Archiv für Sexualwissenschaft


 

Bisexualität in der "Zeitschrift für Sexualwissenschaft" (1908-1932)

E. J. Haeberle

Erschienen in: Bisexualitäten - Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern, hg. von E.J. Haeberle u. R. Gindorf, Gustav Fischer Verlag,
Stuttgart, 1994, S. 153-156

Die erste Nummer der ersten «Zeitschrift für Sexualwissenschaft» (Januar 1908) enthielt einen Beitrag Sigmund Freuds unter dem Titel «Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität». Ohne hier auf seine Bedeutung für die Geschichte der Psychoanalyse einzugehen, kann man vom sexualwissenschaftlichen Standpunkt aus vielleicht folgende Kernaussage festhalten: Ein hysterisches Symptom entspricht notwendigerweise einem Kompromiß zwischen einer libidinösen und einer Verdrängungsregung. Fs kann aber außerdem einer Vereinigung zweier libidinöser Phantasien von entgegengesetztem Geschlechtscharakter entsprechen. Das hieße dann: «Ein hysterisches Symptom ist der Ausdruck einerseits einer männlichen, andererseits weiblichen, unbewußten sexuellen Phantasie.» (S. 32) Wie aber Freud weiter erklärt, sei ihm der Nachweis der bisexuellen Bedeutung hysterischer Symptome in immerhin zahlreichen Fällen gelungen, und so habe sich die von ihm «supponierte bisexuelle Anlage des Menschen» wieder einmal bestätigt (S. 33).
Freuds Supposition einer solchen bisexuellen Anlage wiederum ging auf seinen Freund Wilhelm Fließ zurück, der, obwohl nicht ihr Autor, sie dennoch nach verschiedenen Richtungen ausbaute und schließlich ein ganzes, in sich stimmiges, wenn auch letztlich irriges Theoriegebäude darauf errichtete.
Kurioserweise kam Fließ selbst zu diesem Thema wiederum in der ersten Nummer der 1914 zum zweiten Mal begründeten «Zeitschrift für Sexualwissenschaft» zu Wort. (Beim ersten Anlauf waren unter der Herausgeberschaft Hirschfelds 1908 nur 12 Monatshefte erschienen.) In einem Grundsatzartikel «Männlich und Weiblich» (S. 15-20) faßte Fließ seine Grundgedanken zur Bisexualität noch einmal zusammen. Aufgrund de, unbestreitbaren Tatsachen der Embryonalentwicklung, die erst nach und nach eine geschlechtliche Differenzierung zeigt, stellt er besonders drei Thesen vor:

1.

«Alles Lebendige besteht aus männlicher und weiblicher Substanz, die einzelne Zelle sowohl wie ein ganzes Wesen. Der Mann hat mehr männlichen, das Weib mehr weiblichen Stoff. Aber jeder hat auch vom anderen seinen Teil und muß ihn haben, um leben zu können. Deshalb sind im letzten Grunde alle Lebewesen hermaphroditisch. Die ein in re, die anderen in potentia.» (S. 20)

2.

«Unser Leib muß Männliches und Weibliches enthalten, aber die rechte Körperhälfte entspricht in besonderer Weise dem jeweils dominierenden Geschlecht, d. h. beim Mann ist sie die männlichere Hälfte, bei der Frau die weiblichere.» Dies wiederum heißt umgekehrt: «Ist der Mann weiblicher, so ist auch seine weiblichere Seite - die linke - mehr entwickelt. Und ist die Frau männlicher, so ist auch ihre männlichere Seite - ebenfalls die linke - die entwickeltere.» (S. 17)

3.

Alle Lebensvorgänge, Geburt, Entwicklung, Kranksein, Sterben, werden von zwei Elementarperioden von 28 und 33 Tagen beherrscht. Diese "Biorhythmen" mischen sich aber untereinander ebenso wie in einem zusammengesetzten Klang einzelne Töne. Die durch diese Mischung zwangsläufig entstehenden Unregelmäßigkeiten können aber eben durch die Zerlegung in die beiden Elementarperioden erklärt und aufgelöst werden. Dabei bestätigt sich dann auch, «daß wir in den 33 Tagen die Lebenszeit einer Einheit männlichen Stoffes, und in den 28 Tagen die Lebenszeit einer Einheit weiblichen Stoffes zu sehen haben» (S. 19). Da nun aber beide Stoffe in jedem Individuum in verschiedener Mischung vorhanden sind, so unterliegt dieses auch der jeweils eigentürnlichen Mischung dieser Perioden, die dann den persönlichen "Biorhythrnus" ausmacht.

Kurz, Fließ liefert hier den Lesern der Zeitschrift eine Kurzfassung seiner wichtigsten Thesen, deretwegen er inzwischen allgemein als mystischer Zahlenspieler, Psychopath und "teutonischer Spinner" abgetan wird.
In der Tat lag, wie heute feststeht, seiner Periodizitätsformel ein fundamentaler niathematischer Irrtum zugrunde, denn sie war, von Fließ selbst unerkannt, eine "Leerformel", mit der alles und nichts zu beweisen war. Das bedeutet natürlich nicht, daß auch die Beobachtung verschiedener biologischer Periodizitäten selbst falsch ist; vielmehr liegt hier weiterhin ein interessantes Forschungsgebiet. Nur war eben die Erklärung von Fließ , einfach und "zu schön, um wahr zu sei".
Was nun seine Ideen über Links- und Rechtsseitigkeit angeht, so gibt man heute zu, daß sie durchaus einen wahren Kern enthalten, der auch weiterhin wissenschaftliches Interesse erdient. Es ist allerdings zu fragen, wieweit hier gewisse Ausprägungen voreilig als ,ärmlich oder weiblich bezeichnet werden. Diese Frage muß sich aber endlich die ganze, nicht nur von Fließ propagierte Idee der «eingeborenen Bisexualität» gefallen lassen. Besonders in Bezug auf homosexuelles bzw. heterosexuelles Verhalten ist eine solche Gieichsetzung mehr als fragwürdig. Die von Karl-Heinrich Ulrichs erstmals formulierte Grundannahme, daß nur ein Weib einen Mann lieben könne und daher ein Männerliebhaber notwendigerweise nur äußerlich männlich sein, innerlich aber weiblich sein müsse, ist eben, ideologiekritisch betrachtet, nicht mehr als eine unbeweisbare, für weitere logische Schlüsse unzulässige Behauptung, keine wissenschaftliche Aussage. Alle aus ihr abgeleiteten Folgerungen, etwa die über ein bei männlichen Homosexuellen wie immer entstandenes "weibliches Gehirn", sind daher ohne wirklichen Aussagewert. Die Ineinssetzung von sexueller Orientierung mit Geschlechtsrolle oder gar körperlichem Geschlecht ist und bleibt eine Willkür, die nur soziologisch, oder genauer: sozialpolitisch, erklärt werden kann. Wertneutral gesprochen, hat eben das erotische Interesse eines Mannes an einem anderen Mann nichts mit Weiblichkeit und Männlichkeit des einen oder anderen zu tun, es sei denn vielleicht ex negativo oder per exclusionem, indem nämlich der erstere unter Umständen kein erotisches Interesse an Frauen hat. Umgekehrt kann man dann diese wenig erleuchtende Einsicht auch auf die heterosexuelle Orientierung übertragen. Man kommt aber dabei mit seinen Aussagen über die Tautologie nicht hinaus.
Übrigens geriet ja auch schon Ulrichs selber mit seiner Theorie in Schwierigkeiten, als er von sexuellen Beziehungen zwischen nach allen damaligen Kriterien völlig virilen Männern Kenntnis bekam. In solchen Fällen wurde dann die postulierte Weiblichkeit hinter die Stirn und unter die Schädeldecke verlegt, wo sie geheimnisvoll und unsichtbar ihr Wesen trieb. Da diese Wirkung dann aber doch wieder nur darin bestand, einen Mann anstatt der eigentlich vorgeschriebenen Frau zum Sexualobjekt zu wählen, handelte es sich um eine äußerst reduzierte, bis zum Extrem abstrahierte, kaum erkundbare, ja eigentlich gar nicht sonst nachweisbare Weiblichkeit, ein wissenschaftlich unnötiges Postulat ohne wirkliches Blut und Leben. Man hätte sie in der Tat genausogut als Männlichkeit bezeichnen können, obwohl aber auch damit keine sinnvolle Aussage möglich geworden wäre. Wenn Männlichkeit oder Weiblichkeit nichts anderes mehr bedeuten als eine Rechtfertigung für erotische Objektwahl, dann bedeuten sie eben gar nichts mehr.
Aus dieser intellektuellen Falle ist nur zu entkommen, wenn man sich konsequent vor dem Grundfehler hütet, Reproduktionsverhalten und Sexualverhalten gleichzusetzen. Für die Reproduktion sind offensichtlich zwei Partner verschiedenen Geschlechts nötig, für das Sexualverhalten aber nicht. ja, für sexuelle Betätigung sind, genaugenommen, beim Menschen überhaupt keine Partner nötig.
Das 19. Jahrhundert war aber aus den verschiedensten historischen Gründen nicht willens, die eigentlich unvermeidlichen Schlußfolgerungen aus dieser Beobachtung zu ziehen. Auch Freud wagte dies nicht, sondern wertete alle nichtreproduktiven Sexualverhalten mit dem alten religiösen Ausdruck Perversion ab. Die Annahme eines natürlich gegebenen Sexualtriebs aber, der "pervertiert" werden kann, der in falscher Balance aus "Partialtrieben" zusammengesetzt, fixiert und an seiner korrekt ausgestalteten "Reife" gehindert werden kann, ist eine ebensolche wissenschaftliche Willkür wie die Zahlenmystik des Wilhelm Fließ.
Es ist nun interessant zu beobachten, wie nicht nur Fließens Ideen, sondern auch das Thema Bisexualität sehr bald aus der Zeitschrift fast völlig verschwinden, wahrscheinlich unter dem Einfluß des späteren Herausgebers Max Marcuse, der ja auch typischerweise in sein 1926 erschienenes «Handbuch der Sexualwissenschaft» kein Stichwort «Bisexualität» aufgenommen hat. Die Zeitschrift brachte stattdessen im Laufe der Jahre einige Beiträge zum Hermaphroditismus, zur Androgynie und Gynandrie, ohne aber auch hier endgültige Klarheit schaffen zu können. (Darunter ist auch ein frühes Gedicht «Hermaphrodite» von Marguerite Yourcenar, Bd. 17, S. 431.) Immerhin weist dies auf ein gewisses Interesse an biologischen Fragen hin, das wohl auch seine Leser mit Marcuse teilten. Dieser selbst lieferte im letzten Band übrigens in einer Rezension noch einen interessanten Kommentar, der Rückschlüsse auf seine eigene Auffassung zuläßt:
«Die Homosexualität sowohl wie der Hermaphroditismus erscheinen (mir) nicht als Wirkung abnormer Inkretion, insbesondere der Keimdrüsen (wie Hirschfeld), sondern als eine genotypische Folge abnormer Chromosomenkombination.» (Bd. 18, 1931/332, S.79) Ganz davon abgesehen, daß in der Annahme, Homosexualität und Hermaphroditislous könnten die gleiche Art Ursache haben, der schon von Ulrichs gemachte Denkfehler wiederholt wird, macht diese biologistische Bemerkung noch einmal deutlich, wie eindimensional und naiv die ganze Auffassung von homosexuellem, bisexuellem und damit auch heterosexuellem Verhalten hier ist.
Wir stehen also der Tatsache gegenüber, daß die sonst hervorragende und ergiebige «Zeitschrift für Sexualwissenschaft» für unser Thema so gut wie nichts hergibt. Dafür muß man sich wohl oder übel an andere Publikationen aus der damaligen Zeit halten, besonders an die verschiedenen Schriften Hirschfelds, die, wenn auch vielleicht theoretisch dürftig, reichlich Material aus dem wirklichen Leben enthalten, so daß eine Neuinterpretation aus heutiger Sicht möglich ist. Dabei könnten sich durchaus auch für uns noch fruchtbare Einsichten ergeben.

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