Reisen nach China

II. Reise 1990

1. Zusammenfassung
2. Zur Vorgeschichte
3. Verlauf
4. Rahmenprogramm
5. Wissenschaftliche Ergebnisse
6. Praktische Ergebnisse
7. Ausblick

1. Zusammenfassung

Auf Einladung des Goethe-Instituts und der University of Hong Kong nahm ich an der I. Internationalen Konferenz über Sexualität in Asien (18. - 22. Mai 1990) in Hong Kong teil.

Bei dieser Gelegenheit zeigte das Goethe-Institut meine Ausstellung "Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908 - 1933". Da sie auf großes Interesse bei den Konferenzteilnehmern stieß, verbleibt sie zunächst in Hong Kong für eine eventuelle Weitersendung in die Volksrepublik China, nach Taiwan und Japan.

Die Konferenz war die erste allasiatische sexualwissenschaftliche Konferenz mit etwa 200 Teilnehmern aus Hong Kong, der Volksrepublik China, Taiwan, Japan, Indien, Thailand und Singapur sowie drei Referenten aus den USA (Hawaii und Kalifornien).

Ich hatte die Ehre, in Anwesenheit der Gesundheitsministerin Hong Kongs, Frau Wong Chien Chi-lien, den Eröffnungsvortrag halten zu dürfen ("Entstehung und heutige Situation der Sexualwissenschaft"). Außerdem hielt ich den Schlußvortrag ("AIDS als sexualwissenschaftliches Problem").

Dank der hervorragenden Organisation und Unterbringung durch die Universität ergaben sich intensive Kontakte und Gespräche, die dann zur Gründung einer Asian Federation for Sexology (AFS) führten. Ihr Organisationskommittee sitzt bis auf weiteres in Hong Kong. Der amerikanische Kollege Prof. Diamond (Hawaii) und ich selbst wurden zu Beratern dieser neuen Organisation gewählt. Sie wird versuchen, in zweijährigem Turnus weitere Konferenzen in Asien zu organisieren. Die nächste wird wahrscheinlich 1992 in Shanghai stattfinden.

2. Zur Vorgeschichte

Der Kongreß selbst sowie meine Einladung als einziger europäischer Referent waren das Ergebnis dreier getrennter Entwicklungen:

1. Im Mai 1989 machte ich eine Dienstreise zur Gründung des sexualsoziologischen Instituts in Shanghai und zum Beginn der ersten großen Sexualumfrage in China. Der neue Direktor und Forschungsleiter Prof. Liu ernannte mich zum Berater seines Instituts und Projekts und sprach den Wunsch nach künftiger verstärkter Zusammenarbeit aus. Dabei sollte auch seinem Kollegen Prof. Ng in Hong Kong eine Schlüsselrolle zufallen.

2. Auf der Rückreise von Shanghai lernte ich in Hong Kong Herrn Prof. Ng von der dortigen medizinischen Fakultät kennen, der mich für 1990 einlud. Er bat mich, beim Weltkongreß für Sexologie in Caracas im Dezember 1989 seinen Antrag zu unterstützen, Hong Kong als Tagungsort des Weltkongresses 1993 zu wählen. In der Tat versuchten Prof. Ng und ich in Caracas, diese Entscheidung herbeizuführen, wenn auch ohne Erfolg. Stattdessen wurden für 1993 Rio de Janeiro und für 1995 Tokio gewählt. Prof. Ng beschloß daraufhin, seinen für Mai 1990 geplanten asiatischen Sexologenkongreß in Hong Kong zum Sprungbrett für eine neu zu gründende Asiatische Föderation für Sexologie zu machen, die dann zweijährig, jeweils zwischen den Weltkongressen, eigene Kongresse durchführen würde.

3. Das Goethe-Institut Hong Kong war daran interessiert, meine beim Medizinhistorischen Institut der Unviversität Zürich lagernde Ausstellung zur Geburt der Sexualwissenschaft nach Asien zu bringen. Der von Herrn Prof. Ng organisierte Kongreß bot dazu die beste Gelegenheit.

3. Verlauf

Vor Beginn des Kongresses hatte ich Gelegenheit zu Gesprächen im Goethe-Institut und im Konsulat der Bundesrepublik Deutschland. Neben den offensichtlichen Themen Kongreß und Ausstellung galten diese Gespräche auch den Nachforschungen nach dem letzten Schüler und Alleinerben Magnus Hirschfelds, Li Shiu Tong, der aus Hong Kong stammte. Diesen Nachforschungen galt auch ein Radio- und ein Zeitungsinterview, die ich vor der Kongreßeröffnung gab.

Der Kongreß selbst wurde vom Centre of Asian Studies der Universität Hong Kong ausgerichtet, die auch für eine hervorragende Unterbringung im universitären Gästekolleg (Robert-Black-College) sorgte.


Eingang zu den Gästehäusern der Universität


Eröffnung

Der eigentliche Gastgeber, Prof. Chen, ein Volkswirt vom Centre of Asian Studies betonte in seiner Eröffnungsrede den interdisziplinären Charakter der Sexualforschung und forderte u. a. ein Studium ökonomischer Fragen im Zusammenhang mit menschlichem Sexualverhalten.

Die Gesundheitsministerin Hong Kongs, Frau Wong, begrüßte darauf die Teilnehmer und sprach ihr Interesse an einem Aufblühen der Sexualwissenschaft in Asien aus, da dies u. a. auch dazu beitragen könnte, die gesellschaftliche Stellung der Frau zu verbessern.

Mein folgender eigener Vortrag betonte die historisch enge Verbindung der frühen deutschen Sexualforschung mit Asien, besonders durch die Reise Magnus Hirschfelds durch Japan, China, Hong Kong, Indonesien und Indien im Jahre 1931. Nach einer Analyse der weltweiten "Modernisierung" und "Verwestlichung" der Sexualität verwies ich auf die notwendige kritische Distanz gegenüber ungewolltem "kulturellem Imperialismus" und auf die trotz aller kulturellen Unterschiede gemeinsamen wissenschaftlichen Aufgaben.


Prof. Haeberle auf dem Rednerpodium


Weiterer Verlauf

Der Kongreß wechselte dann zwischen verschiedenen Vorträgen und mehreren Parallelveranstaltungen ab. Die übergreifenden Themen waren Geschichte, Kulturanthropologie, Demographie, Kriminologie, Sexualerziehung, Sexualtherapie, Sexualberatung und AIDS-Prävention. Aus dem Programm ragten besonders drei Beiträge heraus:

1. Ein kulturgeschichtlicher Überblick zur Sexualität in China von Prof. Ng, Hong Kong

2. Eine demographische Analyse von Prof. Xenos, Honolulu

3. Ein Bericht über die erste große Sexualumfrage in China von Prof. Liu, Shanghai

Zum Thema AIDS

AIDS wird in Asien zunehmend als Bedrohung empfunden. Allerdings scheint das Bewußtsein dieser Bedrohung in Hong Kong und Thailand am weitesten entwickelt zu sein, wie einige Beiträge deutlich machten. Sehr dankbar wurden praktische Anleitungen zur AIDS-Beratung aus den USA aufgenommen (Prof. Diamond, Honolulu, und Prof. Price, Los Angeles). Ich selbst hatte Gelegenheit, im Abschlußvortrag des Kongresses eine verstärkte Sexualforschung und sexualmedizinische Fortbildung für Berater zu fordern. Beide Anregungen wurden von den Teilnehmern begrüßt. Als erster Schritt wird von der japanischen Gesellschaft für Sexualerziehung die Mitarbeit an meinem Projekt eines World Sex Reports erwogen (weltweite Umfrage mit Hilfe von populären Magazinen).

Im Anschluß an den Kongreß wurde eine Asian Federation for Sexology (AFS) gegründet.

4. Rahmenprogramm


Blick in Prof. Haeberles Ausstellung "Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin 1908-1933"
im Foyer der Universität


Neben meiner Ausstellung zur Geburt der Sexualwissenschaft in Berlin umfaßte das Rahmenprogramm des Kongresses noch zwei weitere Punkte:

1. Einen Besuch bei der Aufklärungsstelle des Gesundheitsministeriums

2. Einen Besuch bei der Family Planning Association of Hong Kong

Zu 1.:

Beim Central Health Education Unit des Department of Health stellte uns Dr. Constance Hon-yee Chan die Aufgaben ihrer Behörde vor. Diese sind ungefähr denen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vergleichbar.

Die Aufklärungssteile wurde 1978 gegründet und ist seither auf folgenden Gebieten tätig gewesen:

- Öffentliche Kampagnen
- Medienbibliothek
- Medienproduktion
- Beratungsdienst
- Forschung
- Evaluation

Die Hauptthemen bei diesen Aktivitäten waren bisher: Anti-Raucher-Kampagne, Herzerkrankungen, Gesundheit bei Jugendlichen, ansteckende Krankheiten und neuerdings AIDS. Die Adresse:

Dr. Chan Hon-yee, Constance
Department of Health
Central Health Education Unit
130 Hennessy Road
7/F., Southorn Centre
Wan Chai, Hong Kong

Zu 2. :

Die Family Planning Association of Hong Kong geht in ihren Anfängen bis zum Jahre 1936 zurück, erhielt ihren heutigen Namen aber erst 1950. Sie wird zu etwa einem Drittel von der Regierung, zu zwei Dritteln aus eigenen Einkünften finanziert.

Unser Gastgeber Herr Chuen stellte uns in den eindrucksvollen Räumen das Programm dieser hochmodernen Organisation vor. Sie ist in drei Hauptabteilungen gegliedert:

- Verwaltung
- Information, Aufklärung und Motivation
- Klinischer Dienst

Erstaunlich sind der Einfallsreichtum und die Vielfalt der Aufklärungskampagnen, die immer neue Zielgruppen, angefangen von Schülern bis hin zu vietnamesischen Bootsflüchtlingen, ansprechen. Bezeichnend für den Innovations- und Kooperationswillen waren zwei praktische Workshops für Sexualerzieher, die kurz vor und nach dem Kongreß mit großem Erfolg von amerikanischen Teilnehmern durchgeführt wurden. Ein weiteres Tätigkeitsfeld sind Umfragen und andere Forschungsprojekte wie etwa eine umfangreiche Erhebung zur Jugendsexualität. Die Adresse:

Herrn
Cheuk Wing Chuen
The Family Planning Association in Hong Kong
10/F. Southorn Centre, Hennessy Road
Wanchai, Hong Kong

5. Wissenschaftliche Ergebnisse

In ihrer Gesamtheit machten die Beiträge deutlich:

1. Sexualforschung, Sexualerziehung und Sexualtherapie sind für Asien zunehmend wichtig und finden auch mehr und mehr offizielle Anerkennung und Förderung.

2. Auch in den asiatischen Kulturen mischen sich sexuell freizügige, und repressive Traditionen, die ihrerseits zunehmend widersprüchlichen oder ambivalenten westlichen Einflüssen unterliegen, so daß eine sinnvolle Adaption für viele Asiaten sehr schwierig ist.

3. Der sexuelle "Modernisierungsprozeß" bietet u. a. für die AIDS-Prävention sowohl Chancen wie Gefahren.

Diese Ergebnisse seien an drei Beiträgen illustriert, die sehr starkes Interesse fanden:

Der Demograph Peter Xenos vom East-West Population Institute in Honolulu wies auf zwei starke Tendenzen hin, die im heutigen Asien zu beobachten sind:

- Das traditionell niedrige Heiratsalter steigt immer mehr, so daß der Zeitraum zwischen Geschlechtsreife und Eheschließung immer größer wird.

- Der prozentuale Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung nimmt immer mehr zu.

Zusammen bedeuten diese Tendenzen, daß die traditionellen sozialen Mechanismen zur Kontrolle der vorehelichen Sexualität immer weniger greifen können und daß daher eine wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit sexuellen Problemen unausweichlich wird.

Xenos stellte die verschiedenen Stadien und Formen dieser Auseinandersetzung an Beispielen aus den Philippinen, Hong Kong, Thailand, Taiwan und Singapur dar. Es wurde erkennbar, daß der Kongreß selbst nur das "natürliche" Ergebnis dieser verschiedenen, bisher nur dumpf erahnten Probleme war und daß er sich in einem brisanten demographischen Kontext bewegte.

Für die Teilnehmer bedeutete der Beitrag von Xenos eine Bestätigung und einen Ansporn, auf dem eingeschlagenen Wege umso energischer fortzufahren.

Der Sexualforscher Liu aus Shanghai stellte erste Ergebnisse seiner im Vorjahr begonnenen großen Sexualumfrage in China vor. Er und über 500 Mitarbeiter hatten in 15 Regionen Chinas etwa 25.000 Fragebögen ausfüllen lassen.

Die ersten Befunde ergaben, daß die Pubertät heute in China etwa ein Jahr früher eintritt als noch vor 50 Jahren. (Das gesetzlich vorgeschriebene Mindestheiratsalter liegt aber mit 20 Jahren für Frauen und 22 Jahren für Männer erheblich höher als früher.) Es kann daher kaum verwundern, daß 18 % der Eheleute vorehelichen Verkehr mit anderen Partnern zugaben und daß 86 % aller Befragten solche vorehelichen Erfahrungen billigen. Auch außereheliche Erfahrungen werden von 69 % der Befragten gebilligt.

Interessant ist auch die Tatsache, daß Landbewohner im Durchschnitt 25 % mehr Sexualverkehr haben als Stadtbewohner. Allerdings ist für viele Frauen (etwa 40 %) der Sexualverkehr unangenehm oder schmerzhaft. Offensichtlich kommen die gegenseitige verbale Verständigung und die körperliche Zärtlichkeit in vielen chinesischen Ehen zu kurz.

Die Professoren Wen und Yen gaben in zwei Beiträgen einen Überblick über sexuelle Störungen und Sexualerziehung in Taiwan.

Prof. Wen zeigte die Wurzeln vieler sexueller Funktionsstörungen im populären chinesischen Aberglauben auf, der etwa bei Männern zu "Masturbationsangst" und "Genitalienverlustangst" führt. Zugrunde liegt die falsche Vorstellung, daß Samenverlust zu Schwäche führt und daß durch gewisse Umstände der Penis schrumpfen oder sich gar in die Bauchwand zurückstülpen könnte. (Diese leztere Vorstellung ist in ihrer psychotischen Form als "Koro" bekannt.) Bei Frauen überwiegen Ängste wegen verlorener Jungfernschaft und allgemeine sexuelle Angst. Prof. Wen versuchte, diesen Fehlvorstellungen durch einen Kulturvergleich zwischen chinesischen, indischen und westlichen religiösen und pseudowissenschaftlichen Ideen näherzukommen.

Prof. Yen gab einen Überblick über die taiwanesische Literatur zur Sexualerziehung, einschließlich wissenschaftlicher Studien. Er kam zu dem Schluß, daß ein großer Bedarf an Sexualerziehung besteht und daß sowohl Erzieher als auch die Gesellschaft allgemein sich verstärkt und wissenschaftlich fundiert dieser Aufgabe zuwenden sollten.

Abschließend sei noch anekdotisch angemerkt, daß in zwei Beiträgen aus Singapur über staatlich gefördert Sexualumfragen berichtet wurde. Der erste Beitrag beklagte, daß die Regierung nicht erlaubt hatte, nach homosexuellem Verhalten zu fragen. Die zweite Umfrage hatte dieses Verbot nicht erhalten, aber von sich aus auf die Fragen verzichtet, "da man ja ohnehin wisse, wie unwichtig sie seien". Diese beiden Bekenntnisse aus einem rigoros modernisierten asiatischen "Musterstaat" erhellten blitzartig die fragwürdige Situation der heutigen Sexualforschung in Asien.

6. Praktische Ergebnisse

Als praktische Ergebnisse des Kongresses sind festzuhalten:

1. Es wurde eine Asian Federation for Sexology (AFS) gegründet, die in zweijährigem Abstand Kongresse organisieren wird. Prof. Diamond (Honolulu) und ich selbst wurden zu wissenschaftlichen und organisatorischen Beratern dieser Föderation gewählt.

2. Meine Ausstellung "The Birth of Sexology 1908 - 1933" verbleibt zunächst in Hong Kong, um dann nach Japan, Taiwan und in die Volksrepublik China weitergeschickt zu werden.

3. Für weitere Nachforschungen über den letzten Schüler und Erben Hirschfelds Li Shiu Tong, der aus Hong Kong stammte, wurde ein dortiger Privatgelehrter, der Rev. Carl Smith, gewonnen.

4. Die Professoren Liu (Shanghai), Fan (Shanghai) und Ng (Hong Kong) wurden dafür gewonnen, ihre Beiträge für die Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung Bd. 3 zur Verfügung zu stellen.

5. Für den geplanten World Sex Report (Umfrage mit Hilfe populärer Magazine) konnten weitere Interessenten aus Taiwan, Hong Kong und Thailand gewonnen werden.

6. Die Beiträge des Kongresses sollen, von Prof. Ng herausgegeben, in einem Band Congress Proceedings publiziert werden, wahrscheinlich bei Oxford University Press.



Von links: Prof. Haeberle, Prof. Ng, Prof. Diamond


7. Ausblick

Der Kongreß erwies sich als weiterer Schritt auf dem Wege künftiger engerer Zusammenarbeit mit verschiedenen sexologischen Instituten und Organisationen in Asien.

Sowohl aus Thailand wie aus der VR China kamen Bitten um Unterstützung von Forschungsprojekten. Eine feste Einladung zum nächsten Kongreß in Shanghai 1992 wurde schon ausgesprochen. Vor allem aber besteht eine Chance, durch verschiedene Forschungs- und Fortbildungsprojekte enger mit der University of Hong Kong zusammenzuarbeiten, zu deren Vertretern nun gute Verbindungen geknüpft worden sind. Die Universität verfügt über ausgezeichnete Einrichtungen für kürzer oder länger verweilende wissenschaftliche Gäste. Diese Einrichtungen werden von vielen Wissenschaftlern aus aller Welt ständig in Anspruch genommen und tragen wesentlich zur akademischem Qualität und Weltoffenheit der Universität bei. An keiner deutschen Universität gibt es Vergleichbares.


Beim Kongreß-Abschluß-Diner, von links:
Prof. Haeberle, Prof. Liu, Prof. Diamond