Der verbotene Akt "Unzüchtige" Fotos von 1850 bis
1950
Erwin J. Haeberle
Ursprünglich erschienen in einer
illustrierten, textlich verstümmelten Fassung in: Das
Aktfoto: Ästhetik - Geschichte - Ideologie Hg. von M. Köhler und G. Barche C.J.
Bucher Verlag, München, 1985, S. 240-252
Entstehung der
Sexualwissenschaft Der Sammler Kinsey Herstellung und Vertrieb "unzüchtiger" Fotos Versuche gesetzlicher Eindämmung Exkurs: Der "Kampf gegen
Schmutz und Schund" in den USA Repressions-Thesen Zur internationalen
Rechtslage "Unzüchtige" Fotos aus
sexualwissenschaftlicher Sicht
Ausdrücke wie "obszön",
"pornographisch" und "unzüchtig", auf Kunstwerke und
Fotografien angewandt, sind notwendigerweise subjektiv und
vage. Sicher ist nur, daß sie einen Tadel ausdrücken und daß
dieser Tadel einer sexuell stimulierenden Wirkung gilt, die
der jeweilige Sprecher in ihnen wahrnimmt.
Oft wird der Begriff des
"Unzüchtigen" aber auch noch mit denen des "Abnormen" oder
"Widernatürlichen", der geschlechtlichen "Abirrung",
"Deviation" oder "Perversion" zusammengebracht, wobei dann
diese Ausdrücke besonders verwerfliche sexuelle Handlungen
oder deren Abbildung, das heißt sozusagen eine potenzierte
Unzüchtigkeit, bezeichnen sollen. Unausgesprochen steht
dahinter die Annahme eines "normalen" oder "natürlichen"
Sexualverhaltens, das man zwar auch nicht zur Schau stellen
oder betrachten soll, das aber prinzipiell sowohl für den
einzelnen wie für die Gesellschaft weniger gefährlich
ist.
So hat man vereinzelt sogar
gewisse "pornographische" Werke gerade deshalb für akzeptabel
erklärt, weil sie in einer "gesunden Drastik" implizit die
"krankhaften" Erscheinungen des Sexuallebens abwerten und an
den Rand abdrängen, wohin sie vermeintlich gehören.
Andererseits hat man aber auch das erotische Interesse an
"gesunder" Pornographie selbst als krankhaft bewertet - so
wäre dann die ganze vorige Unterscheidung eigentlich wieder
hinfällig.
Wer sich allerdings genauer mit
solchen Werturteilen beschäftigt, muß bald einsehen, daß sie
rational wohl nicht zu begründen sind. Ihre fortgesetzte
Tradierung beruht nicht auf wissenschaftlicher Einsicht oder
auch nur auf dem "gesunden Menschenverstand", sondern auf
teilweise sehr alten Vorurteilen, die für unsere
abendländische Kultur typisch sind und die man bei anderen
Völkern und zu anderen Zeiten so nicht findet.
Wie wenig wissenschaftlich etwa
die Ausdrücke "Aberration", "Deviation" und "Perversion" sind,
wird schon an ihrer Geschichte deutlich. Ursprünglich stammen
sie nämlich aus der Theologie und bezeichneten Ketzereien,
also Formen des falschen (d. h. nichtkatholischen) Glaubens.
Mit Sexualverhalten an sich hatten sie zunächst nichts zu tun.
Ein gewisser Zusammenhang besteht nur sekundär, soweit man
eben Ketzerei häufig mit "Sodomie" (d. h. "widernatürlicher
Unzucht") in Verbindung brachte. So waren auch die
Bezeichnungen "Ketzer" und "Sodomit" lange Zeit fast synonym.
Man glaubte an eine klare göttliche Ordnung der Welt, und
danach waren sexuelle Handlungen nur zum Zweck der
Fortpflanzung gestattet. So konnte denn auch der heilige
Thomas von Aquin, der größte Theologe des Mittelalters, die
gesamte Sexualethik in einer dreifachen Faustregel
zusammenfassen. Danach erlaubte Gott sexuelle Handlungen
nur
erstens mit dem richtigen
Partner (d. h. dem Ehepartner),
zweitens auf die richtige Weise
(d. h. durch Koitus);
drittens zum richtigen Zweck
(d. h. zur Fortpflanzung).
Idealerweise fielen diese
Bedingungen zusammen, wenn aber nicht, so waren die Handlungen
eben in verschiedenem Grad sündhaft, je nachdem, wieweit sie
sich von der dreifachen Norm entfernten. Geschlechtsverkehr
außerhalb der Ehe war so zum Beispiel immer sündhaft, aber
auch innerhalb der Ehe konnte er es sein, wenn er nicht koital
oder nur zum Zweck der Lustgewinnung erfolgte.
Das ganze System beruhte
offensichtlich auf kirchlichen Dogmen, und es ist sinnlos,
diese wissenschaftlich kritisieren zu wollen. Sie beriefen
sich ja letztlich nicht auf Verstandesgründe, sondern
ausdrücklich auf einen göttlichen Willen. Diese Sexualethik
mit all ihren Urteilen war Glaubenssache und die sexuelle
Perversion der Gottesordnung deshalb eine religiöse
Verfehlung.
Wäre es nun bei diesem
Sprachgebrauch geblieben, so gäbe es keinen Anlaß, ihn weiter
zu diskutieren. Leider aber griffen die ursprünglich
religiösen Begriffe im Lauf der Zeit über ihre eigentliche
Sphäre hinaus und fanden Eingang in die Wissenschaft. Dies war
die Folge wachsender Säkularisierung des Lebens. Hatten sich
einstmals "Seelenhirten" um das "Seelenheil" der Menschen
gesorgt, so unternahmen es nun "Seelenärzte", deren "seelische
Gesundheit" zu schützen. Ja, die christliche Seele verwandelte
sich in die antik-heidnische Psyche zurück: Nicht mehr der
Sündenfall Adams, die Kreuzigung Christi und seine
Auferstehung lieferten die Symbole des Seelenschicksals,
sondern griechische Mythen von Ödipus, Narziß, Eros und
Thanatos. An die Stelle von Gewissenserforschung und Beichte
trat die Psychoanalyse, die sexualethische Rolle der Religion
wurde an die Medizin delegiert, und die Perversionen
verwandelten sich von Sünden in Krankheiten.
Dieser historische Prozeß, den
man ebenso knapp wie treffend die "Medikalisierung der Sünden"
genannt hat, begann im Zeitalter der Aufklärung und kam dann
im 19. Jahrhundert zur vollen Reife. Ja, schließlich wurde
selbst die Idee der Erbsünde als erbliche "Degeneration"
psychiatrisch neugefaßt. Hier tat sich besonders der
französische Psychiater B. A. Morel mit seiner großen
Abhandlung über die "Degenerierung des Menschengeschlechts"
(1857) hervor. Aber auch seine späteren Kollegen Magnan und
Charcot, ja, fast alle europäischen und amerikanischen Ärzte
hielten bis in unser Jahrhundert an dieser Vorstellung
fest. Auch das alte Register der
Fleischessünden erschien bald in modischer Aufmachung als
Liste "sexueller Geisteskrankheiten".
Der Entwurf einer
Psychopathia sexualis, zunächst 1843 von Heinrich Kaan
und dann 1886 von Richard von Krafft-Ebing vorgelegt,
illustriert den ganzen Säkularisierungsprozeß vielleicht am
besten. Die verschiedenen schweren und leichten sexuellen
"Psychopathien" erwiesen sich einfach als sprachlich
neubekleidete alttestamentarische "Greuel" und christliche
Sünden. In der Tat - wenn man davon absieht, daß die
Psychiater den Fortpflanzungszweck der Sexualität nun
weitgehend ignorierten, so folgten sie doch immer noch den
beiden ersten Regeln des heiligen Thomas: Auch für sie waren
sexuelle Handlungen nur "richtig" (d.h. gesund) mit dem
richtigen Partner (d. h. nun eine etwa gleichaltrige
nichtverwandte Person des anderen Geschlechts) und auf die
richtige Weise (d. h. durch Koitus). Jede andere Form
sexuellen Ausdrucks war in dem Grad ungesund und "pervers",
wie sie von dieser doppelten Norm abwich. Was aber in der
mittelalterlichen Theologie noch eine in sich stimmige Regel
gewesen war, verlor durch Vernachlässigung des dritten Punktes
jeden vernünftigen Sinn. Gerade vom Zweck der Fortpflanzung
her war ja die "Richtigkeit" des Partners und der
Handlungsweise bestimmt gewesen. Fiel nun der Endzweck weg,
blieb von einer an und für sich logischen Glaubensnorm nur
eine unlogische Gesundheitsnorm übrig.
So ergaben sich denn logisch
die entsprechenden, fast endlosen psychiatrischen
Perversionskataloge mit ihren exotisch klingenden
Krankheitsnamen von Analismus über Fetischismus,
Gerontophilie, Homosexualität, Koprophilie und Pygmalionismus
bis zur Skopophilie, Urolagnie und Zoophilie. Bei all diesen
sexuellen Verhaltensweisen wurde entweder der richtige Partner
oder der richtige koitale Annäherungsweg verfehlt, und damit
waren sie allesamt zu mißbilligen. Auch Sigmund Freud forderte
noch das ideale Zusammentreffen von richtigem Partner
(Sexualobjekt) und richtiger koitaler Handlungsweise
(Sexualziel). Er sah deshalb auch keinen Grund, das Wort
"Perversion" als obsolet aufzugeben. Im Gegenteil, er füllte
es mit neuem, anscheinend völlig nichtreligiösem Leben.
Es konnte aber nur eine Frage
der Zeit sein, bis die Säkularisierung an ihr logisches Ziel
gelangte und die hier unbefragt übernommenen Wertvorstellungen
selbst einer rationalen Kritik unterzog. Dies geschah vor
allem durch eine neue "Sexualwissenschaft", die sich speziell
und interdisziplinär mit tierischem und menschlichem
Sexualverhalten befaßte. Die noch weitgehend unerforschte
Geschichte dieser Wissenschaft wirft ein faszinierendes Licht
auf die allmähliche Entgöttlichung des Eros in unserer Kultur.
Hier müssen ein paar vorläufige Stichworte genügen.
Als Begriff 1906 von dem
Berliner Dermatologen Iwan Bloch konzipiert, wurde die
Sexualwissenschaft besonders von deutschen und
österreichischen Ärzten weiterentwickelt, die nach Korrektiven
ihrer zeitgenössisch engen medizinischen Auffassungen suchten.
Sie fanden diese Korrektive vor allem in den
wissenschaftlichen Disziplinen Geschichte und Ethnologie und
lernten so, ihren Horizont sowohl zeitlich als auch räumlich
zu erweitern. Die neue Wissenschaft vereinte daher natur- und
kulturwissenschaftliche Arbeitsweisen und versuchte, alle
relevanten Erkenntnisse von einem Zentralstandpunkt aus zu
integrieren.
Ihre bedeutendsten Pioniere
waren neben Blech seine Berliner Kollegen Albert Moll, Magnus
Hirschfeld und Max Marcuse. Dank ihrer Arbeit erschien 1908 in
Berlin die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft,
wurden dort 1913 die erste "Gesellschaft für
Sexualwissenschaft" und 1919 das erste "Institut für
Sexualwissenschaft" gegründet. 1921 und 1926 organisierte man
in Berlin die ersten internationalen Kongresse zu diesem
Thema.
Die neuen historischen und
ethnologischen Einsichten besaßen in ihrer Häufung die
Tendenz, gängige psychiatrische Behauptungen zu relativieren
und die überlieferte Vorstellung eines einzig "richtigen"
Sexualverhaltens zu unterminieren. Schon Bloch rückte aufgrund
seiner klassischen Bildung notgedrungen vom
Degenerationsbegriff ab, und seine Nachfolger mußten
schließlich jede einzelne ihrer Grundannahmen
anzweifeln.
So wurden die Äußerungen der
Sexualwissenschaft immer sachlicher und bescheidener. Dabei
erwiesen sich natürlich einige Forscher als schneller und
konsequenter, aber es konnte kein Zweifel bestehen, daß auch
die anderen keine Wahl haben würden, als alle unbefragten
Voraussetzungen, alle noch so versteckten Dogmen der Kritik
auszusetzen.
Die ideologiekritische Klärung
wurde jedoch durch den heraufziehenden Faschismus aufgehalten.
Den Nationalsozialisten mit ihrem Rassenwahn war die
Sexualwissenschaft unerwünscht, zumal ihre Hauptvertreter
durchweg Juden waren. Fast alle Pioniere mußten aus
Deutschland fliehen und wurden weit ins Exil verstreut. Da man
ihre Bücher verbrannte, ihre Gesellschaften und Zeitschriften
verbot, verschwand ihre Leistung aus dem öffentlichen
Bewußtsein ihres Vaterlandes.
Kein Wunder deshalb, daß auch
nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft dort
niemand bewußt ihr Erbe antrat. Statt dessen erlebte die
Sexualwissenschaft zunächst eine Wiedergeburt in den USA, wo
man nun allerdings rein empirisch und methodisch absolut
voraussetzungslos verfuhr.
Im Sommer 1938 wurde Alfred C.
Kinsey, ein Zoologe an der Indiana University, gebeten,
eine Vorlesungsreihe über "Die Ehe" zu organisieren. Niemand
hätte in der Rolle weniger kontrovers erscheinen können als
dieser Spezialist für Gallwespen, der sein ganzes bisheriges
akademisches Leben damit verbracht hatte, Zehntausende dieser
kleinen Insekten zu sammeln, zu klassifizieren und in
Glaskästen aufzuspießen. Dennoch sollte die Universität und
später die Welt am Ende eine Überraschung erleben. Der
trockene Naturforscher nahm die ihm gestellte Aufgabe nämlich
genauso ernst wie seine gewohnte Gallwespenjagd und weigerte
sich, Meinungen oder Theorien aus zweiter Hand an seine
Studenten weiterzugeben. Was er in der Bibliothek an Literatur
zum Thema Ehe und Sexualität fand, enttäuschte ihn völlig,
denn alle medizinischen, psychiatrischen und
psychoanalytischen Schriften zum Beispiel, mit all ihren
weitgehenden Folgerungen, basierten auf relativ wenigen
Fallstudien. Kinsey aber wußte, daß man an wenigen Dutzend, ja
wenigen hundert Individuen noch nicht einmal etwas über
Insekten beweisen kann.
Die Selbstsicherheit, mit der
die "Experten" über die Sexualität des Menschen schrieben,
konnte ihm daher nur als voreilig erscheinen. Auch erlebte er
häufig, daß er in sämtlichen verfügbaren Büchern keine Antwort
auf die einfachsten Fragen seiner Studenten fand. Also machte
er sich wohl oder übel selbst an die Arbeit, die Tatsachen
festzustellen. Das Resultat waren, zehn und fünfzehn Jahre
später, die bekannten "Kinsey Reports" (1948 und 1953). Sie
beruhen auf persönlichen Interviews (keinen Fragebogen!) mit
Tausenden von Männern und Frauen jeden Alters, jeder Religion,
Rasse und Klasse, jedes Bildungsgrades und aus allen Teilen
der USA.
Vor einer ähnlichen Situation
wie damals Kinsey steht heute der Wissenschaftler, der sich
zur "obszönen Fotografie" äußern soll. Sicher, über
ausreichende Literatur zum Thema braucht er sich nicht zu
beklagen. Trotzdem bleibt die Frage nach der Anzahl der Fotos,
die den Autoren zu Gesicht kamen: War die Bildauswahl wirklich
groß und vielfältig genug, um als repräsentativ gelten zu
können? Weiter: Lassen sich aus nichtrepräsentativen
Beispielen dennoch allgemeingültige Schlüsse ziehen? Und
schließlich: Ist es überhaupt möglich, hier eine
repräsentative oder typische Auswahl zu treffen? Existiert
überhaupt eine auch historisch so erschöpfende Sammlung dieses
Materials, daß sie als sichere Basis für eine Auswahl dienen
könnte? Die Antwort auf diese letztere Frage heißt
wahrscheinlich "nein". Kinsey selbst gelang es zwar noch vor
seinem Tod, ein Sexualforschungsinstitut mit einer großen
Sammlung aufzubauen, und der fotografische Teil dieser
Sammlung gilt heute allgemein als konkurrenzlos vollständig,
aber auch dort klaffen trotz der heute etwa 70 000
Einzelstücke noch Lücken, von denen man nicht weiß, ob sie
"natürlich" oder "künstlich" sind. Mit anderen Worten:
Die Sammlung enthält aus fast
allen Epochen der Fotogeschichte Aufnahmen von fast allen
menschenmöglichen Sexualpraktiken, es läßt sich aber nicht
mehr feststellen, ob das Fehlende niemals produziert oder
einfach nicht gesammelt und aufbewahrt wurde. Solche Überlegungen klingen
vielleicht zugleich naiv und unnötig skrupulös, aber man kann
sie einfach nicht verdrängen, denn wir wissen ja andererseits,
wieviel unersetzliches Material zur Geschichte der Sexualität
tatsächlich verlorengegangen ist.
Der Aufbau der Sammlung ist
natürlich von Kinseys ursprünglicher sexualwissenschaftlicher
Absicht bestimmt. Dementsprechend ordnete er sie hauptsächlich
nach zwei Prinzipien: erstens der chronologischen Folge und
zweitens dem Bildinhalt. Die Fotos sind also einerseits nach
ihrem Entstehungsdatum und andererseits nach der Art des
dargestellten Sexualverhaltens eingeteilt. Bei dieser zweiten,
inhaltlichen Einteilung machte Kinsey sehr detaillierte
Unterschiede, und diese wissenschaftliche Voraussicht erlaubt
uns sozusagen auf einen Blick, die Stärken und Schwächen der
Sammlung einzuschätzen.
Es würde hier zu weit führen,
Kinseys akribische Klassifizierung im einzelnen vorzustellen.
Nur soviel sei erwähnt: Die verschiedenen Fächer reichen
alphabetisch von "Analverkehr (heterosexuell)" bis
"Zoophilie". Dabei sind größere Fächer wie etwa "Koitus"
wiederum in kleinere unterteilt, je nach Stellung und
Körperhaltung der Partner (Mann oder Frau oder beide liegend,
stehend, kniend usw.). Erotische Aktfotos sind ebenfalls in
verschiedene Unterfächer gegliedert, je nach dem Grad der
Entblößung und der fotografischen Betonung bestimmter
Körperteile. Bei männlichen Akten trennt die Sammlung außerdem
solche mit sichtbarer Erektion von den anderen; bei
Gruppenbildern wird nach der Anzahl und dem Geschlecht der
Teilnehmer unterschieden (eine Frau zwei Männer, eine Frau -
drei Männer ... oder ein
Mann - zwei Frauen, zwei Männer - drei Frauen usw.). Außerdem
enthält die Sammlung auch fetischistisches Material, bei dem
der nackte Körper oft keinerlei Rolle spielt, sowie
transvestitische Fotos, die natürlich das gerade Gegenteil von
Aktfotos sind. In all diesen (und sämtlichen anderen)
Kategorien besitzt die Sammlung Hunderte, oft Tausende,
zumindest aber Dutzende von fotografischen Belegen aus jedem
Jahrzehnt von 1850 bis heute.
Die größten Lücken klaffen
natürlich in der Frühzeit (bis ca. 1875), und gerade diese
werden sogar immer größer: So sind vom Originalsatz der
Daguerreotypien des Instituts, der ursprünglich rund 140
Stücke umfaßte, im Lauf der Zeit über hundert "verschwunden",
ohne daß bekannt ist, was auf ihnen abgebildet war.
Die Ursprungsländer der Fotos
sind, soweit sich das noch feststellen läßt, vor allem
Frankreich, England, Portugal und die USA. Daß Deutschland,
Österreich, Italien, Spanien und andere europäische Länder
hier weitgehend fehlen, bedeutet selbstverständlich nicht, daß
es dort keine entsprechende Fotoproduktion gab. Es ist eher
ein Hinweis darauf, daß selbst die große Kinsey-Sammlung immer
noch nicht groß genug ist, und daß sie keine erschöpfenden
oder allgemeingültigen Feststellungen erlaubt.
Es sei nochmals betont, daß die
Fotos von Kinsey aus sexualwissenschaftlichem, nicht
ästhetischem, fototechnischem, juristischem oder gar
psychiatrischem Interesse gesammelt wurden. Für ihn waren
zunächst einmal alle Arten des Sexualverhaltens
"gleichberechtigt". Er lehnte deshalb nichtobjektive, wertende
Ausdrücke wie "Perversion", "Abirrung" oder "Deviation"
grundsätzlich ab und enthielt sich jedes Urteils darüber, ob
ein Verhalten häufig oder selten, moralisch oder unmoralisch,
erlaubt oder verboten, gesund oder krank sein sollte. Ihm ging
es vor allem um eine möglichst lückenlose
Dokumentation.
Seine penible Registrierung
auch feinster Detailunterschiede bei sexuellem Verhalten, die
an den kalten Blick des Insektenforschers erinnert, mag auf
den Laien zunächst befremdlich oder lächerlich, ja absurd
wirken, nur diese neutrale Registrierung aber machte am Ende
das wissenschaftliche Resultat möglich und glaubhaft - daß
nämlich vom 19. Jahrhundert bis heute alle denkbaren
menschlichen sexuellen Handlungen mit Fotos dokumentierbar
sind.
Dies erste Ergebnis ist recht
bescheiden, aber es kann zur Grundlage weiterer Forschungen
dienen und schließlich vielleicht doch zu ganz neuen
Einsichten führen oder wenigstens gewisse traditionelle
Vorurteile korrigieren. Es beweist jedenfalls unter anderem
auch, daß die erheblichen gesetzlichen Beschränkungen der
Vergangenheit weder die Produktion noch den Konsum
"unzüchtiger" Fotos verhindern konnten. Und hier ist nicht von
einfachen Aktfotos die Rede. In den allermeisten Fällen
handelt es sich in der Sammlung ja nicht um Bilder, für die
man einen "Kunstvorbehalt" hätte machen können. Im Gegenteil,
sie waren eindeutig "unzüchtig" nach jeder juristischen
Definition jedes Landes. Die "pornographische" Absicht war und
ist unverkennbar.
Da ja alle sexuell expliziten
Bilder verboten waren und daher nur im Untergrund
zirkulierten, gab es kaum einen Grund, sich auf das zu
beschränken, was die Geschlechtsverkehrspolizei als "normal"
ansehen mochte. Auch das wäre ja auf jeden Fall beschlagnahmt
worden. Anderseits aber hat die drohende Beschlagnahme wohl
stets die technische und ästhetische Qualität der Fotos
beeinträchtigt, da sich im allgemeinen nur "unseriöse"
Außenseiter und kleine, billige, aber geldgierige Firmen auf
die Vertriebsprobleme einließen. Selbst regelrechte
Versandhäuser brauchten keine Qualitätskonkurrenz zu
befürchten, denn die großen fotografischen Könner vermieden
den wahrscheinlichen Ärger und fertigten "Unzüchtiges"
höchstens für den Eigenbedarf.
Andererseits wird aber auch
klar, daß sich die Absicht des Fotografen nicht automatisch im
Betrachter erfüllt. Gerade die Vielfalt der Fotos und deren
jeweilige "Aura" lassen uns erkennen, wie individuell und
verschieden, konditionierbar, kultur- und zeitbedingt, ja
fragil die sexuelle Erregbarkeit des Menschen ist. So liefert
uns die Sammlung am Ende eine doppelte Erkenntnis: Einerseits
illustriert sie über einen Zeitraum von mehr als einem
Jahrhundert ein unverändertes Interesse an allen Formen der
"Fotopornographie", andererseits aber zeigt sie auch von
Anfang an die Spezialisierung innerhalb dieses Interesses. Und
noch ein Drittes: Im wachsenden historischen Abstand verlieren
die Fotos fast alle ihre intendierte Wirkung, gleichgültig, ob
sie zunächst auf einen größeren oder kleineren Kundenkreis
berechnet waren.
Es ist wichtig, die
wahrscheinlich sehr ausgedehnte frühe Privatproduktion im
Gedächtnis zu behalten, wenn man die Herstellung und den
Vertrieb der "Pornofotografie" diskutiert. Privat und zum
Eigenbedarf hergestellte Fotos erschienen in der Regel
natürlich nicht im Handel, konnten weder von Außenstehenden
gesammelt, noch von Behörden beschlagnahmt werden und sind
deshalb wohl meistenteils verloren. Möglicherweise waren sie
aber viel lebendiger, realistischer und auch kulturhistorisch
interessanter als das, was erhalten ist. Sie können in ihrer
Idiosynkrasie und Spezifität gerade besonders bezeichnend für
ihre Zeit gewesen sein.
Unter den Umständen ist es
erstaunlich, daß es heute überhaupt noch "unzüchtige"
Daguerreotypien gibt. Der von Louis Daguerre 1832 erfundene
Abbildungsprozeß lieferte keine Negative und verlangte lange
Belichtungszeiten für speziell präparierte Kupferplatten.
Jedes Bild war daher ein nicht reproduzierbares Original, das
leicht beschädigt oder zerstört werden konnte. Dennoch sind
schon aus den vierziger Jahren zum Beispiel Aktfotos des
Engländers J. T. White aus dem Milieu der Kinderprostitution
und -pornographie erhalten, und die Daguerreotypien des Kinsey
Instituts gehen, wie gesagt, mindestens bis 1850
zurück.
Nach Erfindung der nassen
Kollodiumverfahrens war dann erstmals eine profitable
Vervielfältigung vom Negativ möglich, was sofort zu einem
regelrechten Versandhandel mit "unzüchtigen" Aufnahmen führte.
Wie schon erwähnt, war die ästhetische und technische Qualität
dieser Fotos im allgemeinen schlecht. Trotzdem entwickelte
sich die Nachfrage geradezu stürmisch, denn, wie eine
zeitgenössische Quelle berichtet, wurde 1874 in London von der
Polizei das Versandlager eines gewissen Henry Hayler
ausgehoben, welches fünftausend "unzüchtige" Negativplatten
enthielt sowie sage und schreibe 130248 entsprechende
Abzüge.
Gegen Ende des 19.Jahrhunderts
waren Herstellung und Handel der "Pornofotografie" weltweit
organisiert. Es gab große Produktionszentren in Frankreich,
Spanien (besonders in Barcelona und Madrid) und Portugal
(besonders in der Hafenstadt Porto, wo "unzüchtige" Fotos
sogar in Schaufenstern angeboten wurden). Die umfangreiche
italienische Produktion ging meist nach Nordafrika und in den
Nahen Osten, aber auch nach Nordeuropa. Südamerika und Ägypten
importierten nicht nur, sondern produzierten auch selbst. In
Kairo existierte zum Beispiel eine Exportfirma mit dem
unarabischen Namen Lehnert & Landrock. Selbst im
russischen Wladiwostok fanden sich Hersteller, besonders
Chinesen, die vor allem den japanischen Markt belieferten - sie
beschäftigten aber keine Chinesinnen als Modelle.
Um 1900 schließlich hatten sich
drei bedeutende Herstellungszentren herauskristallisiert:
Paris, Wien und Budapest. Für Paris sind die Namen zweier
Großproduzenten bekannt: Kahn und Briffaut. Dem letzteren
wurde 1924 auf polizeiliche Verordnung das Geschäft
geschlossen. Dabei sollen 6000 Platten und so viele Fotos
beschlagnahmt worden sein, daß man sie mit Lastwagen
abtransportieren mußte. Ein Budapester Hersteller soll vor
einer drohenden Razzia 3000 Platten selbst vernichtet
haben.
Diese wenigen Hinweise mögen
genügen, um deutlich zu machen, daß es fast überall eine
erhebliche Nachfrage nach den verbotenen Produkten gab. Die
Fotografie ermöglichte eben eine Demokratisierung und
Popularisierung erotischer Darstellungen, die im Zeitalter der
Zeichnungen, Aquarelle und Kupferstiche noch nicht denkbar
gewesen war. Mit einer Kamera und willigen Modellen konnte nun
aber theoretisch jeder auch das Gewagteste möglich machen, und
praktisch nahmen viele diese neue Gelegenheit wahr. Aber auch
die unschöpferischen, passiven Konsumenten profitierten, denn
die Preise für "unzüchtige" Fotos waren relativ
niedrig.
Gerade dieser niedrige Preis
stachelte die Verfolgungsbehörden zu besonderem Eifer an, denn
er bedeutete, daß auch finanziell schwache Jugendliche als
Käufer in Frage kamen. Anderseits war die Obrigkeit aber
ohnehin um das sexuelle Seelenheil der ärmeren Untertanen
besonders besorgt, wie die juristischen Diskussionen jener
Zeit erkennen lassen. Letztlich waren es die gewöhnlichen, das
heißt "ordinären" und plebejischen Züge der "Pornographie", ja
ihr Volkskunstcharakter, der die Sittenwächter besonders
verstörte.
Wie kam nun der Kunde an die
begehrte Ware? Der erste Schritt war gewöhnlich eine Anfrage
auf ein halbverschlüsseltes oder sogar recht deutliches
Zeitungs- oder Zeitschrifteninserat. Diese brachte dann eine
Serie relativ harmloser "Kunstpostkarten" ins Haus, denen aber
eindeutige Angebote, Kataloge oder Probefotos beilagen. Manche
Versandhäuser verschickten auch Musterkarten, sogenannte
"cartes références", die zehn bis zwölf verkleinerte
Abbildungen der bestellbaren "scharfen Sachen" im
Briefmarkenformat darboten. Danach konnte man sich das
Passende aussuchen, und es wurde dann gegen Vorauszahlung in
regulärer Postkartengröße geliefert. Neben den Produzenten und
Grossisten gab es aber auch kleinere, manchmal selbständig
produzierende Einzelhändler, die begrenzt postalisch oder
unter dem Ladentisch verkauften, und schließlich waren da noch
die ganz kleinen Straßenhändler, die in gewissen Vierteln, an
Straßenecken und auf Bahnhöfen ihre Kartenpackungen unter dem
Mantel hervorzogen.
Bei dieser Art des Handels
wurden oft "doublierte" Fotos (von anderen kopierte) verkauft.
Wegen des allgemeinen Verbots auch der Originale mußten die
großen Produktionsfirmen solche Bildpiraterie jedoch wohl oder
übel hinnehmen. Die Bildpiraterie besaß indes noch einen
weiteren interessanten Aspekt: Manche "Klassiker" wurden über
dreißig, mitunter sogar fünfzig Jahre lang immer wieder
kopiert. So war beispielsweise noch 1970 ein Fotosatz vom
Verkehr einer Frau mit einem Zirkuspferd im amerikanischen
Handel, der nachweislich um 1930 aufgenommen worden war. Das
Beispiel zeigt, daß gewisse "unzüchtige" Themen offenbar so
entlegen sind, daß sich bei dem kleinen möglichen Kundenkreis
eine ständige Neuherstellung nicht lohnt. Im allgemeinen darf
man aber sagen, daß die Wirksamkeit eines "Pornofotos"
zeitlich begrenzt ist, da die jeweiligen historischen
Eigentümlichkeiten im Bild sehr bald als erotisch störend
empfunden wurden.
War das Foto bis zum Ersten
Weltkrieg die praktisch einzige und alleinige Vertriebsform
"unzüchtiger" Bilder, erhielt es danach zunehmende Konkurrenz
durch ein noch moderneres Medium - den sexuell expliziten
Film. Die Geschichte dieser "stagFilme" ist ein
faszinierendes Kapitel für sich. Hier muß der Hinweis genügen,
daß er dem Postkartensatz nach einer längeren Zeit des
Kopf-an-Kopf-Rennens in der Gunst des Publikums schließlich
den Rang völlig ablief, so daß heute, im Zeitalter der
Videokassetten, die alte einfache Fotopornographie von nur
noch historischem Interesse ist.
Besonders stürmisch verlief das
Wachstum der "stag-Film"-Produktion und mit ihr das der
"Pornoindustrie" insgesamt seit dem Zweiten Weltkrieg. Als
dann vor allem in den USA einschlägige Läden und Filmtheater
immer offener in Erscheinung traten und weite Teile der
Öffentlichkeit verstärkten Anstoß daran nahmen, entschloß sich
Präsident Lyndon B. Johnson 1967, die verschiedenen
technischen, kommerziellen und juristischen Entwicklungen seit
dem Krieg durch eine besondere Kommission des Kongresses
prüfen zu lassen. Ihr drei Jahre später vorgelegter Bericht
lieferte das bisher klarste Bild vom Umfang und Vertrieb der
Bild-"Pornographie" in wenigstens einem großen Land.
Die Kommission fand, daß
unzweifelhaft "pornographisches", sogenanntes
"hardcore"-Material, in drei Hauptformen vorkam - als
Film, als Foto und gedruckt in Fotomagazinen.
Es war auch für die Kommission
schwer herauszufinden, wie ausgedehnt der Handel damit war,
weil er sich als weniger monolithisch erwies, als man
ursprünglich wohl angenommen hatte. Immerhin ließen die
Untersuchungen am Ende einige realistische Schätzungen
zu.
Danach existierten etwa hundert
"Porno"Verlage oder -Produzenten, von denen zwanzig bis
dreißig eine überregionale Bedeutung zukam. Viele Verlage
organisierten ihren eigenen Vertrieb, aber es gab in
Großstädten auch etwa sechzig regionale Grossisten. Die Zahl
der Einzelhändler, die Material "nur für Erwachsene"
verkauften, lag bei etwa 850, und 1400 weitere Läden nahmen
solches Material in ihr übriges "harmloses" Angebot mit auf.
Einige hundert Einzelpersonen und Firmen waren im
Versandhandel tätig, aber davon besaßen weniger als zwanzig
wirklichen Einfluß. Neunzig Prozent des Materials orientierte
sich heterosexuell, etwa zehn Prozent wandten sich an
homosexuelle Interessenten. Selbst die "Giganten" dieser
Industrie - weniger als zehn - waren nicht beeindruckend groß;
der zu versteuernde Profit des Branchenleaders wurde auf
weniger als 200000 Dollar jährlich geschätzt.
Der typische Kunde in
"Pornoläden" oder "Pornokinos" war männlichen Geschlechts,
weiß, mittleren Alters, verheiratet, gut gekleidet, allein und
gehörte der Mittelschicht an. Außerdem fand man heraus, daß
etwa fünfundachtzig Prozent der Männer und siebzig der Frauen
solches Material wenigstens einmal im Leben freiwillig zu
Gesicht bekommen hatten. Beschränkte man den Zeitraum auf die
unmittelbar vorausgegangenen zwei Jahre, so waren es immer
noch vierzig der Männer und sechsundzwanzig Prozent der
Frauen.
Was nun unser eigentliches
Thema, den Handel mit "unzüchtigen" Fotos angeht, so stellte
die Kommission eine anscheinend unabänderliche Abnahme fest.
Erstens waren Fotos leicht zu kopieren. Zweitens machten die
neuen, selbstentwickelnden Kameras es ihren Besitzern leichter
als je, ihre eigenen Bilder aufzunehmen. Drittens wurden nun
andere, bessere Erotika angeboten, und viertens garantierten
auch die neuen, besonders aus Skandinavien importierten
"Porno"-Magazine eine bessere Bildqualität. Es blieben also
eigentlich nur zwei Medien von wirklicher kommerzieller
Bedeutung übrig: Filme und Magazine.
Da inzwischen noch die
TV-Kabelstationen und die Videokassetten hinzugekommen sind,
hat sich die Situation seit 1970 schon wieder entscheidend
verändert. Wenn auch deutlich spürbar, sind die neuesten
Entwicklungen aber noch nicht genügend erforscht und
dokumentiert, um hier definitiv gewürdigt werden zu können.
Das gilt auch für die "Porno"-Magazine jüngster Machart, die
im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre zunehmende Konkurrenz
von seiten "regulärer" Zeitschriften bekommen haben und in den
USA vielerorts schon offen verkauft werden dürfen.
In Europa gar hat sich, nach
der dänischen und schwedischen Freigabe der "Pornographie",
eine allgemeine Liberalisierungswelle bemerkbar gemacht, die -
wenn heute auch verlangsamt immer noch weiterrollt. Kurz,
obgleich eine genaue Analyse der gegenwärtigen Situation noch
aussteht, kann festgestellt werden, daß die Bedeutung des
"unzüchtigen" Fotos weiter gesunken ist - eine Tendenz, die
sich in der nächsten Zukunft noch beschleunigen dürfte, wenn
nicht alle diesbezüglichen Zeichen täuschen.
Die bildliche Darstellung von
nackten Menschen, Geschlechtsorganen und sexuellen Handlungen
ist seit frühesten Zeiten bei fast allen Völkern nachgewiesen.
Oft besaßen sie allgemein religiöse oder speziell kultische
Bedeutung, aber auch weltlich-volkstümliche oder scherzhafte
"Unzüchtigkeit" finden sich häufig. Die Zensur solcher Werke
ist dagegen in der Menschheitsgeschichte relativ neu, es gibt
sie praktisch erst seit Beginn des vorigen Jahrhunderts, auch
wenn sich die Ursprünge noch einige Jahrzehnte weiter
zurückverfolgen lassen.
Ausgangspunkt dieser
Entwicklung waren die Staaten Zentraleuropas. Den Anlaß, sich
um die sittliche Gefährdung ihrer Bürger Sorgen zu machen,
gaben den europäischen Regierungen zunächst Bücher, und zwar
zu jenem Zeitpunkt, als sich die Lesefähigkeit und die Lust am
Lesen auch in den mittleren und unteren Schichten verbreitete.
Der früheste Fall, in dem eine Verurteilung wegen Publikation
eines "unzüchtigen" Romans ausgesprochen wurde, ist uns aus
dem Jahr 1727 überliefert. Doch dieser vor einem Londoner
Gericht verhandelte Fall ist noch nicht ganz eindeutig, denn
das "Venus in the Cloister" betitelte Werk, das den Stein ins
Rollen gebracht hatte, trug auch antireligiöse Züge, die ja
schon seit sehr viel längerer Zeit verfolgt wurden.
Jedenfalls zirkulierten
"unzüchtige" Schriften noch ziemlich frei in ganz England bis
ins 19. Jahrhundert hinein. Erst 1824 wurde ein Gesetz gegen
die öffentliche Zurschaustellung "obszöner" Bücher und Bilder
erlassen, dem 1853 eins gegen die Einfuhr von "obszönem"
Material folgte -wohl um den Handel mit "unzüchtigen" Fotos
französischer Herkunft zu unterbinden. Und dann dauerte es
noch einmal vier Jahre, bis ein Gesetz jeglichen Vertrieb von
"obszönern" Material verbot, ohne indes genau zu definieren,
was unter diesem Begriff zu verstehen sei.
Die erste juristische
Definition wurde erst mehr als zehn Jahre später
nachgeliefert, als "Der demaskierte Beichtstuhl", ein
antikatholisches Pamphlet militanter Protestanten, zur
Diskussion stand. In ihrer Urteilsbegründung führten die
Richter folgendes aus: "Der Test der Obszönität liegt
darin, ob die beanstandete Sache die Tendenz hat, diejenigen
zu verderben und zu korrumpieren, deren Geist solchen
unmoralischen Einflüssen offensteht und in deren Hände eine
solche Publikation fallen könnte."
(Queen vs. Hicklin,
1868)
Damit war ein Prinzip
aufgestellt, das in der angelsächsischen Rechtsprechung noch
lange gültig bleiben sollte und das auch Parallelen in anderen
europäischen Rechtssystemen fand: Schutz der geistig Schwachen
und moralisch Labilen vor Sittenverderbnis. Dementsprechend
wurden im Endeffekt vor allem Kinder und Jugendliche, das
gesamte weibliche Geschlecht und die Arbeiterklasse als dieses
Schutzes bedürftig erklärt.
Es versteht sich natürlich von
selbst, daß die Richter, Staatsanwälte, Büttel, Geschworenen,
Polizisten und Zensoren sich immer zutrauten, auch die gröbste
Unzüchtigkeit ohne böse Folgen für ihre eigene Moral in
Augenschein zu nehmen. Da sie ja geistig stark und moralisch
gefestigt waren, stellte das Material für sie keine Gefährdung
dar. Im Gegenteil, je mehr sie davon zu Gesicht bekamen, um so
klarer wurde ihre sittliche Erhabenheit. Das läßt sich sehr
gut am Beispiel der amerikanischen Zensur illustrieren.
Die neuenglischen Kolonien
kannten zunächst keine Zensur gedruckter "Unzüchtigkeiten",
wohl hauptsächlich, weil es entsprechende Werke dort kaum gab.
Erst 1711 verabschiedete die Kolonie Massachusetts ein
Zensurgesetz gegen "schmutzige und obszöne" Bilder und
Schriften, doch während der ganzen Kolonialzeit Neuenglands
gab es keinen Prozeß, der sich auf dieses Gesetz gestützt
hätte, die erste Verurteilung wegen Zurschaustellung eines
"unmoralischen Bildes" datiert von 1815.
Ähnlich wie in England häuften
sich die Prozesse dann aber erst um 1870. Und wie in England
war dies ein Ergebnis großangelegter Kampagnen, die von
organisierten "Unzucht-Jägern" geführt wurden, gutsituierten
Bürgern zumeist, denen der Kampf für die "Unterdrückung des
Lasters" Anlaß zur Entfaltung von geradezu missionarischem
Eifer bot.
Zum Inbegriff dieser
"Unzucht-Jäger" avancierte in den USA ein Mann namens Anthony
Comstock. Auf sein Betreiben verabschiedete der Kongreß 1873
das sogenannte Comstock-Gesetz, das die postalische Versendung
von "obszönem Material" unter Strafe stellte. Unter dieses
Gesetz fiel auch jedwede Information über Empfängnisverhütung,
gleichgültig, ob gedruckt oder handgeschrieben. Comstock
selbst wurde zum Sonderbeauftragten der Post ernannt und
begann darauf als alleiniger, unumschränkter oberster Zensor
der gesamten Vereinigten Staaten ein persönliches
Schreckensregiment von über vierzig Jahren. Unter seinen
Opfern waren aber nicht nur Händler und Kunden von Fotos und
Büchern, sondern auch viele Ärzte und Krankenschwestern, denen
er mit gefälschten Briefen und unter Vorspiegelung
dramatischer Notfälle Ratschläge zur Empfängnisverhütung
entlockte. Comstocks ganzer Stolz war es dann, diese Ärzte ins
Gefängnis zu bringen und beruflich zu
ruinieren.
Diese fast unglaubliche
Tyrannei eines einzelnen, die allen politischen
Freiheitsprinzipien Amerikas ins Gesicht zu schlagen scheint,
ist nur erklärbar vor dem Hintergrund des puritanischen Erbes,
das bis heute in weiten und einflußreichen religiösen Kreisen
nachwirkt. Diese Kreise lieferten und liefern denn auch die
politische Unterstützung aller Zensurbestrebungen.
Demgegenüber konnte sich die rationalistisch-aufklärerische
Tradition der amerikanischen Revolution immer nur schwer
behaupten.
Das Comstock-Gesetz ist im
wesentlichen heute noch in Kraft, wenn nun auch die
Information über Empfängnisverhütung nicht mehr unterdrückt
wird. Die einzelnen amerikanischen Bundesstaaten haben seither
außerdem ihre eigenen Comstock-Gesetze verabschiedet, und 1957
stellte der US Oberste Gerichtshof sogar ausdrücklich fest,
daß "Obszönität" nicht unter die verfassungsmäßig garantierte
Redefreiheit falle (Roth vs. U.S.). Andererseits fand
der Gerichtshof 1969 auch, daß die Verfassung dem Bürger das
Recht gebe, "obszönes Material" privat zu besitzen (Stanley
vs. Georgia).
In diese Zeit fällt auch die
Arbeit der oben erwähnten Obszönitäts-Kommission des
Kongresses, die dann 1970 ihren Bericht mit der Empfehlung
abschloß, die Herstellung und den Vertrieb von "obszönem"
Material unter willigen Erwachsenen freizugeben. Dieses
Arbeitsergebnis fand aber weder bei dem damaligen Präsidenten
Nixon noch beim Kongreß selber Beifall, wurde ohne weitere
Prüfung kurzerhand abgelehnt und danach ignoriert. Ja, die
entsprechenden Gesetze wurden teilweise noch verschärft, und
1973 entschied der Oberste Gerichtshof, daß die einzelnen
Bundesstaaten in einem gewissen Rahmen ihre eigenen
Bestimmungen der "Obszönität" entwickeln können (Miller vs.
California).
In diesem Rahmen gelten zur
Zeit folgende Bedingungen: Material ist dann "obszön", wenn
der Durchschnittsbürger, der heutige Normen seiner "Gemeinde"
anlegt, findet, es wende sich als Ganzes gesehen an "lüsterne"
Interessen, wenn eine Darstellung ein durch bundesstaatliches
Gesetz genau definiertes Sexualverhalten in offenbar
schamverletzender Weise abbildet und wenn das Werk keinerlei
ernsthaften literarischen, künstlerischen, politischen oder
wissenschaftlichen Wert besitzt. Alle drei Bedingungen müssen
jedoch zusammenkommen, wenn das Urteil "obszön" Rechtskraft
haben soll.
Das klingt nicht besonders
repressiv, hat aber tatsächlich doch dem Mißbrauch Tür und Tor
geöffnet. Vage Begriffe wie Durchschnittsmensch, Normen der
"Gemeinde", schamverletzend und ernsthafter Wert werden
leicht je nach Ort und Zeit verschieden ausgelegt. Das Wort
"lüstern", das nun gesetzlich genauer definiert ist, soll
übrigens ein "schändliches und morbides Interesse an
Nacktheit, Sex und Körperausscheidungen" bezeichnen.
Also wird heute gewöhnlich vor
Gericht ein und dasselbe sexuelle Interesse vom Ankläger als
"schändlich und morbide" und vom Verteidiger als "ehrbar und
gesund" bezeichnet.
Die ganze Situation ist
weiterhin äußerst verworren, besonders auch, weil nur
"Gemeinde"-Normen, nicht landesweite, nationale Normen
entscheidend sind. In der Praxis heißt dies nichts anderes,
als daß die Normen der engstirnigsten Landgemeinde erfolgreich
auf die ganze Nation ausgedehnt werden können. Da das
Comstock-Gesetz noch besteht, lassen sich unerkennbare
Polizeiprovokateure sexuell explizites Material mit der Post
in solche konservativen Gemeinden schicken und gehen dann dort
damit vor Gericht. Die Normen der örtlichen Geschworenen
entscheiden dann über die Obszönität, und der weit entfernte
großstädtische Händler oder Produzent wird verurteilt.
Eine weitere
Verfolgungsmöglichkeit eröffnet sich durch die amerikanischen
Verschwörungs-Gesetze, die es erlauben, jemanden wegen
"Verschwörung" zur Ausführung eines Verbrechens anzuklagen,
selbst wenn kaum Aussicht besteht, ihn des Verbrechens selbst
zu überführen. Das Verbrechen wird auch manchmal milder
bestraft als die "Verschwörung", es zu begehen.
All dies führt auch heute noch
in den Vereinigten Staaten zu grotesken Situationen.
Einerseits ist auch dort eine deutliche Liberalisierung
auszumachen, und "Pornoläden und -kinos" finden sich in fast
jeder größeren Stadt, andererseits aber gehen periodisch
örtliche Razzien und Verhaftungswellen wie eh und je weiter.
Eine weitere Komplikation liegt auch noch darin,
daß allein schon auf
Bundesebene vier verschiedene Agenturen mit der Überwachung
der "Obszönität" betraut sind - die Federal Communications
Commission, die Post, das FBI und das Zollamt. Hier
überschneiden sich teilweise die Kompetenzen, und so ist für
den Hersteller und Verbraucher von Erotika die Konfusion
komplett.
Der vorstehende historische
Rückblick für ein großes christlich-westliches Land mag zur
Illustration einiger allgemeingültiger Thesen dienen: Es
besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen der
Verfolgung von "Unzüchtigkeit" und religiösem Glauben,
besonders dem Puritanismus. Zunächst war es ein antireligiöses
Moment im "obszönen Material", das zu seiner Unterdrückung
führte. Nicht so sehr die Katholiken oder die anglikanische
Hochkirche wie die Puritaner fühlten sich durch "Obszönität"
an sich gestört. Nicht zufällig besaßen sie ja auch eine sehr
strenge Sexualgesetzgebung, die versuchte, eine besonders
enggefaßte sexuelle Norm durchzusetzen. Diese
Sexualgesetzgebung aber war das Primäre, die Zensur von
Obszönität war nur die sekundäre Folge davon. Ironischerweise
ist in Amerika heute vielerorts das Gegenteil eingetreten: Die
Sexualgesetzgebung erlaubt Handlungen, deren Abbildung nicht
verbreitet werden darf. Hier zeigt sich ein merkwürdiges
Beharrungsvermögen von Bilderverboten.
Es besteht auch ein
Zusammenhang zwischen der Verfolgung von "Unzüchtigkeit" und
wachsender Lesefähigkeit in der Bevölkerung. Je mehr Menschen,
besonders aus den unteren Schichten, lesen lernten, je mehr
Buchkonsumenten es also gab, um so mehr sorgten sich die
Oberschichten, das heißt die Gesetzgeber, Richter, Geistliche
und Regierungsbeamte, um deren moralisches Seelenheil. Die
Ausbreitung der Zensur verläuft parallel zum Wachstum des
Lesepublikums. Das gilt auch für die zunehmende Herstellung
und Verbreitung von "unzüchtigen" Bildern, deren leichtere
technische Reproduzierbarkeit eine immer weitergehende Zensur
mit einem entsprechenden Verfolgungsapparat auf den Plan rief.
Bemerkenswert ist auch, daß die Oberschichten niemals
fürchteten, selber durch den sortierenden Umgang mit dem
gefährlichen Material moralisch infiziert zu werden. So blieb
etwa Comstock durch all die Jahrzehnte seiner Obszönitätenjagd
für jeden sichtbar "seelisch sauber", wofür ja gerade seine
unermüdliche Suche nach "Schmutz" den schönsten Beweis
bot.
Schließlich ist noch
festzustellen, daß die Zensur anfangs nur gegen künstlerisch
und literarisch minderwertige oder zumindest fragwürdige Werke
gerichtet war, die zudem noch antireligiöse Elemente
enthielten. Die Verfolgung aller "unzüchtigen", auch
künstlerisch, literarisch oder wissenschaftlich bedeutender
Werke setzte erst ein, nachdem die ursprünglich anders
motivierten Anti-Obszönitätsgesetze schon eine Zeitlang in
Kraft gewesen waren.
Interessant ist auch Comstocks
erfolgreicher Versuch, die Unterdrückung von schriftlicher und
bildlicher "Obszönität" mit dem Kampf gegen die
Geburtenkontrolle zu verbinden. Hier wird ein
frauenfeindliches Moment der Zensur deutlich, das nicht nur
starre Sexualnormen für beide Geschlechter, sondern noch
zusätzlich eine enge weibliche Geschlechtsrolle gegen alle
modernen sozialen Strömungen durchsetzen will. Insofern waren
Frauen eben auch eine "Unterklasse", der man den Zugang zu
Mitteln der Selbstbestimmung glaubte versperren zu
müssen.
Diese Thesen werden auch durch
das europäische Beispiel erhärtet. Im Mittelalter, in
Reformation und Gegenreformation waren es geistliche Gerichte,
die sich mit Sachen der Moral befaßten und eine gewisse Zensur
ausübten. Dabei standen aber immer die Gotteslästerung und die
Ketzerei im Vordergrund. Als Ergebnis der Revolution in
Frankreich wurde dort 1791 mit den geistlichen Gerichten auch
die Zensur aufgehoben, und alles, auch die gröbste
"Unzüchtigkeit", konnte frei gedruckt werden.
Aber die Freiheit dauerte nicht
lange, und schon 1810 verbot der neue "Code pénal" jede
Ausstellung und Verbreitung von Material "gegen die guten
Sitten". Dieser napoleonische Kodex wurde auch für die
deutschen Staaten vorbildlich, und so führten beispielsweise
auch Sachsen (1838), Braunschweig (1840), Hessen (1841), Baden
(1845) und Preußen (1851) entsprechende Gesetze ein.
Frankreich selbst verschärfte im Lauf der Zeit seine
Gesetzgebung noch und verbot "jede Verletzung der öffentlichen
und religiösen Moral und der guten Sitten" sowie "unzüchtige"
Bücher und Bilder. Das oben geschilderte Beispiel der
Vereinigten Staaten lief also, trotz eines anderen
Rechtssystems, all diesen Entwicklungen parallel und erweist
sich damit als typisch.
Der damals in England
formulierte, bereits erwähnte Test für "Obszönität", das heißt
die moralische Gefährdung der geistig und sittlich Labilen
(Queen vs. Hicklin, 1868), wurde implizit auch in den
anderen europäischen Ländern angewandt. Man versuchte die
"guten Sitten", die "Sittlichkeit", die "Schamhaftigkeit" oder
das "Schamgefühl" zu schützen. Diese bewußt vagen
Formulierungen erlaubten bald eine engere, bald eine weitere
Auslegung und konnten auch dazu dienen, jede Information über
Empfängnisverhütung zu unterdrücken. Tatsächlich wurden dann
auch bis in unser Jahrhundert hinein in Europa Ärzte
verurteilt, die solche Information gegeben und damit gegen
"die guten Sitten" verstoßen hatten.
Im neu gegründeten Deutschen
Reich empfand die Regierung bald den Wunsch nach weiteren
Restriktionen. Bezeichnend dafür war die 1892 im Reichstag
vorgelegte Lex
Heinze. Benannt nach
einem mörderischen Zuhälter, der Heinze hieß, sollte dieses
Gesetz ursprünglich mit Zuhälterei und Prostitution aufräumen,
wurde dann aber zum möglichen Instrument einer literarischen
und künstlerischen Zensur umgebogen. Nach dem Entwurf sollte
selbst Material verboten werden, das, "ohne unzüchtig zu sein,
das Schamgefühl gröblich verletzt". Sofort meldeten sich viele
bedeutende Schriftsteller und Künstler, die diesen
"KautschukParagraphen" bekämpften und auch endlich zu Fall
brachten. Was dann schließlich Gesetz wurde, war wesentlich
milder formuliert und betraf vor allem den Schutz von
Jugendlichen.
Der besondere Schutz von
Jugendlichen vor sexuellen Schriften und Bildern, der noch im
Mittelalter niemandem eingefallen wäre und den man auch in der
frühen Neuzeit nicht erforderlich fand, läßt sich nur im
Zusammenhang mit der zunehmenden Infantilisierung des Kindes
und der folgenden Herausbildung einer eigenen
Adoleszenzperiode erklären. Diese Entwicklungen begannen erst
im 17. und 18. Jahrhundert und verstärkten sich danach immer
mehr. Hand in Hand damit ging eine "negative Sexualerziehung"
oder bestenfalls ein Schwund an sexueller Information.
Schon im 18.Jahrhundert
entdeckten Ärzte außerdem die angeblichen Gefahren der
Masturbation für die Gesundheit, und seither galten junge
Menschen prinzipiell für besonders bedroht. Sie sollten so
lange wie möglich "unschuldig" bleiben und weder
Empfängnisverhütung noch überhaupt Geschlechtsverkehr
praktizieren. Aber auch die Selbstbefriedigung galt als
verpönt, denn gerade ihr schrieb man die fürchterlichsten
Krankheiten zu. Noch 1927 lag dem Reichstag ein Gesetzentwurf
vor, der alles Material für Jugendliche verbieten sollte, das
"unzüchtig oder doch geeignet ist, das Geschlechtsgefühl der
Jugend zu überreizen oder irrezuleiten". Hier wirkte noch der
alte medizinische Aberglaube nach. Im Endeffekt stellten die
Jugendlichen daher, genau wie die Frauen, eine "Unterklasse"
dar, wenigstens was den Zugang zu Sexualinformationen
betraf.
Die mehrfach erwähnte
amerikanische Kongreß-Kommission von 1970 gab unter anderem
auch eine Übersicht über die internationale Rechtslage in
bezug auf "obszönes" Material. Zwar wurden hier zumeist nur
westliche Länder erfaßt, es erwies sich aber, daß sie fast
alles derartiges Material gesetzlich verfolgten. Die genaue
Definition von Obszönität war allerdings stets vage, und so
gab es auch vielerorts Liberalisierungstendenzen, die auf eine
Freigabe wenigstens für Erwachsene abzielten. Nur Dänemark hatte zu diesem
Zeitpunkt diesen Schritt getan (1967 Bilder, 1969
Schriften).Die
damals noch neuen Erfahrungen Dänemarks wurden bereits in dem
Kommissionsbericht angeführt und sind auch seither immer
wieder diskutiert worden. Der Bericht würdigte die Erfahrungen
als durchaus positiv und zitierte sie als Beleg für seine
eigene Forderung nach Freigabe auch in den Vereinigten
Staaten. Ein abweichender Minoritätsbericht einiger
Kommissionsmitglieder aber berief sich auf Hamlet, es sei
"etwas faul im Staate Dänemark". Statt dessen berief man sich
auf eine angebliche "Volksmeinung".Der Majoritätsbericht
erschien ihnen als eine "Magna Charta für
Pornographen".
Wie die gesamte
Kommissionsarbeit bewies, waren diese gegensätzlichen
Standpunkte nicht durch empirische Forschung zu überbrücken.
Vielmehr standen sich hier zwei unversöhnliche
weltanschauliche Grundhaltungen unerschütterlich gegenüber.
Die eine Seite vertrat auch sexualethisch einen demokratischen
Pluralismus und sah selbst in ungeordneter Lustbefriedigung
keine große Gefahr, solange dabei nicht Rechte von anderen
verletzt wurden. Die Gegenseite vertrat einen letztlich
religiös motivierten sexuellen Dogmatismus, dessen starres
Normensystem sich durch jede offen dargestellte und tolerierte
Abweichung ernsthaft bedroht sah: "Die offenbare, zu
schützende Moral besteht in Keuschheit, Schamhaftigkeit,
Mäßigung und aufopfernder Liebe. Das offenbare, zu
verhindernde Übel besteht in Geschlechtsgier, Exzeß, Ehebruch,
Inzest, Homosexualität, Bestialität, Masturbation und
unehelichem Geschlechtsverkehr."
Der hier beschworene, seltsam
gemischte Gefahrenkatalog wurde zwar gar nicht ursächlich aus
dem "Pornohandel" abgeleitet, er sollte aber dennoch
ausschlaggebend sein. In der Tat enthüllt er die wirkliche
Angst der Zensoren: Es ist das Unordentliche, Ungezügelte,
Unerzogene, Freche an der "Unzüchtigkeit", das Unangepaßte,
Subversive, Anarchische, das aufmüpfig Primitive - ihre
unkontrollierte Phantasie sowohl wie ihr "unsauberer"
Realitätsgehalt, von denen die Bedrohung ausgeht.
Gleichzeitig beweist die
zunehmend weite Verbreitung "unzüchtiger" Schriften und
Bilder, ihre heimliche Beliebtheit, ja Volkstümlichkeit, wie
vergeblich im Grunde alle Zensurversuche sind. Diese vermeintliche
Frustration erklärt auch zum Teil den oft aggressiven Ton der
Sittenwächter. Wo man
den Vertrieb von "unzüchtigem" Material verbietet, schafft man
ja stets eine sogenannte "Straftat ohne Opfer". Mit anderen
Worten, weder der Produzent, noch der Händler, noch der
Konsument fühlt sich geschädigt und ruft die Polizei zu Hilfe.
Im Gegenteil, diese muß selbst die Initiative ergreifen und
einen Handel zu unterbinden suchen, der von allen Beteiligten
innig gewünscht wird. Es versteht sich aber von selbst, daß
für den Staat dabei nur Teilerfolge möglich sind. Die "Flut
des unzüchtigen" Materials kann bestenfalls nur schwach
eingedämmt, nicht aufgehalten werden.
All dies müssen aber auch
heutige Kämpfer gegen die "Pornographie" bedenken. Dieser
Kampf setzt sich zum Beispiel heute in den Vereinigten Staaten
teilweise im Namen des Feminismus fort. Viele Frauen empfinden
nun, daß besonders "unzüchtige Bilder" ihr Geschlecht als
Ganzes erniedrigen, indem sie den weiblichen Körper als reines
Lustobjekt, oft auch für sadistische Phantasien, darstellen.
Im Augenblick versuchen amerikanische Feministinnen, einen
zivilrechtlichen Weg zu beschreiten, indem sie in einigen
Städten die Pornographie als geschlechtliche Diskriminierung
definieren und als solche verbieten lassen. So trat etwa in
Indianapolis am 1. Mai 1984 eine entsprechende städtische
Verordnung in Kraft. Jede Frau, die sich geschädigt fühlt,
kann nun innerhalb der Stadt eine Zivilklage wegen
Benachteiligung anstrengen. Wie immer in Amerika, kann eine
solche Klage aber über Jahre durch viele Instanzen bis zum
Obersten Gerichtshof gehen, und dort ist der Ausgang durchaus
unsicher. Im Hinblick auf alles vorstehend Gesagte, darf man
auch zweifeln, daß diese neue rechtliche Waffe einen
endgültigen Sieg verbürgen wird. Wenn sich hier überhaupt
etwas ändern soll, so muß man wohl eher an außerjuristische
Mittel denken. Daß man dabei aber im Rahmen der
rechtsstaatlichen Ordnung bleiben muß, ist andererseits
selbstverständlich.
Wie eingangs erwähnt, geht die
Fotosammlung des Kinsey-Instituts auf die Absicht seines
Gründers zurück, menschliches Sexualverhalten ebenso lücken-
wie vorurteilslos zu dokumentieren. Dementsprechend fand er
keine Verwendung für solche wertenden, ursprünglich religiösen
Begriffe wie "Perversion". Gleichermaßen unwissenschaftlich
fand er es, einen Unterschied zwischen "ordinären
Pornobildern" und vornehmeren, edleren "Erotika" zu machen.
Denn ihn interessierte nur, daß beide Spielarten ganz
offensichtlich auf die sexuelle Erregung hin inszeniert waren.
Damit aber wurde die subjektive Erregbarkeit des Betrachters
zum wissenschaftlichen Hauptproblem, Fragen des Geschmacks
wandelten sich zu Fragen sexueller Vorlieben.
Bei seinen diesbezüglichen
Forschungen fand Kinsey, daß die sexuelle Ansprechbarkeit auf
rein visuelle Reize bei Männern sehr viel häufiger anzutreffen
war als bei Frauen, woraus sich - wenigstens teilweise - der
höhere männliche "Pornoverbrauch" und die auf männliche
Vorlieben zugeschnittenen Bildinhalte erklärten.
Dieser Befund ist seither
relativiert worden, da man inzwischen auch bei Frauen eine
höhere Ansprechbarkeit festgestellt hat, und gewisse
amerikanische Nacktmagazine, Bildkalender und Postkarten aus
neuester Zeit, die sich gezielt an weibliche Käufer wenden,
stellen einen gewissen Zusatzbeweis dar. Auch finden sich in
mehreren amerikanischen Städten nun von Frauen besuchte Clubs
mit männlichen Striptease-Artisten. Wieweit sich auf diesem
Gebiet aber jemals ein wirkliches Gleichgewicht der
Geschlechter einstellen wird oder kann, ist sehr fraglich.
Hier ist wohl mehr im Spiel als die verschiedene männliche und
weibliche Sozialisierung.
Darauf verweist auch der
ausgesprochene Unwille, ja heftige Zorn mancher Feministinnen
gegenüber der "Pornographie". Eine entsprechende Reaktion auf
der Männerseite fehlt völlig, selbst bei homosexuellen Männern
gegenüber homosexueller Pornographie, in der man,
abstrakt-logisch, eine Parallele erblicken könnte. Dennoch,
selbst in sadomasochistischen Bildern und Filmen stört es die
männlichen Modelle niemals, bloße "Lustobjekte" zu sein, und
auch ihre männlichen Betrachter und Zuschauer kommen nicht auf
den Gedanken, hier eine Erniedrigung ihres ganzen Geschlechts
zu erblicken.
Wenn in der Vergangenheit
Männer gegen "unzüchtige" Bilder auftraten, so waren sie, wie
wir gesehen haben, oft besonders frauenfeindlich, und ihr
Kampf galt gleichzeitig auch immer der weiblichen
Selbstbestimmung und geschlechtlichen Gleichberechtigung. Auch
heute finden Feministinnen in solchen Männern leicht
unwillkommene Verbündete, wenn es um die Unterdrückung von
"Pornographie" geht.
Das heißt natürlich nicht, daß
die heutige feministische Perspektive falsch ist, sondern nur,
daß es verschiedene Perspektiven gibt, von denen einige
möglicherweise geschlechtsspezifisch sind. Ob sich eine
geschlechtsspezifische Einstellung auch noch in einer
Gesellschaft völliger sexueller Gleichberechtigung finden
würde, ist schwer zu sagen. Möglicherweise würden sich da aber
auch einige Akzente in der "Pornographie" selber verschieben.
Letztlich muß man mit all solchen Spekulationen sehr
vorsichtig sein, denn gerade die Einstellung zu sexuellen
Dingen kann sich individuell und gesellschaftlich auf
überraschende Weise ändern. Das erwies sich zum Beispiel in
den Vereinigten Staaten der sechziger Jahre, als man dort
anfing, "unzüchtige" Bilder und Filme in der Sexualerziehung
von Geistlichen, Ärzten und anderen Fachleuten
einzusetzen.
Seither hat sich der Gebrauch
audiovisueller Hilfsmittel für die verschiedensten
Studienfächer in amerikanischen Universitäten so eingebürgert,
daß er kaum noch wegzudenken ist. Die San Francisco State
University zum Beispiel veranstaltet seit 1970 eine
Einführungsvorlesung zum Thema "Menschliche Sexualität", in
der die erwähnten Filme als Anschauungsmaterial dienen. Die
Vorlesung ist die größte der Universität überhaupt und wird
von Studenten der Biologie, Psychologie, Anthropologie,
Soziologie und Sozialarbeit besucht und voll auf das jeweilige
Studium angerechnet.
Diese neuartigen Filme
unterscheiden sich von der kommerziellen "Pornographie"
erheblich, und zwar nicht in ihrer inhaltlichen
Vollständigkeit oder im Grad ihrer Deutlichkeit, sondern in
ihrer inneren Struktur. Das heißt, die "sexuellen
Dokumentarfilme" zeigen in jeder Einzelheit alle denkbaren
sexuellen Praktiken, aber sie verwenden weder Schauspieler,
noch folgen sie einem Drehbuch, einer Regie oder irgendeinem
anderen vorgefaßten Schema. Statt dessen bemühen sie sich, das
tatsächliche Sexualverhalten wirklicher Menschen in deren
eigener Umgebung ohne jede Suggestion oder Anweisung so
wirklichkeitsgetreu wie möglich festzuhalten. So sind
inzwischen authentische Filme von Männern und Frauen jeden
Alters, jeder körperlichen Verfassung und jeder
geschlechtlichen Orientierung vorhanden. Hier wurde
tatsächlich Neuland betreten, denn realistische filmische
Darstellungen des Sexualverhaltens etwa bei älteren Menschen
oder Querschnittgelähmten waren vorher unbekannt. Es ergab
sich außerdem, daß diese Filme, richtig eingesetzt, durchaus
eine willkommene erzieherische Wirkung hatten, denn sie
klärten selbst Fachleute anschaulich über die enorme
individuelle Variationsbreite im menschlichen Geschlechtsleben
auf, bauten Vorurteile ab, verwiesen auf therapeutische
Möglichkeiten und wirkten insgesamt entkrampfend auf den
Beobachter, das heißt auch den Laien, der danach sehr viel
leichter die richtige Einstellung und den richtigen Ton im
pädagogischen oder therapeutischen Gespräch
fand.
So wurden und werden denn
auch alle verfügbaren audiovisuellen Hilfsmittel (Dias,
Tonbänder, Filme und Videokassetten) geballt in sogenannten
S. A. R. (Sexual Attitude Restructuring) -Kursen
eingesetzt, die starre sexuelle Einstellungen bei den
Teilnehmern in Richtung auf größere Toleranz zu ändern
versuchen. Die größere Toleranz sich selbst und anderen
gegenüber wird auf diese Weise auch meist bei der ganzen
Gruppe erreicht, so daß man, wenigstens in diesem Fall, vom
sozialen Nutzen "unzüchtiger" Bilder und Filme sprechen kann.
Selbst einige sexuell gestörte Patienten, deren Familien und
Betreuer können von solchen Filmen profitieren, und daher sind
sie seit einigen Jahren auch selektiv in der deutschen
sexualmedizinischen Fortbildung eingesetzt worden.
So klar nun auch die
Unterschiede zwischen den neuen Dokumentarfilmen und den
herkömmlichen "Pornofilmen" sind, so betreffen sie doch nicht
das, was in der Vergangenheit als "unzüchtig" galt und
verboten war, nämlich die bildliche Darstellung von
Geschlechtsakten. Das heutige Neue wäre also in dem hier
behandelten Jahrhundert von 1850 bis 1950 in jedem westlichen
Land auf jeden Fall ebenfalls verboten gewesen. Es scheint aus
heutiger Sicht also, daß man auch schon damals einen
Unterschied zwischen "sexuellem Dokument" und "Pornobild"
hätte machen sollen. Natürlich ist das eine reine
Gedankenspielerei, denn offensichtlich war unseren
zensierenden Vorfahren eine solche Unterscheidung nicht
möglich, da ihr Sinn für die sexuelle Realität von dem unseren
völlig abwich. Umgekehrt aber ebnen sich für uns heute
rückblickend auch alle Differenzen ein, denn indem die
früheren Bilder historisch altern, werden sie allesamt zu
Dokumenten. Ihre sexuell stimulierende Aura schwindet, und nur
ihr reizlos gewordener faktischer Inhalt bleibt als
Teilinformation zurück. Diese Information ist nicht wertlos,
aber sie bedarf des kalt systematisierenden Blicks, um
wissenschaftlich verwertbar zu werden. Kinsey hatte sich
diesen Blick angewöhnt, und so konnte er mit seiner Sammlung
die Grundlage für eine erweiterte Sicht des menschlichen
Sexualverhaltens liefern.
Erwin J. Haeberle
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