Archiv für Sexualwissenschaft

Erwin J. Haeberle

Ein neues Institut für Sexualwissenschaft - Ideal und Wirklichkeit

Erschienen in: Sexualwissenschaft heute - Ein erster Überblick,
Deutsche Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS),
Düsseldorf 1992, S. 48-53

Geschichte der Sexualwissenschaft in Berlin
Der beschwerliche Weg vom Wunsch zur Wirklichkeit

Seit Jahren wird von mehreren Seiten versucht, die Sexualwissenschaft in Berlin wieder aufzubauen. Hinter diesen Versuchen stehen teilweise völlig verschiedene Interessen mit völlig verschiedenen Zielvorstellungen. Keiner dieser Versuche hat bisher zum Erfolg geführt. Zum Teil hängt es auch damit zusammen, daß sie in einem geistesgeschichtlichen Vakuum stattfinden, denn der wissenschaftliche und sozialpolitische Sinn der früheren Pioniertaten auf diesem Gebiet in dieser Stadt ist hier den wirklichen Entscheidungsträgem nicht mehr bekannt.
International aber hat sich das Gebiet weiterentwickelt, und so kommt man heute nicht mehr darum herum, eine aktuelle internationale Bestandsaufnahme zu machen, bevor man zu neuen Taten schreitet:

Bestehende Einrichtungen in verschiedenen Ländern

Es gibt heute in verschiedenen Ländern eine Reihe von sexualwissenschaftlichen Instituten, Abteilungen und Einheiten, die an Universitäten angeschlossen sind.

1. Medizinische

Die älteren dieser Einrichtungen sind medizinisch orientiert oder sogar direkt im jeweiligen Klinikum angesiedelt: Prag (seit 1921), Hamburg, Frankfurt/Main, Kiel, Kopenhagen, Genf, Leuven. Es hat sich aber gezeigt, daß die Sexualwissenschaft unter solchen Bedingungen nicht wesentlich über medizinische bzw. psychiatrische Fragestellungen (Sexualtherapie, Begutachtung von Straftätem) hinausgelangt. Außerdem ist sie dort kein eigenes Studienfach, höchstens 'Nebenfach'. Nur an der Katholischen Universität Leuven ist es möglich, einen besonderen Doktorgrad in "Familien- und Sexualwissenschaften" zu erwerben.
Schließlich sei noch das privatwirtschaftlich geführte Masters-und-Johnson-Institut in St. Louis erwähnt, das, von dem bekannten Gynäkologen William H. Masters und seiner Ehefrau Virginia Johnson gegründet, ohne staatliche Anerkennung, aber sehr erfolgreich Sexualtherapeuten ausbildet.

2. Sozialwissenschaftliche

Inzwischen sind andere, eher sozialwissenschaftlich orientierte Modelle entwickelt worden: Die sexualpädagogischen Abteilungen an der New York University und der University of Pennsylvania, das sexualsoziologische Institut in Shanghai und eine Arbeitsgruppe für"Homostudies" (Studium der Homosexualität) in Utrecht.
Solche Einrichtungen waren in der Lage, das Thema Sexualität weniger unter dem Aspekt ihrer möglichen Pathologie, sondern unbefangener und umfassender anzugehen. Allerdings wurde auch hierkeine besondere Ausbildung zum "Sexualwissenschaftler" mit entsprechendem Hochschulabschluß eingeplant. Wiederum war es höchstens möglich, die Sexualwissenschaft als"Nebenfach" für andere Magister- bzw. Doktorgrade zu belegen, meistens M. A., Ed. D. (Doctor of Education) oder Ph. D. bzw. Dr. phil.. Diese Einschränkung bedeutete aber letztlich eine Verurteilung zur akademischen Stagnation.

3. Das Kinsey-Institut

Eine Sonderstellung nimmt das 1947 von dem Zoologen Alfred C Kinsey gegründete Institut für Sexualforschung an der Indiana University, Bloomington, IN ein. Es wurde nach Kinseys Tod 1956 von dem Anthropologen Gebhard und 1982 von der Psychologin Reinisch übernommen, hat nie eine etablierte Verbindung zur Medizin gehabt und stellt Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen fürjeweils bestimmte Forschungsprojekte ein. Eine eigene Lehrtätigkeit entfaltet es nicht (von ein paar Fortbildungskursen im Sommer abgesehen). Seine Bedeutung liegt in seinen Publikationen und in seiner einmalig großen Bibliothek und Sammlung, die auch externen Forschem offensteht.

4. Das Institute for Advanced Study of Human Sexuality

Das einstweilen progressivste Modell ist eine besondere sexualwissenschaftliche Hochschule, das 1976 in San Francisco gegründete Institute for Advanced Study of Human Sexuality. Diese private, staatlich anerkannte Spezialhochschule verleiht staatlich anerkannte Magister- und Doktorgrade der Sexualwissenschaft und unterhält, wie das Kinsey-Institut, eine umfangreiche Bibliothek und Sammlung, allerdings nur für seine eigenen Studenten. De facto betreiben diese in der Mehrzahl ein Zweitstudium, haben also schon vor der Immatrikulation ein Studium oder eine Berufsausbildung abgeschlossen. (Dies kommt auch im Namen des Instituts zum Ausdruck.) Die 'typischen' Studenten sind ausgebildete Psychologen, Sozialarbeiter, Studentenpfarrer, Ärzte oder Krankenpflegem.
Das Institut hat auch von Anfang an, in Verbindung mit verschiedenen ärztlichen Standesorganisationen, sexualmedizinische Fortbildungsveranstaltungen angeboten und hält, wie das Kinsey-Institut, offene Sommerkurse für interessierte Fachleute und Laien ab.

Zur Geschichte der Sexualwissenschaft in Berlin

Der Begriff einer besonderen "Sexualwissenschaft" wurde 1907 von dem Berliner Derinatologen Iwan Bloch geprägt, der sich dabei wiederum auf einen Entwurf Wilhelm von Humboldts berief. Nach Gründung der ersten Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908) und der ersten Gesellschaft für Sexualwissenschaft (1913) eröffnete Magnus Hirschfeld 1919 das erste Institut für Sexualwissenschaft, das 1933 von den Nazis zerstört wurde. Hirschfelds Testament sah vor, daß das Institutsvermögen zur Einrichtung eines sexualwissenschaftlichen Lehrstuhls an der Universität verwendet werden sollte. Nach Ende des 11. Weltkriegs wurde dies allerdings versäumt und über das verbliebene Grundstück am Tiergarten anders und endgültig verfügt. Bis heute ist die einzige Wissenschaft, die in Berlin entstanden und heute weltweit verbreitet ist, nicht an ihren Geburtsort zurückgekehrt.

Ein neues Berliner Institut

Aufgaben   Struktur   Aufbauphasen   Besondere Neuerungen

Berlin sollte, eingedenk seiner früheren sexologischen Pionierrolle, mit einem kühnen Schritt wiederum die internationale Führung übernehmen. Dies bedeutet vor allem die Etablierung der Sexualwissenschaft als eigenes Studienfach. Dem steht ihr inhärent interdisziplinärer Charakter keineswegs entgegen. Dies zeigen vergleichbare Unternehmungen wie die Kriminologie, die Archäologie, die Ökologie, die Religionswissenschaft oder das Studium der Öffentlichen Gesundheit. Ein neues Berliner Institut für Sexualwissenschaft sollte sinnvollerweise den Namen Hirschfelds tragen und die Vorzüge seines alten Instituts, des Kinsey-Instituts und der sexualwissenschaftlichen Hochschule in San Francisco miteinander verbinden.

Aufgaben

Das neue Institut sollte:
1. eine bedeutende Bibliothek und Sammlung (auch moderner Medien) aufbauen, die Forscher aus aller Welt anzieht.

2. ein Kontaktpflegezentrum für alle "sexuellen Minderheiten" (nicht nur der Homosexuellen) sein, um ihre Interessen mit zu artikulieren und der "Mehrheit" zu vermitteln.

3. lokale, nationale und internationale Forschungsprojekte durchführen und, zwar, nach dem Muster des Kinsey-Instituts, in interdisziplinären Teams.

4. einen Studiengarig "Sexualwissenschaft" entwickeln mit dem Ziel, diesen sowohl als eigenes Hauptfach wie als Nebenfach für andere Disziplinen zu etablieren.

5. Fortbildungskurse für Fachleute verschiedener anderer relevanter Gebiete abhalten (Mediziner, Psychologen, Kriminologen, Theologen usw.).

Das Institut sollte (im Gegensatz zu dem Hirschfelds) keine Therapien, auch keine Sexualtherapien, anbieten. Ebenso sollte es keine Gerichtsgutachten erstellen, sondern diese beiden Aufgaben den dafür bereits bestehenden Einrichtungen überlassen. Statt dessen sollten diese Einrichtungen ihrerseits die Lehrveranstaltungen des Instituts in Anspruch nehmen.

Struktur

Vorgeschlagen wird ein halbautonomes Institut, dessen Direktor keiner Fakultät, sondern der Universität als solcher, in Form eines speziellen Kuratoriums, verantwortlich ist und seine Arbeit mit Hilfe eines selbstgewählten internationalen Beirats anerkannter Sexualwissenschaftler durchführt. (Dies entspricht dem Modell des Kinsey-Instituts.)

Mitarbeiter sollten teilweise hauptamtlich am Institut beschäftigt, teilweise nebenamtlich oder teilzeitlich tätig sein, während sie ihre Stellen in anderen Fächern an der Universität oder anderen Instituten behalten. Auch sollte ein "offener" Lehrstuhl für wechselnde Gastprofessuren eingerichtet werden. Auf jeden Fall sollten mindestens zwei Archivar/e(-innen) / Bibliothekar/e(-innen) sowie ein/e Medienspezialist/in fest angestellt sein. Hinzugezogen werden verschiedene Hilfskräfte, die u. U. mit Zeitverträgen gebunden werden können.

Aufbauphasen

- Anfangsphase (ca. 2 Jahre)
In der Anfangsphase sind drei Aufgaben vordringlich:

1. Aufbau der Bibliothek und Sammlung

2. Einführungsvorlesung und Seminare für Hörer aller Fakultäten,teilweise mit Gastdozenten

3. Internationale Kontakte und Kooperationen

Auf diese Weise wird die Sexualwissenschaft überhaupt erst einmal vorgestellt und zieht aus verschiedenen Fachbereichen Interessenten für eine Zusatzausbildung an.

- Zwischenphase (ca. 3 Jahre) In dieser Phase treten die Fortbildungsaufgaben für verschiedene Fachleute hinzu, sowie ein Spezialstudiengang, der zum Magistergrad führt. Hierbei können eine Reihe von anderen Studiengängen als Nebenfächer berücksichtigt werden.

- Konsolidierungsphase Schließlich werden die ersten Magister zum Doktorgrad geführt. Zum Promotionsprogramm in Sexualwissenschaft (Dauer: ca. 2 Jahre) werden auch Kandidaten mit verschiedenen anderen Studienabschlüssen zugelassen. Das Institut nimmt sein volles Forschungsprogramm auf und bringt seine Bibliothek auf einen Stand, der den des Kinsey-Instituts übertrifft.

Besondere Neuerungen

Das Berliner Institut sollte von vornherein zwei wichtige, in den USA bewährte Neuerungen einführen:

1. Eine ständige Evaluation seiner Lehrveranstaltungen von seiten aller seiner Studenten mit Hilfe anonymer Evaluationsbögen. Dies wird nicht nur eine Verbesserung der Didaktik, sondern auch der Lehrplanung ermöglichen.

2. Alle wichtigen Lehrveranstaltungen sollten auf Videokasetten aufgenommen werden. Dies wird dem einzelnen Studenten im Institutsarchiv zunächst die Nachprüfung und Wiederholung von Vorlesungen, Gastvorträgen und Seminaren erlauben und es schließlich ermöglichen, verschiedene themenzentrierte Bündel solcher Veranstaltungen für Spezialstudien zusammenzustellen. Auch verschiedene Formen allgemeiner Erwachsenenbildung und fachliche Fortbildung würden damit erleichtert und am Ende sogar auf einigen Gebieten ein Fernstudium möglich. Gleichzeitig dient dies Verfahren noch zwei weiteren Zwecken:
- Es dokumentiert die Fortschritte des Instituts und die Entwicklung der Sexualwissenschaft selbst.
- Es erleichtert dem Universitätskuratorium die Aufsicht über die Instituts tätigkeit.

Der beschwerliche Weg vom Wunsch zur Wirklichkeit

So etwa, wie oben beschrieben, könnte ein neues sexologisches Institut in Berlin aussehen, das auch im nächsten Jahrtausend eine führende Rolle spielen könnte.

Leider aber sind wir von diesem Ideal noch sehr weit entfernt. Ja, bei nüchterner Betrachtung kommen einem erhebliche Zweifel, ob solche oder andere Großlösungen in absehbarer Zeit hier Wirklichkeit werden können. Wahrscheinlich muß man sich noch auf Jahre mit praktischen kleinen Schritten zufriedengeben.

Immerhin besteht nun an der Humboldt-Universität eine Arbeitsgruppe "Interdisziplinäre Aspekte menschlicher Geschlechtlichkeit und Sexualität", die seit Beginn des WS 1991/92 eigene sexologische Lehrveranstaltungen anbietet. Ich selbst halte dabei eine regelmäßige Vorlesung "Einführung in die Sexualwissenschaft". Die Zusammenarbeit mit den Kollegen von der Humboldt-Universität geht aber eigentlich schon auf die von uns gemeinsam organisierte 111. Internationale Berliner Konferenz für Sexualwissenschaft im Juli 1990 zurück, die in der Charité und im Reichstag stattfand. Mittlerweile arbeiten wir schon wieder an der IV. Konferenz, die im Juli 1992 in der Charit6 das Thema "Sexualität, Recht und Ethik" behandeln wird. Kurz, es hat sich eine fruchtbare, vielversprechende Kooperation zwischen dem Interdisziplinären Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik und der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung ergeben, die, wie bescheiden auch immer, schon praktisch wirksam ist. Das Interesse der Studenten ist groß, und so besteht eine gewisse Hoffnung, auch in Berlin die bio-psycho-soziale Einheit Sexualität in einer wachsenden Zahl ihrer Facetten einer wachsenden Zahl von Interessierten darzustellen.

Ergänzende Literatur

Zur näheren Begründung des voraufgehenden Entwurfs sei auf die folgenden ausführlichen Publikationen verwiesen:

Erwin J. Haeberle: Swastika, Pink Triangle, and Yellow Star: The Destruction of Sexology and the Persecution of Homosexuals in Nazi Germany. In: Journal of Sex Research, vol. 17, no. 3 (August 1981), S. 270-287

-, The Jewish Contribution to the Development of Sexology. In: Sexology, Selected Papers from the 5th World Congress in Jerusalern. Zwi Hoch u. Harold Lief (Hg.), Amsterdam: Excerpta Medica 1982, S. 397-414

-, The Future of Sexology. in: Challenges in Sexual Science, Current Theoretieal Issues and Research Advances. Clive M. Davis (Hg.), A Publication of the Society for the Scientific Study of Sex 1983, S. 141-160

-, Anfänge der Sexualwissenschaft, Berlin: de Gruyter 1983 (amerikanische Ausgabe als Geschenk des Senats von Berlin an den Weltkongreß in Washington, D.C. 1983 in einmaliger Auflage von 1.500 Stück)

-, Sexology: Conception, Birth and Growth of a Science. In: Ernerging Dimensions of Sexology, Seleeted Papers from the Sixth World Congress in Washington, D.C. R. Taylor Segraves u. Erwin J. Haeberle (Hgg.), New York: Praeger 1984, S. 9-28

-, Sexuelle Minderheiten in San Francisco. In: Lust und Liebe. Christoph Wulf (Hg.), München: Serie Piper Nr. 383, 1985, S. 151-180

-, Sexualwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: Sexualität als sozialer Tatbestand. Rolf Gindorfu.ErwinJ. Haeberle (Hgg.), Berlin: deGruyter, SchriftenreiheSozialwissenschaftliche Sexualforschung 1, 1986, S. 37-54

Lehrbuch

In deutscher Sprache liegt bisher nur ein Lehrbuch für die gesamte Sexualwissenschaft vor, das allerdings auch in mehreren amerikanischen, einer niederländischen undeinertürkischen Ausgabe existiert:

Erwin J. Haeberle: Die Sexualität des Menschen. Berlin: de Gruyter, 2. Aufl. - 1985

Seitenkopf Zurück zur Eingangsseite


Note: Umfang und Qualität unseres Angebots hängen auch von der Mithilfe unserer interessierten Leser ab. Für Korrekturen und Zusätze sowie bei anderen, eigenen Vorschlägen wenden Sie sich bitte an: HaeberleE@web.de