Archiv für Sexualwissenschaft



Erwin J. Haeberle

Zyklus, Kurve, Trieb und Skript:
Modelle der Sexualentwicklung

Erschienen in: Ein lüderliches Leben - Porträt eines Unangepaßten,
Festschrift für Ernest Borneman zum 80. Geburtstag,
hg. von Sigrid Standow, Werner Piper's MedienXperimente,
Alte Schmiede, Löhrbach 1995, S. 303-323

Kinder
Jugendliche
Erwachsene
Ältere Menschen

Zyklische Vorstellungen von Geburt, Wachstum, Verfall, Tod und Wiedergeburt sind sehr alt und finden sich in fast allen Kulturen. Einige von ihnen glauben auch an eine Seelenwanderung, d. h. an die Vorstellung, daß der einzelne Mensch nach seinem Tode in einem anderen Körper, vielleicht sogar in dem eines Tieres, ein neues Leben beginnt, um dann nach einem erneuten Tod wieder in anderer Gestalt zum Leben zu erwachen, und so weiter in einer unendlichen "Kette des Seins". In unserer modernen westlichen Welt glauben wir so etwas nicht. Überhaupt hat uns die moderne Wissenschaft gelehrt, daß zyklische Lebensvorstellungen allenfalls auf Gattungen passen, niemals auf Individuen. Aber auch auf Gattungen passen sie eigentlich nicht, da sie zum Gedanken der Evolution im klaren Widerspruch stehen. Nun gar auf einzelne Frauen und Männer bezogen, ist die Rede von einem Lebenszyklus nichts weiter als eine Gedankenlosigkeit. Ja, gerade seine Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit macht für uns die Bedeutung des einzelnen menschlichen Lebens aus. Unsere Ehrfurcht vor dem Menschenleben beruht darauf, daß es, einmal gelebt, nicht wiederkehrt, also eben nicht zyklisch ist. Und das gilt auch für jeden einzelnen Augenblick des Lebens. Wie schon Sigmund Freud bemerkte, liegt auch der größte Reiz jeder irdischen Schönheit gerade in ihrer Vergänglichkeit. Wenn wir also an das menschliche Leben und an die menschliche Sexualität denken, so können wir zwar sinnvoll von Geburt oder Anfang, Wachstum oder Entwicklung, Reife, Altern, Schwächung und Rückbildung, Tod und Ende sprechen, aber einen Zyklus beschreiben diese Begriffe dabei nicht, höchstens eine ansteigende und dann wieder abfallende Kurve. Und diese Kurve ergibt sich so nur, wenn wir die körperliche Kraft oder sexuelle Leistungsfähigkeit im engeren Sinne zum einzigen Kriterium wählen. Ein anderes Kriterium, etwa die Entwicklung der Liebesfähigkeit, der Kommunikationsfähigkeit oder der Glücksfähigkeit, würden einen ganz anderen Kurvenverlauf projizieren, vielleicht einen stetig ansteigenden, bei dem nur der Tod einen abrupten Abfall markiert.

Nach welchen Kriterien sollen wir aber die menschliche Sexualität bewerten? Ja, welche Kriterien sind überhaupt im Spiel gewesen, damit sich eine Vorstellung von "Sexualität" bilden konnte? Noch Goethe und Schiller kannten diesen Begriff nicht. Sie wußten auch nichts von "Sexualtrieb", "Sexualverhalten", "Sexualerziehung", "Sexualtherapie", "Sexualforschung", "Sexualwissenschaft", "Sexualmedizin", "Heterosexualität", "Homosexualität" und "Bisexualität". Damals sprach man noch von Liebe, Leidenschaft, Verlangen, Sehnsucht, Zärtlichkeit, Geilheit, Brunst, Lust, Zuneigung, Eros, und getrennt davon redete, man über Fortpflanzung, Zeugung, Vermehrung oder Kindersegen. Davon wieder getrennt war die Rede von Unkeuschheit, Laster, Sünde, Selbstbefleckung, Sodomie und Unzucht. Und schließlich sprach man noch vom Unterschied zwischen Mann und Frau, von Manneskraft und dem "Ewig Weiblichen". Aber ein Wort, das alle diese menschlichen Erfahrungen unter einem Blickwinkel zusammenfaßte, gab es nicht. Diese Zusammenfassung wurde erst durch das neue Wort "Sexualität" ermöglicht und bald auch erzwungen. Es ist ein Wort des späten 19. Jahrhunderts und des industrialisierten Westens, das nun, im 20. Jahrhundert, dabei ist, auch in agrarische und vorliterarische Länder des Ostens und Südens einzudringen und dort, befördert durch Fernsehen, Aids, die Aids-Vorbeugungsorganisationen und andere westliche Errungenschaften, das Denken zu formen.

Wir sollten uns aber nicht einbilden, daß unsere heutigen Begriffe eine unverbrüchliche, "echte", oder "wahre" Beziehung zu einer ebenso echten, unwandelbaren Wirklichkeit haben. Vielmehr ist jede Wirklichkeit, die wir mit Hilfe dieser Begriffe wahrnehmen, von diesen selbst erzeugt, und sie wandelt sich oder verschwindet mit deren Wandel und Verschwinden. Mit anderen Worten: Alle vom Wort "Sexualität" abgeleiteten Begriffe sind ideologisch, und wenn wir die vermeintlich "objektiven" Sachverhalte untersuchen, die sie bezeichnen, dann untersuchen wir vor allem unsere eigene Denkweise. Die Beziehung unseres Denkens zum anscheinend getrennt existierenden Gedachten ist sehr problematisch. Sich dessen bewußt zu sein, macht den Wissenschaftler aus. Ideologiekritik als Selbstkritik ist also der Anfang und die eigentliche Grundlage aller Sexualwissenschaft.

Ich hoffe, mit diesen wenigen oberflächlichen Bemerkungen angedeutet zu haben, worin die Hauptschwierigkeit besteht, gesichertes "Sexualwissen" zu erlangen. Was leichter zu erlangen ist, sind verwertbare Einsichten in anatomische Gegebenheiten und physiologische Vorgänge, in gewisse konkrete Verhaltensweisen, in Gefühle, die solches Verhalten begleiten oder auslösen, in den Wissensstand von Individuen und Gruppen auf klar definierten Sachgebieten. Hier handelt es sich nicht um eine ewige Wahrheit, sondern einfach um Praktikabilität, um Wissen, das Erzieher, Berater, Therapeuten, Sozialarbeiter, Gesetzeshüter und gerichtliche Sachverständige anwenden können. Zwar stehen auch der Gewinnung solchen Wissens große, konkrete Schwierigkeiten entgegen in Form von fehlender finanzieller Förderung, Vernachlässigung und sogar Behinderung durch Universitäten, mangelndem Kooperationswillen unter Kollegen usw., und daher ist unser Fachwissen aus oberflächlichen oder äußerlichen Gründen zum großen Teil Stückwerk. Dies Fachwissen ist aber nicht so grundsätzlich fragwürdig wie das Wissen im höheren Sinne, von dem ich eingangs sprach. Wir haben einigermaßen sicheren Grund unter den Füßen, solange wir bescheiden auf der Ebene des Pragmatismus verbleiben.

Im Sinne dieses bescheidenen, "einfachen" Wissens läßt sich immerhin einiges Vorläufige zur Entwicklung der Sexualität während eines Menschenlebens sagen. Wir werden dabei nicht allzu genau danach fragen, was das "Sexuelle" eigentlich ist, sondern so tun, als wüßten wir es eben und es gäbe darüber keine Kontroverse. Wir werden uns auf einer unteren Ebene, gewissermaßen auf der Eingangsebene des Wissenschaftsgebäudes bewegen und dabei auch nur die zweidimensionalen Muster des Fußbodens betrachten. Um die anderen Dimensionen und die oberen Stockwerke werden wir uns bewußt nicht kümmern.

Und noch ein letztes Wort der Vorsicht: Wenn man so allgemein wie ich jetzt hier über Menschen spricht, so besteht die Gefahr, daß man eine Art "Normalmenschen", einen statistischen oder moralischen Durchschnittsmenschen zum Maßstab nimmt und auf dieser Grundlage dann wieder eine "Normalentwicklung" suggeriert, von der idealerweise niemand abweichen sollte. Nichts liegt mir aber ferner als gerade das, wie sich bald zeigen wird.

Kinder

Wie wir wissen, gibt es Ultraschallbilder, die bei männlichen Föten im Mutterleib Erektionen des Penis zeigen, und bei neugeborenen Mädchen hat man Lubrikationen der Vagina festgestellt. Solche Phänomene hat man nach Masters und Johnson als "sexuelle Reaktionen" bezeichnet. Ob dieser Sprachgebrauch hier sinnvoll ist, hängt davon ab, worauf man hinaus will. Sicherlich, auf der rein physiologischen Ebene kann man eine Vorform dessen erkennen, was bei Jugendlichen und Erwachsenen die "sexuelle Reaktion" ausmacht, aber ob man bei Neugeborenen und Kleinkindern damit auch die körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen der nachpubertären Sexualität assoziieren soll, ist eine andere Frage.

Ist es überhaupt sinnvoll, von einem "Geschlechtsleben des Kindes" zu sprechen, wie Albert Moll es schon 1909 in einem berühmten Buch tat? Wenn in gewissen vorliterarischen Kulturen, wie auch in unserer eigenen Kultur noch im Mittelalter, Kleinkinder von ihren Eltern, Großeltern oder Ammen masturbiert wurden, um sie zu beruhigen, nahm man damit an ihnen "sexuelle Handlungen" vor? Handelte es sich hier in Wirklichkeit um sexuellen "Kindesmißbrauch"?

Eine solche Interpretation hätte damals niemand verstanden. Auch die eigene oder gegenseitige Masturbation der Kinder selber wurde nicht als "sexuell" in unserem Sinne angesehen, sondern in eine Klasse mit Schneuzen, Kratzen und Daumenlutschen gestellt, als "natürliche" Handlungen, die körperliches Unbehagen beseitigen oder Behagen erzeugen. Ja, selbst bei Jugendlichen wurde dies Verhalten nicht unbedingt als "sexuell" gedeutet. so wurde etwa der pubertierende Dauphin und spätere französische König Louis III. noch von seinem Arzt masturbiert, "um schädliche Säfte" aus dem Körper zu entfernen. Allerdings tat er dies nur das erste Mal zu Demonstrationszwecken und empfahl seinem Schützling, diese Gesundheitsmaßnahme fortan regelmäßig selber durchzuführen.

Als man im 18. Jahrhundert die kindliche und jugendliche Masturbation als krankhaft und krankheitserregend zu verteufeln begann, legte man damit das ideologische Fundament, auf dem sich später die Theorie einer kindlichen Sexualität errichten ließ. Gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts war man dann endlich so weit, das Geschlechtsleben des Kindes zu entdecken bzw. zu behaupten, was in diesem Fall dasselbe war.

Sigmund Freud beschrieb den Entwicklungsprozeß eines vermeintlichen Sexualtriebes, der über die Phasen der oralen, analen und phallischen Befriedigung, über eine "Latenzphase" zur korrekten Bündelung und Ausbalancierung dieser "Patrialtriebe" in einer "genitalen Reife" führte. Spätere Psychoanalytiker haben hier noch weiter differenziert, wie etwa Ernest Borneman, der auch noch von einer "kutanen Phase" sprach (im ersten Monat nach der Geburt). Borneman sprach sogar von einer "ersten geschlechtlichen Reife" im dritten bis fünften Lebensjahr. Freuds Zeitgenosse und Feind Albert Moll beschrieb das Geschlechtsleben des Kindes ohne psychoanalytische Begriffe, die er als willkürlich und spekulativ ablehnte. Aber auch er glaubte wie Freud an einen "Trieb", den er allerdings sehr pragmatisch in einen "Detumeszenztrieb" (d. h. Entladungstrieb) und einen "Kontrektationstrieb" (Berührungstrieb) zerlegte.

Die heutige internationale Sexualwissenschaft, die sich seit Jahrzehnten von der Psychoanalyse getrennt hat, glaubt an keinen Sexualtrieb mehr (oder an irgendwelche anderen Triebe). Entsprechend anders wird daher auch die kindliche Entwicklung gesehen. Im Vordergrund stehen nun verschiedene interaktive Lernprozesse, die das Kind, selbstverständlich auf einer biologischen Grundlage, in Aneignung oder Verinnerlichung seiner sozialen Umwelt durchläuft. Vereinfacht ausgedrückt: Alle Neugeborenen besitzen ein Sprechpotential, das sich in bestimmten Phasen entfaltet, aber in Deutschland lernen sie die deutsche Sprache, in China die chinesische. Sind die Eltern gebildet und gesprächig, so entwickelt auch das Kind ein größeres Vokabular und eine höhere Sprechkultur; sind die Eltern ungebildet und schweigsam, so bleibt auch die kindliche Sprechfähigkeit unterentwickelt. Wird ihnen das Sprechen verboten oder wird es nach ihnen uneinsichtigen Regeln bestraft, so entwickeln sie Sprechstörungen oder noch andere Beschwerden. Ebenso besitzen Kinder ein Sexualpotential, das sich in bestimmten Phasen entfaltet, aber je nach Umgebung wird es völlig anders geprägt, und vor allem werden seine Äußerungen völlig anders interpretiert und bewertet. Ja, es hängt sehr von der betreffenden Umgebung ab, ob ein bestimmtes Verhalten überhaupt als sexuell oder nichtsexuell gilt.

Diese Sicht des Sexualverhaltens ist seit den frühen siebziger Jahren als "Skriptierungstheorie" populär geworden. Sie sieht alles menschliche Sozialverhalten, also auch das Sexualverhalten, vor allem als "skriptiertes Verhalten" (scripted behavior). Wenn hier von einem Skript die Rede ist, so ist damit so etwas wie ein Film-Drehbuch oder ein theatralischer Text gemeint, der den Schauspielern vorgibt, mit welchen verteilten Rollen was, wo, wann und wie zu spielen ist. Er hält auch fest, wer, wann und wie auf welche Stichworte reagiert, und er sagt uns, in seiner Gesamtheit, was das ganze Drama bedeutet.

Was nun die Sexualität angeht, so wird uns deren Bedeutung im doppelten Sinne ebenfalls durch Skripte vermittelt. Sie informieren uns sowohl über deren Sinn wie deren Wichtigkeit. Eltern, Geschwister, Freunde, Schule, Kirche, Strafrecht, Medien, Bücher, Film, Fernsehen und viele andere Individuen und Kollektive bieten uns nacheinander oder gleichzeitig sehr verschiedene alte und neue Skripte über richtiges und falsches Sexualverhalten an. In vielen Fällen widersprechen sich diese Skripte sogar direkt in allen Punkten oder stimmen in wichtigen Teilbereichen nicht überein. In dieser unvermeidlichen Konfusion sind wir gezwungen, zu verschiedenen Zeiten zwischen verschiedenen Skripten zu wählen oder, genauer gesagt, uns aus dem breiten Skriptangebot hier und da Fragmente herauszuklauben, um damit ein eigenes, persönliches Skript zu basteln, mit dem wir leben können.

Mit diesem eigenen sexuellen Skript treffen wir dann aber auf Partnerinnen oder Partner, die wiederum ihren eigenen Skripten folgen, und wir müssen dann vielleicht gegenseitige Korrekturen vornehmen, um ein gemeinsames Sexualleben möglich zu machen. Manchmal sind die beiden Skripte unvereinbar, und dann kommt keine Beziehung zustande.

Mit anderen Worten: Sexuelle Skripte haben nicht nur intrapsychische Aspekte, sondern auch interpersonale. Nicht nur muß ich die mir angebotenen Skripte persönlich verarbeiten, sondern ich muß mich darüber hinaus mit den Skripten der anderen auseinandersetzen oder arrangieren. Diese Auseinandersetzung hat wiederum bei mir selbst und dem Gegenüber intrapsychische Folgen. Es liegt hier also eine fluktuierende, auf jeden Fall immer dynamische Interdependenz vor.

Die sexuellen Skripte haben aber auch noch einen allgemein kulturellen Aspekt. Sie bestimmen auch, was unter dem Begriff "sexuell" überhaupt zu verstehen ist und was davon nach welchen Kriterien bewertet wird. Sie sagen auch, wer zu solchen Bewertungen berechtigt ist, d. h. wer die Moralhüter, Normenbewahrer und Experten sind. Je nach Fall können dies religiöse Führer, Gesetzgeber, Mediziner, Pädagogen, Psychologen und noch andere Wissenschaftler sein. Es können aber auch Jugendidole, Sportfiguren, Popsänger, Filmstars oder andere Menschen sein, die gesellschaftlichen Einfluß haben. Verschiedene Autoritäten haben verschiedene Einflußsphären, und keine erreicht heute mehr alle sozialen Gruppen. Im Gegenteil, es herrscht ein sexueller Wertpluralismus, bei dem, in einer "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" moderne und überholte, liberale und repressive, wissenschaftliche und vorwissenschaftliche Expertisen um Einfluß streiten. Sogar in der Sexualwissenschaft herrscht erbitterter Streit zwischen verschiedenen akademischen Schulen, und so ist jede Hoffnung auf eine universale Verbindlichkeit sexueller Normen eitel.

Auch was die Sexualwissenschaft hier anzubieten hat, sind nicht ewige Wahrheiten, sondern "kulturell plausible Berichte", d. h. Erklärungen, die möglichst viele Menschen in unserer Kultur überzeugen. Wenn sie diese Überzeugungsarbeit nicht mehr leisten, werden sie gegen akzeptablere Modelle ausgetauscht. Nichts anderes ist mit dem heute so gängigen Wort vom "Paradigmenwechsel" gemeint. Man könnte ihn auch eine "Umskriptierung" nennen, denn die Wissenschaft selber ist ja wieder skriptiert und muß in einem bestimmten kulturellen Umfeld funktionieren. Und vergessen wir nicht: Auch verschiedene Wissenschaften, etwa die Biologie, Medizin, Psychologie und Soziologie mit ihren verschiedenen Unterwissenschaften, bieten uns verschiedene Skripte über das Wesen, die Entstehung und Bedeutung der Sexualität an. Aus diesem ganzen Skriptierungs-Zusammenhang ist niemals zu entkommen. Ein Bewußtsein davon kann uns aber immerhin bescheiden und kritisch gegenüber unseren eigenen Aussagen machen. Nach diesem kleinen Exkurs kehren wir noch einmal zum Thema Kindheit zurück. Ich brauche hier nicht die kindlichen Entwickungsphasen zu rekapitulieren: Die kutane und orale Lustsuche, die frühen Beckenbewegungen und manuelle Selbstexploration und schließlich die früh auftretende Fähigkeit zum Orgasmus. Nur wenige Kinder erreichen ihn im ersten Lebensjahr, aber viele Zweijährige haben die Erfahrung gemacht. Im Alter von zwei bis vier Jahren beginnen unter Kindern gegenseitige Explorationen, auch der Sexualorgane. Dies muß aber nicht unbedingt als sexuelles Spiel interpretiert werden, da oft nur einfache Neugier vorliegt. Es kann aber auch zu regelrecht erotischen Spielen mit Küssen und engen Umarmungen kommen. Von den Fünfjährigen hat etwa die Hälfte Orgasmuserfahrung, zumeist durch Selbstbefriedigung. Ich will diese und viele andere Befunde dieser Art nicht weiter detaillieren. Entsprechende Literatur ist ja reichlich vorhanden, und die Tatsachen an sich sind ja auch nicht strittig. Ich erwähne sie nur, um deutlich zu machen, auf welcher Basis der körperlichen Entwicklung die unausweichliche soziale Skriptierung erfolgt.

Die erste und massive Skriptierung im wörtlichen Sinne ist der Eintrag des Namens beim Standesamt; genaugenommen erfolgt sie schon vorher bei der Geschlechtsbestimmung durch die Geburtshelfer. Die Aussage "Es ist ein Junge" oder "Es ist ein Mädchen" hat grundlegende und sehr weitgehende Konsequenzen. Nicht nur Name und Kleidung, sondern vor allem die Reaktionen aller Erwachsenen, die mit dem Kind in Berührung kommen, werden dadurch in einer bestimmten Weise vorprogrammiert. Es geht weiter mit geschlechtsspezifischen Frisuren, Spielzeug, Spielkameraden, Büchern usw. und dann vor allem mit Ermahnungen darüber, was ein "richtiger Junge" oder ein "richtiges Mädchen" ist und tut. Diese erste und wichtigste Skriptierung, die Festlegung und Ausgestaltung einer Geschlechtsrolle, schafft erst die Basis für alle folgenden Skriptierungen.

Erinnern wir uns aber daran, daß schon bei dieser ersten Skriptierung vieles schiefgehen kann. In Ausnahmefällen wird die Geschlechtsrolle von einem Kind total abgelehnt, und es weigert sich dann auch, die suggerierte Identität als Mädchen oder Junge anzunehmen. Als Erwachsene sehen wir diese Menschen als Transsexuelle in Beratungsstellen oder ärztlichen Sprechstunden. Aber auch mildere Formen der Ablehnung kommen vor, besonders, wenn die Geschlechtsrolle sehr eng definiert ist und bei starken kindlichen Persönlichkeiten zur Rebellion geradezu herausfordert. Sehr feminine Jungen oder "burschikose" Mädchen machen manchmal den Eltern erhebliche Sorgen. Wie diese innerfamiliären Probleme dann interaktiv von allen Beteiligten gelöst werden, ist dann wieder die Frage der jeweiligen Kultur und der individuellen Persönlichkeiten von Eltern und Kindern.

Zuerst lernt das Kind also, daß es ein Junge oder Mädchen ist und was dies für alle seine Lebensäußerungen bedeutet. Es übernimmt die kulturell geprägte maskuline oder feminine Rolle und wächst mehr und mehr in sie hinein, bevor sich ihm deren sexuelle Implikationen enthüllen. Die Geschlechtsrollenskriptierung erfolgt also vor jeder sexuell-erotischen Skriptierung. Daraus folgt, daß es ein wissenschaftlicher Irrtum ist, wenn man in angeblich "natürlichen" Unterschieden zwischen Frauen und Männern nach Erklärungen für ihr Sexualverhalten sucht.

Nun aber zur sexuellen Skriptierung: Wie gesagt, auf der Basis der Geschlechtsrolle setzen im Laufe der Zeit Suggestionen, Informationen und Ermahnungen darüber ein, was sexuelle Handlungen sind und wie man sie bewertet. Wenn gewisse kindliche Aktivitäten für beobachtende Erwachsene eindeutig sexuelle Konnotationen haben, so muß dies doch für die Kinder selber durchaus nicht so sein. Das gilt auch für vermeintlich sexuelle Annäherungen von Kindern an Erwachsene. Die hier manchmal klaffende enorme Diskrepanz zwischen kindlicher und erwachsener Interpretation der gleichen Handlung spielt nicht nur bei der Frage des sexuellen Kindesmißbrauchs eine Rolle, sondern auch bei der Feststellung, Bewertung und Verfolgung solchen Mißbrauchs. In manchen Fällen werden Kinder weniger durch sexuelle Handlungen eines Erwachsenen traumatisiert, die sie selbst kaum als solche wahrgenommen haben, als durch anschließende eindringliche Verhöre, die sie nicht verstehen. Auch spontane Handlungen des Kindes selbst können traumatisierende Reaktionen von seiten der Eltern auslösen. Wird etwa die frühkindliche Selbstbefriedigung verfolgt und bestraft, so hat dies offensichtlich andere Konsequenzen für das Kind, als wenn man es dafür lobt und frei gewähren läßt. Das Gleiche gilt für kindliche "Doktorspiele", gegenseitige Masturbation und anderes. Auch kann es einen entscheidenden Unterschied ausmachen, ob man ein Kind sachgerecht über die Fortpflanzung aufklärt oder ihm verschämt unsinnige Märchen auftischt, die es dann mit eigenen Beobachtungen nicht in Einklang bringen kann. Wie so etwas zu unnötigen Problemen führen kann, illustriert einer der bekanntesten Fälle Sigmund Freuds, der des "kleinen Hans".

Die von Freud postulierte Latenzperiode, in der das sexuelle Interesse bei älteren Kindern für einige Jahre abnimmt, ist, wie wir wissen, ebenfalls kulturbedingt und keineswegs universal. Einige vorliterarische Gesellschaften kennen sie nicht. Es zeigt sich hier aber ein echtes Dilemma für unsere Eltern und Pädagogen, die ja nicht aus unserer eigenen Kultur herauskönnen, es sei denn zum Nachteil der Kinder. Erzwingt man eine zu starke sexuelle Repression, so läuft man Gefahr, die Kinder zu verbilden und zu verkrüppeln. Läßt man die pädagogischen Zügel so locker, daß die Kinder als sexuell ungehemmt mit ihrer Umgebung zusammenstoßen, so fügt man ihnen womöglich noch größeren Schaden zu. Andererseits ist auch wieder klar, daß Menschen, wie alle Primaten, ihr Reproduktionsverhalten früh praktisch einüben müssen, da es nicht, wie bei niederen Tieren, instinktiv gesteuert bzw. vorprogrammiert ist. Ein gewisses sexuelles Ausprobieren bei Kindern und Jugendlichen ist also schon allein um des Überlebens der Gattung willen erforderlich, ganz gleich, was verschiedene Kulturen davon halten. Eine Ideallösung dieser Widersprüche gibt es in modernen Industriegesellschaften nicht. Meist wird diese Problematik einfach pragmatisch irgendwie umschifft; alle Eltern, Lehrer und Kinder leiden ein bißchen, aber alle kommen auch ohne schwere Blessuren davon.

Jugendliche

Die Bedeutung des kulturellen Umfeldes für die Sexualität wird noch deutlicher mit dem Beginn der Pubertät, die in unseren westlichen Industrieländern eine lange und oft quälerische Periode der Adoleszenz einleitet.

Die meisten "Naturvölker" und auch unsere eigene abendländische Kultur in Antike und Mittelalter kannten keine solche Periode. Vielmehr wurden Jungen und Mädchen bei ihrer Geschlechtsreife in verschiedenen Pubertätsriten relativ abrupt zu Erwachsenen erklärt, was sich noch an einigen unserer religiösen Bräuche wie Bar Mitzwah, Firmung und Konfirmation ablesen läßt. Diese Zeremonien markieren den Übergang zum vollwertigen Gemeindemitglied und werden im Alter von 13 bis 14 Jahren gefeiert.

Im größten Teil der Menschheitsgeschichte bedeutete dieses Alter auch den Beginn anerkannter sexueller Aktivität, wenigstens für die männlichen Jugendlichen. Diese mußte sich nicht unbedingt in der Ehe vollziehen, sondern konnte entweder gleichgeschlechtlich sein oder die Prostitution in Anspruch nehmen. Auf jeden Fall wurde nach wenigen Jahren eine Heirat erwartet, und so mußten selbst die "behüteten" Mädchen in patriarchalischen Gesellschaften selten sehr lange auf Sexualkontakte warten.

Noch Georg Christoph Lichtenberg lebte als Göttinger Universiätsprofessor offen mit einer Dreizehnjährigen. Heute würde er dort dafür wegen sexuellen Kindesmißbrauchs ins Gefängnis kommen, ganz zu schweigen von Lorenzo da Ponte, der bei der Dichtung des Librettos für Mozarts Cosi fan tutte zu Zwecken der Inspiration regelmäßig Geschlechtsverkehr mit der 15jährigen Tochter der Hauswirtin hatte und in seinen Memoiren stolz darüber berichtet.

Für uns sind das heute skandalöse, ausbeuterische Verhältnisse, denn junge Menschen unter 16 Jahren gelten bei uns als sexuell unmündig, d. h. per definitionem unfähig zur sexuellen Selbstbestimmung. Sie sind, nach juristischem Sprachgebrauch, noch im "Schutzalter". Aber auch mit 16 Jahren sind sie noch nicht erwachsen, denn wir setzen heute eine Adoleszenz von fünf bis zehn Jahren voraus und sind außerdem äußerst empfindlich gegenüber großen Altersunterschieden zwischen Sexualpartnern. Setzt heute die erste Menstruation im Alter von acht bis zwölf Jahren, und der erste Samenerguß zwischen zwölf bis 14 Jahren ein, so ist doch ein weiter Weg bis zum offiziellen Erwachsenenalter mit 21. Ja, wenn man bedenkt, daß Universitätsstudenten oft sechs bis zehn Jahre brauchen, bis sie alle Examina gemacht und alle notwendigen Titel erworben haben und auf eigenen Füßen stehen, so hat man es oft mit einer Adoleszenz von 15 und mehr Jahren zu tun.

Wohlgemerkt, Adoleszenz ist ein kultureller, kein biologischer Begriff. Biologisch sind Mädchen und Jungen zumeist mit 14 Jahren geschlechtsreif, also zeugungsfähig. Das heißt in unserer heutigen Gesellschaft aber leider keineswegs, daß sie auch geistig und sozial für eine Elternschaft reif sind. Im Gegenteil, die beschleunigte Pubertät verbunden mit einer unnatürlich langen Adoleszenz hat auch zu einer langsameren psychologischen Entwicklung bei jungen Menschen geführt, ja man möchte fast von einer zunehmenden geistigen Infantilisierung der Jugend sprechen, die immer länger unmündig gehalten und dabei körperlich immer schneller erwachsen wird. Die großen psychologischen, sozialen und speziell sexuellen Probleme der heutigen Jugendlichen haben hier ihren Grund.

Diese Probleme haben heute in anderen Teilen der Welt, etwa in Südostasien, noch erheblich größere Dimensionen als bei uns. Auch in China, Korea, Japan, Indonesien, Malaysia, Thailand und auf den Philippinen sinkt das Pubertäts- und steigt das Heiratsalter. Gleichzeitig nimmt der Prozentsatz der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung dramatisch zu. Und schließlich brechen zur selben Zeit die traditionellen sozialen Kontrollmuster zusammen. Auch in diesen Ländern verlieren Religion und traditionelle Moral ihren Einfluß, während westliche Vorbilder immer weiter vordringen, und dies in einem Augenblick, da auch Aids sich erschreckend schnell ausbreitet. Hier braut sich eine explosive Situation zusammen, und deshalb sind diese Länder immer stärker an einer sinnvollen Sexualerziehung interessiert.

Doch zurück zu unserer eigenen Gesellschaft: Wiederum kann ich mir hier die bekannten Einzelheiten der pubertären körperlichen Entwicklung sparen und muß auch nichts sagen über die Zeitdiskrepanz zwischen der Geschlechtsreife von Mädchen und Jungen. Stattdessen möchte ich sofort auf die hochkomplexen Vorgänge der Skriptierung während der Adoleszenz hinweisen.

Die Adoleszenz ist gewissermaßen die "klassische" Periode der sexuellen und auch sonstigen sozialen Skriptenkonfusion. Jetzt beginnt sich die sexuelle Bedeutung der Geschlechtsrollenskriptierung zu enthüllen, d. h. die anatomischen und Verhaltensunterschiede zwischen männlich und weiblich gewinnen eine erotische Qualität. Dazu kommen andere, verwirrende eigene Entdeckungen der Welt. Beginnende Ablösung von den Eltern, Profilierung gegenüber den Geschwistern, erwachendes Mißtrauen gegenüber Kirche, Schule und Staat allgemein, Rebellion gegen Freiheitsbeschränkungen, Verliebtheit und fehlende Übung beim Ansprechen der begehrten Person, mangelnde Erfahrung und Geschicklichkeit im menschlichen Umgang überhaupt - all das macht es Jugendlichen schwer, unter den angebotenen sexuellen Skripten sinnvoll zu wählen. Dazu kommen Furcht vor ungewollter Schwangerschaft und seit einigen Jahren Angst vor Aids.

Wiederum darf man sich die Skriptierung nicht als gradlinig oder quasi-automatisch vorstellen. Manche Jugendlichen lehnen fast alle der ihnen angebotenen sexuellen Skripte ab, weil sie auf ihre eigene individuelle Persönlichkeit nicht passen wollen. Wenn in einer Umgebung etwa gleichgeschlechtliche Wünsche als nichtexistent oder verboten behandelt werden, so kann dies Jugendliche mit solchen Wünschen in große seelische Not und in ein generelles Aufbegehren führen. Vor allem aber führt das Fehlen eines sinnvollen gleichgeschlechtlichen Skripts zu einer sozialen Orientierungslosigkeit und einer Art moralischer Anomie, die auch andere Lebensbereiche erfassen kann.

Sicherlich genießen in dieser Phase die von Gleichaltrigen angebotenen Skripte einen gewissen Vertrauensbonus und werden bevorzugt geprüft, ja manchmal einfach ungeprüft übernommen. Aber auch die Massenmedien und die jeweilige Pop-Kultur haben dann einen besonders großen Einfluß. Das heißt nicht, daß etwa Elternhaus und Schule keinen Skriptierungsbeitrag leisten, aber sie stehen selten so unbestritten im Vordergrund, wie sie es gerne möchten. Ihr Wirken ist dann häufig indirekt.

Wie unverstanden sich viele Jugendliche fühlen, wird an der aktuellen Streitschrift eines jungen Amateursexologen namens Jörg Tremmel deutlich, der unter dem Titel Sweet Little Sixteen - Jugend und neue Sexualmoral (Fischer Taschenbuch, März 1994) eine "vernünftige Sexualmoral" und das Recht auf freie sexuelle Entfaltung in jedem Alter fordert. Wie er glaubt, würden damit bei uns viele Probleme verschwinden: "Die Trias Alkoholmißbrauch, Drogenkonsum und Selbsttötung wird in dem Maße an Bedeutung verlieren, in dem auch die sexuelle Frustration verschwindet." (S. 248)

Er malt dann auch für unsere künftige frustrationsfreie Gesellschaft ähnlich idyllische Verhältnisse wie bei den Trobriand-Insulanern der Zwanziger Jahre aus, bei denen auch die Homosexualität wegen früh ermöglichter heterosexueller Erfahrungen zurückgehen würde. Diese und andere seiner Thesen haben einerseits den Charme jugendlicher Naivität und erinnern andererseits an den älteren revolutionären Glauben, mit dem schon Sozialutopisten von Fourier bis Reich Schiffbruch erlitten. Die angeblich wissenschaftlich begründete Bemerkung über Homosexualität zeigt dann außerdem, daß der Verfasser die entsprechende Fachliteratur weder versteht noch kritisch bewerten kann.

Ich erwähne die Schrift hier auch nur, um auf die Kluft zwischen jugendlichem und erwachsenem Denken über Sexualität hinzuweisen. Die Jugend registriert korrekt, daß mit der herrschenden Sexualideologie etwas nicht stimmt und daß sie um des eigenen Lebensglücks willen ihren eigenen Weg suchen muß. Sie täuscht sich aber in der Annahme, daß der moderne Wertepluralismus und die daraus folgende Skriptenkonfusion durch "Vernunft", idealistische Appelle oder andere Globalmaßnahmen aufzuheben wären. Es gibt keinen Weg, dem Frust der eigenen Wertfindung in einer Gesellschaft objektiver Widersprüche zu entgehen und gleichsam "aus der Geschichte herauszuspringen".

Zur Illustration ein Beispiel: Mit der Verbürgerlichung des Lebens in den westlichen Industrieländern seit etwa 250 Jahren hat sich dort ein kulturelles Skript entwickelt, das Sex, Liebe und Ehe als zusammengehörig denkt. Zunächst galt dies zwar nur für die bürgerlichen Töchter, aber endlich wurde es auch für die Söhne als passend angesehen. Wenige machen sich heute klar, daß diese Dreieinigkeit für den größten Teil der Menschheitsgeschichte nicht gegolten hat. Wir kennen das antike griechische Diktum, daß der Mann seine Ehefrau für die Zeugung, Hetären für den Sex und Epheben für die Liebe hat, aber auch im christlichen, weitgehend bäuerlichen Mittelalter wurde Liebe keineswegs als Vorbedingung der Ehe angesehen. Vielmehr galt es vor allem, den Hof oder Handwerksbetrieb durch eine ökonomisch sinnvolle Heirat zu erhalten. Noch klarer liegt der Fall bei der Aristokratie. Hier mußten Eheschließungen sich völlig dem dynastischen oder sonst politischen Interesse unterordnen. Deshalb das Zugeständnis an den Fürsten, sich Mätressen zu halten. Diese wurden aber nur solange geduldet, wie sie die Ehe und damit die dynastische Erbfolge nicht in Frage stellten. Kurz, leidenschaftliche Liebe wurde daher sowohl in den untersten wie obersten Gesellschaftsschichten eher als Bedrohung für die Familienordnung empfunden. Viele klassische Dramen und selbst noch die großen bürgerlichen Romane und Opern des 19. Jahrhunderts zeugen davon. Ja, selbst das Bürgertum, das die Liebe in der Ehe propagierte, blieb sich immer der Tatsache bewußt, daß sie auch Ehen zerstören konnte, und blieb daher in seiner Propaganda immer ambivalent.

Wenn nun heutige westliche Jugendliche auch vor einer Ehe und ohne jede Eheabsicht sexuelle Beziehungen suchen, so halten dennoch viele von ihnen, besonders die weiblichen, an der engen Verbindung von Sex und Liebe fest. Ja, die Liebe soll der Beweggrund und die Rechtfertigung für jeden Sexualkontakt sein. Was genau Liebe ist, wird wiederum von verschiedenen kulturellen Skripten vermittelt, die alles mögliche von Schwärmerei über flüchtige Anziehung bis zur fatalen Leidenschaft beinhalten können. Es zeigt sich hier aber, wie schon angedeutet, eine für Jungen und Mädchen verschiedene Skriptierung. Die Jungen mögen genauso an die Liebe glauben, aber sie erkennen auch oft dem "reinen Sex" ein eigenes Recht zu. Der Punkt, wo sie mit den Mädchen aber meist wieder übereinstimmen, ist der, daß Liebe die Vorbedingung, manchmal die einzige Vorbedingung für die Ehe sein soll. Sie übersehen dabei häufig, daß Verliebtheit und erotische Anziehung notorisch unzuverlässige Garanten einer Lebensgemeinschaft sind. Wenn, wie man sagt, Liebe blind macht, so macht sie vor allem für die wirklichen Stabilitätsfaktoren einer Ehe blind. Daher auch die steigende Scheidungsrate.

Kurz, unsere heute allgemein gültige Skriptierung, die eine Einheit von Liebe, Sex und Ehe fordert, programmiert viele, die sich ihr bedingungslos unterwerfen, für spätere Enttäuschungen, und da hilft auch keine "vernünftige Sexualmoral". Höchstens könnte eine von Erfahrung geprägte Vernunft hier verschiedene Gegenskriptierungen anbieten, aber der Elan der Jugend besteht ja gerade oft darin, daß sie auf die Erfahrung von Älteren nicht hört. Außerdem handelt es sich um eine gesellschaftlich breit gestützte, eigentlich überwältigende Skriptierung, die deshalb auch von Jugendlichen als solche in der Regel nicht durchschaut werden kann.

Das heißt nicht, daß alle Jugendlichen dieses Skript de facto immer akzeptieren, denn sie sehen ja, daß auch viele Erwachsene trotz lautstarker Beteuerungen dies auch nicht tun. Aber als Kulturideal spielt es auch dann immer noch eine Rolle.

Es wäre reizvoll, nun auch im einzelnen auf die verschiedenen jugendlichen Werbungsrituale, Freundschaftsmuster, Formen des Sexualkontakts, Verhütungsstrategien usw. einzugehen, die natürlich allesamt kulturelle Skriptierungen sind. Ich erspare mir dies hier, um stattdessen auf einige Befunde zu verweisen, die wahrscheinlich eher eine biologische als soziale Grundlage haben, nämlich den Unterschied zwischen der Entwicklung von männlicher und weiblicher sexueller Reaktion.

Der moderne Ausdruck "sexuelle Reaktion" (engl. sexual response) zeigt allein schon, wie weit wir uns in der Sexualwissenschaft von dem alten Begriff des Sexualtriebes wegbewegt haben. Hier wird nicht mehr irgend etwas von innen angetrieben, sondern ganz im Gegenteil, hier wird auf verschiedene äußere Stimuli reagiert. Die Sexualität wird hier nicht als Drang, Quelle oder innere Spontankraft aufgefaßt, sondern als eine Fähigkeit, auf entsprechende Reize reagieren zu können, als Reaktions- und auch Interaktionspotential. Dementsprechend versucht man nun, beim menschlichen Sexualverhalten drei Hauptaspekte zu unterscheiden:

 

1. Die sexuelle Fähigkeit, d. h. was ein Mensch tun kann,
2. Die sexuelle Motivation, d. h. was ein Mensch tun möchte,
3. Die sexuelle Leistung, d. h. was ein Mensch tatsächlich tut.

Die sexuelle Fähigkeit (also die Fähigkeit, sexuell erregt zu werden und einen Orgasmus zu erreichen) hängt von der allgemeinen körperlichen Verfassung eines Menschen ab, besonders von seinem Nerven- und Muskelsystem. Diese Fähigkeit ist von einem Menschen zum anderen sehr verschieden und bleibt auch bei ein- und demselben Menschen nicht gleich. So hat beispielsweise ein Mensch als Kind Jugendlicher, Erwachsener und alter Mensch sehr unterschiedliche sexuelle Fähigkeiten. Auf unser Thema bezogen heißt dies, daß Kleinkinder im allgemeinen erst im Laufe der ersten zwei Lebensjahre allmählich eine sexuelle Fähigkeit entwickeln. Die Pubertät dagegen führt bei männlichen Jugendlichen relativ schnell zur Höchstentwicklung der sexuellen Fähigkeit, die danach kontinuierlich abfällt. Bei weiblichen Jugendlichen dagegen wird diese Höchstentwicklung im allgemeinen nicht so schnell erreicht, so daß viele Frauen erst in einem Alter um die Dreißig die höchste sexuelle Fähigkeit erreichen.

Die sexuelle Motivation (also das Bedürfnis, sexuell aktiv zu werden) kann vom Vorhandensein bestimmter Hormone im Körper abhängen, scheint jedoch auch sehr weitgehend psychischen Einflüssen zu unterliegen. Soziale Konditionierung bzw. Skriptierung und die besonderen Umstände einer bestimmten Situation spielen eine entscheidende Rolle. Die sexuelle Motivation ist von einem Menschen zum anderen verschieden und bleibt auch in ein- und demselben Menschen nicht gleich. Hier ist die Anwendung auf unser Thema offensichtlich. Jugendliche haben eine erhebliche höhere sexuelle Motivation als Kinder, nicht nur wegen erhöhtem Hormonspiegel, sondern auch wegen ihrer Umgebung, die ihnen, anders als den Kindern, die Wichtigkeit sexueller Aktivität suggeriert.

Die sexuelle Leistung (also das tatsächliche Ausmaß sexueller Aktivität) hängt nicht nur von körperlichen und psychischen Faktoren ab, sondern vor allem auch von der Gelegenheit. Das Ausmaß sexueller Leistung wird natürlich nach oben durch die sexuelle Fähigkeit begrenzt. Es ist evident, daß sexuelle Fähigkeit, Motivation und Leistung nicht immer übereinstimmen. Nur wenige Menschen kommen in die Lage, sexuell all das zu tun, was sie können und möchten.

Zum Beispiel kann eine sehr hohe sexuelle Leistung einhergehen mit einer sehr geringen sexuellen Motivation. Diese kann stattdessen rein finanzieller Art sein, wie bei einer Prostituierten. Sie kann auch sozialer Art sein, wie bei einer in Wahrheit prüden, anorgasmischen Frau, die ihren Ehemann nicht verlieren will. Eine geringe sexuelle Motivation kann auch einhergehen mit einer großen sexuellen Fähigkeit, die aber aus verschiedenen Gründen nicht ausgeschöpft wird. Dieser Fall ist nicht selten bei Frauen, die sich jahrelang "selber nicht kennen" und einfach nicht wissen, welches Sexualpotential sie besitzen. Erst die Begegnung mit einem geschickten Liebhaber weckt dieses Potential, so daß dann die vorher unterentwickelte Motivation "aufholen" kann. Andererseits kommt es auch vor, daß mit dem Verschwinden eines solchen Liebhabers auch die Motivation wieder verschwindet oder erheblich abnimmt.

Für unser augenblickliches Thema sehr interessant ist die Diskrepanz zwischen sexueller Fähigkeit und sexueller Leistung, die vor allem bei männlichen Jugendlichen zu beobachten ist. Wie bereits erwähnt, erreichen diese drei bis vier Jahre nach Beginn der Pubertät die höchste sexuelle Fähigkeit, die von da an langsam, aber stetig abnimmt. Im Alter von 16 bis 18 Jahren haben aber in unserer Gesellschaft die wenigsten Jugendlichen die Gelegenheit, dieses Potential voll auszuschöpfen. Entsprechende Partnerinnen sind schwer erreichbar und, wenn gleichaltrig, ohnehin selber noch nicht auf der Höhe ihrer eigenen Fähigkeit. Hinzu kommt eine zwar abgeschwächte, aber immer noch wirksame Tabuisierung der Masturbation, und so erreichen viele Männer ihre höchste sexuelle Leistung erst zehn oder mehr Jahre später, wenn ihre Fähigkeit schon deutlich abgenommen hat. Eine offensichtliche Ausnahme könnte ein gleichaltriges Paar von gleichgeschlechtlich aktiven männlichen Jugendlichen sein, vorausgesetzt, man bietet ihnen die notwendigen Gelegenheiten.

Die in diesem Punkt zwischen den Geschlechtern diskrepante Entwicklung ist ein wichtiger Aspekt unseres Themas. Das wird noch deutlicher, wenn wir nun das Erwachsenenalter betrachten.

Erwachsene

In vieler Hinsicht macht es natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob ein junger Mann heiratet oder Junggeselle bleibt. Es macht aber kaum einen Unterschied in bezug auf die stetig abfallende Kurve seiner sexuellen Leistung. Vor dem 20. Lebensjahr erreichen verheiratete Männer eine Durchschnittsfrequenz von fast fünf Orgasmen pro Woche und unverheiratete immerhin noch über drei. Aber bald nähern sich die fallenden Kurven beider Gruppen einander an. Bei den Fünfzigjährigen sind es bereits weniger als zwei, bei den Sechzigjährigen liegt die Zahl knapp über eins, und bei den Siebzigjährigen unter eins. Diese Daten stammen von Alfred Kinsey, und man mag aus verschiedenen Gründen hier und da an seinen Zahlenangaben deuteln, aber die Tendenz ist wohl unbestreitbar.

Bei Frauen dagegen fanden Kinsey und seine Mitarbeiter für die gleichen Lebensjahre eine sehr viel flachere, aber dafür fast ebene Leistungskurve, die sich von Anfang bis Ende um die Zahl 0,5 herum bewegte. Die 18jährigen Mädchen unterschieden sich kaum von den 60jährigen Frauen. Kinsey hatte dafür keine Erklärung, und ohne mich selbst auf Spekulationen einzulassen, möchte ich darauf eingehen, was dies für die sexuelle Partnerschaft von Mann und Frau bedeutet. Betonen muß man natürlich, daß die genannten Zahlen Durchschnittswerte darstellen, und daß im Einzelfall große Abweichungen von diesem Durchschnitt nach oben und unten zu beobachten sind. Außerdem beziehen sich die Zahlen auf die Gesamtzahl der Orgasmen ohne Rücksicht darauf, wie und mit wem sie zustande kommen. So widersprechen Kinseys Befunde auch keineswegs der vorher erwähnten Beobachtung, daß bei manchen jungen Männern die höchste sexuelle Leistung viele Jahre nach dem Höhepunkt der sexuellen Fähigkeit erreicht wird. Die Befunde widersprechen auch nicht der Alltagsbeobachtung, daß Männer, die in ihrer langjährigen Ehe sexuell kaum noch motiviert sind, außerehelich eine neue Motivation gewinnen. Im Gegenteil, gerade weil Kinsey bei beiden Gruppen, den Verheirateten und den Unverheirateten, die gleichen Zahlen fand, ist der altersbedingte sexuelle Leistungsabfall umso deutlicher demonstriert.

Für Frauen scheint bei allen Unterschieden, dies Eine ebenfalls zu gelten: Ob ehelich oder außerehelich, die Leistung bleibt sich im Durchschnitt gleich, hier allerdings auf einem ebenfalls gleichbleibenden Niveau.

Wenn wir nun die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die sexuelle Partnerschaft von Erwachsenen machen, so müssen wir wieder die verschiedensten kulturellen Skriptierungen berücksichtigen. Das erste und wichtigste davon hatten wir schon zu Anfang erwähnt - die Geschlechtsrolle als männlich oder weiblich. Ist diese Skriptierung in der Kindheit grundlegend und in der Adolseszenz wichtig, so bleibt sie jedenfalls auch im Erwachsenenalter bedeutend. Und hier ist auf keine "natürliche" Idealsituation zu hoffen. Die Rollen von Frau und Mann haben sich in den letzten drei Generationen so dramatisch gewandelt und wandeln sich weiter, daß neben der Freiheit auch die Unsicherheit bei beiden Geschlechtern sehr gewachsen ist. Es ist nicht länger klar, was eine "richtige Frau" oder ein "richtiger Mann" eigentlich ist. Die alten Rollen von züchtiger Hausfrau da und Patriarch hier sind ausgespielt, ebenso wie die von weiblicher Passivität und männlicher Initiative. Aber über die Alternativen werden uns sehr verschiedene und schnell wechselnde Skripte angeboten. Bei Frauen: die berufstätige Ehefrau, moderne Managerin oder lesbische Aktivistin; dann wieder vielleicht doch die bewußte Mutter, ob als Einzelerzieherin oder Mittelpunkt einer Familie. Bei Männern wechseln die Modelle vom "Softie" und Hausmann über den beruflich tüchtigen Vater, der noch Zeit für seine Kinder hat, bis zum neufeminisierten Partner seiner Frau, der auch Geschirr spült. Was hier für wen paßt, muß jede und jeder selber entscheiden.

Aber auch das Sexualverhalten im engeren Sinne hat sich gewandelt. Für die USA etwa belegen verschiedene Studien, daß der heterosexuelle Oralverkehr seit Kinsey auch außerhalb der Ehe erheblich zugenommen hat und so die größere Liberalität der letzten Jahrzehnte reflektiert. Es zeigt sich auch, daß es bei Homosexuellen im gleichen Zeitraum zunächst eine dramatische Zunahme und dann ebenso dramatische Abnahme des Analverkehrs gab. Bei diesem letzteren Befund erkennen wir unschwer die Auswirkungen zuerst der modernen Schwulenbewegung und dann der Aids-Epidemie.

Es ist also keine Frage, daß auch das intimste menschliche Verhalten von allgemeinen sozialen und historischen Entwicklungen mitbestimmt wird. Selbst im einfachsten Fall des ehelichen Verkehrs, den man scherzhaft den coitus simplex Germanicus genannt hat, spielen verschiedene kulturelle Skriptierungen eine entscheidende Rolle. So erkennen Sexualtherapeuten zum Beispiel an den heute häufigsten Problemen ihrer Patienten oder Klienten, woran es bei der sexuellen Kommunikation hapert. Sexualstörungen treten auf, weil der heute immer noch angebetete "Fetisch Genitalität" die Beziehungen in dreifacher Weise verzerrt. So finden wir

1. eine Überbetonung der männlichen Initiative (auf Kosten der weiblichen Initiative),
2. eine Überbetonung des Koitus (auf Kosten anderer Formen des Geschlechtsverkehrs)
3. eine Überbetonung des Orgasmus (auf Kosten verspielter Zärtlichkeit und des langsamen sinnlichen Genusses).

Die aus diesen Verzerrungen entstehenden verschiedenen Erektions-, Lubrikations- und Orgasmusstörungen verschwinden erstaunlicherweise, wenn mit Hilfe der Therapeuten die Balance wieder hergestellt wird.

Wie gesagt und in den USA mit Zahlen belegt, haben sich mehr und mehr Männer und Frauen von den alten, falsch balancierten Skriptierungen befreit, und insofern gibt es generell vielleicht mehr sexuelle Erfüllung in der Ehe als früher. Aber für allzu viele wirken die alten Muster fort, was sich ja übrigens auch in Gewaltdelikten gegen Frauen ausdrückt. Auch die Gewalt gegen Frauen ist kulturell skriptiert, worauf Feministinnen immer wieder hinweisen, ohne allerdings ausreichend Gehör zu finden. Ich will dieses Thema hier nicht vertiefen, sondern nur abschließend darauf hinweisen, daß gerade die Skriptierungstheorie hier sehr wertvolle Ansatzpunkte für weitere Forschung liefert.

Kehren wir also zur sexuellen Entwicklung im Erwachsenenalter zurück! Es ist nicht so, daß nach Ende der Adoleszenz die Sexualität gleichsam bis zum Ende des Lebens fixiert bleibt. Nicht nur die Ausgestaltung der Geschlechtsrolle kann sich noch ändern, wie wir gesehen haben, sondern auch die sexuelle Orientierung ist, wie Kinsey nachweisen konnte, keineswegs immer eine fixe Größe. Ich selber habe in San Francisco noch Großväter gekannt, die nach dem Tode ihrer Frau mit einer bewußten Entscheidung zum ersten Mal in die Schwulenszene eingetaucht und dort aktiv geworden sind. Auch der von mir und Rolf Gindorf soeben herausgegebene Sammelband "Bisexualitäten - Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern" (Gustav-Fischer-Verlag, Stuttgart 1994) sollte jeden skeptischen Leser überzeugen, daß wir bei diesem Thema von starren Vorstellungen Abschied nehmen müssen.

Ob aber anders- oder gleichgeschlechtlich, in beiden Fällen stellt sich die Frage nach dem, was man heute Partnerschaft nennt. Ich selbst bin nicht glücklich mit diesem Wort, das mich immer an Geschäftsbeziehungen erinnert. Auch hier zeigt sich, daß es für viele keine Frage des Entweder-Oder ist. Wir alle haben von serieller Monogamie gehört, von vorehelichem Zusammenleben, von "Singles" und von Kommunen, von "offenen Ehen", von Klein-, Groß- und erweiterten Familien, von lesbischen und schwulen Lebensgemeinschaften zu zweit oder zu dritt. Auch hier gibt es also die verschiedenen Skripte für erwachsene Intimität längerer oder kürzerer Dauer. Es ist jedenfalls für Sexualwissenschaftler und Sexualerzieher nicht erlaubt, so zu tun, als gäbe es hier nur eine richtige Option, denn wenn wir in der allgemeinen Debatte nicht darauf bestehen, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, wer soll es dann tun?

Es ist auch unvermeidlich, daß eine Anzahl von Frauen und Männern im Laufe ihres Lebens verschiedene dieser Modelle durchprobiert, und deshalb ist es schwierig, allgemeingültige Aussagen über die Sexualität heutiger Erwachsener zu machen. Relativ sicher ist die Aussage, daß glückliche, lebenslange Partnerschaften eher von gegenseitigem Respekt, Vertrauen, Verständnis und Toleranz abhängen als von sexueller Aktivität, obwohl diese eine wichtige sekundäre Rolle spielt. Ohnehin ist zu bedenken, daß sie mit zunehmendem Alter abnimmt, wenigstens in dem konventionellen Sinne der Orgasmusgewinnung. Stattdessen werden Zärtlichkeit und körperliche Nähe entscheidend.

Die Menopause, die früher für viele Frauen das sexuelle Aus bedeutete, hat heute diese Schrecken verloren. Im Gegenteil, für manche bedeutet sie eine Befreiung mit entsprechend größerer sexueller Befriedigung. Obwohl, wie schon gesagt, bei gleichaltrigen Ehemännern die sexuellen Fähigkeiten weiter abnehmen, ist eine Vertiefung der sexuellen Beziehung dann durchaus noch möglich, besonders wenn das Paar es versteht, sich von früheren, engen Skriptierungen freizumachen.

Es ist aber noch einmal zu betonen, daß die gebannte Sicht auf das Sexuelle die ganze Wirklichkeit einer Paarbeziehung nicht erfassen und sogar das Wesentliche übersehen kann. Für das Paar selber wandeln sich im Laufe der Zeit sowohl der Sinn wie die Wichtigkeit der sexuellen Interaktion. Diese definiert sich zunächst unmerklich, dann aber auch merklich für beide neu, ja man kann sagen, daß nur diese Neudefinition ihr Weiterwirken ermöglicht. Gelingt sie nicht, und bleiben die beiden in Verhaltensmustern stecken, die der alternde Körper nicht mehr ausfüllen kann, dann kommt auch die sexuelle Kommunikation zum Erliegen.

Ältere Menschen

Damit kommen wir zu einem Thema, das in den letzten Jahren sehr viel Publizität gefunden hat - der Sexualität im Alter. Gerade hier hat die gedankenlose Rede vom Lebenszyklus lange viel Schaden angerichtet. Im Sinne dieses Begriffes wurde das Alter als "zweite Kindheit" aufgefaßt, als eine Rückkehr in die asexuelle Vorpubertät. Oft wurden abhängige alte Menschen regelrecht gewaltsam infantilisiert, besonders in Heimen oder anderen Gemeinschaftsunterkünften. Und ebensowenig wie den Kindern gestand man den Alten sexuelle Interessen zu. Dann, mit Beginn der siebziger Jahre, begann das Bild sich zu wandeln. Wurde älteren Menschen vorher oft jedes Recht auf Sexualkontakt abgesprochen, so fanden sie sich nun auf einmal, besonders in der populären Presse, als sorgenfreie, sinnenfrohe, ja enthemmte Erotomanen dargestellt.

Auch dieses positive Gegenbild war eine Verzerrung. Ich will hier nicht auf die verschiedenen körperlichen und seelischen Alterserscheinungen eingehen, die Cyran und Hallhuber so vorbildlich und ausführlich in ihrem Buch behandeln (Gustav-Fischer-Verlag, 1992). Dort gehen sie auch auf die Möglichkeiten ein, konstruktiv mit ihnen umzugehen. Selbstverständlich bin ich auch ihrer Meinung, daß zwar das Alter nicht vor der Liebe, die Liebe aber vor dem Alter schützt. Bitte, beachten Sie aber, daß hier sehr bewußt und absichtlich von Liebe und nicht von Sex die Rede ist. Und so kommen wir wieder auf den von mir eingangs erwähnten Unterschied zwischen Kreislauf und ansteigender Kurve, den Unterschied zwischen sexueller Fähigkeit und Glücksfähigkeit. Während in einem Menschenleben die körperlichen Kräfte langsam zu- und dann stetig wieder abnehmen, gilt dies für die seelischen Kräfte keineswegs, denn sie können bis zum Tode weiter wachsen. Um sie zu bezeichnen, reicht aber das Konzept einer "Sexualität" nicht aus.

Dies gilt nicht nur für ältere Frauen und Männer, die noch in einer festen Beziehung sind, sondern auch für Verwitwete und Unverheiratete. Übrigens findet sich hier auch kein Unterschied zwischen heterosexuellen und homosexuellen Orientierungen. Ist die Partnerschaft noch intakt, so unterliegt sie dem gleichen Wandel und kann auch die gleiche Vertiefung erreichen. Diejenigen, die alleine leben, stehen vor der Aufgabe, körperliche Nähe und Zärtlichkeit woanders zu finden. Leider gibt es in unserer Kultur außer der Ehe nur wenige Skripte für ein erfülltes Sexualleben im Alter. Es wäre eine lohnende gesellschaftliche Aufgabe, mehrere solche Skripte zu entwickeln und so Optionen anzubieten, auch in Alters- und Pflegeheimen. Besonders die Massenmedien könnten hier viel tun, indem sie realistische Berichte, Filme und Fernsehspiele oder sogar Serien produzierten. Zaghafte Ansätze wie die "Golden Girls" gehen längst nicht weit genug. Mittlerweile haben verschiedene alte Menschen von sich aus Modelle von Paarbildungen ohne Ehe entwickelt, von regelmäßigen gemeinsamen Urlaubsreisen und sexueller Beziehung bei fortgesetzt getrennter Haushaltsführung bis zu förmlichen Wohngemeinschaften. Solche Experimente werden sicherlich zunehmen, da auch der Anteil der finanziell unabhängigen Alten in unserer Gesellschaft noch zunehmen wird.

Entscheidend ist, daß Menschen mit fortschreitendem Alter fähig werden, ihre ganz persönlichen und auch die allgemein gesellschaftlichen Skriptierungen zu erkennen und kritisch zu überprüfen. Es gilt, sich auch von stereotypischen Vorstellungen über sich selbst frei zu machen. Die so gewonnene Freiheit im Umgang mit sich selbst und anderen kann zur Quelle neuen Glücks werden.

In diesem Sinne würde eine Altersweisheit auch bei den Jüngeren Gehör finden, die ja in ihrer eigenen Auseinandersetzung mit erkannten und unerkannten sexuellen Skripten echte Hilfe gerne annehmen würden. Grundbedingung ist aber, daß hier erfolgreiche Lebenserfahrung spricht, die wirklich helfen will. Was nicht überzeugen kann, wird in dem alten Volksreim beschrieben:

Der David und der Salomo, das waren arge Sünder.
Sie hatten schöne Weiber lieb und zeugten viele Kinder.
Dann kamen sie ins Alter.
Da macht der eine Sprüch' und der andere Psalter.

Sprüche dürfen wir nicht machen, wenn wir wollen, daß man uns zuhört. Aber es ist kein bloßer Spruch, wenn alte Sexualforscher aufgrund ihrer wissenschaftlichen und persönlichen Erfahrung sagen, daß, genaugenommen, Sex nicht so wichtig ist. Es kommt darauf an, zu begreifen, das die sexuelle Fähigkeit des Menschen nur eine von seinen vielen Fähigkeiten ist, und daß sie verdient, wie alle diese voll entwickelt zu werden. Genauso aber wie Spitzensportler oder Opernsänger schon in der Ausbildung von Anfang an ein Ende ihrer Karriere einplanen müssen, so müssen auch wir uns von vornherein darauf einstellen, daß unsere Sexualität im körperlich-physiologischen Sinne eine zuerst auf- und dann absteigende Kurve beschreiben wird. Glücklicherweise aber hat sie dabei, anders als Sport und Gesang, das Potential zur Metamorphose oder Selbstverwandlung, die ihren ursprünglichen Sinn, Kommunikation und Intimität zu schaffen, nicht nur bewahrt, sondern immer besser erfüllt. Dieses Potential nimmt also mit der Zeit keineswegs ab, sondern kann mit unseren Jahren wachsen.

Was also sollen wir Fachleute unter "Sexualität' verstehen? Etwas Zyklisches? Lieber nicht! Etwas Wandlungsfähiges? Schon eher! Etwas Gestaltbares? Auf jeden Fall! Wie und zu welcher Gestalt es sich im Laufe unseres Lebens wandelt, hängt davon ab, wie wir selbst mit den verschiedenen Skriptierungen umgehen, die man uns entlang der Wegstrecke anbietet.

Wie man sieht, landet man auch als Wissenschaftler beim Thema Sexualität immer bei der Moral. Zwar ist dies nicht die konventionelle "Sexualmoral" von Predigten, Enzykliken und Katechismen, aber eine Moral ist es doch. Es ist die Frage nach einem würdigen, erfüllten Leben, das uns und andere bereichert, bis wir von der Bühne abtreten müssen. Es ist die Frage nach dem Beispiel, das wir dabei unseren Mitmenschen und Nachfahren geben. Wie wir versuchen, als Sexualwissenschaftler ein gutes Beispiel zu geben, so sollten wir dies auch als sexuelle Wesen tun, sonst hat unsere Wissenschaft für uns selber am Ende keinen Sinn gehabt.

In diesem Geiste möchte ich mit unserer besten beruflichen Lebensregel schließen: Sexualforscher, erforsche dich selbst!

Ernest Borneman bittet mich, diesem Beitrag die Fußnote beizufügen, daß er Erwin Haeberle außerordentlich schätzt und ihm für den Beitrag äußerst dankbar ist, daß er aber nach wie vor - und das vehement - an der Zyklus-These festhält und die Skript-Theorie emphatisch ablehnt. Er hält das Phasen- und Zyklusmodell im Sinne von Vico, Bachofen, Marx, Freud und Erikson für den unerläßlichen Ariadnefaden, der uns eine Orientierung im Labyrinth der Fakten und ein Gegengewicht gegen die Chaostheorie erlaubt. Er meint, daß es kaum biologische Prozesse gebe, die nicht zyklisch verlaufen, und daß der Unterschied zwischen den Menschen und den anderen Primaten keineswegs groß genug sei, um nur den Menschen zu unterstellen, sie bewegten sich nach Skripten. Auch glaubt er, in seinen eigenen Befragungen von Kindern und Erwachsenen entdeckt zu haben, daß das Sexualverhalten von Frauen und Männern sehr viel ähnlicher ist, als Kinsey und Haeberle meinen.

Schließlich entnimmt er aus seiner eigenen Sexualerfahrung, daß nicht alle "alten Sexualforscher" fühlen, Sex sei "nicht so wichtig". Im Gegenteil, je schwächer das Können im Alter wird, desto stärker wird das Wollen. Erst diese Erfahrung gibt dem Sexualforscher überhaupt das Recht, jene Funktion als Beispiel und Vorbild für andere auszuüben, die Haeberle in seinen letzten Zeilen anmahnt. Wer nicht am eigenen Leibe erfahren hat, daß sexuelles Begehren und sexuelle Befriedigung auch noch im Alter das Beste ist, was die Natur uns Menschen zur Verfügung gestellt hat, verdient nicht, sich Sexualforscher zu nennen. (Sigrid Standow)

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