Der verbotene Akt
"Unzüchtige" Fotos von 1850 bis 1950

Erwin J. Haeberle

Ursprünglich erschienen in einer illustrierten, textlich verstümmelten Fassung in:
Das Aktfoto: Ästhetik - Geschichte - Ideologie
Hg. von M. Köhler und G. Barche
C.J. Bucher Verlag, München, 1985, S. 240-252

Entstehung der Sexualwissenschaft
Der Sammler Kinsey
Herstellung und Vertrieb "unzüchtiger" Fotos
Versuche gesetzlicher Eindämmung
Exkurs: Der "Kampf gegen Schmutz und Schund" in den USA
Repressions-Thesen
Zur internationalen Rechtslage
"Unzüchtige" Fotos aus sexualwissenschaftlicher Sicht

Ausdrücke wie "obszön", "pornographisch" und "unzüchtig", auf Kunstwerke und Fotografien angewandt, sind notwendigerweise subjektiv und vage. Sicher ist nur, daß sie einen Tadel ausdrücken und daß dieser Tadel einer sexuell stimulierenden Wirkung gilt, die der jeweilige Sprecher in ihnen wahrnimmt.

Oft wird der Begriff des "Unzüchtigen" aber auch noch mit denen des "Abnormen" oder "Widernatürlichen", der geschlechtlichen "Abirrung", "Deviation" oder "Perversion" zusammengebracht, wobei dann diese Ausdrücke besonders verwerfliche sexuelle Handlungen oder deren Abbildung, das heißt sozusagen eine potenzierte Unzüchtigkeit, bezeichnen sollen. Unausgesprochen steht dahinter die Annahme eines "normalen" oder "natürlichen" Sexualverhaltens, das man zwar auch nicht zur Schau stellen oder betrachten soll, das aber prinzipiell sowohl für den einzelnen wie für die Gesellschaft weniger gefährlich ist.

So hat man vereinzelt sogar gewisse "pornographische" Werke gerade deshalb für akzeptabel erklärt, weil sie in einer "gesunden Drastik" implizit die "krankhaften" Erscheinungen des Sexuallebens abwerten und an den Rand abdrängen, wohin sie vermeintlich gehören. Andererseits hat man aber auch das erotische Interesse an "gesunder" Pornographie selbst als krankhaft bewertet - so wäre dann die ganze vorige Unterscheidung eigentlich wieder hinfällig.

Wer sich allerdings genauer mit solchen Werturteilen beschäftigt, muß bald einsehen, daß sie rational wohl nicht zu begründen sind. Ihre fortgesetzte Tradierung beruht nicht auf wissenschaftlicher Einsicht oder auch nur auf dem "gesunden Menschenverstand", sondern auf teilweise sehr alten Vorurteilen, die für unsere abendländische Kultur typisch sind und die man bei anderen Völkern und zu anderen Zeiten so nicht findet.

Wie wenig wissenschaftlich etwa die Ausdrücke "Aberration", "Deviation" und "Perversion" sind, wird schon an ihrer Geschichte deutlich. Ursprünglich stammen sie nämlich aus der Theologie und bezeichneten Ketzereien, also Formen des falschen (d. h. nichtkatholischen) Glaubens. Mit Sexualverhalten an sich hatten sie zunächst nichts zu tun. Ein gewisser Zusammenhang besteht nur sekundär, soweit man eben Ketzerei häufig mit "Sodomie" (d. h. "widernatürlicher Unzucht") in Verbindung brachte. So waren auch die Bezeichnungen "Ketzer" und "Sodomit" lange Zeit fast synonym. Man glaubte an eine klare göttliche Ordnung der Welt, und danach waren sexuelle Handlungen nur zum Zweck der Fortpflanzung gestattet. So konnte denn auch der heilige Thomas von Aquin, der größte Theologe des Mittelalters, die gesamte Sexualethik in einer dreifachen Faustregel zusammenfassen. Danach erlaubte Gott sexuelle Handlungen nur

erstens mit dem richtigen Partner (d. h. dem Ehepartner),

zweitens auf die richtige Weise (d. h. durch Koitus);

drittens zum richtigen Zweck (d. h. zur Fortpflanzung).

Idealerweise fielen diese Bedingungen zusammen, wenn aber nicht, so waren die Handlungen eben in verschiedenem Grad sündhaft, je nachdem, wieweit sie sich von der dreifachen Norm entfernten. Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe war so zum Beispiel immer sündhaft, aber auch innerhalb der Ehe konnte er es sein, wenn er nicht koital oder nur zum Zweck der Lustgewinnung erfolgte.

Das ganze System beruhte offensichtlich auf kirchlichen Dogmen, und es ist sinnlos, diese wissenschaftlich kritisieren zu wollen. Sie beriefen sich ja letztlich nicht auf Verstandesgründe, sondern ausdrücklich auf einen göttlichen Willen. Diese Sexualethik mit all ihren Urteilen war Glaubenssache und die sexuelle Perversion der Gottesordnung deshalb eine religiöse Verfehlung.

Wäre es nun bei diesem Sprachgebrauch geblieben, so gäbe es keinen Anlaß, ihn weiter zu diskutieren. Leider aber griffen die ursprünglich religiösen Begriffe im Lauf der Zeit über ihre eigentliche Sphäre hinaus und fanden Eingang in die Wissenschaft. Dies war die Folge wachsender Säkularisierung des Lebens. Hatten sich einstmals "Seelenhirten" um das "Seelenheil" der Menschen gesorgt, so unternahmen es nun "Seelenärzte", deren "seelische Gesundheit" zu schützen. Ja, die christliche Seele verwandelte sich in die antik-heidnische Psyche zurück: Nicht mehr der Sündenfall Adams, die Kreuzigung Christi und seine Auferstehung lieferten die Symbole des Seelenschicksals, sondern griechische Mythen von Ödipus, Narziß, Eros und Thanatos. An die Stelle von Gewissenserforschung und Beichte trat die Psychoanalyse, die sexualethische Rolle der Religion wurde an die Medizin delegiert, und die Perversionen verwandelten sich von Sünden in Krankheiten.

Dieser historische Prozeß, den man ebenso knapp wie treffend die "Medikalisierung der Sünden" genannt hat, begann im Zeitalter der Aufklärung und kam dann im 19. Jahrhundert zur vollen Reife. Ja, schließlich wurde selbst die Idee der Erbsünde als erbliche "Degeneration" psychiatrisch neugefaßt. Hier tat sich besonders der französische Psychiater B. A. Morel mit seiner großen Abhandlung über die "Degenerierung des Menschengeschlechts" (1857) hervor. Aber auch seine späteren Kollegen Magnan und Charcot, ja, fast alle europäischen und amerikanischen Ärzte hielten bis in unser Jahrhundert an dieser Vorstellung fest. Auch das alte Register der Fleischessünden erschien bald in modischer Aufmachung als Liste "sexueller Geisteskrankheiten".

Der Entwurf einer Psychopathia sexualis, zunächst 1843 von Heinrich Kaan und dann 1886 von Richard von Krafft-Ebing vorgelegt, illustriert den ganzen Säkularisierungsprozeß vielleicht am besten. Die verschiedenen schweren und leichten sexuellen "Psychopathien" erwiesen sich einfach als sprachlich neubekleidete alttestamentarische "Greuel" und christliche Sünden. In der Tat - wenn man davon absieht, daß die Psychiater den Fortpflanzungszweck der Sexualität nun weitgehend ignorierten, so folgten sie doch immer noch den beiden ersten Regeln des heiligen Thomas: Auch für sie waren sexuelle Handlungen nur "richtig" (d.h. gesund) mit dem richtigen Partner (d. h. nun eine etwa gleichaltrige nichtverwandte Person des anderen Geschlechts) und auf die richtige Weise (d. h. durch Koitus). Jede andere Form sexuellen Ausdrucks war in dem Grad ungesund und "pervers", wie sie von dieser doppelten Norm abwich. Was aber in der mittelalterlichen Theologie noch eine in sich stimmige Regel gewesen war, verlor durch Vernachlässigung des dritten Punktes jeden vernünftigen Sinn. Gerade vom Zweck der Fortpflanzung her war ja die "Richtigkeit" des Partners und der Handlungsweise bestimmt gewesen. Fiel nun der Endzweck weg, blieb von einer an und für sich logischen Glaubensnorm nur eine unlogische Gesundheitsnorm übrig.

So ergaben sich denn logisch die entsprechenden, fast endlosen psychiatrischen Perversionskataloge mit ihren exotisch klingenden Krankheitsnamen von Analismus über Fetischismus, Gerontophilie, Homosexualität, Koprophilie und Pygmalionismus bis zur Skopophilie, Urolagnie und Zoophilie. Bei all diesen sexuellen Verhaltensweisen wurde entweder der richtige Partner oder der richtige koitale Annäherungsweg verfehlt, und damit waren sie allesamt zu mißbilligen. Auch Sigmund Freud forderte noch das ideale Zusammentreffen von richtigem Partner (Sexualobjekt) und richtiger koitaler Handlungsweise (Sexualziel). Er sah deshalb auch keinen Grund, das Wort "Perversion" als obsolet aufzugeben. Im Gegenteil, er füllte es mit neuem, anscheinend völlig nichtreligiösem Leben.

Entstehung der Sexualwissenschaft

Es konnte aber nur eine Frage der Zeit sein, bis die Säkularisierung an ihr logisches Ziel gelangte und die hier unbefragt übernommenen Wertvorstellungen selbst einer rationalen Kritik unterzog. Dies geschah vor allem durch eine neue "Sexualwissenschaft", die sich speziell und interdisziplinär mit tierischem und menschlichem Sexualverhalten befaßte. Die noch weitgehend unerforschte Geschichte dieser Wissenschaft wirft ein faszinierendes Licht auf die allmähliche Entgöttlichung des Eros in unserer Kultur. Hier müssen ein paar vorläufige Stichworte genügen.

Als Begriff 1906 von dem Berliner Dermatologen Iwan Bloch konzipiert, wurde die Sexualwissenschaft besonders von deutschen und österreichischen Ärzten weiterentwickelt, die nach Korrektiven ihrer zeitgenössisch engen medizinischen Auffassungen suchten. Sie fanden diese Korrektive vor allem in den wissenschaftlichen Disziplinen Geschichte und Ethnologie und lernten so, ihren Horizont sowohl zeitlich als auch räumlich zu erweitern. Die neue Wissenschaft vereinte daher natur- und kulturwissenschaftliche Arbeitsweisen und versuchte, alle relevanten Erkenntnisse von einem Zentralstandpunkt aus zu integrieren.

Ihre bedeutendsten Pioniere waren neben Blech seine Berliner Kollegen Albert Moll, Magnus Hirschfeld und Max Marcuse. Dank ihrer Arbeit erschien 1908 in Berlin die erste Zeitschrift für Sexualwissenschaft, wurden dort 1913 die erste "Gesellschaft für Sexualwissenschaft" und 1919 das erste "Institut für Sexualwissenschaft" gegründet. 1921 und 1926 organisierte man in Berlin die ersten internationalen Kongresse zu diesem Thema.

Die neuen historischen und ethnologischen Einsichten besaßen in ihrer Häufung die Tendenz, gängige psychiatrische Behauptungen zu relativieren und die überlieferte Vorstellung eines einzig "richtigen" Sexualverhaltens zu unterminieren. Schon Bloch rückte aufgrund seiner klassischen Bildung notgedrungen vom Degenerationsbegriff ab, und seine Nachfolger mußten schließlich jede einzelne ihrer Grundannahmen anzweifeln.

So wurden die Äußerungen der Sexualwissenschaft immer sachlicher und bescheidener. Dabei erwiesen sich natürlich einige Forscher als schneller und konsequenter, aber es konnte kein Zweifel bestehen, daß auch die anderen keine Wahl haben würden, als alle unbefragten Voraussetzungen, alle noch so versteckten Dogmen der Kritik auszusetzen.

Die ideologiekritische Klärung wurde jedoch durch den heraufziehenden Faschismus aufgehalten. Den Nationalsozialisten mit ihrem Rassenwahn war die Sexualwissenschaft unerwünscht, zumal ihre Hauptvertreter durchweg Juden waren. Fast alle Pioniere mußten aus Deutschland fliehen und wurden weit ins Exil verstreut. Da man ihre Bücher verbrannte, ihre Gesellschaften und Zeitschriften verbot, verschwand ihre Leistung aus dem öffentlichen Bewußtsein ihres Vaterlandes.

Kein Wunder deshalb, daß auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft dort niemand bewußt ihr Erbe antrat. Statt dessen erlebte die Sexualwissenschaft zunächst eine Wiedergeburt in den USA, wo man nun allerdings rein empirisch und methodisch absolut voraussetzungslos verfuhr.

Der Sammler Kinsey

Im Sommer 1938 wurde Alfred C. Kinsey, ein Zoologe an der Indiana University, gebeten, eine Vorlesungsreihe über "Die Ehe" zu organisieren. Niemand hätte in der Rolle weniger kontrovers erscheinen können als dieser Spezialist für Gallwespen, der sein ganzes bisheriges akademisches Leben damit verbracht hatte, Zehntausende dieser kleinen Insekten zu sammeln, zu klassifizieren und in Glaskästen aufzuspießen. Dennoch sollte die Universität und später die Welt am Ende eine Überraschung erleben. Der trockene Naturforscher nahm die ihm gestellte Aufgabe nämlich genauso ernst wie seine gewohnte Gallwespenjagd und weigerte sich, Meinungen oder Theorien aus zweiter Hand an seine Studenten weiterzugeben. Was er in der Bibliothek an Literatur zum Thema Ehe und Sexualität fand, enttäuschte ihn völlig, denn alle medizinischen, psychiatrischen und psychoanalytischen Schriften zum Beispiel, mit all ihren weitgehenden Folgerungen, basierten auf relativ wenigen Fallstudien. Kinsey aber wußte, daß man an wenigen Dutzend, ja wenigen hundert Individuen noch nicht einmal etwas über Insekten beweisen kann.

Die Selbstsicherheit, mit der die "Experten" über die Sexualität des Menschen schrieben, konnte ihm daher nur als voreilig erscheinen. Auch erlebte er häufig, daß er in sämtlichen verfügbaren Büchern keine Antwort auf die einfachsten Fragen seiner Studenten fand. Also machte er sich wohl oder übel selbst an die Arbeit, die Tatsachen festzustellen. Das Resultat waren, zehn und fünfzehn Jahre später, die bekannten "Kinsey Reports" (1948 und 1953). Sie beruhen auf persönlichen Interviews (keinen Fragebogen!) mit Tausenden von Männern und Frauen jeden Alters, jeder Religion, Rasse und Klasse, jedes Bildungsgrades und aus allen Teilen der USA.

Vor einer ähnlichen Situation wie damals Kinsey steht heute der Wissenschaftler, der sich zur "obszönen Fotografie" äußern soll. Sicher, über ausreichende Literatur zum Thema braucht er sich nicht zu beklagen. Trotzdem bleibt die Frage nach der Anzahl der Fotos, die den Autoren zu Gesicht kamen: War die Bildauswahl wirklich groß und vielfältig genug, um als repräsentativ gelten zu können? Weiter: Lassen sich aus nichtrepräsentativen Beispielen dennoch allgemeingültige Schlüsse ziehen? Und schließlich: Ist es überhaupt möglich, hier eine repräsentative oder typische Auswahl zu treffen? Existiert überhaupt eine auch historisch so erschöpfende Sammlung dieses Materials, daß sie als sichere Basis für eine Auswahl dienen könnte? Die Antwort auf diese letztere Frage heißt wahrscheinlich "nein". Kinsey selbst gelang es zwar noch vor seinem Tod, ein Sexualforschungsinstitut mit einer großen Sammlung aufzubauen, und der fotografische Teil dieser Sammlung gilt heute allgemein als konkurrenzlos vollständig, aber auch dort klaffen trotz der heute etwa 70 000 Einzelstücke noch Lücken, von denen man nicht weiß, ob sie "natürlich" oder "künstlich" sind. Mit anderen Worten:

Die Sammlung enthält aus fast allen Epochen der Fotogeschichte Aufnahmen von fast allen menschenmöglichen Sexualpraktiken, es läßt sich aber nicht mehr feststellen, ob das Fehlende niemals produziert oder einfach nicht gesammelt und aufbewahrt wurde. Solche Überlegungen klingen vielleicht zugleich naiv und unnötig skrupulös, aber man kann sie einfach nicht verdrängen, denn wir wissen ja andererseits, wieviel unersetzliches Material zur Geschichte der Sexualität tatsächlich verlorengegangen ist.

Der Aufbau der Sammlung ist natürlich von Kinseys ursprünglicher sexualwissenschaftlicher Absicht bestimmt. Dementsprechend ordnete er sie hauptsächlich nach zwei Prinzipien: erstens der chronologischen Folge und zweitens dem Bildinhalt. Die Fotos sind also einerseits nach ihrem Entstehungsdatum und andererseits nach der Art des dargestellten Sexualverhaltens eingeteilt. Bei dieser zweiten, inhaltlichen Einteilung machte Kinsey sehr detaillierte Unterschiede, und diese wissenschaftliche Voraussicht erlaubt uns sozusagen auf einen Blick, die Stärken und Schwächen der Sammlung einzuschätzen.

Es würde hier zu weit führen, Kinseys akribische Klassifizierung im einzelnen vorzustellen. Nur soviel sei erwähnt: Die verschiedenen Fächer reichen alphabetisch von "Analverkehr (heterosexuell)" bis "Zoophilie". Dabei sind größere Fächer wie etwa "Koitus" wiederum in kleinere unterteilt, je nach Stellung und Körperhaltung der Partner (Mann oder Frau oder beide liegend, stehend, kniend usw.). Erotische Aktfotos sind ebenfalls in verschiedene Unterfächer gegliedert, je nach dem Grad der Entblößung und der fotografischen Betonung bestimmter Körperteile. Bei männlichen Akten trennt die Sammlung außerdem solche mit sichtbarer Erektion von den anderen; bei Gruppenbildern wird nach der Anzahl und dem Geschlecht der Teilnehmer unterschieden (eine Frau zwei Männer, eine Frau - drei Männer ... oder ein Mann - zwei Frauen, zwei Männer - drei Frauen usw.). Außerdem enthält die Sammlung auch fetischistisches Material, bei dem der nackte Körper oft keinerlei Rolle spielt, sowie transvestitische Fotos, die natürlich das gerade Gegenteil von Aktfotos sind. In all diesen (und sämtlichen anderen) Kategorien besitzt die Sammlung Hunderte, oft Tausende, zumindest aber Dutzende von fotografischen Belegen aus jedem Jahrzehnt von 1850 bis heute.

Die größten Lücken klaffen natürlich in der Frühzeit (bis ca. 1875), und gerade diese werden sogar immer größer: So sind vom Originalsatz der Daguerreotypien des Instituts, der ursprünglich rund 140 Stücke umfaßte, im Lauf der Zeit über hundert "verschwunden", ohne daß bekannt ist, was auf ihnen abgebildet war.

Die Ursprungsländer der Fotos sind, soweit sich das noch feststellen läßt, vor allem Frankreich, England, Portugal und die USA. Daß Deutschland, Österreich, Italien, Spanien und andere europäische Länder hier weitgehend fehlen, bedeutet selbstverständlich nicht, daß es dort keine entsprechende Fotoproduktion gab. Es ist eher ein Hinweis darauf, daß selbst die große Kinsey-Sammlung immer noch nicht groß genug ist, und daß sie keine erschöpfenden oder allgemeingültigen Feststellungen erlaubt.

Es sei nochmals betont, daß die Fotos von Kinsey aus sexualwissenschaftlichem, nicht ästhetischem, fototechnischem, juristischem oder gar psychiatrischem Interesse gesammelt wurden. Für ihn waren zunächst einmal alle Arten des Sexualverhaltens "gleichberechtigt". Er lehnte deshalb nichtobjektive, wertende Ausdrücke wie "Perversion", "Abirrung" oder "Deviation" grundsätzlich ab und enthielt sich jedes Urteils darüber, ob ein Verhalten häufig oder selten, moralisch oder unmoralisch, erlaubt oder verboten, gesund oder krank sein sollte. Ihm ging es vor allem um eine möglichst lückenlose Dokumentation.

Seine penible Registrierung auch feinster Detailunterschiede bei sexuellem Verhalten, die an den kalten Blick des Insektenforschers erinnert, mag auf den Laien zunächst befremdlich oder lächerlich, ja absurd wirken, nur diese neutrale Registrierung aber machte am Ende das wissenschaftliche Resultat möglich und glaubhaft - daß nämlich vom 19. Jahrhundert bis heute alle denkbaren menschlichen sexuellen Handlungen mit Fotos dokumentierbar sind.

Dies erste Ergebnis ist recht bescheiden, aber es kann zur Grundlage weiterer Forschungen dienen und schließlich vielleicht doch zu ganz neuen Einsichten führen oder wenigstens gewisse traditionelle Vorurteile korrigieren. Es beweist jedenfalls unter anderem auch, daß die erheblichen gesetzlichen Beschränkungen der Vergangenheit weder die Produktion noch den Konsum "unzüchtiger" Fotos verhindern konnten. Und hier ist nicht von einfachen Aktfotos die Rede. In den allermeisten Fällen handelt es sich in der Sammlung ja nicht um Bilder, für die man einen "Kunstvorbehalt" hätte machen können. Im Gegenteil, sie waren eindeutig "unzüchtig" nach jeder juristischen Definition jedes Landes. Die "pornographische" Absicht war und ist unverkennbar.

Da ja alle sexuell expliziten Bilder verboten waren und daher nur im Untergrund zirkulierten, gab es kaum einen Grund, sich auf das zu beschränken, was die Geschlechtsverkehrspolizei als "normal" ansehen mochte. Auch das wäre ja auf jeden Fall beschlagnahmt worden. Anderseits aber hat die drohende Beschlagnahme wohl stets die technische und ästhetische Qualität der Fotos beeinträchtigt, da sich im allgemeinen nur "unseriöse" Außenseiter und kleine, billige, aber geldgierige Firmen auf die Vertriebsprobleme einließen. Selbst regelrechte Versandhäuser brauchten keine Qualitätskonkurrenz zu befürchten, denn die großen fotografischen Könner vermieden den wahrscheinlichen Ärger und fertigten "Unzüchtiges" höchstens für den Eigenbedarf.

Andererseits wird aber auch klar, daß sich die Absicht des Fotografen nicht automatisch im Betrachter erfüllt. Gerade die Vielfalt der Fotos und deren jeweilige "Aura" lassen uns erkennen, wie individuell und verschieden, konditionierbar, kultur- und zeitbedingt, ja fragil die sexuelle Erregbarkeit des Menschen ist. So liefert uns die Sammlung am Ende eine doppelte Erkenntnis: Einerseits illustriert sie über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert ein unverändertes Interesse an allen Formen der "Fotopornographie", andererseits aber zeigt sie auch von Anfang an die Spezialisierung innerhalb dieses Interesses. Und noch ein Drittes: Im wachsenden historischen Abstand verlieren die Fotos fast alle ihre intendierte Wirkung, gleichgültig, ob sie zunächst auf einen größeren oder kleineren Kundenkreis berechnet waren.

Herstellung und Vertrieb "unzüchtiger" Fotos

Es ist wichtig, die wahrscheinlich sehr ausgedehnte frühe Privatproduktion im Gedächtnis zu behalten, wenn man die Herstellung und den Vertrieb der "Pornofotografie" diskutiert. Privat und zum Eigenbedarf hergestellte Fotos erschienen in der Regel natürlich nicht im Handel, konnten weder von Außenstehenden gesammelt, noch von Behörden beschlagnahmt werden und sind deshalb wohl meistenteils verloren. Möglicherweise waren sie aber viel lebendiger, realistischer und auch kulturhistorisch interessanter als das, was erhalten ist. Sie können in ihrer Idiosynkrasie und Spezifität gerade besonders bezeichnend für ihre Zeit gewesen sein.

Unter den Umständen ist es erstaunlich, daß es heute überhaupt noch "unzüchtige" Daguerreotypien gibt. Der von Louis Daguerre 1832 erfundene Abbildungsprozeß lieferte keine Negative und verlangte lange Belichtungszeiten für speziell präparierte Kupferplatten. Jedes Bild war daher ein nicht reproduzierbares Original, das leicht beschädigt oder zerstört werden konnte. Dennoch sind schon aus den vierziger Jahren zum Beispiel Aktfotos des Engländers J. T. White aus dem Milieu der Kinderprostitution und -pornographie erhalten, und die Daguerreotypien des Kinsey Instituts gehen, wie gesagt, mindestens bis 1850 zurück.

Nach Erfindung der nassen Kollodiumverfahrens war dann erstmals eine profitable Vervielfältigung vom Negativ möglich, was sofort zu einem regelrechten Versandhandel mit "unzüchtigen" Aufnahmen führte. Wie schon erwähnt, war die ästhetische und technische Qualität dieser Fotos im allgemeinen schlecht. Trotzdem entwickelte sich die Nachfrage geradezu stürmisch, denn, wie eine zeitgenössische Quelle berichtet, wurde 1874 in London von der Polizei das Versandlager eines gewissen Henry Hayler ausgehoben, welches fünftausend "unzüchtige" Negativplatten enthielt sowie sage und schreibe 130248 entsprechende Abzüge.

Gegen Ende des 19.Jahrhunderts waren Herstellung und Handel der "Pornofotografie" weltweit organisiert. Es gab große Produktionszentren in Frankreich, Spanien (besonders in Barcelona und Madrid) und Portugal (besonders in der Hafenstadt Porto, wo "unzüchtige" Fotos sogar in Schaufenstern angeboten wurden). Die umfangreiche italienische Produktion ging meist nach Nordafrika und in den Nahen Osten, aber auch nach Nordeuropa. Südamerika und Ägypten importierten nicht nur, sondern produzierten auch selbst. In Kairo existierte zum Beispiel eine Exportfirma mit dem unarabischen Namen Lehnert & Landrock. Selbst im russischen Wladiwostok fanden sich Hersteller, besonders Chinesen, die vor allem den japanischen Markt belieferten - sie beschäftigten aber keine Chinesinnen als Modelle.

Um 1900 schließlich hatten sich drei bedeutende Herstellungszentren herauskristallisiert: Paris, Wien und Budapest. Für Paris sind die Namen zweier Großproduzenten bekannt: Kahn und Briffaut. Dem letzteren wurde 1924 auf polizeiliche Verordnung das Geschäft geschlossen. Dabei sollen 6000 Platten und so viele Fotos beschlagnahmt worden sein, daß man sie mit Lastwagen abtransportieren mußte. Ein Budapester Hersteller soll vor einer drohenden Razzia 3000 Platten selbst vernichtet haben.

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um deutlich zu machen, daß es fast überall eine erhebliche Nachfrage nach den verbotenen Produkten gab. Die Fotografie ermöglichte eben eine Demokratisierung und Popularisierung erotischer Darstellungen, die im Zeitalter der Zeichnungen, Aquarelle und Kupferstiche noch nicht denkbar gewesen war. Mit einer Kamera und willigen Modellen konnte nun aber theoretisch jeder auch das Gewagteste möglich machen, und praktisch nahmen viele diese neue Gelegenheit wahr. Aber auch die unschöpferischen, passiven Konsumenten profitierten, denn die Preise für "unzüchtige" Fotos waren relativ niedrig.

Gerade dieser niedrige Preis stachelte die Verfolgungsbehörden zu besonderem Eifer an, denn er bedeutete, daß auch finanziell schwache Jugendliche als Käufer in Frage kamen. Anderseits war die Obrigkeit aber ohnehin um das sexuelle Seelenheil der ärmeren Untertanen besonders besorgt, wie die juristischen Diskussionen jener Zeit erkennen lassen. Letztlich waren es die gewöhnlichen, das heißt "ordinären" und plebejischen Züge der "Pornographie", ja ihr Volkskunstcharakter, der die Sittenwächter besonders verstörte.

Wie kam nun der Kunde an die begehrte Ware? Der erste Schritt war gewöhnlich eine Anfrage auf ein halbverschlüsseltes oder sogar recht deutliches Zeitungs- oder Zeitschrifteninserat. Diese brachte dann eine Serie relativ harmloser "Kunstpostkarten" ins Haus, denen aber eindeutige Angebote, Kataloge oder Probefotos beilagen. Manche Versandhäuser verschickten auch Musterkarten, sogenannte "cartes références", die zehn bis zwölf verkleinerte Abbildungen der bestellbaren "scharfen Sachen" im Briefmarkenformat darboten. Danach konnte man sich das Passende aussuchen, und es wurde dann gegen Vorauszahlung in regulärer Postkartengröße geliefert. Neben den Produzenten und Grossisten gab es aber auch kleinere, manchmal selbständig produzierende Einzelhändler, die begrenzt postalisch oder unter dem Ladentisch verkauften, und schließlich waren da noch die ganz kleinen Straßenhändler, die in gewissen Vierteln, an Straßenecken und auf Bahnhöfen ihre Kartenpackungen unter dem Mantel hervorzogen.

Bei dieser Art des Handels wurden oft "doublierte" Fotos (von anderen kopierte) verkauft. Wegen des allgemeinen Verbots auch der Originale mußten die großen Produktionsfirmen solche Bildpiraterie jedoch wohl oder übel hinnehmen. Die Bildpiraterie besaß indes noch einen weiteren interessanten Aspekt: Manche "Klassiker" wurden über dreißig, mitunter sogar fünfzig Jahre lang immer wieder kopiert. So war beispielsweise noch 1970 ein Fotosatz vom Verkehr einer Frau mit einem Zirkuspferd im amerikanischen Handel, der nachweislich um 1930 aufgenommen worden war. Das Beispiel zeigt, daß gewisse "unzüchtige" Themen offenbar so entlegen sind, daß sich bei dem kleinen möglichen Kundenkreis eine ständige Neuherstellung nicht lohnt. Im allgemeinen darf man aber sagen, daß die Wirksamkeit eines "Pornofotos" zeitlich begrenzt ist, da die jeweiligen historischen Eigentümlichkeiten im Bild sehr bald als erotisch störend empfunden wurden.

War das Foto bis zum Ersten Weltkrieg die praktisch einzige und alleinige Vertriebsform "unzüchtiger" Bilder, erhielt es danach zunehmende Konkurrenz durch ein noch moderneres Medium - den sexuell expliziten Film. Die Geschichte dieser "stag­Filme" ist ein faszinierendes Kapitel für sich. Hier muß der Hinweis genügen, daß er dem Postkartensatz nach einer längeren Zeit des Kopf-an-Kopf-Rennens in der Gunst des Publikums schließlich den Rang völlig ablief, so daß heute, im Zeitalter der Videokassetten, die alte einfache Fotopornographie von nur noch historischem Interesse ist.

Besonders stürmisch verlief das Wachstum der "stag-Film"-Produktion und mit ihr das der "Pornoindustrie" insgesamt seit dem Zweiten Weltkrieg. Als dann vor allem in den USA einschlägige Läden und Filmtheater immer offener in Erscheinung traten und weite Teile der Öffentlichkeit verstärkten Anstoß daran nahmen, entschloß sich Präsident Lyndon B. Johnson 1967, die verschiedenen technischen, kommerziellen und juristischen Entwicklungen seit dem Krieg durch eine besondere Kommission des Kongresses prüfen zu lassen. Ihr drei Jahre später vorgelegter Bericht lieferte das bisher klarste Bild vom Umfang und Vertrieb der Bild-"Pornographie" in wenigstens einem großen Land.

Die Kommission fand, daß unzweifelhaft "pornographisches", sogenanntes "hard­core"-Material, in drei Hauptformen vorkam - als Film, als Foto und gedruckt in Fotomagazinen.

Es war auch für die Kommission schwer herauszufinden, wie ausgedehnt der Handel damit war, weil er sich als weniger monolithisch erwies, als man ursprünglich wohl angenommen hatte. Immerhin ließen die Untersuchungen am Ende einige realistische Schätzungen zu.

Danach existierten etwa hundert "Porno"­Verlage oder -Produzenten, von denen zwanzig bis dreißig eine überregionale Bedeutung zukam. Viele Verlage organisierten ihren eigenen Vertrieb, aber es gab in Großstädten auch etwa sechzig regionale Grossisten. Die Zahl der Einzelhändler, die Material "nur für Erwachsene" verkauften, lag bei etwa 850, und 1400 weitere Läden nahmen solches Material in ihr übriges "harmloses" Angebot mit auf. Einige hundert Einzelpersonen und Firmen waren im Versandhandel tätig, aber davon besaßen weniger als zwanzig wirklichen Einfluß. Neunzig Prozent des Materials orientierte sich heterosexuell, etwa zehn Prozent wandten sich an homosexuelle Interessenten. Selbst die "Giganten" dieser Industrie - weniger als zehn - waren nicht beeindruckend groß; der zu versteuernde Profit des Branchenleaders wurde auf weniger als 200000 Dollar jährlich geschätzt.

Der typische Kunde in "Pornoläden" oder "Pornokinos" war männlichen Geschlechts, weiß, mittleren Alters, verheiratet, gut gekleidet, allein und gehörte der Mittelschicht an. Außerdem fand man heraus, daß etwa fünfundachtzig Prozent der Männer und siebzig der Frauen solches Material wenigstens einmal im Leben freiwillig zu Gesicht bekommen hatten. Beschränkte man den Zeitraum auf die unmittelbar vorausgegangenen zwei Jahre, so waren es immer noch vierzig der Männer und sechsundzwanzig Prozent der Frauen.

Was nun unser eigentliches Thema, den Handel mit "unzüchtigen" Fotos angeht, so stellte die Kommission eine anscheinend unabänderliche Abnahme fest. Erstens waren Fotos leicht zu kopieren. Zweitens machten die neuen, selbstentwickelnden Kameras es ihren Besitzern leichter als je, ihre eigenen Bilder aufzunehmen. Drittens wurden nun andere, bessere Erotika angeboten, und viertens garantierten auch die neuen, besonders aus Skandinavien importierten "Porno"-Magazine eine bessere Bildqualität. Es blieben also eigentlich nur zwei Medien von wirklicher kommerzieller Bedeutung übrig: Filme und Magazine.

Da inzwischen noch die TV-Kabelstationen und die Videokassetten hinzugekommen sind, hat sich die Situation seit 1970 schon wieder entscheidend verändert. Wenn auch deutlich spürbar, sind die neuesten Entwicklungen aber noch nicht genügend erforscht und dokumentiert, um hier definitiv gewürdigt werden zu können. Das gilt auch für die "Porno"-Magazine jüngster Machart, die im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre zunehmende Konkurrenz von seiten "regulärer" Zeitschriften bekommen haben und in den USA vielerorts schon offen verkauft werden dürfen.

In Europa gar hat sich, nach der dänischen und schwedischen Freigabe der "Pornographie", eine allgemeine Liberalisierungswelle bemerkbar gemacht, die - wenn heute auch verlangsamt immer noch weiterrollt. Kurz, obgleich eine genaue Analyse der gegenwärtigen Situation noch aussteht, kann festgestellt werden, daß die Bedeutung des "unzüchtigen" Fotos weiter gesunken ist - eine Tendenz, die sich in der nächsten Zukunft noch beschleunigen dürfte, wenn nicht alle diesbezüglichen Zeichen täuschen.

Versuche gesetzlicher Eindämmung

Die bildliche Darstellung von nackten Menschen, Geschlechtsorganen und sexuellen Handlungen ist seit frühesten Zeiten bei fast allen Völkern nachgewiesen. Oft besaßen sie allgemein religiöse oder speziell kultische Bedeutung, aber auch weltlich-volkstümliche oder scherzhafte "Unzüchtigkeit" finden sich häufig. Die Zensur solcher Werke ist dagegen in der Menschheitsgeschichte relativ neu, es gibt sie praktisch erst seit Beginn des vorigen Jahrhunderts, auch wenn sich die Ursprünge noch einige Jahrzehnte weiter zurückverfolgen lassen.

Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren die Staaten Zentraleuropas. Den Anlaß, sich um die sittliche Gefährdung ihrer Bürger Sorgen zu machen, gaben den europäischen Regierungen zunächst Bücher, und zwar zu jenem Zeitpunkt, als sich die Lesefähigkeit und die Lust am Lesen auch in den mittleren und unteren Schichten verbreitete. Der früheste Fall, in dem eine Verurteilung wegen Publikation eines "unzüchtigen" Romans ausgesprochen wurde, ist uns aus dem Jahr 1727 überliefert. Doch dieser vor einem Londoner Gericht verhandelte Fall ist noch nicht ganz eindeutig, denn das "Venus in the Cloister" betitelte Werk, das den Stein ins Rollen gebracht hatte, trug auch antireligiöse Züge, die ja schon seit sehr viel längerer Zeit verfolgt wurden.

Jedenfalls zirkulierten "unzüchtige" Schriften noch ziemlich frei in ganz England bis ins 19. Jahrhundert hinein. Erst 1824 wurde ein Gesetz gegen die öffentliche Zurschaustellung "obszöner" Bücher und Bilder erlassen, dem 1853 eins gegen die Einfuhr von "obszönem" Material folgte -wohl um den Handel mit "unzüchtigen" Fotos französischer Herkunft zu unterbinden. Und dann dauerte es noch einmal vier Jahre, bis ein Gesetz jeglichen Vertrieb von "obszönern" Material verbot, ohne indes genau zu definieren, was unter diesem Begriff zu verstehen sei.

Die erste juristische Definition wurde erst mehr als zehn Jahre später nachgeliefert, als "Der demaskierte Beichtstuhl", ein antikatholisches Pamphlet militanter Protestanten, zur Diskussion stand. In ihrer Urteilsbegründung führten die Richter folgendes aus: "Der Test der Obszönität liegt darin, ob die beanstandete Sache die Tendenz hat, diejenigen zu verderben und zu korrumpieren, deren Geist solchen unmoralischen Einflüssen offensteht und in deren Hände eine solche Publikation fallen könnte." (Queen vs. Hicklin, 1868)

Damit war ein Prinzip aufgestellt, das in der angelsächsischen Rechtsprechung noch lange gültig bleiben sollte und das auch Parallelen in anderen europäischen Rechtssystemen fand: Schutz der geistig Schwachen und moralisch Labilen vor Sittenverderbnis. Dementsprechend wurden im Endeffekt vor allem Kinder und Jugendliche, das gesamte weibliche Geschlecht und die Arbeiterklasse als dieses Schutzes bedürftig erklärt.

Es versteht sich natürlich von selbst, daß die Richter, Staatsanwälte, Büttel, Geschworenen, Polizisten und Zensoren sich immer zutrauten, auch die gröbste Unzüchtigkeit ohne böse Folgen für ihre eigene Moral in Augenschein zu nehmen. Da sie ja geistig stark und moralisch gefestigt waren, stellte das Material für sie keine Gefährdung dar. Im Gegenteil, je mehr sie davon zu Gesicht bekamen, um so klarer wurde ihre sittliche Erhabenheit. Das läßt sich sehr gut am Beispiel der amerikanischen Zensur illustrieren.

Exkurs: Der "Kampf gegen Schmutz und Schund" in den USA

Die neuenglischen Kolonien kannten zunächst keine Zensur gedruckter "Unzüchtigkeiten", wohl hauptsächlich, weil es entsprechende Werke dort kaum gab. Erst 1711 verabschiedete die Kolonie Massachusetts ein Zensurgesetz gegen "schmutzige und obszöne" Bilder und Schriften, doch während der ganzen Kolonialzeit Neuenglands gab es keinen Prozeß, der sich auf dieses Gesetz gestützt hätte, die erste Verurteilung wegen Zurschaustellung eines "unmoralischen Bildes" datiert von 1815.

Ähnlich wie in England häuften sich die Prozesse dann aber erst um 1870. Und wie in England war dies ein Ergebnis großangelegter Kampagnen, die von organisierten "Unzucht-Jägern" geführt wurden, gutsituierten Bürgern zumeist, denen der Kampf für die "Unterdrückung des Lasters" Anlaß zur Entfaltung von geradezu missionarischem Eifer bot.

Zum Inbegriff dieser "Unzucht-Jäger" avancierte in den USA ein Mann namens Anthony Comstock. Auf sein Betreiben verabschiedete der Kongreß 1873 das sogenannte Comstock-Gesetz, das die postalische Versendung von "obszönem Material" unter Strafe stellte. Unter dieses Gesetz fiel auch jedwede Information über Empfängnisverhütung, gleichgültig, ob gedruckt oder handgeschrieben. Comstock selbst wurde zum Sonderbeauftragten der Post ernannt und begann darauf als alleiniger, unumschränkter oberster Zensor der gesamten Vereinigten Staaten ein persönliches Schreckensregiment von über vierzig Jahren. Unter seinen Opfern waren aber nicht nur Händler und Kunden von Fotos und Büchern, sondern auch viele Ärzte und Krankenschwestern, denen er mit gefälschten Briefen und unter Vorspiegelung dramatischer Notfälle Ratschläge zur Empfängnisverhütung entlockte. Comstocks ganzer Stolz war es dann, diese Ärzte ins Gefängnis zu bringen und beruflich zu ruinieren.

Diese fast unglaubliche Tyrannei eines einzelnen, die allen politischen Freiheitsprinzipien Amerikas ins Gesicht zu schlagen scheint, ist nur erklärbar vor dem Hintergrund des puritanischen Erbes, das bis heute in weiten und einflußreichen religiösen Kreisen nachwirkt. Diese Kreise lieferten und liefern denn auch die politische Unterstützung aller Zensurbestrebungen. Demgegenüber konnte sich die rationalistisch-aufklärerische Tradition der amerikanischen Revolution immer nur schwer behaupten.

Das Comstock-Gesetz ist im wesentlichen heute noch in Kraft, wenn nun auch die Information über Empfängnisverhütung nicht mehr unterdrückt wird. Die einzelnen amerikanischen Bundesstaaten haben seither außerdem ihre eigenen Comstock-Gesetze verabschiedet, und 1957 stellte der US Oberste Gerichtshof sogar ausdrücklich fest, daß "Obszönität" nicht unter die verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit falle (Roth vs. U.S.). Andererseits fand der Gerichtshof 1969 auch, daß die Verfassung dem Bürger das Recht gebe, "obszönes Material" privat zu besitzen (Stanley vs. Georgia).

In diese Zeit fällt auch die Arbeit der oben erwähnten Obszönitäts-Kommission des Kongresses, die dann 1970 ihren Bericht mit der Empfehlung abschloß, die Herstellung und den Vertrieb von "obszönem" Material unter willigen Erwachsenen freizugeben. Dieses Arbeitsergebnis fand aber weder bei dem damaligen Präsidenten Nixon noch beim Kongreß selber Beifall, wurde ohne weitere Prüfung kurzerhand abgelehnt und danach ignoriert. Ja, die entsprechenden Gesetze wurden teilweise noch verschärft, und 1973 entschied der Oberste Gerichtshof, daß die einzelnen Bundesstaaten in einem gewissen Rahmen ihre eigenen Bestimmungen der "Obszönität" entwickeln können (Miller vs. California).

In diesem Rahmen gelten zur Zeit folgende Bedingungen: Material ist dann "obszön", wenn der Durchschnittsbürger, der heutige Normen seiner "Gemeinde" anlegt, findet, es wende sich als Ganzes gesehen an "lüsterne" Interessen, wenn eine Darstellung ein durch bundesstaatliches Gesetz genau definiertes Sexualverhalten in offenbar schamverletzender Weise abbildet und wenn das Werk keinerlei ernsthaften literarischen, künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Wert besitzt. Alle drei Bedingungen müssen jedoch zusammenkommen, wenn das Urteil "obszön" Rechtskraft haben soll.

Das klingt nicht besonders repressiv, hat aber tatsächlich doch dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet. Vage Begriffe wie Durchschnittsmensch, Normen der "Gemeinde", schamverletzend und ernsthafter Wert werden leicht je nach Ort und Zeit verschieden ausgelegt. Das Wort "lüstern", das nun gesetzlich genauer definiert ist, soll übrigens ein "schändliches und morbides Interesse an Nacktheit, Sex und Körperausscheidungen" bezeichnen.

Also wird heute gewöhnlich vor Gericht ein und dasselbe sexuelle Interesse vom Ankläger als "schändlich und morbide" und vom Verteidiger als "ehrbar und gesund" bezeichnet.

Die ganze Situation ist weiterhin äußerst verworren, besonders auch, weil nur "Gemeinde"-Normen, nicht landesweite, nationale Normen entscheidend sind. In der Praxis heißt dies nichts anderes, als daß die Normen der engstirnigsten Landgemeinde erfolgreich auf die ganze Nation ausgedehnt werden können. Da das Comstock-Gesetz noch besteht, lassen sich unerkennbare Polizeiprovokateure sexuell explizites Material mit der Post in solche konservativen Gemeinden schicken und gehen dann dort damit vor Gericht. Die Normen der örtlichen Geschworenen entscheiden dann über die Obszönität, und der weit entfernte großstädtische Händler oder Produzent wird verurteilt.

Eine weitere Verfolgungsmöglichkeit eröffnet sich durch die amerikanischen Verschwörungs-Gesetze, die es erlauben, jemanden wegen "Verschwörung" zur Ausführung eines Verbrechens anzuklagen, selbst wenn kaum Aussicht besteht, ihn des Verbrechens selbst zu überführen. Das Verbrechen wird auch manchmal milder bestraft als die "Verschwörung", es zu begehen.

All dies führt auch heute noch in den Vereinigten Staaten zu grotesken Situationen. Einerseits ist auch dort eine deutliche Liberalisierung auszumachen, und "Pornoläden und -kinos" finden sich in fast jeder größeren Stadt, andererseits aber gehen periodisch örtliche Razzien und Verhaftungswellen wie eh und je weiter. Eine weitere Komplikation liegt auch noch darin,

daß allein schon auf Bundesebene vier verschiedene Agenturen mit der Überwachung der "Obszönität" betraut sind - die Federal Communications Commission, die Post, das FBI und das Zollamt. Hier überschneiden sich teilweise die Kompetenzen, und so ist für den Hersteller und Verbraucher von Erotika die Konfusion komplett.

Repressions-Thesen

Der vorstehende historische Rückblick für ein großes christlich-westliches Land mag zur Illustration einiger allgemeingültiger Thesen dienen: Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen der Verfolgung von "Unzüchtigkeit" und religiösem Glauben, besonders dem Puritanismus. Zunächst war es ein antireligiöses Moment im "obszönen Material", das zu seiner Unterdrückung führte. Nicht so sehr die Katholiken oder die anglikanische Hochkirche wie die Puritaner fühlten sich durch "Obszönität" an sich gestört. Nicht zufällig besaßen sie ja auch eine sehr strenge Sexualgesetzgebung, die versuchte, eine besonders enggefaßte sexuelle Norm durchzusetzen. Diese Sexualgesetzgebung aber war das Primäre, die Zensur von Obszönität war nur die sekundäre Folge davon. Ironischerweise ist in Amerika heute vielerorts das Gegenteil eingetreten: Die Sexualgesetzgebung erlaubt Handlungen, deren Abbildung nicht verbreitet werden darf. Hier zeigt sich ein merkwürdiges Beharrungsvermögen von Bilderverboten.

Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen der Verfolgung von "Unzüchtigkeit" und wachsender Lesefähigkeit in der Bevölkerung. Je mehr Menschen, besonders aus den unteren Schichten, lesen lernten, je mehr Buchkonsumenten es also gab, um so mehr sorgten sich die Oberschichten, das heißt die Gesetzgeber, Richter, Geistliche und Regierungsbeamte, um deren moralisches Seelenheil. Die Ausbreitung der Zensur verläuft parallel zum Wachstum des Lesepublikums. Das gilt auch für die zunehmende Herstellung und Verbreitung von "unzüchtigen" Bildern, deren leichtere technische Reproduzierbarkeit eine immer weitergehende Zensur mit einem entsprechenden Verfolgungsapparat auf den Plan rief. Bemerkenswert ist auch, daß die Oberschichten niemals fürchteten, selber durch den sortierenden Umgang mit dem gefährlichen Material moralisch infiziert zu werden. So blieb etwa Comstock durch all die Jahrzehnte seiner Obszönitätenjagd für jeden sichtbar "seelisch sauber", wofür ja gerade seine unermüdliche Suche nach "Schmutz" den schönsten Beweis bot.

Schließlich ist noch festzustellen, daß die Zensur anfangs nur gegen künstlerisch und literarisch minderwertige oder zumindest fragwürdige Werke gerichtet war, die zudem noch antireligiöse Elemente enthielten. Die Verfolgung aller "unzüchtigen", auch künstlerisch, literarisch oder wissenschaftlich bedeutender Werke setzte erst ein, nachdem die ursprünglich anders motivierten Anti-Obszönitätsgesetze schon eine Zeitlang in Kraft gewesen waren.

Interessant ist auch Comstocks erfolgreicher Versuch, die Unterdrückung von schriftlicher und bildlicher "Obszönität" mit dem Kampf gegen die Geburtenkontrolle zu verbinden. Hier wird ein frauenfeindliches Moment der Zensur deutlich, das nicht nur starre Sexualnormen für beide Geschlechter, sondern noch zusätzlich eine enge weibliche Geschlechtsrolle gegen alle modernen sozialen Strömungen durchsetzen will. Insofern waren Frauen eben auch eine "Unterklasse", der man den Zugang zu Mitteln der Selbstbestimmung glaubte versperren zu müssen.

Diese Thesen werden auch durch das europäische Beispiel erhärtet. Im Mittelalter, in Reformation und Gegenreformation waren es geistliche Gerichte, die sich mit Sachen der Moral befaßten und eine gewisse Zensur ausübten. Dabei standen aber immer die Gotteslästerung und die Ketzerei im Vordergrund. Als Ergebnis der Revolution in Frankreich wurde dort 1791 mit den geistlichen Gerichten auch die Zensur aufgehoben, und alles, auch die gröbste "Unzüchtigkeit", konnte frei gedruckt werden.

Aber die Freiheit dauerte nicht lange, und schon 1810 verbot der neue "Code pénal" jede Ausstellung und Verbreitung von Material "gegen die guten Sitten". Dieser napoleonische Kodex wurde auch für die deutschen Staaten vorbildlich, und so führten beispielsweise auch Sachsen (1838), Braunschweig (1840), Hessen (1841), Baden (1845) und Preußen (1851) entsprechende Gesetze ein. Frankreich selbst verschärfte im Lauf der Zeit seine Gesetzgebung noch und verbot "jede Verletzung der öffentlichen und religiösen Moral und der guten Sitten" sowie "unzüchtige" Bücher und Bilder. Das oben geschilderte Beispiel der Vereinigten Staaten lief also, trotz eines anderen Rechtssystems, all diesen Entwicklungen parallel und erweist sich damit als typisch.

Der damals in England formulierte, bereits erwähnte Test für "Obszönität", das heißt die moralische Gefährdung der geistig und sittlich Labilen (Queen vs. Hicklin, 1868), wurde implizit auch in den anderen europäischen Ländern angewandt. Man versuchte die "guten Sitten", die "Sittlichkeit", die "Schamhaftigkeit" oder das "Schamgefühl" zu schützen. Diese bewußt vagen Formulierungen erlaubten bald eine engere, bald eine weitere Auslegung und konnten auch dazu dienen, jede Information über Empfängnisverhütung zu unterdrücken. Tatsächlich wurden dann auch bis in unser Jahrhundert hinein in Europa Ärzte verurteilt, die solche Information gegeben und damit gegen "die guten Sitten" verstoßen hatten.

Im neu gegründeten Deutschen Reich empfand die Regierung bald den Wunsch nach weiteren Restriktionen. Bezeichnend dafür war die 1892 im Reichstag vorgelegte Lex Heinze. Benannt nach einem mörderischen Zuhälter, der Heinze hieß, sollte dieses Gesetz ursprünglich mit Zuhälterei und Prostitution aufräumen, wurde dann aber zum möglichen Instrument einer literarischen und künstlerischen Zensur umgebogen. Nach dem Entwurf sollte selbst Material verboten werden, das, "ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzt". Sofort meldeten sich viele bedeutende Schriftsteller und Künstler, die diesen "Kautschuk­Paragraphen" bekämpften und auch endlich zu Fall brachten. Was dann schließlich Gesetz wurde, war wesentlich milder formuliert und betraf vor allem den Schutz von Jugendlichen.

Der besondere Schutz von Jugendlichen vor sexuellen Schriften und Bildern, der noch im Mittelalter niemandem eingefallen wäre und den man auch in der frühen Neuzeit nicht erforderlich fand, läßt sich nur im Zusammenhang mit der zunehmenden Infantilisierung des Kindes und der folgenden Herausbildung einer eigenen Adoleszenzperiode erklären. Diese Entwicklungen begannen erst im 17. und 18. Jahrhundert und verstärkten sich danach immer mehr. Hand in Hand damit ging eine "negative Sexualerziehung" oder bestenfalls ein Schwund an sexueller Information.

Schon im 18.Jahrhundert entdeckten Ärzte außerdem die angeblichen Gefahren der Masturbation für die Gesundheit, und seither galten junge Menschen prinzipiell für besonders bedroht. Sie sollten so lange wie möglich "unschuldig" bleiben und weder Empfängnisverhütung noch überhaupt Geschlechtsverkehr praktizieren. Aber auch die Selbstbefriedigung galt als verpönt, denn gerade ihr schrieb man die fürchterlichsten Krankheiten zu. Noch 1927 lag dem Reichstag ein Gesetzentwurf vor, der alles Material für Jugendliche verbieten sollte, das "unzüchtig oder doch geeignet ist, das Geschlechtsgefühl der Jugend zu überreizen oder irrezuleiten". Hier wirkte noch der alte medizinische Aberglaube nach. Im Endeffekt stellten die Jugendlichen daher, genau wie die Frauen, eine "Unterklasse" dar, wenigstens was den Zugang zu Sexualinformationen betraf.

Zur internationalen Rechtslage

Die mehrfach erwähnte amerikanische Kongreß-Kommission von 1970 gab unter anderem auch eine Übersicht über die internationale Rechtslage in bezug auf "obszönes" Material. Zwar wurden hier zumeist nur westliche Länder erfaßt, es erwies sich aber, daß sie fast alles derartiges Material gesetzlich verfolgten. Die genaue Definition von Obszönität war allerdings stets vage, und so gab es auch vielerorts Liberalisierungstendenzen, die auf eine Freigabe wenigstens für Erwachsene abzielten. Nur Dänemark hatte zu diesem Zeitpunkt diesen Schritt getan (1967 Bilder, 1969 Schriften).Die damals noch neuen Erfahrungen Dänemarks wurden bereits in dem Kommissionsbericht angeführt und sind auch seither immer wieder diskutiert worden. Der Bericht würdigte die Erfahrungen als durchaus positiv und zitierte sie als Beleg für seine eigene Forderung nach Freigabe auch in den Vereinigten Staaten. Ein abweichender Minoritätsbericht einiger Kommissionsmitglieder aber berief sich auf Hamlet, es sei "etwas faul im Staate Dänemark". Statt dessen berief man sich auf eine angebliche "Volksmeinung".Der Majoritätsbericht erschien ihnen als eine "Magna Charta für Pornographen".

Wie die gesamte Kommissionsarbeit bewies, waren diese gegensätzlichen Standpunkte nicht durch empirische Forschung zu überbrücken. Vielmehr standen sich hier zwei unversöhnliche weltanschauliche Grundhaltungen unerschütterlich gegenüber. Die eine Seite vertrat auch sexualethisch einen demokratischen Pluralismus und sah selbst in ungeordneter Lustbefriedigung keine große Gefahr, solange dabei nicht Rechte von anderen verletzt wurden. Die Gegenseite vertrat einen letztlich religiös motivierten sexuellen Dogmatismus, dessen starres Normensystem sich durch jede offen dargestellte und tolerierte Abweichung ernsthaft bedroht sah: "Die offenbare, zu schützende Moral besteht in Keuschheit, Schamhaftigkeit, Mäßigung und aufopfernder Liebe. Das offenbare, zu verhindernde Übel besteht in Geschlechtsgier, Exzeß, Ehebruch, Inzest, Homosexualität, Bestialität, Masturbation und unehelichem Geschlechtsverkehr."

Der hier beschworene, seltsam gemischte Gefahrenkatalog wurde zwar gar nicht ursächlich aus dem "Pornohandel" abgeleitet, er sollte aber dennoch ausschlaggebend sein. In der Tat enthüllt er die wirkliche Angst der Zensoren: Es ist das Unordentliche, Ungezügelte, Unerzogene, Freche an der "Unzüchtigkeit", das Unangepaßte, Subversive, Anarchische, das aufmüpfig Primitive - ihre unkontrollierte Phantasie sowohl wie ihr "unsauberer" Realitätsgehalt, von denen die Bedrohung ausgeht.

Gleichzeitig beweist die zunehmend weite Verbreitung "unzüchtiger" Schriften und Bilder, ihre heimliche Beliebtheit, ja Volkstümlichkeit, wie vergeblich im Grunde alle Zensurversuche sind. Diese vermeintliche Frustration erklärt auch zum Teil den oft aggressiven Ton der Sittenwächter. Wo man den Vertrieb von "unzüchtigem" Material verbietet, schafft man ja stets eine sogenannte "Straftat ohne Opfer". Mit anderen Worten, weder der Produzent, noch der Händler, noch der Konsument fühlt sich geschädigt und ruft die Polizei zu Hilfe. Im Gegenteil, diese muß selbst die Initiative ergreifen und einen Handel zu unterbinden suchen, der von allen Beteiligten innig gewünscht wird. Es versteht sich aber von selbst, daß für den Staat dabei nur Teilerfolge möglich sind. Die "Flut des unzüchtigen" Materials kann bestenfalls nur schwach eingedämmt, nicht aufgehalten werden.

All dies müssen aber auch heutige Kämpfer gegen die "Pornographie" bedenken. Dieser Kampf setzt sich zum Beispiel heute in den Vereinigten Staaten teilweise im Namen des Feminismus fort. Viele Frauen empfinden nun, daß besonders "unzüchtige Bilder" ihr Geschlecht als Ganzes erniedrigen, indem sie den weiblichen Körper als reines Lustobjekt, oft auch für sadistische Phantasien, darstellen. Im Augenblick versuchen amerikanische Feministinnen, einen zivilrechtlichen Weg zu beschreiten, indem sie in einigen Städten die Pornographie als geschlechtliche Diskriminierung definieren und als solche verbieten lassen. So trat etwa in Indianapolis am 1. Mai 1984 eine entsprechende städtische Verordnung in Kraft. Jede Frau, die sich geschädigt fühlt, kann nun innerhalb der Stadt eine Zivilklage wegen Benachteiligung anstrengen. Wie immer in Amerika, kann eine solche Klage aber über Jahre durch viele Instanzen bis zum Obersten Gerichtshof gehen, und dort ist der Ausgang durchaus unsicher. Im Hinblick auf alles vorstehend Gesagte, darf man auch zweifeln, daß diese neue rechtliche Waffe einen endgültigen Sieg verbürgen wird. Wenn sich hier überhaupt etwas ändern soll, so muß man wohl eher an außerjuristische Mittel denken. Daß man dabei aber im Rahmen der rechtsstaatlichen Ordnung bleiben muß, ist andererseits selbstverständlich.

"Unzüchtige" Fotos aus sexualwissenschaftlicher Sicht

Wie eingangs erwähnt, geht die Fotosammlung des Kinsey-Instituts auf die Absicht seines Gründers zurück, menschliches Sexualverhalten ebenso lücken- wie vorurteilslos zu dokumentieren. Dementsprechend fand er keine Verwendung für solche wertenden, ursprünglich religiösen Begriffe wie "Perversion". Gleichermaßen unwissenschaftlich fand er es, einen Unterschied zwischen "ordinären Pornobildern" und vornehmeren, edleren "Erotika" zu machen. Denn ihn interessierte nur, daß beide Spielarten ganz offensichtlich auf die sexuelle Erregung hin inszeniert waren. Damit aber wurde die subjektive Erregbarkeit des Betrachters zum wissenschaftlichen Hauptproblem, Fragen des Geschmacks wandelten sich zu Fragen sexueller Vorlieben.

Bei seinen diesbezüglichen Forschungen fand Kinsey, daß die sexuelle Ansprechbarkeit auf rein visuelle Reize bei Männern sehr viel häufiger anzutreffen war als bei Frauen, woraus sich - wenigstens teilweise - der höhere männliche "Pornoverbrauch" und die auf männliche Vorlieben zugeschnittenen Bildinhalte erklärten.

Dieser Befund ist seither relativiert worden, da man inzwischen auch bei Frauen eine höhere Ansprechbarkeit festgestellt hat, und gewisse amerikanische Nacktmagazine, Bildkalender und Postkarten aus neuester Zeit, die sich gezielt an weibliche Käufer wenden, stellen einen gewissen Zusatzbeweis dar. Auch finden sich in mehreren amerikanischen Städten nun von Frauen besuchte Clubs mit männlichen Striptease-Artisten. Wieweit sich auf diesem Gebiet aber jemals ein wirkliches Gleichgewicht der Geschlechter einstellen wird oder kann, ist sehr fraglich. Hier ist wohl mehr im Spiel als die verschiedene männliche und weibliche Sozialisierung.

Darauf verweist auch der ausgesprochene Unwille, ja heftige Zorn mancher Feministinnen gegenüber der "Pornographie". Eine entsprechende Reaktion auf der Männerseite fehlt völlig, selbst bei homosexuellen Männern gegenüber homosexueller Pornographie, in der man, abstrakt-logisch, eine Parallele erblicken könnte. Dennoch, selbst in sadomasochistischen Bildern und Filmen stört es die männlichen Modelle niemals, bloße "Lustobjekte" zu sein, und auch ihre männlichen Betrachter und Zuschauer kommen nicht auf den Gedanken, hier eine Erniedrigung ihres ganzen Geschlechts zu erblicken.

Wenn in der Vergangenheit Männer gegen "unzüchtige" Bilder auftraten, so waren sie, wie wir gesehen haben, oft besonders frauenfeindlich, und ihr Kampf galt gleichzeitig auch immer der weiblichen Selbstbestimmung und geschlechtlichen Gleichberechtigung. Auch heute finden Feministinnen in solchen Männern leicht unwillkommene Verbündete, wenn es um die Unterdrückung von "Pornographie" geht.

Das heißt natürlich nicht, daß die heutige feministische Perspektive falsch ist, sondern nur, daß es verschiedene Perspektiven gibt, von denen einige möglicherweise geschlechtsspezifisch sind. Ob sich eine geschlechtsspezifische Einstellung auch noch in einer Gesellschaft völliger sexueller Gleichberechtigung finden würde, ist schwer zu sagen. Möglicherweise würden sich da aber auch einige Akzente in der "Pornographie" selber verschieben. Letztlich muß man mit all solchen Spekulationen sehr vorsichtig sein, denn gerade die Einstellung zu sexuellen Dingen kann sich individuell und gesellschaftlich auf überraschende Weise ändern. Das erwies sich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten der sechziger Jahre, als man dort anfing, "unzüchtige" Bilder und Filme in der Sexualerziehung von Geistlichen, Ärzten und anderen Fachleuten einzusetzen.

Seither hat sich der Gebrauch audiovisueller Hilfsmittel für die verschiedensten Studienfächer in amerikanischen Universitäten so eingebürgert, daß er kaum noch wegzudenken ist. Die San Francisco State University zum Beispiel veranstaltet seit 1970 eine Einführungsvorlesung zum Thema "Menschliche Sexualität", in der die erwähnten Filme als Anschauungsmaterial dienen. Die Vorlesung ist die größte der Universität überhaupt und wird von Studenten der Biologie, Psychologie, Anthropologie, Soziologie und Sozialarbeit besucht und voll auf das jeweilige Studium angerechnet.

Diese neuartigen Filme unterscheiden sich von der kommerziellen "Pornographie" erheblich, und zwar nicht in ihrer inhaltlichen Vollständigkeit oder im Grad ihrer Deutlichkeit, sondern in ihrer inneren Struktur. Das heißt, die "sexuellen Dokumentarfilme" zeigen in jeder Einzelheit alle denkbaren sexuellen Praktiken, aber sie verwenden weder Schauspieler, noch folgen sie einem Drehbuch, einer Regie oder irgendeinem anderen vorgefaßten Schema. Statt dessen bemühen sie sich, das tatsächliche Sexualverhalten wirklicher Menschen in deren eigener Umgebung ohne jede Suggestion oder Anweisung so wirklichkeitsgetreu wie möglich festzuhalten. So sind inzwischen authentische Filme von Männern und Frauen jeden Alters, jeder körperlichen Verfassung und jeder geschlechtlichen Orientierung vorhanden. Hier wurde tatsächlich Neuland betreten, denn realistische filmische Darstellungen des Sexualverhaltens etwa bei älteren Menschen oder Querschnittgelähmten waren vorher unbekannt. Es ergab sich außerdem, daß diese Filme, richtig eingesetzt, durchaus eine willkommene erzieherische Wirkung hatten, denn sie klärten selbst Fachleute anschaulich über die enorme individuelle Variationsbreite im menschlichen Geschlechtsleben auf, bauten Vorurteile ab, verwiesen auf therapeutische Möglichkeiten und wirkten insgesamt entkrampfend auf den Beobachter, das heißt auch den Laien, der danach sehr viel leichter die richtige Einstellung und den richtigen Ton im pädagogischen oder therapeutischen Gespräch fand.

So wurden und werden denn auch alle verfügbaren audiovisuellen Hilfsmittel (Dias, Tonbänder, Filme und Videokassetten) geballt in sogenannten S. A. R. (Sexual Attitude Restructuring) -Kursen eingesetzt, die starre sexuelle Einstellungen bei den Teilnehmern in Richtung auf größere Toleranz zu ändern versuchen. Die größere Toleranz sich selbst und anderen gegenüber wird auf diese Weise auch meist bei der ganzen Gruppe erreicht, so daß man, wenigstens in diesem Fall, vom sozialen Nutzen "unzüchtiger" Bilder und Filme sprechen kann. Selbst einige sexuell gestörte Patienten, deren Familien und Betreuer können von solchen Filmen profitieren, und daher sind sie seit einigen Jahren auch selektiv in der deutschen sexualmedizinischen Fortbildung eingesetzt worden.

So klar nun auch die Unterschiede zwischen den neuen Dokumentarfilmen und den herkömmlichen "Pornofilmen" sind, so betreffen sie doch nicht das, was in der Vergangenheit als "unzüchtig" galt und verboten war, nämlich die bildliche Darstellung von Geschlechtsakten. Das heutige Neue wäre also in dem hier behandelten Jahrhundert von 1850 bis 1950 in jedem westlichen Land auf jeden Fall ebenfalls verboten gewesen. Es scheint aus heutiger Sicht also, daß man auch schon damals einen Unterschied zwischen "sexuellem Dokument" und "Pornobild" hätte machen sollen. Natürlich ist das eine reine Gedankenspielerei, denn offensichtlich war unseren zensierenden Vorfahren eine solche Unterscheidung nicht möglich, da ihr Sinn für die sexuelle Realität von dem unseren völlig abwich. Umgekehrt aber ebnen sich für uns heute rückblickend auch alle Differenzen ein, denn indem die früheren Bilder historisch altern, werden sie allesamt zu Dokumenten. Ihre sexuell stimulierende Aura schwindet, und nur ihr reizlos gewordener faktischer Inhalt bleibt als Teilinformation zurück. Diese Information ist nicht wertlos, aber sie bedarf des kalt systematisierenden Blicks, um wissenschaftlich verwertbar zu werden. Kinsey hatte sich diesen Blick angewöhnt, und so konnte er mit seiner Sammlung die Grundlage für eine erweiterte Sicht des menschlichen Sexualverhaltens liefern.

Erwin J. Haeberle