Archiv für Sexualwissenschaft

Justitias zweischneidiges Schwert -
Magnus Hirschfeld als Gutachter in der Eulenburg-Affäre

Erwin J. Haeberle, Berlin

Erschienen in: Sexualität zwischen Medizin und Recht, hg. von Klaus M. Beier, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1991, S. 5-20

Inhaltsverzeichnis

  1. Homosexualität im wilhelminischen Deutschland
  2. Die Skandalprozesse
  3. Der Gerichtsgutachter als Reformer
  4. Vom Enthüllungsjournalismus zum "Outing"?
  5. Literatur

«Per scientiam ad justitiam!» - Das war Magnus Hirschfelds Leitspruch, sein wissenschaftliches und reformerisches Credo, seine Antwort auf «die sexuelle Frage», die zu seiner Zeit immer mehr Menschen bedrängte.
Hirschfelds Glaube an die Macht der sachlichen Argumente, die Vorurteile überwinden und Ungerechtigkeiten abschaffen würden, an sexualwissenschaftliche Beweise, die auch von Gesetzgebern, Staatsanwälten, Richtern und Schöffen akzeptiert werden müßten, blieb bis zu seinem Tod ungebrochen, obwohl er vom Exil aus noch die Zerstörung seines Lebenswerkes durch die Nazis beobachten konnte. Sein letztes, in Frankreich verfaßtes Buch galt der Widerlegung des Rassismus.
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Wohl nur einmal, in der Mitte seines Lebens, wurde er fast an seiner Wissenschaftsgläubigkeit irre, und zwar als Folge seiner Erfahrungen als Gerichtsgutachter in der sogenannten Eulenburg - Affäre.
Diese Affäre, eigentlich eine Serie von Strafprozessen um die angebliche oder wirkliche Homosexualität des Fürsten zu Eulenburg und Hertefeld und einiger seiner Freunde, wuchs sich zum größten Skandal des wilhelminischen Reiches aus. Der Fürst war einer der engsten Freunde des Kaisers, diplomatisch und auch musisch begabt, wie er mit seinen beliebten «Rosenliedern» bewiesen hatte, aber auf einmal sollte er angeblich als Oberhaupt einer <unmännlichen Kamarilla> einen bösen Einfluß auf Wilhelm IIausüben. Diesen Einfluß wollte man mit Hilfe der Gerichte brechen. Kein Beteiligter an den Prozessen, ob Kläger oder Angeklagter, kam aber am Ende ungeschoren davon, und auch der Gutachter Hirschfeld erlebte dabei den wissenschaftlichen und persönlichen Tiefstand seiner Laufbahn. Die ganze Peinlichkeit, die ihren Höhepunkt in den Jahren 1906-1908 erreichte, hat eine längere Vorgeschichte oder - genauer - mehrere Vorgeschichten.

Homosexualität im wilhelminischen Deutschland

Der entlassene Kanzler Bismarck, der große Zweifel an den Fähigkeiten Wilhelms II. hegte und mißtrauisch gegenüber seinem Freundeskreis war, hatte, direkt oder indirekt, dem Journalisten Maximilian Harden Informationen über die Homosexualität einiger dieser Freunde zugespielt. Harden machte von diesen Informationen jedoch zunächst keinen Gebrauch, denn er unterstützte den Emanzipationskampf der Homosexuellen, wie er seit 1897 besonders von Hirschfeld mit seinem "Wissenschaftlich - humanitären Komitee" geführt wurde. Außerdem sah Harden sich als Vertreter einer liberalen Tradition, die das Privatleben auch prominenter Persönlichkeiten als geschützte Sphäre behandelte. Die Tradition wurde allerdings im Jahre 1902 in spektakulärer Weise vom sozialdemokratischen "Vorwärts" gebrochen, der die homosexuellen Abenteuer des "Kanonenkönigs" Friedrich Krupp auf Capri enthüllte. Diesem blieb nur der Selbstmord, der dann die mit Spannung erwartete Beweisaufnahme vor Gericht überflüssig machte. Der Kaiser selbst hielt kurz nach der Trauerfeier in Essen eine flammende Rede gegen die infame Verleumdung eines "kerndeutschen Mannes" durch die "ehrlose" sozialdemokratische Presse. Damit gab er allerdings der Sache einen politischen Anstrich, der ihr nicht guttat. Der "Vorwärts" wiederum berief sich auf seine Pflicht, den § 175 zu bekämpfen, für dessen Unmenschlichkeit und Schädlichkeit der tragische Fall Krupp nur das neueste Beispiel sei. Von Hirschfeld und anderen Sexologen, die ebenfalls auf die Abschaffung des Paragraphen drängten, wurde aber das hier gewählte Vorgehen auf das Schärfste abgelehnt. Der "Weg über Leichen", die öffentliche Enthüllung homosexueller Neigungen bei hochgestellten Personen, um die Toleranz gleichsam zu erzwingen, sei unmoralisch. So schrieb selbst Hirschfelds größter Rivale Albert Moll in Maximilian Hardens Zeitschrift "Die Zukunft":

«Jedem, der die Bewegung zur Aufhebung des § 175 fördern will, kann nur geraten werden, auf dem beschrittenen Wege fortzufahren. Den Homosexuellen wird manchmal, auch von Wohlmeinenden, der Vorwurf gemacht, sie agitierten zu viel. Was aber sollen sie tun? Wenn sie nicht agitieren, erreichen sie ihr Ziel niemals. Sie hätten dann höchstens noch einen andern Weg: sie müßten suchen, nach Art eines rücksichtslosen Feldherrn oder Politikers über einen Berg von Leichen ans Ziel zu kommen. Sie brauchten nur die Namen von Männern öffentlich zu nennen, deren Homosexualität notorisch und jeden Augenblick zu beweisen ist. Sicher würde dann Mancher, der die Homosexualität aus tiefster Seele verabscheut, der aber Homosexuellen, ohne deren Neigung zu kennen, nahe steht, über die Enthüllung erstaunt sein. Mancher hoher Beamte, mancher einflußreiche Politiker würde sich schließlich verwundert sagen: "Ich glaubte stets, die Homosexuellen seien das elendste Pack der Welt, nun höre ich aber, das mein Neffe, mein Sohn, mein Freund gleichgeschlechtlich verkehren. Und er ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mensch. Wenn er auch so ist, dann muß man doch anders über die Sache denken." Dieser Standpunkt wäre rücksichtslos und zahllose Existenzen würden dabei sozial vernichtet werden. Einflußreiche Personen aber würden dadurch unmittelbar für die Sache interessiert und ein schneller Erfolg wäre mehr als wahrscheinlich. Trotzdem wäre solches Vorgehen entschieden zu tadeln. Ich erinnere an diesen Weg nur, weil man den Homosexuellen, die ihn nicht beschreiten, nicht verwehren soll, sachlich zu agitieren2

Selbst sonst verfeindete Wissenschaftler waren sich also einig: Die Befreiung der Homosexuellen konnte nur durch Agitation, nicht durch Denunziation erreicht werden.

Die Skandalprozesse

Dennoch gab es in der Homosexuellenbewegung einige "Schwarmgeister", wie Hirschfeld sie nannte, denen eine wissenschaftlich begründete Agitation nicht genügte. Einer von diesen Eiferern, der offen "schwule" Journalist Adolf Brand, ergriff einige Jahre später die Initiative und "enthüllte" die angebliche Homosexualität des Reichskanzlers Fürst Bülow. Dieser erstattete daraufhin Anzeige wegen Verleumdung. Beim folgenden Prozeß am 6. November 1907 erklärte Brand zunächst grundsätzlich, die Homosexualität sei nichts Ehrenrühriges. Wenn er jemandem also homosexuelle Empfindungen zuschreibe, so rede er ihm damit nichts Übles nach. Für die Wahrheit seiner Behauptung über Bülow berief er sich dann auf Hirschfeld, der aber unter Eid abstritt, sich jemals entsprechend geäußert zu haben. Der Zeuge Fürst Eulenburg, der ebenfalls verdächtigt worden war, bekannte sich zu edler Freundschaft für Bülow, leugnete aber jede sexuelle Komponente dieser Freundschaft. ja, er sagte unter Eid, daß er niemals den § 175 übertreten habe. Bülow wurde daraufhin rehabilitiert und Brand zu 1, 5 Jahren Gefängnis verurteilt.

Damit wäre die Sache erledigt gewesen, ein übereifriger "Schwulenaktivist" hätte mit Hilfe eines "gemäßigten" Mitstreiters seine Lektion erhalten und dessen wissenschaftliche Kampagne hätte umso erfolgreicher fortgesetzt werden können, wären da nicht einige unheilvolle Details gewesen:
Zunächst einmal mußte die Härte des Urteils verstören. Es erweckte den Eindruck eines übertriebenen Abschreckungswillens, als ob man versuche, verzweifelt irgendwelchen Anfängen zu wehren, die vielleicht doch weiterführen könnten. Außerdem wurde durch das hohe Strafmaß indirekt die Homosexualität an sich als besonders verwerflich gekennzeichnet. Auch kam es bald zu zwei Militärgerichtsverfahren wegen homosexueller Verfehlungen im Dienst gegen Angehörige des Potsdamer Garderegiments, den Major Graf Lynar und den Generalleutnant Graf Hohenau, alle beide Verwandte des Kaisers. Dieser selbst erlebte in kurzer Zeit hintereinander noch weitere Einbrüche unerwünschter sexueller Realitäten in sein bisher recht naives Weltbild: Mehrere Selbstmorde erpresster Offiziere, Gerichtsverhandlungen gegen andere und Gerüchte über noch weitere zwangen seine Umgebung dazu, ihm eine Liste von Vertrauten vorzulegen, die der Homosexualität verdächtig waren. Diese stark gekürzte Liste ging auf eine andere mit mehreren hundert Namen zurück, die der verstorbene Polizeipräsident von Berlin, von Meerscheidt - Hüllessem, mit dem ausdrücklichen Wunsch hinterlassen hatte, sie dem Kaiser zur Kenntnis zu bringen, um ihn von der Unsinnigkeit des § 175 zu überzeugen. Leider kam es nicht dazu. Immerhin fand der Kaiser auf seinem Listenexzerpt noch die Namen Lynar, Hohenau, Moltke und Eulenburg. Den ersteren befahl er daraufhin den Abschied, und der letztere sollte sich entweder rechtfertigen oder ins Exil gehen.

Es besteht kein Zweifel, daß Wilhelm von diesen Erkenntnissen persönlich stark beunruhigt war. Gerade aber der Chef seines Militärkabinetts, Graf von Hülsen - Häseler, mit dem er die " Säuberung" organisierte und der Eulenburg hasste, fand im folgenden Jahr vor den Augen des Kaisers ein bizarres Ende: Nach einem Abendessen trat der Graf, wie schon oft, zur Unterhaltung der Gäste, mit einem Ballerinaröckchen bekleidet, als "Tänzerin" auf und brach dabei mit einem Herzinfarkt tot zusammen. Nach dem Bericht eines Augenzeugen verriet des Kaisers entsetzter Gesichtsausdruck einen Mann, der zum ersten Mal in seinem Leben die Wirklichkeit sah. 3
Die bei weitem schlimmste Entwicklung für Wilhelm und für den Ruf des Hofes waren aber die Prozesse, die sich aus einer Aussage des Fürsten Eulenburg im Bülow-Brand-Prozeß ergaben. Dort hatte er ja unnötigerweise beschworen, niemals straffällig geworden zu sein, und dieser Eid wurde ihm zum Verhängnis.

Um das Verhängis richtig zu verstehen, ist es nötig, noch einmal auf Maximilian Harden zurückzukommen. Dieser hatte in seiner Zeitschrift «Die Zukunft» zunächst nicht direkt Eulenburg angegriffen, sondern in verschlüsselter Form eine verdächtig warme Freundschaftsverbindung zwischen Eulenburg und dem Militärkommandanten Berlins, Graf Cuno von Moltke, getadelt. Erst nach und nach, zum Teil auch auf Drängen verschiedener adliger Intriganten, wurde Harden deutlicher. Moltke erstattete Anzeige wegen Verleumdung, während Eulenburg in seinem Heimatbezirk Strafantrag gegen sich selbst wegen Obertretung des § 175 stellte. Selbstverständlich fand der Staatsanwalt keine Hinweise auf strafbare Handlungen und stellte so Eulenburgs guten Ruf wieder her.

Zwischen Moltke und Harden kam es am 23. Oktober 1907 zum Prozeß. Moltkes frühere Ehefrau lieferte zahlreiche Hinweise auf seinen Frauenhaß, seine Ehefeindschaft, seine zärtlichen Gefühle für Eulenburg und andere Männer und viele sonstige Details, die seine Homosexualität bezeugen sollten.
Erstaunlicherweise wurde als Autorität auf dem Gebiet der Homosexualität auch noch der wissenschaftliche Sachverständige Dr. Hirschfeld gehört, der, gestützt auf die Aussagen der früheren Ehefrau Moltkes, diesem eine "ihm selbst nicht bewußte homosexuelle Veranlagung mit ausgesprochenem seelisch-ideellen Charakter" bescheinigte.
4 Damit wurde Harden von der Anklage freigesprochen, Moltke stand öffentlich als "Homosexueller"" da, und auch Eulenburgs Ruf war schwer geschädigt.

Dieses Prozeßergebnis befriedigte außer dem Freigesprochenen niemanden, besonders nicht die herrschenden Kreise. Auch ein latenter Antisemitismus wurde spürbar, denn Harden und Hirschfeld waren Juden, und ihnen schob man nun die eigentliche Schuld an dem Skandal zu, der besonders auch im Ausland Grund zu wachsender Schadenfreude war. Außerdem glaubte man, gegen Presseenthüllungen solcher Art überhaupt vorgehen zu sollen, und so erklärt sich dann auch das schon erwähnte Exempel, das an Brand statuiert wurde.

Man hoffte aber auch, es Maximilian Harden noch heimzuzahlen, und so wurde der Moltke-Harden-Prozeß wegen schwerer Verfahrensmängel für ungültig erklärt und im Dezember 1907 erneut verhandelt. Wiederum wurde die frühere Ehefrau Moltkes vernommen, diesmal aber ihre Glaubwürdigkeit durch medizinische Gutachter erschüttert. Der wiedergeladene Sachverständige Hirschfeld sah daraufhin keine Grundlage mehr für seine frühere Diagnose einer "unbewußten Homosexualität". Moltke fand sich rehabilitiert und Harden wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.
Nun zeigte sich aber, daß man diesen streitbaren Journalisten unterschätzt hatte, denn er besaß noch eine geheime Vergeltungswaffe. Er konspirierte mit einem bayerischen Kollegen namens Anton Städele, der dann die frei erfundene Behauptung publizierte, Eulenburg habe Harden eine Million Mark "Schweigegeld" bezahlt. Wie verabredet, verklagte Harden seinen geheimen Bundesgenossen wegen Verleumdung und benutzte den folgenden Prozeß im preußenfeindlichen München, um seine Beweise für Eulenburgs Homosexualität zu präsentieren. Sie waren niederschmetternd. Es erschienen zwei biedere ältere Männer, der Milchmann Georg Riedel und der Fischer Jakob Ernst, die beide bezeugten, in ihrer Jugend mit Eulenburg homosexuell verkehrt zu haben. Daraufhin wurde Städele zu 100 Mark Buße verurteilt, die Harden ihm heimlich ersetzte.

Damit war für Eulenburg das Spiel verloren. Er wurde wegen seiner früheren Aussagen des Meineids bezichtigt und im Juni 1908 noch einmal vor Gericht gebracht, diesmal in der Rolle des Angeklagten. Der Fischer Ernst erschien wieder als Kronzeuge, außerdem noch eine Reihe anderer Zeugen, darunter drei Polizisten, die alle Eulenburgs frühere homosexuelle Handlungen bestätigten. Dieser mußte wegen körperlicher Schwäche auf einer Sänfte in die Verhandlung getragen werden. Er blieb aber bei seinen Unschuldsbeteuerungen, brach endlich zusammen und wurde für verhandlungs­unfähig erklärt. Im folgenden Jahr wurde er noch einmal gerufen, fiel aber kurz nach Beginn der Untersuchung in Ohnmacht. Am Ende kam es nie zu einem Urteil. Eulenburg starb 1921.

Die ganze Skandalprozeßserie mit ihren Vorgeplänkeln wurde, wie gesagt, besonders in den Jahren 1906 - 1908 von der deutschen und internationalen Presse rücksichtslos und hämisch ausgeschlachtet. Allein die unzähligen Karikaturen zum Thema waren von einer Krassheit und Schärfe, die heute nicht mehr denkbar wäre. Mit dem damaligen Sensationsjournalismus verglichen, sind selbst die heutigen Boulevardblätter diskret. Zum Teil mag sich die Brutalität der Berichterstattung und Kommentierung auch aus einer erbosten Naivität erklären, die plötzlich Dinge zur Kenntnis nehmen mußte, die man glaubte, erfolgreich verdrängt zu haben.  5
Sicherlich waren die Prozeßbeteiligten bis an die Grenze des Zumutbaren körperlich und seelisch belastet. Bis Ende 1908 waren sowohl Moltke und seine frühere Ehefrau wie Eulenburg, Brand, Harden und Hirschfeld mit verschiedenen Erschöpfungszuständen erkrankt. Auch der Kaiser war einem Nervenzusammenbruch nahe. Hirschfeld flüchtete sich zur Erholung nach Italien, wo er langsam sein seelisches Gleichgewicht wiederfand. Danach schrieb er in seiner neugegründeten "Zeitschrift für Sexualwissenschaft" eine längere Rechtfertigung und Betrachtung, die, besonders aus dem heutigen Abstand, sehr interessante sexologische Hinweise enthält. Es lohnt sich, einige dieser Hinweise aufzugreifen und so den größeren wissenschaftlichen und sozialpolitischen Kontext der Skandalserie sichtbar zu machen.
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Der Gerichtsgutachter als Reformer

Ohne Frage stellte Hirschfelds Auftreten als Gutachter über Homosexualität in den Mollke-Harden-Prozessen ein vollständiges Fiasko dar, und zwar aus mehreren Gründen.
So führte das erste Gutachten zur Belastung, das zweite zur Entlastung Moltkes, der einmal als "unbewußt Homosexueller" ruiniert, das zweite Mal als Heterosexueller "rehabilitiert" wurde. Hirschfelds Ausrede, er habe sich bei der ersten Verhandlung auf die Aussagen der Ehefrau gestützt, die erst bei der zweiten Verhandlung als unglaubwürdig erschien, wirkte nicht überzeugend. Im Gegenteil, er erweckte, gewollt oder ungewollt, den Eindruck, er sei beim zweiten Mal einfach "umgefallen", um sich selbst Unannehmlichkeiten zu ersparen. Die Presse berichtete jedenfalls, daß der Oberstaatsanwalt ihn im Gerichtssaal offen einschüchterte, indem er ihm für den Fall fehlender Kooperation unangenehme persönliche Fragen ankündigte. Hirschfeld wurde daraufhin fügsam.
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Es wird aus diesem Bericht nicht klar, wieweit Hirschfeld hier tatsächlich aus Angst vor Enthüllung seiner eigenen Homosexualität sich als Gutachter kompromittierte, aber sicher ist, daß er es am Ende niemandem recht machte. Im Gegenteil, der angeblich wissenschaftlich geführte Nachweis von Heterosexualität oder "unbewußter Homosexualität" erschien vielen Beobachtern, nicht nur dem breiten Publikum, als ein windiger Hokuspokus und Hirschfeld als ein "Perversitätenschnüffler", der edlen Gefühlen niedrige Triebe unterschob. Aber nicht nur die "Begutachtung" mißfiel, sondern am Ende erschien sogar die Sexualwissenschaft an sich, wie sonst auch die Psychoanalyse, in diesem Sinne suspekt.

Eulenburg selbst wehrte sich gegen Hirschfelds Interpretationen, als er im Bülow-Brand-Prozeß als Zeuge das Wort ergriff:

«Ich bin mit Bülow seit Jugend auf bekannt und befreundet ... Ich erkläre auf das Bestimmteste, daß ich mich niemals strafbarer Handlungen schuldig gemacht habe. Was das Übrige betrifft, lasse ich mich nicht aus. Denn sonst fühlt sich kein Mensch sicher, als homosexuell angesehen zu werden. Ich bin stolz darauf, in meiner Jugend gute Freunde gehabt zu haben. Wenn ich gewußt hätte, daß nach 25, 30 Jahren ein Mann auftritt, der in dieser Weise ein System entwickelt, wonach in jeder Freundschaft Schmutz liegt, dann hätte ich es wahrhaftig aufgegeben, Freunde zu suchen. Ein Hieb ist der deutschen Freundschaft versetzt, es ist ein Gift, das in die Freundschaft hineingeträufelt ist, da ist sich ja kein Mensch mehr sicher ... » 8

Wer hier nur meineidige Unschuldsbeteuerungen und Abwehrreaktionen sieht, wird Eulenburgs Ausbruch wohl kaum gerecht. Selbst wenn er log, so steckte hinter seinen Worten doch mehr. Hier wehrte sich eine ganze traditionsgebundene privilegierte Klasse gegen die bürgerlich-wissenschaft­liche Neuinterpretation ihrer adligen Kultur. Hirschfeld selbst schreibt, daß erst durch diese Prozesse das 1869 geprägte und bis dahin obskure Gelehrtenwort "Homosexualität" in weiteren Umlauf kam. Er bemerkt auch, daß es von vielen mißverstanden wurde. Z. B. wurde in italienischen Zeitungen "der Homosexuelle" mit "Uomo sessuale" übersetzt, was soviel wie "sexueller Mensch" heißt im Sinne einer vollständigen Beherrschung durch die Sinnlichkeit. 9 Ein anderer Journalist rückte für sich selbst die Situation durch ein Wortspiel zurecht: "Homo sexualis sum, non homosexualis". 10 Zusammen-fassend schreibt Hirschfeld:

"Bald wurde Homosexualität mit "Päderastie" im landläufigen Sinne, bald mit "erotisch betonter Freundschaft", bald mit der rein seelischen "Sexualpsyche", bald mit "widernatürlicher Unzucht" und bald wieder mit dem allgemeinen, auch nicht sehr glücklich gewählten Ausdruck "Normwidrig­keit" identifiziert11

Hirschfelds eigene Erklärungen zum korrekten Sprachgebrauch, so logisch und differenziert sie auch sind, vernebeln dann aber doch den Sachverhalt für die meisten seiner Zeitgenossen nur noch weiter. Sie laufen nämlich darauf hinaus, die Homosexualität als eine Disposition, einen Seelenzustand, eine Wesenseigenschaft darzustellen und einzuführen, ganz unabhängig von irgendwelchen tatsächlichen sexuellen Handlungen.

Gerade diese "wissenschaftlich-fortschrittliche" Sichtweise war es aber, die Kläger und Beklagte, Presse und Öffentlichkeit gleichmaßen verwirrte. Nach herkömmlicher Rechtsauffassung konnten ja nur Straftaten vor Gericht zur Debatte stehen, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit eben Akte der Sodornie oder der "widernatürlichen Unzucht". Wie es keinen Dieb ohne Diebstahl und keinen Ehebrecher ohne Ehebruch geben konnte, so gab es eben auch keinen Sodomiter ohne die entsprechende nachgewiesene Handlung. Nun aber behauptete Hirschfeld eine nicht ausagierte, "unbewußte Homosexualität" des Grafen Moltke, und Brand stellte ausdrücklich fest, er wolle dem Reichskanzler Bülow durchaus keine strafbare Handlungen nach § 175, sondern nur sehr ehrenwerte homosexuelle Empfindungen nachsagen.

Dieser wiederum fühlte sich durch solche Unterstellungen durchaus nicht geehrt, sondern beleidigt und rief das Gericht an, seinen Ruf zu schützen. Ebenso reagierte Moltke auf Hirschfelds Gutachten gar nicht wohlwollend, sondern empört, und dieser nahm es dann auch noch beflissen zurück! Dieser kuriose Streit um neue Worte mußte jedem Rechtstraditionalisten als bedenklich erscheinen, umso mehr, als in anderen Prozessen das Abstraktionsniveau bald noch höher stieg und schon der Zuruf "Du Eulenburg" als schwere Beleidigung empfunden wurde. 12 Der ganze Hintergrund der hier wirksamen stillschweigenden Annahmen, Vorurteile und Unterstellungen blieb aber verschwommen und wenig greifbar. Warum ließen sich die Gerichte überhaupt in solche Definitionsfragen hineinziehen? Wie es zu dieser eigentlich grotesken Entwicklung kommen konnte, hat Michel Foucault einmal sehr prägnant zusammengefaßt:

"Die Sodomie - so wie die alten zivilen oder kanonischen Rechte sie kannten - war ein Typ von verbotener Handlung, deren Urheber nur als ihr Rechtssubjekt in Betracht kam. Der Homosexuelle des 19. Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform, und die schließlich eine Morphologie mit indiskreter Anatomie und möglicherweise rätselhafter Physiologie besitzt. Nichts von alledem, was er ist, entrinnt seiner Sexualität. Sie ist überall in ihm präsent: allen seinen Verhaltensweisen unterliegt sie als hinterhältiges und unbegrenzt wirksames Prinzip; schamlos steht sie ihm ins Gesicht und auf den Körper geschrieben, ein Geheimnis, das sich immerfort verrät. Sie ist ihm konsubstantiell, weniger als Gewohnheits-sünde denn als Sondernatur. Man darf nicht vergessen, daß die psychologische, psychiatrische und medizinische Kategorie der Homosexualität sich an dem Tag konstituiert hat, wo man sie ... weniger nach einem Typ von sexuellen Beziehungen als nach einer bestimmten Qualität sexuellen Empfindens, einer bestimmten Weise der innerlichen Verkehrung des Männlichen und des Weiblichen charakterisiert hat. Als eine der Gestalten der Sexualität ist die Homosexualität aufgetaucht, als sie von der Praktik der Sodomie zu einer Art innerer Androgynie, einem Hermaphroditismus der Seele herabgedrückt worden ist. Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies." 13

War also vormals der Vorwurf der Sodomie eine Sache des einfachen Tatbeweises gewesen, für den nur Tatzeugen in Frage kamen, so war die Behautpung der nichtausagierten Homosexualität nur durch wissenschaftliche Seelenkenner, also durch Gutachter zu erhärten oder zu widerlegen. Diese nun bewiesen keine Verbrechen mehr, sondern interpretierten alle möglichen völlig legalen Handlungen, Körperformen, Kleidung und Gestik als Ausdruck eines inneren Zustandes. Genau dies tat auch der Gutachter Hirschfeld im Fall des Grafen Moltke. Nicht nur dessen Abneigung gegen seine geschiedene Frau, sondern auch die "Überschwenglichkeit" seiner Freundschaften und gewisse "feminine Einschläge" des Charakters waren für Hirschfeld Hinweise auf eine "unbewußte Homosexualität". Es stand also nicht nur keine Straftat zur Debatte, sondern noch nicht einmal die bewußte Neigung zu einer Straftat. Ja, Hirschfeld lag im Gegenteil daran, Moltke eine von diesem selbst nicht erkannte Neigung nachzuweisen, die in seinem Fall strafrechtlich irrelevant war. Leider wurde sie dann aber umgekehrt für den Angeklagten Harden relevant, als der gleiche Gutachter Hirschfeld im zweiten Prozeß diese Neigung bei Moltke nicht mehr nachweisen konnte. Der nun fehlende Nachweis nämlich brachte Harden sein Gefängnisurteil. Hier enthüllte sich endlich die angeblich wertneutrale, sachlich-wissenschaftliche Gutachtertätigkeit als parteiisch. Der Angeklagte wie der Gutachter wollten nur objektiv beim Kläger einen Seelenzustand behaupten dürfen und nachweisen, der an sich weder gut noch schlecht war. Dabei wußten beide aber genau, daß außer ihnen selbst alle anderen Prozeßbeteiligten den Zustand als sehr negativ empfanden, daß also sowohl die Behauptung wie der erbrachte oder fehlende Nachweis auf jeden Fall jemandem konkret schaden würde - entweder dem Kläger Moltke oder dem Angeklagten Harden. Man bewegte sich also nicht im luftleeren Raum. Hirschfelds Hoffnung, bei diesem Streit mit "Wissenschaft" zu vermitteln und schlichten zu können, war eine Illusion, die umso gründlicher zerstört wurde, als seine Gutachtertätigkeit schließlich zuerst die eine, dann die andere streitende Partei begünstigte und so auch noch seine eigene Glaubwürdigkeit in Frage stellte. Hirschfelds zweites Gutachten, das er zur Rechtfertigung in seiner neuen Zeitschrift abdruckte, schildert seinen "wissenschaftlichen" Gedankengang:

"Daß eine unbewußte und rein vergeistigte Homosexualität vorkommen kann, ist nicht zweifelhaft. Alle Autoren, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen, betonen dies und besonders..., daß die so Veranlagten sich selbst täuschen und täuschen lassen, indem sie vielfach ihre Liebe als Freundschaft ansehen und Eigenschaften des andern hervorsuchen, durch welche sie die Stärke ihrer Zuneigung vor sich und andern zu erklären suchen. Für einen dritten ist es oft sehr schwierig, objektiv diesen Unterschied zwischen einer starken Freundschaft und Liebe festzustellen. Wir können uns dabei lediglich der psychologischen Methode bedienen, welche sich auf Gefühlsäußerungen stützt... In dem konkreten Fall kommt es weniger auf die Gefühlsrichtung und die Gefühlsstärke, als auf den Gefühlston an. Daß derselbe in dem vorliegenden Fall den Freunden gegenüber ein ungewöhnlich inniger ist, muß zugegeben werden.
Selbstverständlich könnte man daraus alleine keine Homosexualität folgern, selbst, wenn man den Zeitcharakter berücksichtigt, denn was im Briefwechsel und in der Ausdrucksweise zur Zeit von Goethe und Jean Paul unter Freunden ganz gewöhnlich war, ist in unserem technischen und militärischen Zeitalter wieder ganz anders zu bewerten.
Dem Freundschaftskult kommt erst dann eine symptomatische Bedeutung für die Frage der Homosexualität zu, wenn ihr auf der anderen Seite eine sexuelle Abneigung gegen das Weib im allgemeinen entspricht.
Die allgemeine Abneigung wurde früher von der Zeugin in bezug auf den Nebenkläger behauptet, während man jetzt annehmen muß, daß sie sich lediglich auf die Ehegattin erstreckte, deren Eigenart, gleichviel ob sie krankhaft oder hysterisch war, oder auf übergroßer Leidenschaftlichkeit beruhte, nicht zu der seinigen paßte.
»14

Kurz und gut: Moltke haßte nur seine eigene Frau und nicht alle Frauen, und damit waren seine innigen Freundschaften auch kein Nachweis für eine homosexuelle Neigung mehr. Hirschfeld bemerkt allerdings nicht, daß er sich mit seinem Rechtfertigungsbericht ein paar Seiten weiter in einen Widerspruch verwickelt, wenn er zum <Problem der Bisexualität> erwähnt,

"... daß bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Personen beiderlei Geschlechts die... Möglichkeit jedenfalls vorliegt, mit mehr oder weniger ausgesprochener Neigung eine größere Reihe von Jahren sowohl heterosexuelle wie homosexuelle Akte vorzunehmen. " 15

Offensichtlich kann also doch jemand homosexuell sein, ohne alle Frauen zu hassen. Er könnte sogar "mit ... ausgesprochener Neigung ... heterosexuelle Akte vornehmen" und dennoch gleichzeitig innige homosexuelle Freundschaften pflegen. Wenn Hirschfeld hier aber recht hat, so hatte er in seinem vorher zitierten Gutachten unrecht. Warum sollte also Harden ins Gefängnis? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Harden sowohl wie Brand und Hirschfeld wurden Opfer der gleichen Ideologie.

Die Angeklagten wurden verurteilt, und der Gutachter verlor seinen guten Ruf, weil sie im Grunde zur Rechtfertigung homosexueller Handlungen einen homosexuellen Zustand, die bewußte oder unbewußte Homosexualität, postulierten, deren natürlicher Ausdruck sie sein sollten. 16 Diese "Homosexualität" mußte gar nicht unbedingt zum Ausdruck kommen, aber wenn sie es tat, so war sie ein Exkulpationsgrund. Auf diesen Exkulpationsgrund wollten die Strafrechtsreformer, Wissenschaftler und "aufgeklärten" Laien zu Beginn unseres Jahrhunderts nicht verzichten. Sie waren damit die unseligen Erben ihres großen Vorkämpfers, des Juristen Karl-Heinrich Ulrichs, der die Grundidee als erster ein halbes Jahrhundert früher öffentlich propagiert hatte. Ulrichs postulierte für Männer mit gleichgeschlechtlichen Interessen «eine weibliche Seele im männlichen Körper» (anima muliebris virili corpore inclusa), und so versuchten dann auch seine Nachfolger, homosexuelle Handlungen und Neigungen bei Männern immer irgendwie mit einer bei ihnen zu entdeckenden Femininität in Zusammenhang zu bringen. Diese Femininität konnte sich im Körperbau ausdrücken, aber auch rein geistig sein, als Folge einer "Verweiblichung des Gehirns". Ebenso hatte ja auch Hirschfeld in seinem Moltke-Gutachten argumentiert.

Ärzten wie Hirschfeld lag diese Art der Rechtfertigung umso näher, als sie in ihrer Praxis besonders viele <feminine> Homosexuelle sahen, denn die "maskulinen", vermieden im allgemeinen sowohl die Sexualberatung wie auch die Vereine und Zirkel der Sexualreform. So entstand in der Öffentlichkeit oft ein falscher Eindruck vom "typischen Homosexuellen".

Richard Linsert, ein Mitarbeiter Hirschfelds, hat später dessen Irrtum in diesem Punkt beklagt:

"Der feminine Typ des Homosexuellen ist meiner Überzeugung nach das Verhängnis der trotz alledem genialen Hirschfeldschen Pionierarbeit geworden. Der feminine Typ stellt in der Überzahl die Katstrophen-Kandidaten. So wurde das feminine Segment der Homosexualität der Ausgang vieler Hirschfeldscher Beobachtungen.
Ich will hier ununtersucht lassen, welche Einflüsse maßgebend waren – es ist jedenfalls meine feste Überzeugung, daß Wissenschaft und damit Öffentlichkeit in eine grotestke Verkennung der spezifischen Eigentümlichkeiten der homosexuellen Psyche steuerten, indem sie das heute von erfahrenen Kreisen belächelte Dogma der "anima feminae in corpore masculino inclusa" als gegeben hinnahmen, obwohl sich in entscheidenden, der fachwissenschaftlichen Beurteilung durchaus zugänglichen Fällen zum corpus masculinum noch eine anima masculina hinzugefunden hatte. In dieser  - für diese Arbeit keineswegs unerheblichen Problemstellung – wurde auch Hirschfeld das Opfer - seines Materials.
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Dieses Material erschien aber auch als Bestätigung des Ulrichsschen Gedankens, denHirschfeld als genial und prinzipiell richtig empfand und dessen Vater ein strafrechtsreformerischer Wunsch gewesen war.

Das ganze, von Ulrichs entworfene, dann von Hirschfeld und anderen zum ersten Mal in die Gerichtssäle eingeführte Konzept der "Homosexualität", um das sich nun alles drehte, war eben von seinem Ursprung her nichts als ein "Entschuldigingsbegriff", der sich leider unvermutet in ein Anschuldigungsinstrument verwandelte. Ulrichs war bei seinem Origialkonzept zu dem Schluss gekommen, dass der Nachweis einer "natürlichen", angeborenen erotischen Neigung zum eigenen Geschlecht das beste Mittel sei, denStrafandrohungen gegen widernatürliche Unzucht die Grundlage zu entziehen. Kein Gesetzgeber würde am Ende Menschen für das bestrafen wollen, was sie sind. Also war ihr Tun am besten aus ihrem Sein abzuleiten. Diese Argumentation fand - was kaum überraschen kann - den Beifall der damals aufstrebenden Psychiatrie, die ihrerseits dieses Sein sehr schnell in ein Kranksein uminterpretierte und so quasi im Handstreich ganze Bataillone von potentiellen Patienten gewann. Dies wiederum gefiel männerliebenden Aktivisten wie Brand und Hirschfeld ganz und gar nicht, und so betonten sie immer wieder, daß die Homosexualität an sich nichts Krankhaftes sei. An dem Gedanken des angebotenen Wesens aber hielten sie wegen seiner "Progressivität" und vermeintlichen juristischen Sprengwirkung fest. Tatsächlich aber hätten sie sich und anderen bei ihrem Kampf gegen den § 175 viel Ärger erspart, wenn sie nicht "progressiv", sondern "konservativ" argumentiert hätten, so wie etwa die Königlich-Preussische Medizinaldeputation von 1969. Diese höchste medizinische Instanz, der Virchow,  Langenbeck, Houselle und Bardeleben angehörten,  hatte nämlich erstens der "widernatürlichen Unzucht" den Rang eines medizinischen Problems abgesprochen und zweitens sich auch noch in Fragen der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit für unzuständig erklärt.Damit hatten diese Gelehrten die Pflicht der Begründung der Strafwürdigkeit klar dem Gesetzgeber zugeschoben, der sich dann auch nicht mehr auf die Wissenschaft, sondern nur auf das "gesunde Volksempfinden" stützen konnte. Hirschfeld selbst geht in seiner Rechtfertigungsschrift auf diesen Sachverhalt ein, zieht aber nicht die logischen Konsequenzen. 18

Das "Volksempfinden" hätte sich vielleicht viel schneller gewandelt, wenn man ihm nicht erst noch einesich eine Nachweis auch nicht nur zu oder die man den gegen erst es einer sehr oft vor selbst war nun diese noch eine besondere Wesensart aller Männer eingeredet hätte, die den § 175 übertraten. Und diese selbst mussten nun nicht nur den faktischen Nachweis eine solchen Übertretung fürchten, sondern darüber hinaus auch noch die oft ebenso unbeweisbare wie unwiderlegbare Behauptung, "unbewusste" oder bewusste "Homosexuelle" zu sein. Diese sehr vergrößerte Bedrohung war es vor allem, gegen die "Betroffene" wieMoltke und Eulenburg auch im Namen ihrer Freunde protestierten.

Andererseits, wenn nur der angebotene Seelenzustand "Homosexualität" gleichgeschlechtliche Handlungen exkulpieren konnte, wie sollte sich dann ein Angeklagter verteidigen, bei dem der Zustand durch kein Gutachten nachgewiesen war ? Oder sollte jeder Gutachter aus dem Tun einfach und grundsätzlich auf Sein schließen nach dem Motto "Keine homosexuellen Handlungen ohne Homosexualität"? Dann hätte die ganze wissenschaftliche Errungenschaft nur in neumodisch aufgeputzten Tautologien und Zirkelschlüssen bestanden. Es wäre eine Frivolität gewesen, dafür Gutachter zu bemühen. Von einer wirklichen Emanzipation konnte jedenfalls keine Rede sein, solange nur Homosexuelle homosexuell verkehren durften. Die ganze Argumentationsweise Hirschfelds und seiner Anhänger war kurzsichtig. Im Grunde wollten sie doch alle homosexuellen Akte, auch die von "Heterosexuellen" von der Strafandrohung befreien. Das war aber nur zu erreichen, wenn man die Beweislast umkehrte: Nicht der Angeklagte hätte seine Handlungen rechtfertigen sollen, sondern der Gesetzgeber deren Bestrafung. Wie anders eine Gesellschaft mit dem ganzen Problem umgehen konnte, bewies übrigens Frankreich. Im Zusammenhang mit der Moltke-Bülow-Eulenburg-Affäre war auch der Name eines homosexuellen französischen Diplomaten, Lecomte, gefallen. Da sexuelle Handlungen zwischen Männern nach französischem Recht nicht strafbar waren, gab es weder einen Prozeß gegen ihn noch ein Gutachten über ihn, und seine Regierung versetzte ihn stillschweigend von Berlin in den Orient, wo er Gelegenheit hatte, seinen erotischen Interessen umso ungestörter nachzugehen. 19 In Deutschland aber waren in der Skandalhysterie mehrere Karrieren zerstört oder schwer beschädigt worden: die von Brand, Harden, Moltke, Bülow, Eulenburg und nicht zuletzt Hirschfelds eigene. Es dauerte eine lange Zeit, bis er aus dieser Talsohle herauskam. Vor allem hatte er auch bei vielen Homosexuellen an Ansehen eingebüßt, denn natürlich wurde ihm auch die Verurteilung Brands mitangelastet. Harden sagte ihm viele Jahre später, mit dem Angriff auf Eulenburg habe er selbst einen großen Fehler gemacht und zu allem Unglück habe er auch noch den Falschen getroffen. Nicht Eulenburg und die homosexuelle "Kamarilla" seien die Gefahr für das Reich gewesen, sondern die heterosexuellen Intriganten, von denen er, Harden, sich habe mißbrauchen lassen. 20 Hirschfeld selbst zählt drei mögliche Schlußfolgerungen aus der Affäre auf:

"1. Unverständige werden den Homosexuellen einfach raten, <normal> zu werden. Damit wird aber nur eine möglichst weitere Ausdehnung der staatlichen Ejekulationskontrolle bezweckt!

2. Andere werden zur Fortführung des bisheringen Doppellebens raten, und dieser Rat wird auch von vielen homosexuellen allzu gerne befolgt. (Hirschfeld selbst befolgte ihn sein Leben lang.)

3. Diejenigen, die mehr als Toleranz für die Homosexuellen fordern oder gar die homosexuelle und die bisexuelle Individualität höher einschätzen, schaden der Sache mehr als sie nützen. Deshalb kann nur die ruhige, sachliche Defensive durch wissenschaftliche Arbeit den ersehnten Erfolg bringen. Andererseits ist aber die homosexuelle Emanzipationsbewegung nicht für die Entgleisungen einzelner Mitstreiter verantwortlich".  21

Vom Enthüllungsjournalismus zum «Outing»?

Hirschfelds Warnung vor homosexuellen Eiferern hat kurioserweise in jüngster Zeit wieder eine gewisse Aktualität gewonnen, und zwar diesmal in den USA.
Dort gab es in den letzten Jahren mehrere Skandale um prominente homosexuelle Kirchenmänner und Politiker, und bei zahlreichen "unverdächtigen" Schauspielern, Journalisten, Sportlern, Geschäftsleuten, Rechtsanwälten, Wissenschaftlern und Ärzten wurde deren Homosexualität nach ihrem Tod durch AIDS publik. Ein sehr bekannter Kongressabgeordneteter trat die Flucht nach vorn an, gab selbst seine Homosexualität bekannt und wurde dennoch wiedergewählt. Mittlerweile aber wurde noch seine frühere enge Beziehung zu einem Strichjungen bekannt, der sogar vom Hause des Abgeordneten aus einen Prostitutionsring betrieb. Auch diese peinliche Affäre sprach der Politiker selbst offen in der Presse an. Er wurde vom Kongreß zwar offiziell getadelt, aber nicht seiner mächtigen Stellung beraubt. Er steht bald wieder zur Wahl, und es bleibt abzuwarten, ob er wieder gewinnt. Kritische Beobachter und Kenner seines Wahlkreises glauben daran.22 Es scheint also heute sogar im puritanischen Amerika für Politiker möglich, sich offen als "homosexuell" zu präsentieren und doch von Kollegen und Wählern respektiert zu werden, solange eben die erwartete Leistung erbracht wird. Das "Volksempfinden" ist da oft den obsoleten Gesetzen voraus. Hinzu kommt in den USA, daß infolge der AIDS-Epidemie Homosexualität mehr und mehr öffentlich diskutiert wird und dadurch das allgemeine Verständnis zunimmt.

Andererseits aber haben die Homosexuellen selbst, von denen sehr viele an AIDS erkrankt oder mit dem Virus infiziert sind, zunehmend den Eindruck, daß ihr Schicksal den anderen gleichgültig ist. Daher formieren sich verstärkt kämpferische Gruppierungen, die zivilen Ungehorsam und andere Maßnahmen fordern. So heißt es etwa in einem Bericht über die Internationale AIDS-Konferenz in San Francisco 1990:

«Die in den am stärksten betroffenen homosexuellen Zentren New York und San Francisco gegründeten und sich von dort über das ganze Land ausbreitenden AIDS-Aktivistengruppen radikalisieren sich unter dem Eindruck der Indifferenz von Politik und Gesellschaft zunehmend. Noch finden vereinzelte Aufrufe zu gewalttätigem Aufruhr wenig Gehör, aber das Desinteresse von Staat und Gesellschaft an den verheerenden Auswirkungen der HIV-Epidemie in den am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen führt zu zunehmender Verbitterung unter den Aktivisten. Als bezeichnend für die Stimmung in der "Szene" kann man die Politik des "Outing" betrachten. Als Outing, das unter Homosexuellen heftig umstritten ist, wird die Strategie bezeichnet, das Schwulsein von prominenten Persönlichkeiten öffentlich zu machen, um damit zum einen unter Homosexuellen selbst die Bereitschaft zu stärken, offen zur eigenen Veranlagung zu stehen, zum anderen der übrigen Gesellschaft zu demonstrieren, daß es sehr viel mehr Homosexuelle gibt als es auf einen oberflächlichen Blick hin scheinen könnte und daß sie wichtige Beiträge für die Gesellschaft erbringen23

Damit wiederholt sich praktisch die Situation, die schon zu Anfang des Jahrhunderts im wilhelminischen Deutschland herrschte: Auf der einen Seite die ungeduldigen Aktivisten, auf der anderen verschiedene Prominente mit ihrem mühselig aufrechterhaltenen Doppelleben und in der Mitte die Mehrheit der "normalen Homosexuellen", die leben und leben lassen.

Wenn allerdings die Vergangenheit hier eine Lektion bereithält, so ist es diese: Die Versuche des "Vorwärts" und der Journalisten Brand und Harden, mit der "Enttarnung" bekannter, heimlich homosexueller Personen etwas Positives zu bewirken, scheiterten völlig. Im Gegenteil, sie entzweiten die homosexuelle Emanzipationsbewegung und heizten nur die öffentliche Hysterie an. Und nicht zuletzt. Man brachte Menschenopfer, deren Martyrium sinnlos blieb. Der Sache war damit auf keinen Fall gedient, ja teilweise verlor man am Ende wichtige Verbündete. So schreibt Hirschfeld:

«Es ist vorgekommen, und der Fall steht nicht vereinzelt da, daß ein und dieselbe Zeitung, welche anläßlich des Falles Krupp die Beseitigung des § 175 befürwortete, jenes in anderen Ländern längst aufgehobenen Paragraphen, der die sexuelle Abnormität des Mannes nicht als krankhafte, sondern als strafwürdige Mißstände betrachtet, des Paragraphen, der in unsere moderne Kulturwelt hineinpaßt wie die mittelalterliche Praxis, Geisteskranke als vom Teufel Besessene zu bestrafen, daß diese Zeitung fünf Jahre später gelegentlich des Falles Eulenburg schrieb: «Päderastie ist ein Rückfall in die Barbarei; Homosexualität ist Hundemoral. Das muß derb und klar ausgesprochen werden. Der Erziehung fällt die Aufgabe zu, den Willen zu stärken, dem Strafgesetz, den Willensschwachen zu isolieren, damit Krankheit und Sittenverderbnis einzelner nicht zu einer Volksseuche werden, die auf ihrem verheerenden Zuge die herrlichsten Hoffnungen einer unvergleichlichen Kultur vernichten müßte24

Hirschfeld und einige seiner Mitstreiter, besonders bei der Berliner Polizei, waren aber bereit, gegenüber dem Kaiser selbst persönlich, diskret und vertraulich gewisse "Enthüllungen" zu machen, um ihn rechtzeitig von den Vorurteilen seiner Zeit zu befreien und ihm so die zu erwartenden Skandale zu ersparen. Die bereits erwähnte posthume Kartei oder "rosa Liste" des Polizeipräsidenten von Meerscheidt-Hüllessein war dafür das beste Beispiel. Hirschfeld hatte sogar, ebenfalls früh genug, einen aufklärenden Vortrag vor dem Kaiser beantragt, leider vergeblich. Aus größerem zeitlichem Abstand faßte Richard Linsert das Verhängnis so zusammen:

«Der Fall Eulenburg ... gehört zu jenen interessanten Skandalaffären, die, wie die Halsbandgeschichte, der Dreyfußprozeß und viele andere mehr, niemals vergessen werden können. Tragisch war's, daß er eine so verheerende Entwicklung nahm, daß das "Systern" kein Einsehen haben wollte. Es war ein gefährlicher Fehler, die berühmte Kartei nicht zur rechten Zeit eingesehen zu haben, um ihre Wissenschaft mit Diskretion zu handhaben. Man war eben unbelehrbar. In den Akten des Wissenschaftlich-humanitären Komitees befindet sich noch heute ein Aktenstück vom 27. Juli 1907, in dem <der Minister der Geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten> <die Gewährung des nachgesuchten Immediat Vortrages> durch Magnus Hirschfeld vor dem Kaiser ablehnte. Immer dann, wenn die Gelegenheit gegeben war, durch rechtzeitige Aufklärung die Situation zu retten, versagte die Bürokratie25

Das Unglück, das Hirschfeld ungewollt als offizieller Prozeßgutachter anrichtete, wäre sicher begrenzt geblieben oder gar nicht eingetreten, wenn er nur privat als Vortragender bei Hofe erschienen wäre. So aber blieb es ihm und den anderen Beteiligten nicht erspart zu lernen, daß im Gerichtssaal Wissenschaft nicht unbedingt zur Gerechtigkeit führt.

Literatur

1

Magnus Hirschfeld, Racism, London 1938.

2

zitiert in: «Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen», Hg. M. Hirschfeld, V, 2, S. 1320, Leipzig 1903.

3

Siehe James D. Steakley, Siehe James D. Steakley, «Iconography of a Scandal: Political Cartoons and the Eulenburg Affair», in: Studies in Visual Communication, 9, Nr. 2 (1983), S. 20-5 1; Nachdruck in: Duberman et al. (eds.): Hidden from History: Reclaiming the Gay and Lesbian Past, New York 1989, S. 233-263.

4

Siehe Aagnus Hirschfeld, «Sexualpsychologie und Volkspsychologie - Eine epikritische Studie zum Harden-Prozeß», in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Jahrgang 1908, S. 88-92 u. S. 228-247.

5

Siehe Beispiele bei Steakly, op. cit.

6

Hirschfeld, «Sexualpsychologie ...», s. o.

7

Jugend - Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, Jahrgang 1908, S. 21 -siehe auch: Dieter Berner, «Statt: fragt: Magnus Hirschfeld als Gerichtsgutachter in sexuologischen Fragen - Tendenz zu Exkulpierung?», Vortrag am 9.11. 198 8, Humboldt-Universität, unpubl. MS., S. 4.

8

Der Protokollauszug ist abgedruckt in: Richard Linsert: Kabale und Liebe: Ober Politik und Geschlechtsleben, Berlin 1931, S. 471. Das Zitat ist ergänzt durch einen weiteren Abdruck in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, IX. Jahrgang 1908, S. 65 1.

9

Hirschfeld, «Sexualpsychologie ... », S. 232.

10

ebda.

11

ebda. S.82

12

Im Kinsey-Institut wird ein Zeitungsausschnitt vom 13. April 1913 aufbewahrt, wonach ein Bergmann in Recklinghausen vom dortigen Schöffengericht zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Er hatte einen Lehrer, mit dem er in Streit lag, auf der Straße den Namen «Eulenburg» zugerufen. Das Gericht sah darin eine schwere Beleidigung. (Aus dem Ausschnitt geht leider der Name der Zeitung nicht hervor.)

13

Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1977, S. 58.

14

Hirschfeld, «Sexualpsychologie ... », S. 90-91.

15

ebda. S.237.

16

Harden wird hier mitgenannt, obwohl er am Ende zum Nachweis homosexueller Handlungen des Fürsten Eulenburg überging. Grundsätzlich teilte er aber die Auffassung Hirschfelds und Brands, daß es einen exkulpierenden Zustand der Homosexualität gebe, und er unterstützte deshalb anfangs auch Hirschfelds Kampf gegen den § 175. Allerdings erhielt er während der Prozesse soviele Drohbriefe von Homosexuellen, daß er seine gute Meinung änderte und sie dann einer Strafrechtsreform nicht mehr würdig fand. So wurde er also zum Opfer eines neuen, diesmal negativen Vorurteils.

17

Linsert, op. cit., S. 152.

18

Hirschfeld, «Sexualpsychologie ... », S. 87.

19

Linsert, op. cit., S. 486.

20

Steakley, op. cit., S. 34.

21

Hirschfeld, «Sexualpsychologie ... », S. 244-245.

22

Siehe: «Barney Frank's Story» in: Newsweek, 25. Sept. 1989, S. 14-19. (Er wurde im Nov. 1990 wiedergewählt.)

23

AIDS-Nachrichten aus Forschung und Wissenschaft, 4/90, Berlin, Juli 1990, S. 5.

24

Hirschfeld, «Die Homosexualität des Mannes und des Weibes», Nachdruck mit Einleitung v. E. J. Haeberle, Berlin 1984, S. 1006 (Es handelt sich um das «Hamburger Fremdenblatt» vom 30. Nov. 1902 und vom 31. Okt. 1907.).

25

Linsert, op. cit., S. 493.