daß sie erfolgreich verlief. Dies gelang Dank der Kooperation sämtlicher Teilnehmer, die sich alle der historischen Bedeutung ihres Treffens für China und Asien insgesamt bewußt waren. Dabei war es relativ unerheblich, daß das wissenschaftliche Niveau teilweise recht niedrig blieb, denn es war wichtiger, die vielen chinesischen Teilnehmer überhaupt zur sexologischen Arbeit zu ermuntern als sie durch allzu scharfe Kriterien zu entmutigen.

Konferenzergebnisse

Das bedeutendste Ergebnis war, daß die Konferenz überhaupt stattfinden und erfolgreich beendet werden konnte. Ebenso wichtig war es, die Asian Federation for Sexology als internationale Organisation in China vorzustellen und als Fokus künftiger Kooperation zu etablieren. Durch diese beiden Hauptergebnisse wurde die akademische und gesellschaftspolitische Stellung der chinesischen Sexologen erheblich gestärkt. Gleichzeitig wurden ihnen neue und vielseitige Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, auch untereinander, eröffnet.

Es ist keine Frage, daß sexologische Kenntnisse und Fähigkeiten in China und anderen asiatischen Ländern in Zukunft dringend gebraucht werden. Die Bedrohung durch AIDS ist dabei nur ein Faktor unter vielen. Wichtiger sind demographische Entwicklungen: Das Pubertätsalter sinkt und das Heiratsalter steigt, während gleichzeitig die traditionellen Muster der sozialen Kontrolle von Jugendlichen unter westlichem Einfluß verblassen. Hinzu kommt, daß prozentual der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung zunimmt. Dies mag in China anders werden, aber durch das Ideal der jetzt propagierten Ein-Kind-Familie wird indirekt überdeutlich die These veranschaulicht, daß die Fortpflanzung nicht der Hauptzweck der Sexualität ist.

Darauf wurde in den Referaten der chinesischen Teilnehmer immer wieder hingewiesen. Es kann bezweifelt werden, ob die chinesische Regierung sich bisher der vollen Implikationen ihrer eigenen Politik in diesem Punkt bewußt ist.

Verschiedene historische Referate beschäftigten sich mit den verschiedenen widersprüchlichen sexuellen Traditionen Chinas, in denen sich repressive und liberale Elemente mischen, so daß sich für heute daraus ebenso eine repressive wie liberale Sexualpolitik ableiten läßt. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt auch immer noch der sexuelle Aberglaube. Dies wurde sogar in einem Referat des Kongresses selbst evident, in dem eine Ärztin von der Heilung vieler männlicher Patienten berichtete, deren Impotenz durch Masturbation verursacht gewesen sei. Durch Verzicht auf die Masturbation seien sie wieder gesund geworden, während andere, die nicht von der schlechten Gewohnheit lassen konnten, impotent blieben.

Uns ausländischen Referenten blieb es glücklicherweise erspart, diese Ausführungen zu kritisieren, da genug qualifizierte chinesische und andere asiatische Teilnehmer anwesend waren, die diese Aufgabe übernahmen und das Referat in höflicher Form als wissenschaftlich unhaltbar charakterisierten.

Kontrovers wurde auch das Referat von Prof. Lai-Yi Kang, Shanghai, diskutiert, der über die epidemiologische Entwicklung von HIV/AIDS berichtete. Er sprach von z. Zt. ca. 750 HIV-Infizierten in China durch die eine Tendenz zu heterosexueller Übertragung erkennbar sei. Erst auf erhebliches Drängen teilte er dann eine Ratio von etwa 700 Männern zu 50 Frauen mit. Als Teilnehmer daraus auf eine nicht unerhebliche homosexuelle Übertragung schlossen, widersprach der Referent heftig, konnte aber keine stichhaltigen Argumente für das angebliche Fehlen homosexueller Übertragung erbringen. Sein Referat befriedigte daher die Zuhörer nicht, da sie andererseits die Ergebnisse unserer Sexualumfrage kannten, in der wir wenigstens für Studenten nicht unerhebliche homosexuelle Kontakte nachgewiesen hatten.

Prof. Kang erwähnte auch eine gewisse "verdeckte" Prostitution, wollte sich aber auch hier auf keine Zahl festlegen. Nachfragen am Rande des Kongresses bei einem ehemaligen Polizisten ergaben eine Schätzung von etwa 9 000 "vollberuflichen" weiblichen Prostituierten in Shanghai. Weitere Nachfragen ergaben, daß im großen "People's Park" allabendlich Dutzende von Liebespaaren Geschlechtsverkehr in den Büschen haben, und daß an einem bestimmten Tag jede Woche auch homosexuelle Paare dort zu finden sind. Wieweit man solche "inoffiziellen" Beobachtungen für die AIDS-Prävention nutzten wird, ist z.Zt. nicht abschätzbar. Wahrscheinlich wird es auch günstigsten Falles noch eine Weile dauern, bis sich eine wirkliche Kooperation zwischen den Behörden und der sexologischen "Basis" ergibt.

Ein großer Teil der Referate galt sexualtherapeutischen Themen, die für China neu und offenbar von erheblichem Interesse sind. Allerdings wurde deutlich, daß es bisher an einheitlichen beruflichen Qualifikationen sowie verbindlichen Kriterien für Funktionsstörungen und ihre Behandlung fehlt. Hier kann erst die zunehmende Anerkennung und Professionalisierung von Sexualmedizinern und -therapeuten einen Fortschritt bringen.

Schließlich wurden auch noch Fragen der Sexualerziehung sehr ausführlich diskutiert. Zwischen der vorrevolutionären kulturellen Tradition, kommunistischer Askese und modernen westlichen Einflüssen stehend, ist es für die heutige Generation der Erzieher sehr schwer, einen vernünftigen Kurs zu bestimmen. Daher gibt es nun ein brennendes Interesse sowohl an der eigenen wie ausländischen sexologischen Geschichte. (Dem kamen die beiden Ausstellungen des Kongresses entgegen.)

Kaum ein Wunsch wurde so oft und so eindringlich vorgetragen wie der nach Materialien zur Sexualerziehung. Die japanischen Teilnehmer, die 1992 in ihrer Heimat "das erste Jahr der Sexualerziehung" feiern, hatten einiges Material mitgebracht, das aber bei weitem nicht alle chinesischen Wünsche befriedigen konnte. Auf diesem Gebiet könnten europäische Erfahrungen und Materialien für China sehr nützlich sein. Natürlich würde dort fast alles sehr stark modifiziert werden müssen, aber wenigstens könnte man den Kollegen den Weg abkürzen. Auf kaum einem anderen Gebiet der Sexologie wäre eine chinesisch-europäische Zusammenarbeit so willkommen und würde so schnelle Früchte tragen wie in der Sexualerziehung auf jedem Niveau - vom Kindergarten bis zur Universitätsausbildung.