Erwin J. Haeberle

AIDS als politisches Problem

Ursprünglich erschienen in:
Die Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte, 35. Jahrgang,
Nrn. 3 (Teil I) u. 4 (Teil II), März u. April 1988,
H. Börner, W. Dirks, E. Kogon, J. Rau, H. O. Vetter, H.-J. Vogel,  H. Wehner (Hrsg.),
Verlag Neue Gesellschaft GmbH, Bonn, 1988, S. 272-277 (Nr. 3) u. S. 392-400 (Nr. 4)

Teil I: Erfahrungen in den USA
Lehren aus den USA
Handlungsmodelle
Politische Warnsignale
Teil II: Anwendung der US-Erfahrungen in West-Europa
Grundbedingungen erfolgreicher AIDS-Politik
1. Politische Führung
2. Gesellschaftlicher Konsens
3. Staatliche Zurückhaltung

Das Nötige, das Mögliche und das Übliche

 

Teil I: Erfahrungen in den USA

  AIDS hat sich in wenigen Jahren über die ganze Erde verbreitet. Einige Länder der Dritten Welt stehen bereits vor einer gesundheitlichen Katastrophe. Aber auch viele westliche Industrienationen, allen voran die USA, sind schon so stark betroffen, daß man bei ihnen von einem nationalen medizinischen Notstand sprechen darf. Dieser liegt zwar nicht in der gegenwärtigen, sondern eher in der künftigen Zahl der Fälle, aber man weiß ja, daß man das Zahlenwachstum fast bis zum Ende des Jahrtausends nicht mehr wesentlich beeinflussen kann. Die meisten Kranken der nächsten fünf, sieben, zehn, vielleicht zwölf Jahre sind schon infiziert. Also muß man sich auch heute schon auf eine entsprechende Welle von Patienten vorbereiten, und diese Welle droht endlich zur Sturmflut zu werden, wenn es nicht gelingt, die weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern oder wenigstens bedeutend zu verlangsamen.

 Wie die bisherige Entwicklung zeigt, ist dies aber mit den üblichen Methoden nicht zu erreichen. Der schwedische Arzt Michael G. Koch spricht also nur eine Binsenweisheit aus, wenn er feststellt: "Wenn wir uns nicht zu unüblichen Maßnahmen entschließen, wird sich das Problem auch wie üblich weiterentwickeln - und das bedeutet, daß es uns ebenso entgleiten wird, wie es anderen bisher entglitten ist." (AIDS: Vom Molekül zur Pandemie, Heidelberg 1987, S. 226)

 Lehren aus den USA

 Die ersten amerikanischen AIDS-Kranken waren "schwule" Männer in Los Angeles, New York und San Francisco. Ihre persönliche Geschichte machte sehr bald deutlich, daß es sich um eine neue, sexuell übertragbare Krankheit handelte. Frühzeitige Warnungen besorgter Epidemiologen, die massive Vorbeugungsmaßnahmen und erhebliche Forschungsgelder verlangten, wurden aber zunächst kaum beachtet. Im Gegenteil, man neigte dazu, AIDS als eine "Schwulenpest", d. h. als Problem einer unpopulären Minderheit abzutun. Die amerikanische Bundesregierung blieb weitgehend untätig, und auch in den Bundesstaaten -selbst in New York und Kalifornien - regte sich wenig. Von den unmittelbar betroffenen Städten raffte sich nur San Francisco zu wirklichen Taten auf. Dies lag sicher auch daran, daß nur hier eine politische, gereifte und mächtige "Schwulenszene" weitgehend in die städtischen Machtstrukturen integriert war.

 Die verschiedenen Anstrengungen San Franciscos zur Vorbeugung gegen AIDS und zur Betreuung der Kranken wurden allmählich landesweit und dann weltweit als modellhaft anerkannt. Die Geschichte der AIDS-Bekämpfung in den USA ist seither die Geschichte eines großangelegten und immer wieder behinderten Versuchs, das Vorbild San Franciscos zu erreichen. Dort gibt es mittlerweile kaum noch Neuinfektionen unter homosexuellen und bisexuellen Männern (in dieser Stadt mit über 90 % nach wie vor die größte Patientengruppe). Der phänomenale Erfolg wird nur durch die Einsicht getrübt, daß etwa die Hälfte der städtischen Homosexuellen bereits infiziert war, bevor die Programme greifen konnten für sie kam die Vorbeugung leider zu spät.

 Handlungsmodelle

 Das Modell San Francisco war und ist nicht billig. Die Stadt ist mit etwa 700 000 Einwohnern kleiner als Hamburg, München oder West-Berlin, sie gibt aber allein im laufenden Haushaltsjahr 1987/88 fast 25 Millionen Dollar für AIDS aus, davon 3,5 Millionen nur für die öffentliche und berufliche Aufklärung. Diese wird aber auch noch mit erheblichen Beträgen aus Privatspenden unterstützt. Das Geld geht hauptsächlich an eine weitgehend unabhängige, professionell geführte Aufklärungsorganisation, die San Francisco AIDS Foundation, deren eigener Jahresetat mittlerweile fast 5 Millionen Dollar beträgt.

 Selbstverständlich erlauben solche Beträge eine viel intensivere Arbeit, als man sie in anderen amerikanischen oder gar europäischen Städten kennt. Entscheidend für den Erfolg ist aber die relative Freiheit, in der man ohne amtliche Gängelei operieren kann. Oberhaupt sind außerbehördliche Initiativen für die amerikanische AIDS-Bekämpfung typisch und unverzichtbar. Auch dabei liegt aber San Francisco wieder an der Spitze: Dank seiner freiwilligen Betreuungsprogramme sind hier die durchschnittlichen Behandlungskosten pro AIDS-Patient um die Hälfte niedriger als sonst im Lande. Dieser Umstand allein könnte für San Francisco in Zukunft die Rettung bedeuten, denn schon 1993, also in fünf Jahren, rechnet man hier mit über 4 000 lebenden AIDS-Patienten. Das entspricht etwa der Gesamtzahl aller bisherigen Fälle in der Stadt, die aber dann über 12 000 liegen wird. In den USA rechnet man schon für 1991 mit einer kumulativen Zahl von über 270 000 und im gleichen Jahr mit über 54 000 Todesfällen (mehr als im ganzen Vietnamkrieg). Schon diese Aussichten machen deutlich, daß die Krankenbetreuung San Franciscos überall schleunige Nachahmung verdient.

 In der Tat bildete sich unter den amerikanischen Fachleuten für öffentliche Gesundheit bald eine einhellige Meinung über die notwendigen Maßnahmen heraus. Angefangen vom Surgeon General, dem obersten Gesundheitsbeamten, über die Centers for Disease Control (CDC) bis zur National Academy of Sciences einigte man sich auf eine Reihe von dringlichen Handlungsanweisungen an die Regierung. Danach sollten die erfolgreichen Ansätze San Fanciscos und anderer Städte schnell ausgebaut und auf die Bundesebene übertragen werden. Vor allem sollte eine massive Aufklärung, auch über "safer sex", schon in der Schule erfolgen. Weiterhin sollten alle Zwangsmaßnahmen wie namentliche Registrierung, Einstellungstests oder "Quarantäne" abgelehnt und jede Diskriminierung gegen AIDS-Kranke und "Testpositive" verhindert werden. Schließlich wurden noch verstärkte Forschungsanstrengungen auch auf sozialwissenschaftlichem Gebiet gefordert sowie eine nationale, interdisziplinäre AIDS-Kommission. Alle diese Schritte wurden in verschiedenen Studien erläutert und begründet, besonders ausführlich in einem Bericht des Institute of Medicine der National Academy of Sciences unter dem Titel "Confronting AIDS: Directions for Public Health, Health Care and Research", Washington, D.C. 1986. (Eine deutsche Zusammenfassung wurde vom Bundesminister für Forschung und Technologie veröffentlicht: AIDS: Eine Herausforderung an die Wissenschaft, 2. Bericht, Bonn, Juli 1987, S. 21-62.)

 Wie gesagt, stellt dieser Bericht den Konsens der besten Fachleute dar, und er ist auch de facto zur Grundlage der AIDS-Politik vieler Länder geworden, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt nicht, daß man seine Forderungen überall weit genug und schnell genug erfüllt, aber man erkennt sie oft immerhin theoretisch und im Prinzip als richtig an. Wenn es also heute überhaupt irgendwo eine einheitlich konzipierte AIDS-Politik gibt, so ist ihre Begründung in diesem umfangreichen Bericht nachzulesen.

 Es ist deshalb um so seltsamer, daß er nirgends öffentlich diskutiert wurde oder wird, auch nicht in den USA. Ja, dort wird er von der Regierung bewußt ignoriert und geradezu totgeschwiegen. Aber auch die deutschen Medien haben hier klar versagt. Zum Beispiel ist bisher in keiner führenden Zeitung ein Auszug abgedruckt worden oder eine Rezension erschienen. Obwohl die Bundesministerin Professor Süßmuth sich mit ihren Maßnahmen gegen AIDS am amerikanischen Vorbild orientiert, und obwohl sie sich damit schon Zweifeln und sogar Angriffen ausgesetzt hat, bleibt die deutsche Diskussion weitgehend provinziell, unsachlich und uninformiert. Die wohlerwogene internationale Einmütigkeit unter Gesundheitsfachleuten wird einfach nicht zur Kenntnis genommen.

 Besonders bedenklich ist aber die jüngste Entwicklung in den USA. Der amerikanische Kongreß war endlich dabei, die geforderte nationale Kommission zu schaffen, als Präsident Reagan ihm mit einer eigenen Kommission zuvor kam, die hauptsächlich aus "konservativen" Ideologen ohne fachliche Qualifikationen besteht. Die Frivolität dieser Reaktion auf ein so komplexes und tragisches Problem führte bei vielen Sachkennern zu großer Enttäuschung, bei manchen zur Verbitterung. Die Kommission selber mußte innerhalb weniger Wochen die Rücktritte ihres Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden und der geschäftsführenden Direktorin erleben. Der unerfahrene verbliebene Rest quält sich nun mühselig weiter dahin unter Leitung eines pensionierten Admirals. Die New York Times nannte darauf Präsident Reagans AIDS-Politik in einem bitteren Leitartikel "unbegreiflich und unentschuldbar" (11. Oktober 1987). Inzwischen aber brauen sich um AIDS dunkle sozialpolitische Gewitterwolken zusammen.

 Politische Warnsignale

 Um die kommende AIDS-Katastrophe in den USA vorherzusehen, ist es nicht nötig, ungesicherte epidemiologische Kurven in die ferne Zukunft zu projizieren. Es genügt, mit den heute einigermaßen bekannten Zahlen ein paar Jahre vorauszurechnen. Es zeigt sich dabei, daß es nicht unbedingt die direkten Verwüstungen der Krankheit sind, die das Volk bedrohen, sondern viel eher ihre ungeahnten sozialen "Nebenfolgen". Wahrscheinlich sind es am Ende gar nicht die vielen Todesfälle an sich und auch nicht die Kosten, die man am meisten zu fürchten hat. So gefährlich die Epidemie auch ist, kein Amerikaner glaubt, daß sie sich völlig schrankenlos ausbreiten und die biologische Substanz der Nation bedrohen wird. Insofern ist auch der oft gezogene Vergleich mit der mittelalterlichen Pest unangebracht, wenigstens im industrialisierten Westen. Dort wird sich AIDS auch im allerschlimmsten Fall auf eine Minderheit beschränken.

 Das heißt aber nicht, daß diese Minderheit jemals klar definierbar und somit ausgrenzbar sein wird. Es heißt auch nicht, daß sie sich nur aus den bisher bekannten "Risikogruppen" zusammensetzen wird, also aus homosexuellen und bisexuellen Männern, Fixerinnen und Fixern, Prostituierten und Samen-, Organ- oder Transfusionsempfängern. Einige dieser Gruppen sind schon im Konzept unscharf, und im Laufe der Zeit werden sie sich zwangsläufig noch weiter an ihren Rändern "verfransen". Man wird also immer weniger von "Risikogruppen" und dafür um so mehr von "Risikoverhalten" reden müssen. Dennoch, rein formal und in absoluten Zahlen gesehen, wird die große Mehrheit von AIDS selbst nicht bedroht sein.

 Die Gefahr liegt eher in der unsachgemäßen Bekämpfung von AIDS, die ungewollt die Gesellschaft spalten und dann alle Bürger - Mehrheit und Minderheit, Gesunde und Kranke - in einen Strudel politischer Selbstzerstörung hineinreißen könnte.

 Für amerikanische Epidemiologen läßt sich in Umrissen schon das mögliche Unheil ahnen: AIDS wird einige lange verdrängte soziale Probleme erheblich verschärfen und sie damit in eine plötzliche, grelle Beleuchtung rücken. Zum Beispiel ist die Epidemie nun auch auf dem besten Wege, zu einem Klassen-, wenn nicht sogar Rassenproblem zu werden. Fast die Hälfte der bisherigen rund 50 000 AIDS-Fälle konzentriert sich auf zwei Bundesstaaten: New York und Kalifornien. Ein weiteres Viertel findet sich in nur fünf Staaten: Florida, Texas, New Jersey, Illinois und Pennsylvanien. Sieht man noch genauer hin, so erweist sich, daß vor allem die größten Städte mit schwarzen und/oder braunen Ghettos betroffen sind, und wie man schließlich bemerkt, sind von allen amerikanischen AIDS-Opfern mittlerweile schon etwa 40 % schwarz oder braun (d. h. mexikanischer oder sonst lateinamerikanischer Abstammung).

 Bei ihnen verteilen sich die "Risikogruppen" aber anders als bei den Weißen. Bei diesen sind noch 80 % der AIDS-Kranken durch homosexuellen Kontakt infiziert worden und nur 1 % durch heterosexuellen. Bei den Schwarzen dagegen gibt es lediglich 39 % homosexuelle Ansteckungen gegenüber 11 % heterosexuellen. Weitere 3 6 % sind durch "Fixen" mit gemeinsamen Nadeln infiziert. Ähnlich ist es in den braunen Ghettos, obwohl dort die rein heterosexuellen Fälle noch bei nur 4 % liegen. (Um der Klarheit willen sind hier die homosexuellen Fixer bei allen drei Gruppen ausgespart.)

 All dies bedeutet wahrscheinlich, daß sich AIDS zunächst besonders unter den finanziell Schwächsten weiter ausbreiten wird. Die Ansteckung wird über infizierte "Fixer" auf heterosexuellem Wege schwarze und braune Frauen und Mädchen erreichen sowie deren Kinder. Etwa die Hälfte der bis heute AIDS-krank geborenen Kinder ist bereits schwarz, fast ein weiteres Viertel braun. (Allein in New York schätzt man die Zahl der Infizierten auf über 400 000, von denen über die Hälfte schwarz oder braun und ein gutes Drittel heterosexuell aktiv sind.) Zudem hat man neuerdings in den Ghettos eine dramatische Zunahme der Syphilis beobachtet, und man weiß, daß geschlechtskranke Frauen für das AIDS-Virus besonders empfänglich sind. Kurz, es droht eine neue AIDS-Epidemie in einer Bevölkerungsschicht, die zum großen Teil schon allein die medizinischen Behandlungskosten nicht wird bezahlen können.

 Hinzu kommt, daß die neuen Kranken durch ihre längst bestehende Ghettoisierung in verwahrlosten Stadtvierteln auch räumlich von der gesunden weißen Mehrheit getrennt sind. Dies wiederum wird, wenigstens für eine gewisse Zeit, dieser Mehrheit die weitere Verdrängung des gesamten Problems erlauben. Da die ersten AIDS-Opfer meist homosexuell waren und die neuen heterosexuellen meist schwarz oder braun sein werden, besteht die Gefahr, daß man die Krankheit weiterhin als "Minderheitenproblem" definieren und damit unterschätzen wird.

 Genau diese Unterschätzung von AIDS beginnt man der Regierung Reagan schon heute zum Vorwurf zu machen. Außer der erwähnten unzulänglichen Kommission hat sie nämlich bisher fast nur Versäumnisse aufzuweisen. (Die Geschichte dieser Versäumnisse in den ersten fünf Jahren der Epidemie liegt inzwischen in einer großen Reportage vor: Randy Shilts, And the Band Played On - Politics, People and the AIDS Epidemic, New York 1987.) Millionen von bereits bewilligten Forschungsgeldern zur Erprobung neuer Medikamente sind immer noch nicht ausgegeben, wie denn überhaupt der Kongreß von Anfang an finanziell großzügiger war als die Regierung, die nie wirklich ausreichende Anträge gestellt hat. Freunde und Verbündete des Präsidenten, darunter Vizepräsident Bush, haben zwar vermehrte, auch unfreiwillige Tests gefordert, aber ein Bundesgesetz gegen Diskriminierung der Getesteten wurde ausdrücklich abgelehnt. Die klaren Forderungen des Surgeon General nach schulischer Sexualerziehung wurden durch moralistisches Gezänk im Kabinett untergraben und natürlich auch nicht erfüllt. Stattdessen arbeiten prominente Republikaner sogar daran, das schon erfolgreich benutzte Aufklärungsmaterial für Homosexuelle als "unzüchtig" zu verbieten. Als besonders zynisch aber erscheint es vielen, daß trotz eines großangekündigten angeblichen "Krieges gegen Drogen" die Entziehungsprogramme für "Fixer" drastisch gekürzt worden sind. In New York etwa gelten schon 60 % der dortigen rund 200 000 Fixer als infiziert. Viele wollen"weg von der Nadel", müssen aber monatelang auf einen Entziehungsplatz warten. Inzwischen infizieren sie ihre fixenden Freunde und Sexualpartner.

 Es gibt bereits Stimmen, die hinter der hier erkennbaren behördlichen Fehlplanung eine böse Absicht vermuten. Auch unter den Homosexuellen, die sich vor allem selbst geholfen haben, geht schon das Wort vom bewußten "Genozid" um. Einige sind schon so radikalisiert, daß sie offen nach Widerstand und sogar symbolischen terroristischen Aktionen rufen, Im Oktober 1987 marschierten mehrere hunderttausend auf Washington, D.C., und Dutzende ließen sich vor dem Obersten Bundesgerichtshof verhaften, um gegen die fortgesetzte Kriminalisierung homosexueller Handlungen in 22 Bundesstaaten zu protestieren. Die riesige Demonstration wurde unter anderem auch von zwei wichtigen Bürgerrechtskämpfern aus den sechziger Jahren mit Ansprachen unterstützt - dem schwarzen Präsidentschaftskandidaten Jesse Jackson und dem mexikanisch-amerikanischen Gewerkschaftsführer Cesar Chavez.

 Kurz, hier machten zum ersten Mal Vertreter aller drei Minderheiten gemeinsame Front, die durch AIDS besonders gefährdet und von der Regierung vernachlässigt sind. Wie damals der Vietnamkrieg und die schwarzen Bürgerrechtsforderungen die Nation in antagonistische Lager aufteilten, so sind heute AIDS und die "Schwulenrechte" dabei, im schlimmsten Sinne politisiert zu werden. Die damit auf die Straße verlagerte Diskussion fordert zwangsläufig repressive Gegenpositionen heraus, und die einhelligen Empfehlungen der Gesundheitsexperten drohen, noch mehr als bisher mißachtet zu werden.

 Unterdessen wird die weitere Ausbreitung von AIDS in den Ghettos aber die Mängel der amerikanischen Gesundheitsversorgung unbarmherzig bloßlegen. Schließlich werden die neuen schwarzen und braunen Kranken sich - wie heute schon die homosexuellen - sträflich vergessen, ja verraten und verkauft fühlen. Was sie dann aus diesem Gefühl heraus tun, ist unvorhersehbar. Sollten sie aggressiv werden - ganz gleich in welcher Form -, so wird die Reaktion darauf sicherlich zunächst in weiteren Ausgrenzungsversuchen bestehen. Sicher ist auch, daß die heute noch prinzipiell einheitliche AIDS-Gesundheitspolitik dann mit einer eingefahrenen, komplexen und weitgehend gescheiterten Sozialpolitik vermengt sein wird. Das Problem AIDS wird sich unentwirrbar mit vielen anderen Problemen verknüpfen, die seit Jahrzehnten ungelöst geblieben sind. Was aber bisher kaum beachtet nur hier und da als schwache Glut vor sich hin schwelte, könnte dadurch in Zukunft zum Flächenbrand werden.

 Es wäre naiv, anzunehmen, daß die wachsende Not und Verzweiflung von Minderheiten keine Rückwirkungen auf die anscheinend "unbetroffene" gesunde Mehrheit haben wird. Im Gegenteil, es ist leicht abzusehen, daß alle beschleunigten oder verstärkten Abwehrversuche um so schneller auf die Abwehrenden zurückschlagen müssen. Diese Wahrheit wird nur heute noch nicht von allen bemerkt, weil die Fallzahlen mit "nur" Zehntausenden so klein sind. Wenn aber in wenigen Jahren die Zahl der AIDS-Kranken in die Hunderttausende geht, von denen ein Großteil mittellos ist, dann werden viele heutige unverständliche Warnungen verspätet einsehbar sein.

 Nach Schätzungen des amerikanischen Public Health Service werden allein im Jahre 1991 über 74 000 Männer, Frauen und Kinder neu an AIDS erkranken, und die Gesamtzahl aller Krankheitsfälle wird dann, wie schon erwähnt, über eine Viertelmillion betragen.

 Aber auch diese Projektionen liefern noch ein zu rosiges Bild, denn sie nennen ja nur AIDS, das mögliche Endstadium einer HIV-Infektion. Sie sagen nichts über die "milderen" Fälle von AlDS-bezogenen Zuständen (AIDS-Related Conditions oder ARC), die sehr viel häufiger sind. Genaues weiß man da nicht, aber nach einer bekannten Faustregel kommen aufjeden Fall von AIDS fünf bis zehn Fälle von ARC. Das würde, wiederum nur für 1991, mehrere hunderttausend weitere Patienten bedeuten. Wieviele symptomfreie Infizierte es dann geben wird, weiß niemand - das hängt ja auch von der Wirksamkeit der heutigen Vorbeugung ab -, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt schätzt man ihre Zahl in den USA auf eine bis anderthalb Millionen.

 Was die Kosten der Epidemie angeht, so schätzt man allein die medizinischen Behandlungskosten für AIDS im Jahre 1991 schon auf 8 - 16 Milliarden Dollar. Dabei sind weder die ARC-Patienten mitgerechnet, die ebenfalls Behandlung brauchen, noch die Infizierten, die man zunehmend testen wird und anschließend beraten muß. Vor allem fehlen aber in der Berechnung die Kosten für die Betreuung zu Hause, für Lebensversicherung, Arbeitslosen-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten sowie indirekte Kosten wie Verdienstausfall, freiwillige Selbsthilfe und öffentliche Aufklärung. Auch die Fortbildungskosten für Ärzte, Berater und Betreuer sind hier nicht berücksichtigt.

 Wohlgemerkt, alle diese Überlegungen beziehen sich auf eine bereits sehr nahe Zukunft - knapp drei Jahre von heute. Vor allem aber beziehen sie sich auf Patienten, die längst infiziert sind. Kurz, man rechnet hier noch mit einigermaßen bekannten und unveränderlichen Größen. So schlimm wird es also mindestens. Was danach kommt, wagt einstweilen keiner vorherzusagen.

 Wie bereits angedeutet, liegt aber die größte Gefahr kaum in den finanziellen Kosten an sich, die man bei allseitigem guten Willen durchaus leicht tragen könnte. Sie liegt vielmehr darin, daß, absichtlich oder unabsichtlich, dieser gute Wille allmählich zersetzt wird. Das könnte geschehen, wenn man durch Stigmatisierung der Kranken und Infizierten eine soziale Kluft zwischen ihnen und den Gesunden aufreißt. Es ist deshalb für den Kampf gegen AIDS äußerst wichtig, daß vorbeugend eine allgemeine soziale Solidarität aufgebaut wird. Auch aus diesem Grunde fordern weitsichtige Gesundheitsexperten, daß alle Ausgrenzungsversuche und Zwangsmaßnahmen unterbleiben.

 Praktisch gesprochen: Schon 1991 wird in New York jedes zehnte Krankenhausbett mit AIDS-kranken "Fixern" belegt sein. Einige Kenner fürchten sogar, daß dann bereits ein Viertel aller Krankenhauspatienten AIDS hat. Da die meisten von ihnen ihre Behandlung nicht bezahlen können, und da sie gleichzeitig Patienten mit anderen Krankenheiten "Plätze wegnehmen", steht zu befürchten, daß ein System der "Triage" eingeführt wird. Dies wiederum wird zwangsläufig bestehende Regeln der medizinischen Ethik außer Kraft setzen, wie Selbstbestimmung und bewußte Einwilligung der Patienten, Vertraulichkeit ihrer Krankengeschichten usw. Auf der anderen Seite werden Ärzte und Pflegepersonal nicht nur beruflich, sondern auch persönlich überfordert sein. Nicht wenige werden sich weigern, AIDS-Kranke unbeschränkt zu behandeln - also etwa zu operieren. Um diese ungleiche Behandlung zu rechtfertigen, wird man von vielen, besonders von Homosexuellen und Fixern, sagen, sie seien "schließlich selber schuld" - ein weiterer Schritt auf dem Weg der Degradierung. Andererseits geben schon heute in einigen Großstädten Ärzte, nach jahrelanger Behandlung von AIDS-Kranken "ausgebrannt", überhaupt ihren Beruf auf.

 Dabei ist, wie das Modell San Francisco beweist, ein langer Krankenhausaufenthalt bei AIDS meist gar nicht erforderlich, solange ein entsprechend ausgebautes Hauspflegesystem besteht. Solche Systeme sind aber in den übrigen USA völlig unterentwickelt oder nicht existent. Natürlich können sie auch überhaupt nur dort entstehen, wo eine Bevölkerung sich mit den Kranken spontan solidarisiert und sie privat unentgeltlich versorgt. Aber selbst San Francisco, das, wie gesagt, bereits 1993 über 4 000 lebende AIDS-Patienten versorgen muß, kann dies nur tun, wenn neue, öffentliche Pflegeheime eingerichtet werden. Dies wird um so nötiger, als viele der neuen Patienten an neurologischen Störungen mit geistiger Verwirrung leiden werden und deshalb durch freiwillige Laienhelfer nicht mehr betreut werden können.

 Wenn nun unter dem Druck dieser und ähnlicher Entwicklungen eine verstärkte Diskriminierung der Kranken und Infizierten einsetzt, ja wenn man ganze Gruppen von ihnen als "Menschen zweiter Klasse" einfach abschreibt, so entzieht man damit zunächst einmal ihrer freiwilligen Kooperation bei der Vorbeugung jede Grundlage. Ohne diese Kooperation ist aber zum Beispiel schon das Aufspüren möglicherweise infizierter Sexualkontakte nicht mehr möglich. Außerdem ist zu fragen, warum sich jemand verantwortungsvoll gegenüber einer Gesellschaft verhalten soll, die ihm seine Rechte beschneidet, sich weigert, ihn medizinisch ausreichend zu behandeln und ihn mit "Aussortierung" bedroht.

 An diesem Dilemma ändern auch alle Testprogramme der Welt nichts. Im Gegenteil, je mehr diese Programme ausgebaut und die Prinzipien der Freiwilligkeit und Vertraulichkeit bei der Testung ausgehöhlt werden, um so weniger wird man das Testangebot überhaupt wahrnehmen. Dies wiederum führt unweigerlich zu noch mehr Zwang mit der offiziellen Entdeckung immer neuer Virusträger. Deren "Beratung" steht nun aber unter einem doppelten Unstern: Das positive Testresultat ist amtlich bekannt und führt zu persönlichen Nachteilen. Wie unter diesen Umständen noch eine Rücksichtnahme auf andere begründet werden soll, ist unerfindlich. Jedenfalls kann der Zwang über den eigentlichen Test kaum hinausgehen. Man kann nicht Millionen von Infizierten überwachen oder vorsorglich lebenslang in "Quarantäne" einsperren. Diejenigen, die als bewußte Virusüberträger straffällig werden und ins Gefängnis kommen, werden immer nur eine Zufallsauswahl von vielen sein, die polizeilich unerkannt bleiben. Auch darin liegt eine, wenn auch ungewollte, Diskriminierung, die nicht unbemerkt bleiben kann.

 Schließlich ist zu bedenken, daß Massentestungen auch Massenberatungen erforderlich machen, und daß man diese aus Kostengründen wohl kaum so professionalisieren wird, wie es eigentlich erforderlich ist. Vielmehr wird man die Testung selbst großzügig finanzieren, aber die folgende Sexualberatung von sexologisch untrainierten und unkontrollierten Billigkräften durchführen lassen. Auch die Ärzte werden zumeist auf diesem Gebiet ohne Ausbildung bleiben; aber man wird sie ohnehin für die notwendig ausgedehnte und wiederholte Beratung nicht ausreichend vergüten wollen. Das Resultat von alledem wird sein, daß auch sonst gutwillige Infizierte aus Unwissenheit, Unvermögen oder Schwäche das Virus weiter übertragen. Die Massentestung wird also gerade in dem Punkt versagen, der ihre Hauptrechtfertigung war: Sie wird Neuinfektionen nicht verhindern. Das wiederum wird den Ruf nach dem starken Staat verstärken, der die "lnfektionsherde" finden und "unschädlich" machen soll.

 Aber vergessen wir die amtlich organisierte Isolierung von symptomfreien Infizierten! Es wird schon schwierig und teuer genug sein, eine ausreichende Unterbringung der Kranken sicherzustellen. In San Francisco gibt es bereits heute, trotz aller Modellprogramme, Dutzende, vielleicht Hunderte von obdachlosen AIDS- und ARC-Patienten. Diese sind durch sämtliche Ritzen des Systems gefallen, genauso wie viele andere "gesunde" Obdachlose, deren Zahl in den letzten Jahren überall im Lande dramatisch zugenommen hat. Sie bilden bereits einen "Untergrund", der leicht Zulauf von ausgegrenzten Infizierten bekommen könnte.

 Nachdem nun obligatorische Tests für Rekruten eingeführt worden sind, wird man den dabei entdeckten, meist schwarzen und braunen "Testpositiven" keine großen beruflichen Chancen mehr einräumen. Das gilt auch für die nächste Zielgruppe, die jetzt im Visier ist - die Teilnehmer des Job Corps (eines Ausbildungsprogramms für Ghetto-Jugendliche). Und schließlich gilt es auch für illegale Einwanderer, die zögern werden, sich legitimieren zu lassen, denn auch für sie gilt nun die Testpflicht. Bei positivem Ergebnis ist an keine Aufenthaltsgenehmigung mehr zu denken. Die Tatsache aber, daß alle Zwangstests notgedrungen zuerst bei Randgruppen, rassischen Minderheiten, staatlich Abhängigen, Armen oder Schwachen beginnen, unterstreicht eher ihren politischen Kontrollcharakter als irgendeinen medizinischen Vorbeugungswert.

 Es ist deshalb sehr die Frage, wieweit man solche Maßnahmen ausdehnen kann oder will. Sicherlich wird man nicht ohne weiteres auch noch die massenhafte, neue Arbeitslosigkeit von Infizierten aus der weißen Mittelklasse riskieren. Auch kann man wohl kaum die Grenzkontrollen soweit treiben, daß nur noch "Testnegative" reisen können, denn sonst kämen der Geschäftsreiseverkehr und der Tourismus bald zum Erliegen. Wenn es also überhaupt Zwangsmaßnahmen geben soll, so wird man sie am Ende doch irgendwie ungleich anwenden müssen. Irgendwo wird man früher oder später eine willkürliche Grenze ziehen. Der Teilgewinn an Kontrolle über sozial abgewertete Gruppen wird aber weitgehend illusionär bleiben, es sei denn, man wäre bereit, wirklich totalitär vorzugehen.

 Die Gefahr besteht, daß AIDS eine zweigeteilte Gesellschaft produziert - hier eine langsam abbröckelnde Mehrheit von privilegierten, angstbesessen "Testnegativen", dort eine langsam wachsende Minderheit von entrechteten und rachsüchtigen "Testpositiven". Eine solche Gesellschaft kann jedoch weder ihren inneren Frieden noch ihre Freiheit lange bewahren, und wenn sich das Problem, wie in den USA, noch durch Rassen- und Klassengegensätze verschärft, so wird die Wahrscheinlichkeit von sozialen Unruhen mit folgender Repression um so größer. Das amerikanische Beispiel wird dann aber im schlechten einflußreicher sein, als es im guten gewesen ist. Auch wenn AIDS in Europa ganz andere Verbreitungsmuster aufweist, auch wenn es dort keine Ghettos gibt und selbst die ärmsten Kranken medizinisch voll versorgt werden, so wird doch jede Zwangsmaßnahme in den USA ohne Berücksichtigung der Umstände sofort auch europäische Befürworter finden. Wenn sich erst einmal die Gesundheitsexperten des führenden westlichen Landes als zu schwach erwiesen haben, eine vernünftige AIDS-Politik durchzusetzen, dann werden auch ihre Kollegen anderswo auf verlorenem Posten stehen.

 

Teil II: Anwendung der US-Erfahrungen in West-Europa

 Die bisherige AIDS-Politik der westeuropäischen Länder orientiert sich bislang mehr oder weniger an den  Handlungsanweisungen, die amerikanische Fachleute für öffentliche Gesundheit aufgrund ihrer Erfahrungen schon relativ früh formuliert haben. Wie ebenfalls bemerkt, wird diese Politik aber nun in den USA selbst durch verschiedene Versäumnisse der Regierung und durch Einmischung kurzsichtiger Parteipolitiker zunehmend verwässert. Außerdem könnte sich AIDS dort in Zukunft mit anderen, lange verdrängten sozialen Problemen verknüpfen, diese verschärfen und dann ein unüberlegtes "Durchgreifen" herausfordern. Diese Gefahr ist aber auch in Europa nicht fern.

 Verschiedene europäische Länder und auch das deutsche Bundesland Bayern haben inzwischen einzelne Zwangsmaßnahmen wie Einstellungstests, Aufenthaltsbeschränkungen, Registrierungen und Isolierungen eingeführt oder ernsthaft erwogen. Zwar gehen diese Schritte bisher in der Praxis noch nicht sehr weit, sie haben aber eine innere Logik, die unvermeidlich zum AIDS-Polizeistaat führt. Da aber auch ein solcher Staat keine Sicherheit bieten kann, muß man schon den isolierten, unsystematischeu Zwang hier als zumindest schlecht durchdacht bezeichnen.

 Ein weiteres Problem liegt darin, daß einige Länder, besonders die des Mittelmeerraumes, immer noch so wenig für die Vorbeugung tun, daß man das Schlimmste für sie befürchten muß. Dort könnten sich in den nächsten zehn Jahren wahrhaft verzweifelte Zustände entwickeln, so daß auch ihre Tourismusindustrie ernsthaft gefährdet wird. Um so mehr werden sie dann aber die Solidarität der besser organisierten mittel- und nordeuropäischen Länder brauchen.

 Politiker müssen einsehen, daß es zwei grundsätzlich verschiedene Wege der Seuchenbekämpfung gibt - den der restlosen staatlichen Kontrolle und den der Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen. Im Falle von AIDS, das hauptsächlich durch einvernehmliche Handlungen übertragen wird, kann auf die Dauer nur der zweite Weg erfolgreich sein. Natürlich erfordert er, daß jeder Bürger über die Ansteckungsrisiken voll informiert ist und dann über sein eigenes Verhalten selbst entscheidet. In der Praxis bedeutet dies, daß er etwa allen neuen und flüchtigen Sexualpartnern so begegnen muß, als wären sie infektiös. Kein Staat garantiert ihm, daß sie es nicht sind. Also muß jeder flüchtige Sexualverkehr (und jeder Drogengebrauch) "auf Verdacht" ansteckungssicher gestaltet werden, bis freiwillige und wiederholte Tests Sicherheit geben.

 Zweifellos ist dies eine schwere Bürde, die wenige Menschen gerne tragen. Eine Alternative gibt es aber nicht, denn die zuerst genannte, angeblich lückenlose Staatskontrolle kann ihr Versprechen nicht halten. Zwar wäre es sehr bequem, wenn sie wirklich funktionieren würde: Niemand brauchte sein Verhalten zu ändern, denn auch die flüchtigsten Partner wären, sozusagen indirekt amtlich beglaubigt, "sauber". Alle Infektiösen dagegen wären vom Staat erfaßt und isoliert. Genau diese Garantie kann heute aber kein demokratischer Staat geben, denn die Bedingungen des modernen Wirtschafts- und Verkehrswesens lassen es einfach nicht zu. Im Gegenteil, jede auch nur implizite Versprechung, daß eine Kontrolle doch möglich ist, muß die Bevölkerung in falscher Sicherheit wiegen und somit die Seuchenausbreitung befördern. Also bleibt am Ende doch nur die Notwendigkeit übrig, durch generelle Aufklärung die Verantwortlichkeit des einzelnen für sich selbst zu stärken.

 Grundbedingungen erfolgreicher AIDS-Politik

 Diese grundsätzlichen Überlegungen und die im letzten Heft beschriebenen amerikanischen Erfahrungen führen zum gleichen Schluß. Der Kampf gegen AIDS kann nur gewonnen werden, wenn mindestens drei Bedingungen erfüllt sind, die sich auf den ersten Blick gegenseitig auszuschließen scheinen: Er braucht eine rechtzeitige und klare politische Führung von der Regierungsspitze her; er muß auf einem weitgehenden gesellschaftlichen Konsens beruhen, und er verlangt eine besondere staatliche Zurückhaltung zugunsten von Privatinitiativen. Die politische Führung ist vor allem für die Formulierung einer erfolgversprechenden AIDS-Politik verantwortlich. Sie muß aber auch eine ausreichende Erklärung dieser Politik liefern, sie rechtfertigen, ja geradezu für sie werben, um einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, der sie trägt. Eine bewußte Zurückhaltung des Staats ist dagegen bei ihrer Ausführung geboten, damit der Konsens nicht gefährdet wird.

 1. Politische Führung

 In den USA fehlt die politische Führung bis heute. Die frühen Initiativen vereinzelter Städte und die folgenden Bemühungen einiger Bundesstaaten haben noch immer keine Entsprechung auf nationaler Ebene gefunden. Zwar haben Bundesbehörden wie die Centers for Disease Control (CDC) erfolgreiche Programme begonnen, aber diese könnten inzwischen schon sehr viel weiter entwickelt sein. Die Schuld trifft eindeutig Präsident Reagan und sein Kabinett, die sogar versäumt haben, sich geschlossen hinter ihren eigenen Surgeon General zu stellen. Noch schlimmer sind ihre Ignorierung von dringlichen Vorschlägen der National Academy of Sciences und die verspätete und beschämende Bestellung einer inkompetenten AIDS-Kommission. Die fortgesetzte Unentschiedenheit der Regierung wird aber auch darin sichtbar, daß sie einerseits mehr Tests für alle möglichen Gruppen fordert, sich aber andererseits weigert, bundesweite Antidiskriminierungsgesetze zu unterstützen. Dieses Versagen hat längst dazu geführt, daß AIDS vielerorts zum parteipolitisehen Zankapfel geworden ist, und daß schon allein auf republikanischer Seite oft völlig widersprüchliche Forderungen erhoben werden. Gleichzeitig haben Vertreter der zunächst "betroffenen" sexuellen und rassischen Minderheiten begonnen, sich gegen die Regierung zu stellen, von der sie sich im Stich gelassen sehen. Hier sammelt sich sozialer Sprengstoff an.

 Die Westeuropäer und besonders die Deutschen sollten daraus mehrere schnelle Lehren ziehen. Etwa: Die grundsätzlich korrekte und weithin akzeptierte AIDS-Politik der Bundesregierung muß noch eindeutiger und sichtbarer als bisher vom gesamten Kabinett öffentlich vertreten werden. Sie darf vor allem nicht als halbherzige Antwort auf plötzlich erwachte Ängste mißverstanden werden, sondern muß tatsächlich führen, d. h. der öffentlichen Meinung stets voraus sein. Ja, sie muß diese Meinung aktiv mitgestalten.

 Die Bundesregierung (wie jede andere europäische Regierung) sollte sich zu diesem Zweck des ständigen Rates der besten Experten versichern, sei es in Form einer nationalen oder internationalen Kommission, sei es durch Unterstützung oder Neugründung verschiedener 'think tanks'. Grundsätzlich gilt das aber auch für die Länderregierungen, die, wenn auch in kleinerem Maßstab, genauso verfahren sollten. Es gilt mit entsprechenden Änderungen sogar für die politischen Parteien. Auch sie sollten "von oben her" mit soviel Sachverstand wie möglich klare Positionen erarbeiten und durchsetzen.

 Was dies in der Praxis bedeutet, kann vielleicht ein Beispiel deutlich machen: Ausgrenzung und Diskriminierung von AIDS-Kranken und Infizierten werden am wirksamsten verhindert, indem man eine entsprechende Aufklärung in allen Betrieben durchführt. Wer hier als Politiker mit vollem Einsatz Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf höchster Ebene zusammenbringt und sie unmißverständlich ermuntert, gewinnt allein schon durch diese Initiative eine so breite und langandauernde Unterstützung, daß damit auch andere Vorbeugungsprogramme möglich werden, die sonst vielleicht nur zögerlich oder gar nicht in Gang kämen.

 Das Beispiel zeigt aber auch, daß die eigentliche politische Leistung hier im Aufbau eines Konsens besteht, und diese Leistung kann, ja muß von Landesregierungen und Parteien auf ihren eigenen Ebenen wiederholt werden. Sie alle dienen damit nicht nur sich selbst, sondern ebenso dem Gemeinwohl.

 2. Gesellschaftlicher Konsens

 Eine entschiedene politische Führung kann sich natürlich erst herausbilden, wenn in der Regierung selbst ein Konsens besteht. Diesen herzustellen ist also die vordringlichste Aufgabe, und dabei können die erwähnten Expertenkommissionen einen wichtigen Beitrag leisten. Sie dürfen sich aber nicht auf die medizinischen Aspekte von AIDS beschränken, sondern müssen besonders die sozialen Implikationen studieren. Vor allem müssen sie alle beschlossenen, geplanten und denkbaren staatlichen und privaten Bekämpfungsmaßnahmen auf ihre juristischen, soziologischen, wirtschaftlichen und politischen Neben- und Spätfolgen hin untersuchen und in entsprechenden Szenarien bis zum logischen Ende durchspielen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich Sackgassen erkennen und Holzwege vermeiden wie etwa der, den Bayern bereits beschritten hat. Daß ein Alleingang wie dieser überhaupt angetreten werden konnte, weist auf ein Versäumnis der Bundesregierung, die ihre eigene, interne Diskussion nicht schnell genug sachverständig untermauerte.

 Ein weiteres Versäumnis betrifft die Öffentlichkeitsarbeit. Die "bayerische Richtung" hätte auch in Bayern keine Akzeptanz gefunden, wenn man die Bevölkerung über den Sinn der AIDS-Bundespolitik früher oder besser aufgeklärt hätte. Tatsächlich aber versteht der durchschnittliche Bundesbürger und Wähler bis heute nicht, warum bei AIDS die Bundesministerin Süßmuth recht und der bayerische Staatssekretär Gauweiler unrecht haben soll. Die möglichen, ja wahrscheinlichen politischen Konsequenzen von Zwangsmaßnahmen übersieht er nicht. Auch die Medien sind ihm dabei bisher keine große Hilfe. Im Gegenteil, mehrere führende deutsche Tageszeitungen sind selber so kurzsichtig, daß sie dringend Aufklärung brauchen.

 Hier zeigt sich also, daß die frühzeitige und nie erlahmende Bemühung um einen breiten öffentlichen Konsens eine wesentliche Aufgabe der politischen Führung ist. Die bayerischen Maßnahmen sind nicht nur in der Sache falsch; sie sind besonders auch deshalb zu kritisieren, weil sie demonstrativ den Konsens unter den Bundesländern brechen und gleichzeitig im eigenen Landesinnern auf Konfrontation mit den infektionsgefährdeten Gruppen angelegt sind. Sie laufen also einem der Grundprinzipien vernünftiger AIDS-Politik in jeder Weise zuwider.

 Das Prinzip des "Consensus", der Einmütigkeit und der Gemeinsamkeit des Vorgehens ist für den Erfolg der AIDS-Bekämpfung absolut unverzichtbar. Das wird besonders an der amerikanischen Entwicklung deutlich. Die ersten fachlichen Expertisen bis hin zum Bericht der National Academy of Sciences vom Herbst 1986 waren sich alle einig und hätten einer energischen Regierung durchaus als Grundlage für sofortige, konsensbildende Maßnahmen dienen können. Statt dessen ließ man den günstigen Augenblick verstreichen und stiftete unnötige Verwirrung durch eine fachlich unqualifizierte, ideologisch vorbelastete Kommission, die sich erst jetzt in die Materie einarbeiten muß. Mittlerweile wird die AIDS-Politik immer mehr zum Streitpunkt und wertvolle Zeit geht verloren. Leider ist auch erkennbar, daß die Regierung Reagan in der ihr verbliebenen Amtszeit nichts Entscheidendes mehr unternehmen wird. Ihre Nachfolgerin wird aber erst nach mehreren Monaten Übergangszeit neue Weichen stellen können. Selbst dieser günstigste Fall kann frühestens Mitte 1989 eintreten. Mit anderen Worten: Man wird fast drei weitere volle Jahre vergeudet haben. Bei einer Epidemie wie AIDS kann eine so verspätete Vorbeugung Entwicklungen freisetzen, die nicht mehr einzuholen sind. Vor allem die Diskussion über den "richtigen Weg" wird zunehmende Zwietracht säen und es wird mit jedem Tag schwieriger sein, überhaupt noch eine klare Linie durchzusetzen.

 Glücklicherweise hat die Bundesrepublik Deutschland, vom Alleingang Bayerns abgesehen, solche Probleme bisher nicht. Sie hat sogar in Berlin ein gutes Beispiel, wie man bei entschiedener politischer Führung einen tragenden Konsens zustande bringt. Der dortige Senator für Gesundheit und Soziales, Ulf Fink, hat rechtzeitig eine "AIDS Task Force" geschaffen, eine internationale Tagung über die sozialen Aspekte der Epidemie organisiert und alle politischen Parteien für seine Politik gewonnen. Ja, der Gesundheitsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses nahm das Problem ernst genug, um mit sämtlichen Mitgliedern aus allen Fraktionen das Modell San Francisco an Ort und Stelle zu studieren. Als Resultat dieser vorsorglichen Planung kann Berlin alle Energie auf die Bekämpfung der Krankheit selbst richten, anstatt sie in parteipolitischem Streit zu verschleißen.

 Ohne Zweifel ist dieses Ideal auch auf Bundesebene anzustreben, und wahrscheinlich muß man zu seiner Erreichung auch ähnliche Mittel wählen. Die Aufgabe, der Bevölkerung die richtige AIDS-Politik zu "verkaufen", sollte um so leichter sein, als sich Regierung und Opposition in den Grundzügen (noch) weitgehend einig sind. Es gilt, diesen Vorteil zu nutzen, solange er besteht. Außerhalb der CSU gibt es heute noch einen Konsens, die AIDS-Bekämpfung nicht zum Gegenstand des parteipolitischen Streites zu machen, und dieser Konsens sollte so schnell und so weit wie möglich auf ihre praktische Durchführung ausgedehnt werden. Zum Beispiel kann ein überparteiliches, gemeinsames Vorgehen sicher die deutschen Fernseh- und Rundfunkanstalten dazu bringen, besser, systematischer und regelmäßiger als bisher aufzuklären. Vor allem müssen populäre Sendungen die wohldurchdachte und stichhaltige Begründung der heutigen AIDS-Politik immer wieder anschaulich machen.

 Ein weiteres Mittel der Meinungsbildung ist die öffentliche Tagung oder Konferenz, auf der Fachleute aus verschiedenen Disziplinen die Komplexität des Problems AIDS aufzeigen und deutlich machen, warum gewisse "drastische Schritte" zu seiner Lösung unwirksam sind. Zwar hat es schon eine ganze Reihe ähnlicher Groß- und Kleinkongresse gegeben, aber sie haben den hier zu stellenden Anforderungen nur teilweise genügt. Der Schlüssel zum Erfolg ist eine sorgfältige Vorbereitung, da sonst nur ein verwirrender Eindruck von streitenden Experten zurückbleibt, der die öffentliche Ratlosigkeit eher bestärkt als beendet. Auch bei behördlich organisierten oder geförderten AIDS-Kongressen ist also eine klare und sorgfältige Führung wesentlich. Das bedeutet keineswegs, daß Gegensätze verschleiert und abweichende Meinungen unterdrückt werden sollen. Im Gegenteil: Alle irgendwo vorhandenen Ängste und Bedenken müssen offen zur Sprache kommen und damit kontrollierbar gemacht werden. Solche Kongresse sollten also keine Propagandaveranstaltungen sein, sondern ehrlich gemeinte Versuche, Gemeinsamkeiten zu finden und gemeinsames Handeln möglich zu machen.

 Wahrscheinlich heißt dies, daß man zunächst "private" Tagungen der wichtigsten Entscheidungsträger durchführen sollte, bevor man überhaupt an die Öffentlichkeit geht. Es gibt dafür ein hervorragendes amerikanisches Modell in einer Tagungsserie Minnesotas. Dort lud man nach gründlichster Planung die entscheidenden Machtträger und Meinungsmacher des gesamten Bundesstaates zu wiederholten Wochenendseminaren in ein abgelegenes Tagungszentrum ein und setzte sie nicht nur theoretischen Erörterungen aus, sondern brachte sie auch durch miteingeladene homosexuelle "Durchschnittsbürger", "Testpositive" und AIDS-Patienten "hautnah" mit der Realität der Krankheit zusammen. Es zeigte sich, daß die Teilnehmer trotz ihrer weiterbestehenden politischen, weltanschaulichen und persönlichen Differenzen sehr wohl in der Lage waren, einen gemeinsamen Aktionsplan gegen AIDS zu entwickeln. Vor allem wurde jedem auch die Dringlichkeit des Problems deutlich, so daß an Ort und Stelle sehr konkrete landesweite und lokale Projekte beschlossen und begonnen werden konnten.

 Es könnte sich auch lohnen, einem weiteren Beispiel aus den USA zu folgen, wo in den sechziger Jahren an fast allen Universitäten die sogenannten "teach-ins" zum Vietnamkrieg Geschichte machten. Dabei traten engagierte Professoren aus verschiedenen Fakultäten auf, oft zusammen mit Regierungsvertretern, uni den Studenten den politischen, historischen und ökonomischen Hintergrund des amerikanischen Südostasienengagements zu erhellen. Damals gelang es zwar nicht, eine nationale Einheit zu stiften, denn die verfehlte Regierungspolitik war bereits fest auf ihr endliches Scheitern programmiert, aber gerade aus diesem Umstand läßt sich heute lernen, wie man den "Marsch der Torheit" aufhält, bevor er zum Galopp in die Katastrophe wird. Entsprechende, frühzeitige "teach-ins" wären also an allen, auch deutschen Universitäten, ein erwägenswertes Mittel, nach einem gesellschaftlichen Konsens zu suchen.

 Die gleiche Rolle kann aber auch die schon erwähnte innerbetriebliche AIDS-Aufklärung spielen, die Industrie und Gewerkschaften auf die gemeinsamen Ziele des Arbeitsfriedens und des allgemeinen sozialen Friedens ausrichtet. Anders als beim amerikanischen Vietnamkrieg, handelt es sich bei der Bekämpfung der AIDS-Pandemie ja wirklich in jedem Land um einen echten Verteidigungsfall, und dabei stellt die nationale, ja internationale Einheit den wichtigsten strategischen Aktivposten dar.

 3. Staatliche Zurückhaltung

 Trotz alledem - oder besser: gerade deswegen muß sich der Staat bei der Ausführung seiner AIDS-Politik große Zurückhaltung auferlegen. Prinzipiell ist der richtige Ansatz in den bewährten amerikanischen Modellen vorgezeichnet: Die Bundes-, Landes- und städtischen Behörden stellen Forschungsund Aufklärungsgelder bereit, ändern oder erweitern Lehrpläne, verabschieden Antidiskriminierungsgesetze oder -verordnungen und reformieren Verwaltungsstrukturen, teilweise unter Einrichtung neuer Kommissionen, Abteilungen oder Agenturen. Vor allem aber regen sie Privatinitiativen an, von der sexuellen Vorbeugung bis zur Aufklärung am Arbeitsplatz und häuslichen Pflege. Damit wird ein doppelter Zweck erreicht: Die Bürger bleiben nicht nur formal von amtlicher Bevormundung frei, sondern werden selber motiviert, aktiv ihre Eigeninteressen zu vertreten. Man appelliert also nicht nur an die Eigenverantwortlichkeit, sondern stärkt sie auch praktisch.

 Idealerweise stellt also der Staat sehr energisch - und vor allem sehr zeitig - die Rahmenbedingungen her, unter denen eine mündige Bürgerschaft zum eigenen Infektionssehutz und zur Versorgung der Kranken tätig werden kann. Das heißt keineswegs, daß er seine Verantwortung in diesen Bereichen abgibt, sondern nur, daß er die wirkungsvollste Methode wählt, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Das war und ist jedenfalls die Meinung erfahrener amerikanischer Fachleute, deren Rat aber leider immer weniger befolgt wird. Auch in den USA mehren sich kurzsichtige, oft parteipolitisch motivierte Versuche, bei AIDS auf staatlichen Zwang zu setzen. Diesen Bestrebungen fallen dann "zwangsläufig" die besten Bürgerinitiativen, wie etwa die zur sexuellen Aufklärung, zum Opfer. Die Polizei kann zwar "schwule Treffpunkte austrocknen" oder verstärkt Prostituierte und Fixer verhaften und testen; sie kann aber deren Verhalten nicht ändern. Das können sie nur selbst, vielleicht mit Hilfe besonderer Selbsthilfeorganisationen, die natürlich polizeilich unbehelligt bleiben müssen.

 Es ist töricht, infektionsgefährdetes Verhalten durch staatliche Drohungen in den Untergrund zu drängen, wo es dann auch für private Vorbeugungskampagnen unzugänglich wird. Um bei der Prostitution zu bleiben: Anstatt willkürlich hier und da vereinzelte Prostituierte aufzugreifen, zu testen und mit "Berufsverbot" zu belegen, ist es sehr viel sinnvoller, alle potentiellen Freier (d. h. vorsorglich die gesamte geschlechtsreife männliche Bevölkerung) über ihren Selbstschutz aufzuklären. Diese Aufklärung ist aber durch staatliche Organe kaum adäquat zu betreiben, denn diese können sich nicht dem Vorwurf aussetzen, sie leisteten dem Gewerbe durch ihre Sicherheitsinstruktionen noch Vorschub. Der Staat kann nicht einerseits wirkungsvoll helfen, sexuelle Handlungen "risikofrei" zu machen, die er andererseits mißbilligt. Dies ist in den USA besonders deutlich, wo noch in 22 Staaten homosexuelle Handlungen strafbar sind, und wo es schon seit Generationen keine legale Prostitution mehr gibt. Dort haben also alle Prostituierten ohnehin Berufsverbot. In abgeschwächter Form besteht das Dilemma aber auch in europäischen Ländern, und im Falle der "Fixer" und "Fixerinnen" ist es fast überall gleich ausgeprägt.

 Hier sind Privatinitiativen gefordert, die der Staat zwar unterstützen kann, die aber unabhängig und auf ihre Weise drastisch vorgehen, während sie ihm gleichzeitig den Tadel ersparen, Obszönitäten, Perversitäten und Pornographie zu produzieren. Die sexuelle AIDS-Vorbeugung kann nur wirken, wenn sie explizit und auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten ist. Also muß sie privat betrieben werden; staatliche Sexualratschläge werden immer unrealistisch, undeutlich und halbherzig bleiben und daher auch nur halb wirksam sein.

 Man braucht also eine weitgehend unabhängige, gemischte, öffentlich und privat finanzierte Aufklärungsorganisation, die aber, wie etwa die "San Francisco AIDS Foundation", so schnell wie möglich professionalisiert werden muß. Ein reines "Laientheater" der unmittelbar "Betroffenen", sei es für den Steuerzahler auch noch so bequem und billig, kann auf die Dauer nicht genügen. Vielmehr sollte ihre unverzichtbare Arbeit in eine neue, übergreifende und stabilere Struktur integriert werden. Das ist auch deshalb nötig, damit die Selbsthilfe in Zukunft besser gegen mögliche politische Wetterwechsel abgeschirmt ist. Für die strukturelle Verbesserung der AIDS-Selbstaufklärung gibt es nicht nur gute amerikanische, sondern auch niederländische und schweizerische Ansätze, die man alle studieren sollte. Schließlich sei hier auch noch zum dritten Mal die betriebliche AIDS-Aufklärung erwähnt, die, vom Staat angeregt, ihm danach viel an direkter Intervention erspart und gerade deshalb um so erfolgreicher ist.

 Was die legislative Einflußnahme des Staates betrifft, so sollte auch sie bei AIDS bewußt begrenzt bleiben. Die Eigenverantwortung des einzelnen Bürgers und der Konsens aller Bürger sind um so stärker, je weniger Schranken das Gesetz zwischen Gesunden, Infizierten und Kranken aufrichtet. Man kann durchaus über ein wohlabgestimmtes Gesetzespaket zur AIDS-Bekämpfung, eine umfassende "Lex AIDS", nachdenken, aber sie wird nur hilfreich sein, wenn sie sich an die hier besprochenen Grundbedingungen hält. Eine solche Gesetzesvorlage gibt es zum Beispiel in Kalifornien, und sie wird dort sowohl vom amerikanischen Surgeon General, der Ärzteschaft und den großen Tageszeitungen wie von Homosexuellenvertretern befürwortet. Es fehlt nur die klare politische Führung durch den republikanischen Gouverneur. Der demokratische Autor des Mustergesetzes ist soeben mit großer Mehrheit zum Bürgermeister von San Francisco gewählt worden.

 Es ist zu hoffen, daß sich die beiden Häuser des kalifornischen Staatsparlaments bald in der Gesetzesverabschiedung einig werden und damit ein Zeichen für die übrigen Vereinigten Staaten und auch andere Länder setzen. Die Zeit arbeitet leider gegen solche klugen und maßvollen Schritte. Es gibt nur eine relativ knappe Frist, in der man eine vernünftige AIDS-Politik formulieren und etablieren kann. Wird diese Frist versäumt, so nehmen die Widerstände immer schneller zu und werden am Ende unüberwindlich.

 Das Nötige, das Mögliche und das Übliche

 Heute besteht kein Zweifel mehr, daß allzuviele - von der amerikanischen Bundesregierung bis zur Weltgesundheitsorganisation - die Gefahr von AIDS anfangs stark unterschätzt haben. Seither sind zwar überall ihre wahren Dimensionen deutlich geworden, aber dennoch hat man bisher fast nirgends ausreichende Schutzmaßnahmen ergriffen. Man zweifelt und zögert immer noch und sucht nach der richtigen "Balance zwischen Panikmache und Abwiegelung" Die einen wollen sofortige, spektakuläre Staatsaktionen, die anderen plädieren, um der "betroffenen" Minderheiten willen, für Ruhe und absichtliche Untätigkeit. Schon stürmen einige Eiferer vor und andere stellen sich ihnen entgegen, die Fronten verhärten sich, und die Politiker geraten zunehmend unter Druck. Was sollen sie tun? Was lassen?

 Eines ist sicher: Eine vernünftige AIDS-Politik kann nicht Politik im üblichen Sinne sein, schon gar nicht Parteipolitik. Das Virus kennt keine Parteien; es kennt nur Opfer, direkte und indirekte, diesseits und jenseits aller sozialen und geographischen Grenzen. Dieser neuesten Pandemie gegenüber ist es die erste Aufgabe aller politischen Parteien in allen Ländern, eine einheitliche Front aufzubauen und zu halten. Diese Front hat dann gemeinsam "die Kunst des Möglichen" zu üben, immer bedenkend, daß nur die Gemeinsamkeit überhaupt eine Chance bietet, möglich zu machen, was nötig ist.

 Aber was ist nötig? Schon die Antwort auf diese Frage ist nur gemeinsam zu finden, denn AIDS ist ein multidimensionales Problem, das nicht nur medizinische, sondern auch die verschiedensten sozialpolitischen Auswirkungen hat. Viele Beobachter ahnen bereits, daß diese irgendwie alle zusammenhängen und daß man nicht an einem künstlich isolierten Teilaspekt "herumdoktern" kann ohne Rückwirkung auf die andern. Sie wissen außerdem, daß es schwierig ist, solche Rückkoppelungseffekte exakt vorauszusehen, ja, daß der Durchschnittsintellekt gewöhnlich vor komplexen Systemen versagt. Hier kann nur eine gemeinsame Denkanstrengung Hilfe bringen, eine Vorausschau, bei der verschiedene Gesichtspunkte zur Geltung kommen und sich gegenseitig korrigieren. Erst so wird eine wenigstens ungefähr treffende Analyse möglich, und erst danach läßt sich eine sinnvolle Strategie entwerfen.

 Der mehrfach erwähnte, mittlerweile anderthalb Jahre alte Bericht der amerikanischen National Academy of Sciences weist immer noch den richtigen Weg, wie man zu einer rationalen Planung gelangt. Er hatte eine ständige Nationale AIDS-Kommission gefordert, die dem Präsidenten und dem Kongreß gemeinsam unterstehen, aber ansonsten unabhängig sein sollte. Sie sollte selber nicht Teil des staatlichen Verwaltungsapparates werden und keine Gelder verteilen, aber kritisch prüfend, motivierend und beratend den Kampf gegen AIDS organisieren. Vor allem sollte sie auch die internationale Zusammenarbeit fördern, einschließlich der sozialwissenschaftlichen Forschung. Diese Forderungen sind in den USA bisher nicht erfüllt. Wie berechtigt sie jedoch waren, wird daran deutlich, daß nun immer lauter der Ruf nach einem AIDS-"Manhattan-Projekt" ertönt.

 Das ursprüngliche "Manhattan-Projekt" war die geheime, gigantische Anstrengung zum Bau der ersten Atombombe während des Zweiten Weltkrieges. Eine Geheimhaltung kommt natürlich bei AIDS nicht in Frage, aber sonst paßt der Vergleich, besonders darin, daß man damals die besten Köpfe der Nation heranzog. Ein noch besseres Beispiel ist vielleicht das "Apollo-Projekt" zur Vorbereitung der ersten Mondlandung. Auch dabei wurden von den Amerikanern keine Kosten und Mühen gescheut, um das Ziel zu erreichen. Damit verglichen, sind die bisherigen Anstrengungen gegen AIDS auf eine geradezu schauerlich-groteske Weise unzureichend. Zum Beispiel sind noch kaum die besten geistigen Kapazitäten des Landes mobilisiert worden. Gerade auf Regierungsseite liegt die AIDS-Politik nach wie vor häufig in den Händen von fachlich unqualifizierten Ideologen und mediokren Verwaltungsbeamten.

 Dennoch haben sich auf unteren Ebenen und außerhalb der Regierung enorme positive Energien in Bewegung gesetzt. Es scheint ratsam, diesen Vorgang besonders genau zu studieren und auch in Europa aus ihm zu lernen. Eine transatlantische Informationsbrücke ist also das mindeste, was man dort verlangen sollte. Die amerikanischen Erfahrungen mit AIDS sind den europäischen um einige Jahre voraus und werden es bleiben. Die USA stellen deshalb für Europa eine Art Zukunftslabor dar, in dem seine eigenen späteren Entwicklungsprozesse gewissermaßen schon heute "vorgekocht" werden. Die Beobachtung dieses Experiments lohnt sich auf jeden Fall. Wiederum ist aber die Betonung auf die Sozialpolitik zu legen, denn der medizinische Austausch ist längst eingeleitet und funktioniert reibungslos. Was fehlt, ist ein transatlantisches Informationszentrum für die nichtrnedizinischen Aspekte von AIDS.

 In diesem Zusammenhang muß man auch auf den Skandal hinweisen, der darin besteht, daß die in Berlin entstandene, von den Nazis brutal zerstörte Sexualwissenschaft immer noch nicht an ihren Geburtsort zurückgekehrt ist. In Berlin wurde schon 1919 von Magnus Hirschfeld das erste Institut für Sexualwissenschaft der Welt eröffnet und 1921 die erste internationale Sexologenkonferenz organisiert. Nicht nur das: Er schuf eine Weltliga für Sexualreform, die weitere Konferenzen in Kopenhagen, Wien und Brünn abhielt und auf allen Kontinenten aktive Mitglieder hatte. Hirschfeld selbst unternahm 1930 eine zweijährige Weltreise, auf der er die Sexualwissenschaft durch massenhaft besuchte Vorträge in den USA, Japan, China, Indien, Ägypten und Palästina einführte. Als Jude, Homosexueller und Sozialdemokrat war er aber bei den Nazis so verhaßt, daß er nicht wagen konnte, nach Deutschland zurückzukehren. Er starb 1935 im französischen Exil. Sein Institut in Berlin war schon 1933 von einer Nazibande geplündert worden.

 Bestünde dieses Institut heute noch, oder hätte man es wiedereröffnet, so hätte man damit in Deutschland bei der AIDS-Vorbeugung eine echte Trumpfkarte in der Hand gehabt. Hirschfelds genaue Kenntnis aller sexuellen Minderheiten, zu denen er ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, sein organisatorisches Talent, seine interdisziplinäre und internationale Orientierung - all dies war in seinem Institut verkörpert, und so wäre es jetzt ganz natürlich zum wissenschaftlichen Zentrum der weltweiten Vorbeugungsversuche geworden. Statt dessen ist in Berlin selbst Hirschfelds damalige epochale Leistung offiziell vergessen.

 Hier zeigt sich wieder, daß das heute Nötige nicht unbedingt neu sein muß. Es gibt auch Altbewährtes, das zu Unrecht vernachlässigt ist und nur auf seine Wiederbelebung wartet. Hirschfelds Art der praxisnahen Sexualwissenschaft war damals und ist heute wieder dem akademischen Trott weit voraus, und nur insofern erscheint sie konventionellen Denkern als "unseriös" und gewagt. Derjetzt mit AIDS eingetretene Notstand erlaubt aber keine weltfremde, verzagte Pedanterie. Gerade wenn man die weltweite Ausbreitung des Virus betrachtet, wird einem klar, daß "business as usual" nichts dagegen bewirken kann. Die üblichen Maßnahmen, von den üblichen Instanzen auf die übliche Weise durchgeführt, haben AIDS nicht aufgehalten und werden es auch weiterhin nicht tun. Vielmehr ist zu befürchten, daß ihr endliches Scheitern auf allen Seiten einen hilflosen Radikalismus provoziert.

 Diese Versuchung scheint sogar schon jetzt an den eingangs zitierten, sonst so kritischen Michael G. Koch herangetreten zu sein. Er setzt seine Hoffnung vor allem auf eine Vervollständigung der einseitigen bayerischen Zwangsmaßnahmen. Es nützt aber wenig, das betrübliche Übliche einfach durch einen örtlich begrenzten, blinden Amtseifer zu ersetzen. Vielmehr gilt es, an allen anderen Orten die "Angst vor der eigenen Courage" zu überwinden und mit der nur zögernd begonnenen, grundsätzlich richtigen Politik endlich ernst zu machen. Dazu gehört, daß man ihre wahren Implikationen selber versteht und anderen erklärt, und daß man bereit ist, sie in allen Punkten konsequent durchzuführen. Das allein schon wäre unüblich genug.

 Politiker aller Richtungen und auf allen Ebenen können dazu beitragen, daß schnell und einmütig gehandelt wird. Sie müssen sich allerdings, sowohl parteiintern wie in überparteilichen Arbeitsgruppen, mit allen Perspektiven der nahen und fernen AIDSZukunft vertraut machen. Sie werden dann die Gefahren erkennen, die in jeder Art von Konfrontationskurs liegen. Kein Land kann sich bei diesem Thema eine politische Paralyse oder einen Antagonismus zwischen Gesunden und Infizierten leisten. Gefahren drohen aber auch innerhalb Europas, wenn etwa ein allzustarkes Nord-Süd-Gefälle der Vorbeugungsanstrengungen oder der medizinischen Versorgung entsteht, und schließlich sind neue globale Spannungen zwischen den Ländern der Ersten und Dritten Welt zu befürchten. Auf lange Sicht kann sich aber kein wie immer konzipierter "Hygienekreis" von den sozialen Folgen der Krankheit abschirmen, ganz gleich, wo sie entstehen - innerhalb oder außerhalb. Zumindest diese indirekte Bedrohung betrifft uns alle, und deshalb fallen bei der AIDS-Politik stets Eigeninteresse und Gemeininteresse zusammen.