Erwin J. Haeberle

AIDS-Vorsorge und die Sozialwissenschaften

Vortrag vom 6.11.1986 auf der AIDS-Tagung Berlin, Veranstalter: Der Senator für Gesundheit und Soziales.
Ursprünglich abgedruckt in: Sexualitäten in unserer Gesellschaft,
Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 2, R. Gindorf, E.J. Haeberle (Hrsg.),
Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1989, S. 85-108

Die sozialen Dimensionen der Krankheit
Die ,Risikogruppen’
Formen sozialer Abwehr
Eine Herausforderung an die Sozialwissenschaften
Forschung
Therapie
Vorbeugung
Ein Test als Testfall
Medizinischer Nutzen und sozialer Mißbrauch von Testprogrammen
Ein gefährliches Volksbegehren
Die ersten Schritte zur Vorsorge
Anmerkungen

AIDS ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein soziales, d.h. psychologisches, pädagogisches, moralisches, juristisches, ökonomisches, ja politisches Problem.

Die AIDS-Vorsorge muß daher neben einer breit angelegten Infektionsvorbeugung auch noch verschiedene andere öffentliche und private Maßnahmen und Initiativen umfassen.

Die Aufklärung im engeren Sinne wird am besten durch eine weitgehend unabhängige, gemischt öffentlich-privat finanzierte, professionell geführte Stiftung betrieben.

Die weitergehende sozialpolitische Vorsorge erfordert darüber hinaus eine ebenso unabhängige interdisziplinäre, international orientierte (aber nicht medizinisch beherrschte) Studiengruppe, einen ,think tank', ein Wissenschaftszentrum oder -kolleg, das die verschiedenen möglichen und wahrscheinlichen epidemiologischen und gesellschaftlichen Szenarien durchspielt. Nur auf dieser Basis sind z. B. informierte behördliche Entscheidungen möglich, die auch bereitwillig von der Öffentlichkeit mitgetragen werden.

Modelle einer solchen Stiftung und Studiengruppe für Deutschland werden anhand amerikanischer Erfahrungen dargestellt.

Vor 65 Jahren, im September 1921, fand hier in Berlin der erste internationale Sexologenkongreß statt. Der einberufende Ausschuß war in jahrzehntelanger Arbeit von Magnus Hirschfeld organisiert worden und umspannte den Erdball - Mitglieder saßen sowohl in Rom, Paris, London, Stockholm und Moskau als auch in Peking, Tokio und San Francisco. Ihr gemeinsames Ziel war eine universale Sexualreform auf wissenschaftlicher Grundlage. Dementsprechend waren die Themen gewählt, von der Medizin bis zur Ethnologie, vom Recht bis zur Psychologie und Pädagogik. Sechs Tage lang bemühten sich Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, England, Schweden, Italien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion um eine rationale Lösung der drängenden Sexualprobleme nach dem Ersten Weltkrieg.

Fünf Jahre später, im Oktober 1926 - also vor nunmehr 60 Jahren -, konnte Albert Moll, ebenfalls hier in Berlin, einen zweiten internationalen Kongreß für Sexualforschung sogar im Plenarsaal des Reichstags eröffnen. Dieser Kongreß dauerte sieben Tage und war wissenschaftlich noch weiter gefächert - von der Biologie bis zur Soziologie, Ethik, Ästhetik und Religion, von der Statistik bis zur Nationalökonomie, und auch hier kamen die Teilnehmer wieder aus vielen europäischen und außereuropäischen Ländern.Diese Initiativen beweisen unter anderem, daß Berlin einmal das unbestrittene und viel bewunderte Zentrum der Sexualwissenschaft war. In dieser Stadt waren ja auch die erste Zeitschrift und die erste Gesellschaft für Sexualwissenschaft gegründet worden. Wichtiger noch: Hier hatte Hirschfeld ihr erstes Institut errichtet, das seit 1919 Besucher aus aller Welt anzog.

Man kann daher sagen, daß die Sexualwissenschaft Berlin ihre erste Blüte verdankt, ja, daß sie wie keine zweite von dieser Stadt geprägt wurde. Kurz, sie war ursprünglich und eigentlich eine Berliner Wissenschaft. Vor allem aber war sie, wie wir gesehen haben, eine interdisziplinäre und internationale Unternehmung, die versuchte, praktische Probleme unter Einsatz aller relevanten Disziplinen vernünftig zu lösen. Wie Hirschfeld zur Begrüßung seiner ersten Kongreßteilnehmer sagte:

Die Wissenschaft ist nicht um ihrer selbst, sondern um der Menschen willen da. Die Zahl der Opfer sexueller Verfolgung auf unwissenschaftlicher Grundlage ... ist riesengroß. Alle diese an der Liebe Leidenden bilden, so verschiedenartig sie untereinander sind, und so wenig sie einander kennen, eine unsichtbare Einheit, weil ihr gemeinsamer Feind die sexuelle Lüge, der sexuelle Aberglaube, ihre gemeinsame Rettung ... die Sexualwissenschaft ist. ... Aus der Erkenntnis des Unerkannten, aus dem Bewußtwerden des Unbewußten, das heißt aus der Wissenschaft, sollen ... Sitte und Sittlichkeit ... sich aufbauen. Dies ist der Grundgedanke ... von dem dieser Kongreß ausgeht. ... Per scientiam ad justitiam - durch Wahrheit zur Gerechtigkeit1!

Wenn Hirschfeld hier kurzerhand das Wort ,scientia' mit ,Wahrheit' übersetzte, so wollte er damit zweifellos seine Zuhörer besonders aufhorchen lassen. Eigentlich liegt ja in seiner schlichten Gleichsetzung von Wissenschaft und Wahrheit eine provokante Naivität, die ihm vielleicht auch schon damals nur wenige abnahmen. Heute wirkt sie fast lächerlich. Wir kritischen, immer wieder enttäuschten Nachfahren haben gelernt, von der Wissenschaft sehr viel weniger zu erwarten. ,Die Wahrheit' ist für uns wieder zu dem geworden, was sie ursprünglich war - ein wesentlich religiöser Begriff, der auf die Kanzel gehört, nicht aufs Katheder. Im Munde von Akademikern ist sie heute nicht mehr als eine verantwortungslose leere Versprechung, eine Art transzendentaler Fetisch, ein Idol, vor dem wir uns noch aus alter Gewohnheit im Vorübergehen flüchtig verbeugen, von dem wir aber keinerlei Wirkung, geschweige denn Wunder mehr erwarten. Was ist uns nun also die Wissenschaft? Hoffen wir wenigstens, daß, wenn schon nicht die Wahrheit, so doch die Vernunft aus ihr spricht? Auch das nicht. Wir sind schon zufrieden, wenn unsere Wissenschaftler einer praktikablen Vernünftigkeit das Wort reden. Sie kann zwar keine 'Gerechtigkeit' schaffen - auch wieder so ein zuvielversprechender, nebulöser Begriff - aber sie könnte, bei einigem guten Willen, vielleicht relativ besser erträgliche, menschenwürdige Verhältnisse herbeiführen helfen.

Wieweit Hirschfeld an seine eigenen Maximen glaubte, muß dahingestellt bleiben. Er war wohl doch nicht immer so naiv, wie er sich gab. Er handelte allerdings meist so, als ob die Gleichung 'Wissenschaft = Wahrheit = Gerechtigkeit' ohne Bruch aufgehen müßte. Diese besondere Variante einer praktischen Philosophie des ,Als ob' lieferte aber den Impetus für alle unsere sexologischen Pioniere. Sie hatten auch viel Erfolg damit: Die Reform machte so deutliche Fortschritte, daß der endliche und universale Sieg der Rationalität greifbar nahe schien.

Heute wissen wir leider, wie sehr man sich täuschte. Unterdessen waren nämlich in Deutschland die irrationalen Kräfte des Rassismus und Chauvinismus, der Ignoranz und Intoleranz gefährlich angewachsen, und sie entluden sich bald im destruktiven Wahnsinn des Nazistaates. Er zerstörte nicht nur die Sexualwissenschaft, sondern begann auch, ganze Gruppen von Menschen als 'lebensunwert' und 'ungesund für den Volkskörper' systematisch zu verfolgen. Zu diesen stigmatisierten Gruppen gehörten körperlich und geistig Behinderte, politische und religiöse Gegner, sexuelle Minderheiten und, vor allem, die Juden. Daher wurde ein allgemeiner ,Ariernachweis', d.h. ein ,Judentest' eingeführt. War das Testergebnis positiv, so wurde der Betroffene zunächst überwacht, sozial isoliert und gesetzlich entrechtet, dann mit besonderen Kennzeichen äußerlich markiert, in ein Konzentrationslager eingesperrt und dort schließlich ermordet.

Es kann uns nicht schaden, wenn wir uns an diese Zeit erinnern, denn es wäre auch heute ein Fehler, der wissenschaftlichen Aufklärung eine automatische Kraft zuzuschreiben. Natürlich hat niemand mehr vor, irgendwelche Nazigreuel zu wiederholen; keiner will die Bevölkerung auf 'rassereines' Blut untersuchen oder sexuelle Minderheiten ausrotten. Solche Albträume werden bestimmt nicht mehr wahr. Die schlimmste Lektion haben wir gelernt. Aber ohne unsere immer wieder geschärfte Erinnerung käme uns vielleicht doch eines Tages das Gespür für andere Gefahren des Irrationalismus abhanden - Gefahren, die immer und überall drohen, die schnell wachsen können, und die man rechtzeitig erkennen muß, wenn man sie abwehren will.

Gerade jetzt sollten wir wieder besonders auf der Hut sein, denn wir sind alle von einer grauenhaften Epidemie bedroht, die uns mit Recht in Angst versetzt, und die bei manchen schon zu Hysterie, ja Panik geführt hat. Das deutet die Dimensionen an, in denen wir denken müssen. AIDS ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein massenpsychologisches Problem, dessen Folgen uns eines Tages mit Sicherheit alle treffen. AIDS-Vorsorge muß daher zumindest zweierlei heißen: Vorbeugung im medizinischen Sinne und Planung im Sinne sozialpolitischer Strategien. In beiden Fällen sind fundamentale Einstellungs- und Verhaltensänderungen nötig, die vielleicht trotz aller Anstrengungen gar nicht zu erreichen sind. Aber auch dann sollten wir weiter die Augen offen halten und soweit vorausschauen wie möglich. Wir sollten auf jeden Fall zu erfahren versuchen, was uns erwartet.

Die sozialen Dimensionen der Krankheit

AIDS ist heute bereits eine weltweite Sorge, aber von den westlichen Industrieländern liefern die USA wohl die lehrreichsten Beispiele für seine sozialen Auswirkungen. Es gibt für uns also ein amerikanisches Zukunftslabor, in dem nun - mit einem mehrjährigen Vorsprung - mögliche europäische Entwicklungen um AIDS gewissermaßen zur Beobachtung ,vorgekocht' werden. Ich möchte davon, etwas willkürlich, zunächst einige herausgreifen, die uns vielleicht erste Hinweise geben.

Die ,Risikogruppen’

Das Center for Disease Control (CDC) in Atlanta führt eine laufend ergänzte AIDS-Statistik, die auch in Europa weithin das öffentliche Bewußtsein formt. Danach gibt es fünf ,Risikogruppen', deren Mitglieder besonders infektionsgefährdet sind: Homosexuelle und bisexuelle Männer, intravenös spritzende Drogenabhängige (,Fixer'), Empfänger von Blut und Blutprodukten, die Sexualpartner und -Partnerinnen aller dieser Leute und schließlich die ihnen geborenen Kinder.

Soweit die Statistik. In der sozialen Wirklichkeit ist damit aber die Liste keineswegs erschöpft. Verschiedene Gesetze, behördliche Maßnahmen, Gerichtsentscheidungen, Expertenempfehlungen, Zeitungs- und Fersehberichte definieren nämlich immer häufiger neue Gruppen, die wegen AIDS ein Risiko laufen. Es handelt sich also bei der Klassifizierung nicht um ein festes, endgültiges System, sondern um einen andauernden Prozeß, der keinerlei Halt bietet, ja, der tendenziell den Begriff von besonderen ,Risikogruppen' selber ad absurdum führt. Mittlerweile haben wir es schon mit über einem Dutzend ganz unterschiedlich konstituierter Gruppen zu tun.

Ich gehe sie hier einmal der Reihe nach durch und schildere kurz ihre jeweiligen Probleme.

 1. Zuerst sollte man vielleicht die Hämophilen nennen, denn von ihnen wird man in diesem Zusammenhang hoffentlich bald nichts mehr hören. Ihre Infektion durch Blutprodukte ist durch deren heutige Hitzebehandlung ausgeschlossen. Anders steht es mit den Empfängern von Bluttransfusionen. Der HIV-Antikörpertest für Blutspender bietet einen sehr guten, aber nicht hundertprozentigen Schutz. Einige wenige falsch-negative Testergebnisse sind nach wie vor möglich, und so gehen nun viele Leute dazu über, vorsorglich ihr eigenes Blut für spätere Transfusionen zu deponieren. Diese Idee wurde unnötigerweise auch noch von Präsident Reagan empfohlen, und so florieren jetzt entsprechende Privatunternehmen, während einige ältere Blutbanken in Schadenersatzprozesse mit Angehörigen verstorbener Blutempfänger verwickelt sind 2.

 2. Bei den ,Fixern' als Gruppe finden sich zunehmend mehr AIDS-Fälle, da die Aufklärung unter ihnen nur spät einsetzte und immer noch unzureichend ist. Außerdem fehlt es am Geld für Entwöhnungsprogramme. Eine allgemeine Bereitstellung von sauberen Nadeln, von der Presse in vielen Leitartikeln empfohlen, ist nicht in Aussicht, besonders, da die USA sich gerade wieder inmitten einer durch den Wahlkampf angeheizten Drogenhysterie befinden 3.

 3. Die homosexuellen und bisexuellen Männer haben bisher von sich aus am meisten für die Vorbeugung getan und auch ihr eigenes Sexualverhalten entsprechend weitgehend geändert. Das Konzept des ,ansteckungssicheren Sex' wurde ja von und in der ,Schwulenszene' entwickelt, dann den zögernden Behörden aufgedrängt und endlich in der Gesamtbevölkerung propagiert. Die meisten AIDS-Fälle gehen aber immer noch auf homosexuellen Kontakt zurück wegen der langen Inkubationszeit und wegen verspäteter und unzureichender Aufklärung außerhalb der großen Städte. Heute besteht der wichtigste Beitrag der ,Schwulen' zur Vorbeugung in ihrem Widerstand gegen Zwangstestung und die Registrierung von ,Testpositiven', weil diese unlösbare Sozialprobleme schaffen und die Epidemie völlig unkontrollierbar machen würden. Diese Weitsicht wird aber vielerorts nicht verstanden und ihnen wenig gedankt 4.

 4. Die bisexuellen Männer erleben noch besondere Schwierigkeiten, wenn sie verheiratet sind und Kinder haben. Kürzlich wurde durch ein Gerichtsurteil einem geschiedenen, nun homosexuell lebenden Vater der Besuch seiner Töchter nur unter der Bedingung eines negativen Testergebnisses erlaubt. Der Fall ist noch nicht endgültig entschieden, steht aber inzwischen auch nicht mehr allein. Es ist abzusehen, daß - sinnvoll oder nicht - der HIV-Antikörpertest für bisexuelle Väter eine zunehmende Rolle bei Scheidungsprozessen spielen wird 5.

 5.  Der amerikanische Medizinerbund (AMA) war vor einigen Monaten gerade noch davon abzuhalten, diesen Test für alle Brautleute zu fordern. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis diese Forderung doch noch erhoben wird. In Kalifornien erhalten alle Heiratswilligen aber schon heute eine Broschüre über AIDS, deren Empfang sie schriftlich bestätigen müssen 6.

 6. Das Problem der rein heterosexuellen Infektion wird ohnehin schon immer lauter diskutiert. In San Francisco wurde vor einigen Wochen eine Studie veröffentlicht, wonach an die 100000 unserer heterosexuellen Bürger ein Infektionsrisiko laufen. Diese Studie wurde sofort als fehlerhaft angegriffen. Als Resultat dieses Streites einigte man sich dann auf die Zahl von ,nur' 17500 gefährdeten Heterosexuellen. Jedenfalls war eindeutig nachgewiesen, daß 8% der Frauen im vergangenen Jahr Geschlechtsverkehr mit bisexuellen Männern gehabt hatten. 3% der Männer und Frauen hatten Geschlechtsverkehr mit ,Fixerinnen' oder ,Fixern'. 7% der Männer hatten mit Prostituierten verkehrt. Eine frühere Studie unter selbstdefinierten ,Schwulen' hatte außerdem ergeben, daß 21% von ihnen Sexualkontakt mit Frauen gehabt hatten. Was alle diese Zahlen nun aber wirklich für die Zukunft bedeuten, ist weiterhin unklar. Die Frage der bisexuellen Übertragung ist offensichtlich zu wenig erforscht. Ich komme noch darauf zurück 7.

 7. Weibliche Prostituierte sind, aller Erfahrung nach, mehr durch ihre Kunden gefährdet als umgekehrt. Selbsthifegruppen der Prostituierten widmen sich daher der Aufklärung über ,safer sex' und fordern die allgemeine Benutzung von Kondomen. Zuletzt wurde diese Forderung noch auf dem Jnternationalen Hurenkongreß' in Brüssel erhoben. Anstatt diese vernünftige Forderung aber zu unterstützen, schaffen viele Länder noch unnötige Hindernisse und verbieten etwa die Kondomwerbung in Radio und Fernsehen. In den USA machen Prostituierte sich allein schon durch ihre Tätigkeit strafbar, und so dürfen sie keine Kondome bei sich tragen, da diese von der Polizei als Beweismaterial beschlagnahmt werden. Dennoch versuchen auch amerikanische Prostituierte, sich selbst und ihre Kunden zu schützen. Viele haben sich ganz auf ansteckungssichere Sexualpraktiken umgestellt. Insgesamt stellen sie keine besondere Infektionsbedrohung für den Rest der Bevölkerung dar; sie brauchen aber mehr Hilfe beim Selbstschutz als sie bisher erhalten haben. Das Letztere gilt auch für die männlichen Prostituierten, die von den Behörden bisher entweder ignoriert oder sporadisch unsinnigen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt werden 8.

8. Neuerlich hat sich die Aufmerksamkeit auf Frauen ganz allgemein als Risikogruppe gerichtet. Damit wurde ein neuer Gesichtspunkt gewählt, der überraschende Entdeckungen bot. Es war bekannt, daß Frauen etwa 7% aller amerikanischen AIDS-Fälle stellten. Über die Hälfte davon waren ,Fixerinnen', einige hatten Bluttransfusionen empfangen, und bei wieder anderen war der Infektionsweg unbekannt. Bei etwa 20% war die Ursache aber eindeutig heterosexueller Geschlechtsverkehr. Ja, diese zunächst kleine Untergruppe war im Lauf des letzten Jahres um über 200% gewachsen. In New York war und ist sie die am schnellsten wachsende Gruppe überhaupt. Noch schlimmer: Dort fand das militärische Testprogramm über ein halbes Prozent der weiblichen Rekruten infiziert. Und wohlgemerkt, es handelt sich hier um sehr junge Frauen. Sicher ist, daß gerade unter der weiblichen Jugend noch eine ausreichende Aufklärung fehlt 9.

9. Viele Frauen laufen aber nicht nur selbst ein Infektionsrisiko, sondern sind auch in Gefahr, infizierte Kinder zu gebären. Offiziell sind einige hundert AIDS-kranke Kinder gemeldet; wenn man sich aber nicht an die enge Definition von AIDS klammert, dann könnten es mehrere tausend sein, die durch das Virus erkrankt sind. Die meisten dieser Säuglinge haben drogenabhängige Mütter, die natürlich selten in der Lage sind, sie zu versorgen. Die hier entstehenden Probleme sind enorm. Vor einigen Wochen hat sich nördlich von San Francisco ein katholisches Kloster als Pflegeheim für solche Kinder angeboten 10.

 10. Wie das Testprogramm für Militärrekruten enthüllte, finden sich heute etwa 1,5 Promille ,Testpositive' schon unter den Freiwilligen, also sehr jungen Männern. In Großstädten wie San Francisco und Washington, D.C. waren es sogar 1 Prozent, in Manhattan 2 Prozent. Damit wurde die Frage akut, wieweit Jugendliche als Gruppe infektionsgefährdet sind. Viele Universitäten und Colleges wurden jedenfalls aufgeschreckt und schufen besondere Vorbeugungsprogramme. Dabei waren die Universitäten in und um San Francisco führend, teilweise auch, weil sie schon früh AIDS-Todesfälle von Professoren und in der Studentenschaft zu beklagen hatten. Die Highschools zögerten anfangs, sind aber nun ebenfalls aufgewacht, wenigstens in einigen Großstädten. In Oakland, der Nachbarstadt San Franciscos, geben Schulen sogar Kondome aus. Volksschulen und Kindergärten haben ihre eigenen Probleme, die ich noch gesondert besprechen möchte 11.

 11. Ein schwieriges Thema ist AIDS im Strafvollzug. Viele Strafgefangene waren vor ihrer Einlieferung ,Fixer', und in den Gefängnissen selber ist sowohl unfreiwilliger als auch freiwilliger homosexueller Verkehr an der Tagesordnung. Da aber auch der letztere verboten ist, bleibt es schwierig, sozusagen ,vor Ort' eine wirksame Vorbeugung zu betreiben. Glücklicherweise hat bisher noch kein Häftling Klage wegen einer Infektion durch Vergewaltigung erhoben. Anfangs gerieten viele Gefängnisverwaltungen und auch Insassen bei AIDS-Fällen in Panik. In Kalifornien verlor selbst ein AIDS-kranker Wärter seine Stellung und konnte sie auch auf dem Prozeßwege nicht zurückerhalten. Heute werden AIDS-kranke Gefangene meist isoliert oder in Pflegeheime entlassen. Jüngst wurde in Texas ein straffällig gewordener AIDS-Kranker schon gleich vom Gericht zur Haft im eigenen Haus verurteilt. Sein Aufenthalt dort wird mit Hilfe eines kleinen Sendegerätes elektronisch überwacht, das an seinem Fußgelenk befestigt ist. Viele fragen sich, ob dies Beispiel Schule machen wird 12.

 12. Eine weitere Gruppe, um die man sich sehr bald kümmern muß, lebt in den schwarzen, puertorikanischen und mexikanischen Ghettos. Dort finden sich besonders viel Drogengebrauch und besonders hohe Raten von Syphilis und Chlamydia. Diese Geschlechtskrankheiten machen aber Frauen auch besonders anfällig für eine HIV-Infektion. Andererseits haben die jungen Männer in dieser Umgebung besondere Schwierigkeiten, bisexuelles Verhalten zuzugeben, das sie also meist verschweigen. Damit scheint eine gefährliche Entwicklung vorprogrammiert. Das militärische Testprogramm fand jedenfalls unter den schwarzen Rekruten viermal soviele ,Testpositive' wie unter den weißen. Von den AIDS-kranken Frauen und Kindern sind über die Hälfte schwarz. Der Anteil der schwarzen AIDS-Fälle ist mit 25% der Gesamtzahl mehr als doppelt so hoch wie der schwarze Anteil an der Gesamtbevölkerung. Wenn also in den Ghettos etwa ein ,Fixer' mehrere Freundinnen hat, die im Laufe der Zeit selber wieder mehrere Freunde haben, dann können jetzt die Folgen verheerend sein. In Haiti zum Beispiel ist AIDS schon fast völlig zur heterosexuellen Krankheit geworden. Wenn man in den USA eine ähnliche Entwicklung verhindern will, dann muß man sofort massiv auf die Jugend der rassischen Minderheiten einwirken - keine leichte Aufgabe!13.

13. Das sollte aber niemanden zu dem Fehlschuß führen, AIDS sei hauptsächlich ein Problem des Ghettos. Vielmehr ist nun auch zu beobachten, wie die Epidemie verstärkt in die weißen, wohlhabenden Vorstädte eindringt. San Francisco zum Beispiel ist von solchen Vorstädten umringt, und dort wachsen die Fallzahlen nun relativ sehr viel schneller. Während sich die AIDS-Fälle San Franciscos im letzten Jahr verdoppelten, nahmen sie in verschiedenen benachbarten Regierungsbezirken um rund 130,170, 200, 400, ja in einem davon um fast 500 Prozent zu. Selbst wenn also die epidemiologische Kurve in den städtischen Ballungszentren nun etwas abflacht, so steigt sie in den umliegenden Gebieten um so steiler an14.

Ich breche die Aufzählung hier ab, obwohl ich sie leicht fortsetzen könnte. Sie macht aber hoffentlich schon deutlich, daß man ,Risikogruppen' verschieden definieren kann und dies teilweise auch tun muß, wenn man flächendeckende sozialpolitische Strategien zur Bekämpfung der Krankheit entwickeln will. Außerdem wird nun wohl klar, daß jede Hoffnung vergeblich ist, AIDS als Problem sexueller, rassischer, ethnischer oder ökonomischer Minderheiten eingrenzen zu können. Vielmehr ist nur dann etwas gegen die Epidemie auszurichten, wenn man sie sozusagen auf allen Fronten gleichzeitig angreift.

Die Rede von besonderen Risikogruppen ist deshalb nur ein Behelf - einerseits praktisch, andererseits aber auch gefährlich, wenn man sie allzu wörtlich nimmt. Am Ende gehören wir nämlich alle zu einer oder mehreren dieser Gruppen und sollten uns daher im Alltag nicht an illusionäre Unterscheidungen klammern. Außerdem hat das deutsche Wort ,Risikogruppe' - anders als im Englischen - noch eine bedauerliche Doppelbedeutung. Es kann heißen: ,Gruppe, die ein Risiko läuft', aber auch: ,Gruppe, die für andere ein Risiko darstellt'. Das kann leicht zum Anlaß für Diskriminierungen werden.

Formen sozialer Abwehr

Wie groß die Gefahr der Diskriminierung ist, zeigen zahlreiche amerikanische Beispiele, die sich noch täglich vermehren. AIDS-Kranke verlieren ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnung, ihre Versicherung, und selbst ihre Freunde und Familien ziehen sich von ihnen zurück. Immobilienmakler müssen ihren Käufern enthüllen, ob ein früherer Hausbesitzer AIDS hatte. Ein Angestellter wird entlassen, weil er sich dem HIV-Antikörpertest unterzieht, und obwohl das Resultat negativ ist. Einem anderen passiert das Gleiche, weil er den Test verweigert. Ein Krankenhaus zwingt einen AIDS-kranken Techniker auf die Straße; eine Fluggesellschaft zwingt einen bereits in seinem Sitz angeschnallten AIDS-Kranken, wieder von Bord zu gehen und weigert sich, ihn zu transportieren. Als er eine gerichtliche Klage einreicht, erhält er eine schriftliche Entschuldigung, kurz darauf verweigert aber die gleiche Fluggesellschaft einem anderen AIDS-Kranken wieder den Transport 15.

Tatsächlich ist in den USA weiterhin unklar, wieweit AIDS-Patienten, ,Testpositive' oder Mitglieder von ,Risikogruppen' rechtlich vor Diskriminierung geschützt sind. Auf Bundesebene sieht es nicht eben günstig für sie aus: Das Justizministerium hat zwar entschieden, daß Empfänger staatlicher Gelder - wie etwa Schulen und Krankenhäuser - nicht gegen AIDS-Kranke als solche diskriminieren dürfen, andererseits aber hat es auch festgestellt, daß die Diskriminierung erlaubt ist, wenn eine Angst vor Ansteckung besteht. Wohlgemerkt: Die Angst vor Ansteckung, nicht ihre reale Möglichkeit! Die Angst braucht also nicht begründet zu sein. Dies Meisterstück bürokratischer Konfusion zeigt vielleicht besser als alles Andere, wie zwiespältig die Haltung der amerikanischen Bundesbehörden immer noch ist 16.

Auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten sieht es ein wenig besser aus: Die meisten haben sich entschieden, AIDS wie viele andere Krankheiten juristisch als ,Körperbehinderung' zu behandeln, gegen die eine Diskriminierung verboten ist. Leider ist diese Entscheidung aber noch nicht überall gefallen, und in Kalifornien hat der Gouverneur sogar schon zweimal ein Veto gegen ein entsprechendes Gesetz eingelegt. Sein Argument, das Gesetz sei überflüssig, wurde ihm allerdings inzwischen von einem Verwaltungsgericht aus der Hand geschlagen, daß die Diskriminierung nach bestehender Rechtslage für erlaubt erklärte. Damit verlagerte sich die Verantwortung praktisch auf die einzelnen Stadtparlamente, und diese haben nun teilweise ihre eigenen Schutzbestimmungen erlassen. In San Francisco zum Beispiel ist nicht nur jede Diskriminierung gegen AIDS-Kranke verboten, sondern auch schon jede Zwangstestung auf HIV-Antikörper. Das ist aber kein Trost für Bewohner anderer Städte, die keinen vergleichbaren Schutz bieten. Kurz, die weithin bestehende rechtliche Unsicherheit, die Diskrepanzen zwischen nationalen, bundesstaatlichen und städtischen Gesetzen und Verordnungen, sind ein Skandal, dessen Beseitigung noch aussteht. Inzwischen fordert dieser Skandal aber reale Menschenopfer.

Einige dieser Opfer sind zum offenen Protest übergegangen. So liegen etwa in San Francisco seit über einem Jahr demonstrierende Patienten angekettet im Eingang einer Bundesbehörde. Sie wechseln sich dabei in Tag- und Nachtschichten ab, und wenn einer von ihnen ins Krankenhaus muß oder stirbt, so tritt sofort ein anderer an seine Stelle. Sie finden viel Sympathie bei Passanten und in der Presse; man bringt ihnen auch Nahrungsmittel, Kissen und Decken zum Schutz gegen Kälte, Wind und Regen, aber ihre Forderungen sind immer noch unerfüllt.

Sie fordern nämlich Sozialleistungen nicht nur für AIDS-Kranke, sondern auch für solche, die, vom gleichen Virus infiziert, arbeitsunfähig sind, ohne unter die sehr enge Diagnose AIDS zu passen. Deren verschiedene Krankheiten werden bisher noch als ARC (AIDS-Related Conditions) zusammengefaßt. Die Demonstranten machen diese Unterscheidung für sich selbst aber nicht mehr: Einige haben AIDS, die anderen ARC - in ihrem Protest sind sie solidarisch. Diese Solidarität sucht keine medizinische Rechtfertigung, sondern hat letztlich einen politischen Zweck. Sie will vor allem vergessene Opfer der Epidemie sichtbar machen. Wenn sie sich nämlich alle in geschlossener Front durchsetzen könnten, so würde damit das öffentliche Bewußtsein völlig verändert. Niemand hat genaue Zahlen, aber wie man schätzt, kommen auf jeden Kranken mit AIDS etwa zehn Kranke mit ARC. Mit ihrer offiziellen Meldung, Zählung, Anerkennung und finanzieller Unterstützung hätte sich für den Durchschnittsbürger also das Problem plötzlich zehnfach vergrößert.     

Man kann nun natürlich auch umgekehrt schließen, daß die breite Öffentlichkeit die Dimensionen des Problems bisher weit unterschätzt, und daß es höchste Zeit wird für eine Konfrontation mit der Wirklichkeit. Der Protest unserer AIDS- und ARC-Patienten versucht, gerade diese Konfrontation zu erzwingen, wenn auch bisher vergebens 17.

Ihr Versuch illustriert aber immerhin, wie weit die Diskriminierung in Wirklichkeit geht. Hier werden ja nicht allein kranke Menschen abgewehrt, sondern auch unbequeme Einsichten. Die reale Epidemie ist schon heute mit den gewohnten Vokabeln nicht mehr ausreichend zu beschreiben. Wenn die eigentlich willkürliche und rein technische Unterscheidung von AIDS und ARC eines Tages fällt, wenn eine neue - entweder differenziertere oder vereinfachende - Nomenklatur eingeführt werden muß, wenn das ganze Spektrum der Erkrankungen für alle sichtbar und die wahre Zahl der Patienten genannt wird, dann werden die heutigen Abwehrversuche unbegreiflich erscheinen. Sie sind Selbsttäuschungsmanöver; ihr endliches Mißlingen ist unausweichlich.

Eine Herausforderung an die Sozialwissenschaften

Hinter der Ausgrenzung von ,Risikogruppen', hinter der Diskriminierung von ,Testpositiven' und Kranken, und hinter der Weigerung, das Gesamtbild der Epidemie wahrzunehmen, steht natürlich als letzter Grund die Angst. AIDS jagt uns allen Angst ein, weil es an zwei unserer größten Tabus rührt - Sexualität und Tod.

Es ist eine sexuell übertragbare Krankheit, und wir können uns nicht vor ihr schützen, ohne gewisse sexuelle Realitäten anzuerkennen, die wir gerne verleugnen. Sie ist immer noch tödlich, und das erschüttert unser Vertrauen in die Medizin, von der wir die schnelle, schmerzlose Lösung aller Gesundheitsprobleme erwarten. Gleichzeitig aber wissen wir auch, daß nur die Wissenschaft wirkliche Hoffnung bietet. Mediziner haben, trotz allem, in kurzer Zeit sehr viel über AIDS gelernt und erste Behandlungserfolge errungen; aber auch Sozialwissenschaftler sind hier gefordert - auch sie können und müssen zur AIDS-Forschung, -Therapie und -Vorbeugung beitragen.

Forschung

Die Erforschung der Transmissionswege für sexuell übertragbare Krankheiten hat selbstverständlich eine naturwissenschaftliche Seite. Dabei konzentriert man sich auf Bakterien oder Viren, ihre Wirkung und ihren Weg von einer Schleimhaut oder Blutbahn zur anderen. Ebenso wichtig ist aber die Verfolgung sexueller Kontaktketten, das Studium eines menschlichen Verhaltens, das aus verschiedenen Gründen oft absichtlich verborgen wird. Dies ist eine sozialwissenschaftliche, genauer gesagt, sexualwissenschaftliche Aufgabe.

Sie ist durchaus nicht leicht, und sie wird noch zusätzlich behindert, weil sehr viele Leute sich hier Kenntnisse anmaßen, die sie nicht haben. Also halten sie eine detaillierte, besondere Sexualforschung für überflüssig. Hier in Berlin kommt das darin zum Ausdruck, daß Hirschfelds Institut immer noch nicht wieder aufgebaut ist, ja, daß keine der beiden Universitäten auch nur einen sexualwissenschaftlichen Lehrstuhl hat. Die herrschenden Ansichten über menschliches Sexualverhalten sind aber zumeist falsch. Sie beruhen auf ideologisch begründeter und gestützter Unkenntnis, und diese hat schon in der Vergangenheit bei der Bekämpfung der ,klassischen' Geschlechtskrankheiten fatale Folgen gehabt. Heute, bei AIDS, könnte man die gleichen Fehler wiederholen.

Ein Beispiel: Da AIDS in den USA und Europa zunächst besonders unter homosexuellen Männern auftrat, wäre es wichtig zu wissen, wieviele bisexuelle Kontakte es in der Bevölkerung gibt, wieviele Männer also eine homosexuell erworbene Infektion heterosexuell weitergeben könnten. Aber schon diese bloße Frage wurde anfangs einfach verdrängt. Ärzte sprachen von GRID (Gay-Related Immuno-Deficiency), die Laienpresse von einer ,Schwulenpest'. Endlich wurden der Risikogruppe der Homosexuellen die Bisexuellen beigefügt, aber es ist weiterhin strittig, wie hoch ihr Anteil eigentlich ist. Viele tun immer noch so, als sei die Geschlechtskrankheit AIDS ein Problem von Minderheiten, von dem die Mehrheit nichts zu befürchten hat.

Da war man schon im 18. Jahrhundert klüger. Zur Zeit Friedrichs des Großen etwa schrieb ein zeitweiliger Wahlberliner eine vielgelesene kleine Erzählung. Darin trifft ein junger Westfale nach schlimmen Abenteuern auf seinen früheren Lehrer, der inzwischen schwer erkrankt ist. Als er ihn teilnahmsvoll nach der Ursache fragt, bekommt er folgende Antwort:

"Ach, es war die Liebe! ... Du erinnerst Dich an Paquette, die hübsche Zofe unserer erhabenen Baronin. In ihren Armen genoß ich himmlische Freuden, und diese sind nun die Ursache der Höllenqualen, die ich erdulde. Sie war von der Krankheit angesteckt und ist vielleicht schon daran gestorben. Paquette erhielt dies Geschenk von einem gelehrten Franziskaner, der sich die Mühe machte, es bis an seine Quelle zurückzuverfolgen, denn er hatte es von einer ältlichen Gräfin, die es von einem Kavalleriehauptmann aufschnappte, der es von einer Marquise erlangte, die es von einem Pagen bekam, der es von einem Jesuiten erhielt, der es als Novize noch direkt von einem Gefährten des Columbus erworben hatte."18

Der Autor dieser frei erfundenen ,seltsamen Genealogie' ist, wie Sie sicher bemerkt haben, kein Geringerer als Voltaire, der auch hier in seinem Candide wieder eine antiklerikale Bosheit anbringt. Die satirische Spitze sollte uns aber nicht von der zugrundeliegenden Wahrheit ablenken, die damals jedem gebildeten Leser bekannt war: Die Syphilis kümmert sich nicht um sexuelle Ideologien. Deshalb läßt Voltaire sie hier auch absichtlich als homosexuelle Infektion beginnen, die erst von einem bisexuellen Pagen in ihre heterosexuelle Kontaktbahn gebracht wird. Daß sie dann dort nicht in einer Sackgasse endet, liegt am heterosexuellen Partnerwechsel, der - von Mozarts Don Giovanni bis zu Schnitzlers Reigen - wenigstens jedem Oper- und Theaterbesucher bekannt ist.

Aber zurück zu Wissenschaft! Eine HIV-Infektion ist nachweisbar in beide Richtungen möglich - von Mann zu Frau ebenso wie von Frau zu Mann, obwohl dieser letztere Fall in den westlichen Ländern bisher seltener zu sein scheint. Die genaue Erklä-rung dafür steht noch aus; sie könnte schließlich von der Naturwissenschaft kommen. Inzwischen sollten die Sozialwissenschaftler aber schon die bisexuellen Kontakte der Männer ermitteln. Das ist nicht so hoffnungslos, wie es vielleicht aussieht, denn es liegen darüber mehrere ältere Studien vor, die man nur richtig interpretieren muß. Es stimmt zwar, daß man die gewünschten Zahlen nirgends direkt einfach nachschlagen kann, auch nicht in den bekannten ,Kinsey-Reports'; man könnte aber mit etwas Einsatz von Zeit und Geld aus ihnen besser begründete Schätzungen ableiten, als bisher im Umlauf sind. Das wäre besonders wichtig für die jüngsten deutschen und schweizerischen Versuche, ein Computer-Simulationsmodell der AIDS-Epidemie herzustellen, denn es ist und bleibt unverläßlich, solange die dabei angenommenen Kontaktzahlen reine Phantasieprodukte sind19.

Aber auch die Art der sexuellen Kontakte, nicht nur ihre Zahl oder das Geschlecht der Partner, könnte aufschlußreich sein. Was man bisher darüber weiß, ist völlig unzureichend. In den allermeisten Fällen von AIDS, ARC und Seropositivität wird immer noch keine genaue Sexualanamnese aufgenommen. Wenn möglich, sollte aber immer festgestellt werden, ob die Infektion durch Oral-, Vaginal oder Analverkehr erfolgt ist. Auf diese Weise hat man zum Beispiel inzwischen entdeckt, daß der Oralverkehr wohl nur ein geringes Risiko bietet, und nur so lassen sich vernünftige Ratschläge für die Vorbeugung entwickeln. Intensive sexologische Interviews (nicht Fragebogenaktionen!) wären auch sinnvoll unter sexuellen Randgruppen, die gar nicht immer so randständig sind, wie allgemein vermutet, und die oft vielseitige Kontakte zur vermeintlichen Mehrheit haben.

Die Sexualwissenschaft ist aber nur ein Element in einer notwendigen interdisziplinä-ren Anstrengung. Gerade die schon erwähnten Computer-Simulationsmodelle machen AIDS als komplexes Problem begreifbar und verlangen nach ökonomischen, juristischen, soziologischen und demographischen Daten. Bestehende Strukturen des Versicherungs- und Gesundheitswesens bestimmen nämlich weitgehend sowohl die mögliche Therapie als auch die Vorbeugung. Dazu kommen noch verschiedene verwaltungsrechtliche, zivilrechtliche und strafrechtliche Faktoren, die ihrerseits wiederum internationale Implikationen haben, und schließlich vor allem finanzielle Gesichtspunkte. Sie prägen dann alle mit- und gegeneinander die konkrete Gestalt des Problems. Sie zeichnen aber auch die möglichen Lösungen vor. Die einfachste, die gewohnte, 'erprobte' oder billigste Lösung ist dabei nicht unbedingt die beste. Ja, sie ist vielleicht überhaupt keine Lösung und verschlimmert die Lage nur noch! Die Interdependenz aller Kräfte, die Neben- und Spätfolgen gewisser Maßnahmen, die oft überraschenden Rückkoppelungseffekte, erfordern daher eine vielschichtige Beobachtungsweise, ein mehrdimensionales Modell, daß Initiativen und Korrekturen auf verschiedenen Ebenen erlaubt. Kurz, AIDS ist ein zu großes und ernstes Problem, als daß man es den Ärzten überlassen dürfte. Richtig verstanden, muß die AIDS-Forschung also die Psychologie, Pädagogik, Ökonomie, Jurisprudenz und noch viele andere Sozialwissenschaften einschließen.

Therapie

Aber nicht nur die AIDS-Forschung, sondern auch die Therapie braucht sozialwissenschaftliche Hilfe. Die Diagnose und Behandlung von AIDS-Kranken findet ja nicht im luftleeren Räume statt, sondern ist in einen sozialen Kontext eingebettet, der sie bis in entscheidende Einzelheiten bestimmt. Eine optimale Therapie ist deshalb nur zu erreichen, wenn man diesen Kontext versteht und beeinflußen kann. Reden wir gar nicht erst von der Individualpsychologie der Ärzte, Pfleger, Patienten und ihrer Familien, deren Interaktion positiv oder negativ auf die Behandlung einwirkt - schon hier liegt offensichtlich ein großes Forschungsgebiet. Wenden wir uns stattdessen gleich den allgemein sozialen Aspekten zu:

In Houston, Texas, zum Beispiel, wurde neulich ein privates, besonderes Krankenhaus nur für AIDS-Patienten eröffnet. Es könnte das erste von vielen sein, denn hier winkt ein gutes Geschäft. Profitorientierte Krankenhäuser gibt es in den USA schon seit einigen Jahren, etwa für kosmetische oder Herzchirurgie, und als Aktiengesellschaften werfen sie hohe Dividende aus. Die meisten AIDS-Patienten sind jung und privatversichert, und ihre Zahl wird sich vermutlich allein in den nächsten fünf Jahren verzehnfachen - kurz, sie stellen einen neuen, schnell wachsenden Markt dar. Andererseits aber schieben viele traditionelle Gemeindekrankenhäuser sie gerne ab, weil sie sonst fürchten, ängstliche andere Patienten oder Personal zu verlieren. Damit spricht viel für den Erfolg der AIDS-Spezialkliniken.

Kritiker weisen allerdings darauf hin, daß dort wahrscheinlich die notwendige seelische und soziale Betreuung fehlen wird. Außerdem macht schon die geographische Lage solcher Kliniken, die dann vielleicht ein riesiges Einzugsgebiet haben, den Zugang für Familien und Freunde der Kranken schwierig. Überhaupt erinnert deren Konzentration und Isolation an mittelalterliche Leprosarien. Sie machen die Patienten - gewollt oder ungewollt - zu sozialen Aussätzigen 20.

Hier wird aber ein prinzipielles Dilemma sichtbar, denn schon die Einrichtung einer besonderen AIDS-Station im traditionellen Krankenhaus kann einen Stigmatisierungseffekt haben, auch wenn sie im übrigen eine besonders gute Therapie anbietet. Die Vermeidung oder wenigstens Abmilderung dieses Dilemmas erfordert eine frühzeitige Diskussion zwischen Medizinern, Finanzexperten, Verwaltungsfachleuten, Soziologen, Psychologen und vielen anderen, wie denn AIDS überhaupt dazu zwingt, erneut über eine Umstrukturierung des gesamten Gesundheitswesens nachzudenken.

Hierbei steht wohl zu Recht die Kostenfrage obenan. Die enormen Behandlungskosten für AIDS-Patienten repräsentieren nicht unbedingt die beste Behandlung. Oft wäre zum Beispiel ein kürzerer Krankenhausaufenthalt angezeigt, aber das läßt sich nur erreichen, wenn entsprechende häusliche Pflegeprogramme aufgebaut werden. Dies wiederum erfordert neue Ausbildungsprogramme und verschiedene sozialwissenschaftlich informierte politische Entscheidungen. Vor allem müssen die Versicherungsträger umdenken lernen, wenn sie den Kranken wirklich helfen und am Ende selber Geld sparen wollen.

Teil des Gesundheitswesens ist auch die Prüfung und Kontrolle von Medikamenten. Die äußerst gewissenhafte U. S. Food and Drug Administration (FDA), der diese Aufgabe zukommt, braucht viel Zeit für ihre Entscheidungen, und so sind gewisse Medikamente für amerikanische Patienten schwer erhältlich, die in anderen Ländern sogar ohne Rezept zu kaufen sind. Die Lage wurde im Sommer 1985 für die Öffentlichkeit sehr dramatisch illustriert, als der Schauspieler Rock Hudson für eine bestimmte Behandlung nach Paris fliegen mußte. Inzwischen haben sich hier spontan größere Privatinitiativen entwickelt. So gibt es etwa zur Zeit ein förmliches Schmugglernetz für Isoprinosin (stärkt die Immunität) und Ribavirin (hemmt die Virenreplikation), die massenweise aus Mexiko eingeschleust werden. Sie helfen manchen AIDS-Patienten etwas, haben aber oft auch schwere Nebeneffekte, so daß ihr unkontrollierter Gebrauch bedenklich ist. Die verzweifelten Patienten wollen aber die Ergebnisse der Kontrollstudien nicht abwarten. So entsteht unvermeidlich ein schwarzer Markt.

Aber auch wenn die Behörde schnell reagiert, wie bei der neuen Droge Azidothymidin (AZT), bleiben ernsthafte Probleme. Die Langzeitwirkungen sind kaum bekannt, und günstige Sofortwirkungen haben sich erst bei einigen bestimmten Patienten eingestellt. Kontrollstudien sind aber nun sehr schwer durchzuführen, weil dabei niemand Plazebos verabreichen oder einnehmen will. Alle wollen sofort das wirkliche Medikament. Sie wollen auch keine anderen neuen Medikamente ausprobieren, wenn AZT vielleicht schon heute die bessere Hoffnung bietet. Kurz, schon der einfachste Behandlungstest an Patienten ist ein komplexes Problem mit medizinischen moralischen, berufsethischen und juristischen Aspekten. Auch hier ist eine sozialwissenschaftliche Zusammenarbeit gefordert.

Vorbeugung

All dies ist aber noch harmlos und simpel im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die bei der Entwicklung einer Schutzimpfung entstehen. Allein schon die Haftungskosten bei einem ,Impfunfall' könnten in den USA so hoch sein, daß sich die Herstellung des Impfstoffs nicht lohnt. Das war jedenfalls die Meinung eines vielbeachteten juristischen Artikels, der im Mai dieses Jahres erschien und seither oft nachgedruckt wurde. Der Autor erwähnte unter anderem den Fall eines Poliokranken, der 1984 den Impfstoffhersteller erfolgreich auf Zahlung von 10 Millionen Dollar verklagte. Er erinnerte auch daran, daß die Firma Wyeth seither keinen Impfstoff mehr gegen Keuchhusten liefert. Die Versicherungs- und Prozeßkosten sind einfach zu hoch 21.

In Kalifornien wurde versucht, die Haftung für einen AIDS-Impfstoff auf legislativem Wege zu beschränken. Außerdem sollte die Regierung durch Mindestaufkäufe den Markt garantieren und sich an den Testkosten beteiligen. Das entsprechende Gesetz machte zuerst auch gute Fortschritte im Parlament, wurde dann aber endlich doch abgelehnt, "weil es den Staat in Schadensersatzprozesse von Millionenhöhe verwickeln könnte". 22     

Aber selbst von diesen juristischen und finanziellen Fragen abgesehen, bleibt die Entwicklung eines Impfstoffs problematisch. Er muß ja früher oder später an Menschen getestet werden, und dazu ist es erforderlich, daß man zwei infektionsgefährdete Populationen vergleicht, von denen nur eine geimpft wird. Wer will aber verantworten, daß die andere der Gefahr ausgesetzt bleibt? Und soll man wirklich beiden Gruppen empfehlen, absichtlich ein Risiko zu laufen, nur damit man meßbare Resultate erhält? Tierversuche, selbst an Schimpansen, reichen nicht aus, um die nötige Sicherheit zu erlangen. Andererseits würden aber Erfolge bei Schimpansen einen öffentlichen Druck erzeugen, der zur illegalen Produktion und Anwendung von ungetesteten, gefährlichen Impfstoffen führen könnte.

Man sieht also, daß, ganz abgesehen von allen anderen Schwierigkeiten, auch schon die Testung eines Impfstoffs komplizierte sozialwissenschaftliche Fragen aufwirft. Die unvermeidlichen, berechtigten Skrupel werden nicht leicht auszuräumen sein. Nur die bereits erwähnte, profitorientierte AIDS-Klinik in Houston hat erklärt, daß sie schon heute zu Testversuchen an Menschen bereit sei23.

Nach Meinung aller Experten ist eine Schutzimpfung aber keineswegs in unmittelbarer Aussicht. Daher muß die Vorbeugung noch auf Jahre hinaus andere Wege beschreiten. Sie lassen sich knapp in dem Schlagwort "Safer Sex" zusammenfassen, d. h. in der allgemeinen Propagierung von Sexualpraktiken, die gar kein oder nur ein geringes Infektionsrisiko bieten. Das Prinzip ist dabei relativ einfach und unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der Vorbeugung gegen andere Geschlechtskrankheiten. Das Problem liegt allein in der Anwendung dieses Prinzips, denn sie ist durch die Heilbarkeit der anderen Krankheiten weithin aus der Mode gekommen. Selbst als die Anwendung noch stillschweigend verbreitet war, etwa zu Anfang unseres Jahrhunderts, wurde sie teilweise von der Gesellschaft aus Prüderie offiziell behindert. Es war, ist und bleibt für die öffentlichen Autoritäten immer mißlich, wenn sie einerseits helfen sollen, ein Verhalten risikofrei zu machen, das sie andererseits verurteilen und überhaupt unterbinden möchten. Solange also etwa homosexuelles Verhalten und Prostitution unter Strafe standen, war kaum zu erwarten, daß eine Behörde detaillierte Anweisungen zur ungefährlichen Ausführung dieser Straftaten gab.

Diese Situation ist aber heute noch in vielen Bundesstaaten der USA gegeben, und so bleiben ihre Versuche der AIDS-Prophylaxe halbherzig und widersprüchlich. Die Widersprüche zeigen sich selbst auf Bundesebene, denn das Center for Disease Control (CDC) in Atlanta verteilt Vorbeugungsgelder nur unter der Bedingung, daß die damit bezahlten Materialien und Programme für den Durchschnittsbürger akzeptabel bleiben und nicht etwa ,sexuell überdeutlich' oder pornographisch' werden. Eine wirksame Vorbeugung ist so, gerade unter den heute zuerst gefährdeten Gruppen, gar nicht möglich. Die offiziellen Richtlinien werden zum grausamen Scherz.

In Europa ist man in diesen Dingen zwar meist liberaler, grundsätzlich besteht der gleiche Widerspruch aber auch hier. Letzten Endes kann keine Regierung ihren Bürgern genaue Anweisungen für ihr Sexualverhalten geben. Das wäre ja auch gar nicht wünschenswert. Niemand will einen ,großen Bruder' im Schlafzimmer haben. Die Lösung besteht darin, daß eine weitgehend unabhängige, gemischt öffentlich-privat finanzierte, professionell geführte AIDS-Stiftung geschaffen wird, am besten auf europäischer Ebene wie auch vom Europaparlament vorgeschlagen 24. Diese Stiftung sollte sich vornehmlich der Vorbeugung widmen und dabei eine Mittlerrolle zwischen Behörden und Bürgern spielen. Sie kann auch bei der Ausbildung der nun benötigten Berater und Betreuer helfen und die bestehenden Selbsthilfegruppen integrieren und stützen. Vor allem aber kann sie diese Gruppen von amtlicher Gängelei freihalten und sie vor einem gelegentlichen politischen Wetterwechsel abschirmen. Es versteht sich von selbst, daß auch eine solche Stiftung eine solide, interdisziplinäre, sozialwissenschaftliche Basis braucht.

Ein Test als Testfall

Bei der AIDS-Vorsorge insgesamt liegt der entscheidende Testfall für die Sozialwissenschaften aber in dem inzwischen entwickelten HIV-Antikörpertest. Der damit mögliche indirekte Nachweis einer Infektion ist ein erster, großer Sieg der Medizin. Leider könnte er bei unkritischer Anwendung aber auch katastrophale soziale Folgen haben. Solche Folgen vorauszusehen, alle denkbaren Entwicklungen konsequent durchzuprobieren und die Katastrophe zu verhindern, ist eine der wichtigsten wissenschaftlichen Aufgaben unserer Zeit.

Medizinischer Nutzen und sozialer Mißbrauch von Testprogrammen

Daß man einen angeblich rein wissenschaftlichen Test politisch mißbrauchen kann, ist in den USA durchaus bekannt. Viele erinnern sich etwa an den jahrzehntelangen, rassistischen Mißbrauch des Intelligenztests bei der Einwanderung, Schul- und Berufsauslese25. Dennoch besteht eine weitverbreitete Naivität in Bezug auf den HIV-Antikörpertest, dessen politische Implikationen man einfach nicht sieht. Da wird von allen möglichen Autoritäten immer wieder eine Massentestung empfohlen oder sogar gefordert, und nur wenige machen sich Gedanken darüber, was wirklich dabei herauskommen könnte. Die Zeit für ruhiges Überlegen wird aber allmählich aus zwei Gründen knapp:

 1. Für die nahe Zukunft sind Verbesserungen und Verfeinerungen des Tests angekündigt, und

 2. unterdessen werden immer neue Testprogramme für immer neue Zielgruppen stillschweigend eingeführt. So werden nach und nach vollendete Tatsachen geschaffen.

Schon allein in Kalifornien arbeiten zwei Firmen an neuen Tests. Der eine weist schnell und billig das Virus selber nach, und der andere soll sogar vorhersagen können, ob die Infektion zu AIDS führt 26. Wenn diese Tests auf dem Markt erscheinen, so werden sie die bestehende Tendenz zur amtlichen Erfassung von ,Virusträgern' erheblich verstärken. Auch Arbeitgeber und Versicherungen werden zusätzliche Argumente für ihre Absicht finden, alle Infizierten auszusortieren'. Heutige Gesetze, die das verbieten, beziehen sich auf den Antikörpertest und müßten umgeschrieben werden. Ob das dann aber gelingt, ist eine andere Frage, denn die Diskussion wird sich auf eine völlig andere Ebene verschieben. Die Feststellung von HIV-Antikörpern im Blut allein läßt keine eindeutigen Voraussagen zu; die neuen Verfahren könnten aber zum ersten Mal zu einem wirklichen ,AIDS-Test' führen. Damit würde für viele die heutige schlimme Ungewißheit durch eine noch schlimmere Gewißheit ersetzt. Und diese kann wiederum eine Diskriminierung und Ausgrenzung erleichtern.

Mittlerweile ist die Massentestung bei den amerikanischen Streitkräften längst Routine. Zunächst wurden alle Rekruten getestet, und nun testet man auch die über 2 Millionen bereits dienenden Soldaten. Auch den über 3 Millionen Familienangehörigen wird der Test angeboten. Dazu könnten bald noch über 1 Million Reservisten und etwa 1 Million Zivilangestellte kommen - alle zusammen über 7 Millionen Menschen. Viele davon leben in Übersee, auch in der Bundesrepublik. Als weitere Zielgruppen sind Einwanderer und Besucher der USA im Gespräch, sowie Teilnehmer des Job Corps -Programms (jährlich etwa 100000) und das Personal des Auswärtigen Amtes. Erwähnt wurden schon Heiratswillige und geschiedene Väter, die ihre Kinder versorgen oder besuchen wollen. Auch Prostituierte sind teilweise schon in Gruppen getestet worden. Einige Sexualtherapeuten haben sogar gefordert, daß jeder Mann und jede Frau von ihren Partnerinnen und Partnern ein negatives Testresultat verlangen soll 27. Tatsächlich gab es denn auch eine Firma in Los Angeles, die entsprechende Ausweise verkaufte. Dieser gefährliche Unsinn hörte erst nach heftigen Presseangriffen auf28. Der größte Druck kommt allerdings von den Lebens- und Krankenversicherungen, die nur durch besondere Gesetze davon abzuhalten sind, den Test von allen ihren Kunden zu verlangen. Sie wissen sich aber zu helfen und senken ihr eigenes Risiko einfach dadurch, daß sie etwa ledige Männer in bestimmten Berufen, in bestimmten Städten oder Wohngegenden nicht versichern. Hier liegt potentiell ein teures Sozialproblem, besonders, da auch viele Arbeitgeber bestehende Testverbote mit ähnlichen Manövern umgehen. Diese Manöver sind aber in Zukunft vielleicht gar nicht mehr nötig, denn bei der augenblicklichen amerikanischen Drogenhysterie wird eine Zwangstestung auf Drogengebrauch nun weithin akzeptiert. Ist diese erst einmal selbstverständlich geworden, dann wird ja wohl auch ein HIV-Antikörpertest nicht mehr verweigert werden können.

Einige amerikanische Bundesstaaten (Colorado, Idaho, Minnesota, Süd-Carolina, Wisconsin) führen auch bereits Listen von ,Testpositiven', um, wie es heißt, "deren Sexualkontakte aufzuspüren, zu testen und zu beraten." Diese Maßnahme ist aus vielerlei Gründen fragwürdig, vor allem aber auch deshalb, weil sie immer nur eine kleine Zufallsauswahl von Adressen liefern kann, während die meisten Infizierten unbekannt und ungenannt bleiben. Dies Mißverhältnis ließe sich nur durch eine lückenlose allgemeine Zwangstestung korrigieren. Aber selbst wenn man auch diese noch organisieren und bezahlen könnte, so hätte man doch am Ende nur ein unbrauchbares Resultat zu erwarten: Hunderttausende, vielleicht Millionen von Namen, mit denen man dann überhaupt nichts anfangen kann. Man kann all diese Leute ja weder lebenslang einsperren noch überwachen. Man kann sie höchstens durch Verweigerung eines Passes an Auslandsreisen hindern.

Angesichts dieser Tatsache haben nun einige sonst ernsthafte Denker eine 'Art Davidstern' für die Betroffenen vorgeschlagen oder eine Tätowierung - bei ,Fixern' auf dem Oberarm, bei Homosexuellen auf dem Gesäß 29. Ersparen wir uns einen Kommentar zur moralischen Qualität dieser absurden Vorschläge und stellen wir nur fest, daß sie ebenfalls praktisch undurchführbar sind!

Alle solche Überlegungen sind umso grotesker, als noch nicht einmal eine ausreichende Beratung und seelische Betreuung der ,Testpositiven' sichergestellt ist. Offensichtlich scheut man die Kosten dafür und gesteht sich nicht ein, daß die verschiedenen Zwangsmaßnahmen auf jeden Fall sehr viel teurer sind. Ebenso unehrlich sind die Behauptungen mancher Gesundheitsbehörden, sie seien zu ,drastischen Schritten' gezwungen, weil die freiwillige Vorbeugung nicht funktioniere. Die Vorbeugung ist ja bisher so unterfinanziert, daß sie kaum wirksam werden kann. Wenn sie dennoch hier und da Erfolge erringt, so beweist das besonders klar eine Nützlichkeit, die erheblich mehr amtliche Unterstützung verdient.     

Zuletzt noch ein Wort zu den Testkosten selbst: Wie der Prioritätenprozeß zwischen Luc Montagnier und Robert Gallo bewies, geht es schon beim Patentrecht für den bisherigen Test um Millionenbeträge 30. Es ist also keine Frage, daß ein universales Testprogramm - oder auch nur eine Ausdehnung der heutigen Programme - ein großes Geschäft bedeuten würde. Es ist auch nicht schwer zu begreifen, daß hierbei das Profitstreben ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen obsiegen wird, wenn man ihm nicht überzeugende Argumente entgegenstellt. Diese Argumente können nur von verschiedenen Sozialwissenschaften kommen - von der Psychologie bis zur Ökonomie und Politologie.

Man kann aber auch vom Standpunkt der medizinischen Ethik aus argumentieren: Es ist inhuman, Tausende und vielleicht Millionen zum Test zu zwingen, solange es keine erfolgreiche Behandlung gibt und im alltäglichen Umgang keine Infektionsgefahr besteht. Andererseits ist es nicht möglich, den Zwang allein bei besonderen ,Risikogruppen' wie Homosexuellen und ,Fixern' anzuwenden, weil nur diese selbst sich freiwillig als solche erkennbar machen können. Das wiederum werden sie aber nur tun, wenn ihnen daraus keine Nachteile entstehen. Wer will ihnen das garantieren?

Ein gefährliches Volksbegehren

Manche Gesundheitspolitiker halten die Angst sexueller Minderheiten vor dem Staat für übertrieben. Wer sich aber die Mühe macht, die Geschichte sexueller Verfolgungen zu studieren, kann kaum darüber verwundert sein, und die bösen Beispiele liegen nicht alle in ferner Vergangenheit. So wurde etwa vor einem Jahr in San Francisco's Homosexuellenvierteln eine scheinbar offizielle Aufforderung zum Test verteilt. Alle Personen mit positivem Testresultat sollten sich danach auf eine Quarantäne an einem entlegenen Ort' vorbereiten. Unser unschuldiges Gesundheitsamt hatte erhebliche Mühe, das Ganze als einen ,üblen Scherz' unbekannter Fanatiker zu dementieren 31.

Der Vorschlag einer ,Quarantäne' für AIDS-Kranke war aber durchaus nicht neu. Gewisse religiöse Extremisten, die ohnehin jede sexuelle Toleranz bekämpfen, hatten schon früh eine Zwangsisolierung und andere drastische Maßnahmen gefordert. Diese Forderungen wurden denn auch sehr schnell von einigen Politikern aufgegriffen 32. Außerdem ergab im Dezember vorigen Jahres eine Umfrage der Los Angeles Times, daß über die Hälfte der Bevölkerung eine 'Quarantäne' unterstützt hätte. 48 Prozent wären immerhin mit besonderen Ausweisen für ,Testpositive' einverstanden gewesen, und 15 Prozent sprachen sich sogar für die Tätowierung von Patienten aus 33. In Texas war man schon drauf und dran, ,unbelehrbare' Kranke einzusperren und wurde nur durch energische Proteste der Homosexuellen im letzten Moment davon abgehalten 34. Dennoch tauchte die ,Quarantäne'-Idee immer wieder auf, auch in seriösen Zeitschriften 35. Ironischerweise entschied unterdessen ein Bundesgerichtshof, daß über 100000 Bürger japanischer Abstammung, die während des Zweiten Weltkriegs zwangsinterniert waren, ihre Regierung nun auf 25 Milliarden Dollar Schadenersatz verklagen können 36.

Diese zeitgemäße, handfeste Warnung hielt aber viele Kalifornier nicht davon ab, ein Volksbegehren zu allgemeinen Zwangstestung und möglichen Zwangsisolierung von ,Testpositiven' zu beantragen. Mit über 600000 Unterschriften wurde es auf den Wahlzettel gesetzt und erst vor drei Tagen (am 4. November 1986) von den kalifornischen Wählern insgesamt zurückgewiesen. Das Bedenklichste an der ganzen Affäre war, ist und bleibt aber die Tatsache, daß sie klare demagogische Ziele hatte, und diese sind keineswegs verschwunden. Die Fälle von AIDS werden auch in den nächsten Jahren auf jeden Fall sehr stark weiter zunehmen, und dies schafft Gelegenheiten für Demagogen jeder Couleur. In Kalifornien war der wirkliche Drahtzieher hinter dem Volksbegehren ein notorischer politischer Wirrkopf, Lyndon LaRouche, dessen Anhänger auch in der Bundesrepublik aktiv sind, bisher meist als Befürworter der Kernernergie. LaRouche ist durch die Ablehnung seines Volksbegehrens keineswegs entmutigt. Im Gegenteil, er zählt auf eine weitere Ausbreitung der Epidemie und wachsende Angst in der Bevölkerung und will dann alle diejenigen angreifen, die gegen ihn aufgetreten sind. AIDS bleibt also für ihn und viele andere ein Thema, aus dem sich politisches Kapital schlagen läßt.        

Bezeichnend für die möglichen Strategien sind etwa die Äußerungen dreier Mediziner, die Zwangsmaßnahmen unterstützen. Der erste, ein Pathologe und enger Berater LaRouches, sucht die Schuld für die Epidemie in hohen Zinssätzen und Sparmaßnahmen der Regierung. Wachsende Armut verschlechtere die allgemeine Gesundheitslage und mache die USA für eine sowjetische Eroberung reif. Der zweite, ein praktischer Arzt in Dallas, Texas, macht die "Unzucht und Perversion" der Homosexuellen verantwortlich. Er fordert die Wiederherstellung von "Disziplin" und die Einsperrung aller bisher Infizierten. Der dritte, ein Chirurg an der Harvard Universität, sieht die wahren Schurken in seinen ärztlichen Kollegen, die seit Jahren durch Empfängnisverhütung, Abtreibung und Antibiotika eine allgemeine Promiskuität gefördert hätten. Auch er verlangt eine allgemeine Zwangstestung und die Isolierung von Virusträgern.

Wie man sieht, laufen in der AIDS-Hysterie sehr verschiedene Stränge zusammen -sexueller Neid, Prüderie, moralischer Rigorismus, bizarre politische Verschwörungs-- und Verfolgungsängste und totalitäre Machtphantasien. Diese unappetitliche, explosive Mischung von Emotionen läßt sich nur durch eine breitangelegte, geduldige, nie erlahmende, vorsorgliche Aufklärung neutralisieren. Das hat nun endlich auch der amerikanische Surgeon General eingesehen, der in seinem Bericht an den Präsidenten einen expliziten Sexualkundeunterricht schon für Volksschulen fordert. Darin sollen sowohl heterosexuelle wie homosexuelle Verhalten erklärt und Verhütungsmaßnahmen beschrieben werden. Gleichzeitig lehnt dieser äußerst konservative höchste Gesundheitsbeamte der USA die Zwangstestung und Isolierung ab und wendet sich ausdrücklich gegen jede Art von Diskriminierung. Damit ist jetzt nach langem Zögern auch von Regierungsseite das nötige klare Wort gesprochen. Ob es noch früh genug kommt, und ob es gehört wird, muß die Zukunft zeigen 37.

Die ersten Schritte zur Vorsorge

Im August dieses Jahres glaubte noch fast die Hälfte der Kalifornier, AIDS könne im alltäglichen Umgang leicht übertragen werden. Umfragen in New York und London enthüllten noch größere Unwissenheit 38. Diese Unwissenheit ist paradoxerweise sowohl Ursache wie Resultat mangelnder Aufklärung. Wer selber nicht richtig informiert ist, hält auch die Information der anderen leicht für überflüssig. Er begreift weder, warum sie überhaupt nötig ist, noch, warum sie nicht warten kann. Wo aber die allgemeine Information fehlt, da machen sich unnötige Ängste breit, die gefährliche amtliche Maßnahmen erzwingen können.

Da führen etwa Regierungen eine Meldepflicht für AIDS-Kranke oder ,Testpositive' ein, ohne zu bedenken, daß sie sich damit auf eine sehr abschüssige Bahn begeben, die am Ende zu unlösbaren Sozialproblemen führt. Daran ändern auch kosmetische Mätzchen nichts, wie die Beschränkung auf Initialen und Geburtsdatum der Gemeldeten. Im Gegenteil, solche Mätzchen signalisieren einen rein politischen Kompromiß und verstärken den Eindruck, daß das ganze Programm wenig durchdacht ist.

Noch schlimmer ist es, wenn einzelne städtische Gesundheitsämter im Alleingang mithilfe von Razzien im ,Schwulen'- und Prostituiertenmilieu Menschen zur Zwangstestung einfangen. Damit kündigt man einseitig die Kooperation mit den besonders gefährdeten Gruppen auf, denen nun nichts weiter übrig bleibt, als ihre Mitglieder vor den Behörden zu warnen. Hier kann ein einziger törichter Beamter an einem Tag mehr zerstören als hundert andere in Monaten aufgebaut haben.

Das Bedenklichste an solchen Episoden ist aber dies: Sie beweisen, daß die bestehenden Vorbeugungsprogramme schlecht oder gar nicht aufeinander abgestimmt sind. Wenn immer eine Behörde plötzlich ,drastische Schritte' unternimmt und die überraschten örtlichen Selbsthilfegruppen ein paar Tage später mit Protesten hinterherhinken müssen, dann ist offensichtlich etwas Entscheidendes schiefgelaufen. Auf jeden Fall hat die Vorbeugung gegen AIDS einen schweren Rückschlag erlitten. Sie steht und fällt nämlich mit der freiwilligen Zusammenarbeit aller Interessierten, und sie braucht eine fest institutionalisierte, ständige Kommunikation. Vor allem aber braucht sie eine bewußte Vorausplanung; wer dazu nicht bereit ist, dem ist es einfach nicht ernst mit dem Kampf gegen AIDS.

Das alles ist eigentlich nicht schwer zu begreifen, und doch setzt sich die Einsicht nur langsam durch. In den Vereinigten Staaten wurden erst vor einem Jahr entsprechende Initiativen gefordert. Zunächst faßte die Bundesregierung bestehende Programme unter der Leitung des Surgeon General zusammen. Sein inzwischen vorgelegter, bereits erwähnter Bericht bestätigt die Klugheit dieser Entscheidung 38a. Im Frühjahr wurden aber noch weitere Stimmen laut, die eine besondere Nationale Kommission zum Studium des Problems verlangten. Dieser Vorschlag wurde bald auch von prominenten Politikern beider Parteien und hohen Gesundheitsbeamten unterstützt. Die Mitglieder einer solchen Kommission sollten vornehmlich drei Gruppen repräsentieren: Behörden, Privatwirtschaft und Freiwilligenorganisationen. Sie sollten gemeinsam herausfinden, wie sie ihre verschiedenen Beiträge koordinieren können 39. Im kleineren Maßstab wird ähnliches auch für die einzelnen Bundesstaaten gefordert 40.

Kurz, die Verantwortlichen beginnen einzusehen, daß das bisherige System eingefahrener Bahnen und sporadischer, isolierter Neuansätze nicht ausreicht. Vielmehr muß ein neues System der umfassenden Planung auf nationaler, besser noch internationaler Ebene errichtet werden. Zumindest ist in jedem einzelnen Land eine besondere Kommission, ein Wissenschaftskolleg oder -Zentrum nötig, ein ,think tank', der alle möglichen und wahrscheinlichen Szenarien im vorhinein durchspielt. Es wird sich dabei aber nicht so sehr um eine medizinische als um eine allgemein sozialwissenschaftliche Aufgabe handeln. Die rein medizinische AIDS-Forschung ist bereits international sehr gut koordiniert; die sexualwissenschaftlichen, soziologischen, juristischen und ökonomischen Fragen sind aber zum allergrößten Teil unbeantwortet oder noch nicht einmal gestellt.

Die Deutsche Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung, der ich selbst als Präsident vorstehe, hat schon vor über einem Jahr diese neue wissenschaftliche Kooperation gefordert 41. Es ist aber inzwischen deutlich geworden - besonders hier in Berlin -, daß die traditionellen Universitäten für diese Aufgabe zu schwerfällig sind. Die Lösung muß also wohl von anderer Seite kommen.

In einem Punkt bin ich mir aber sicher: Hätte man hier Hirschfelds Institut wieder aufgebaut, so wäre es wie von selbst in die doppelte Rolle einer AIDS-Aufklärungsorganisation und -Studienkommission hineingewachsen und hätte so auch wieder seine international führende Stellung zurückgewonnen. Die deutsche Sexualwissenschaft vor Hitler zeichnete sich nicht nur durch internationale und interdisziplinäre Kongresse aus, sondern besaß auch eine Zeitschrift, in der Vertreter aller Fachrichtungen und Weltanschauungen zu Worte kamen. Sie wäre fast automatisch zum Fokus der wissenschaftlichen Diskussion geworden.

Hinzu kam, daß Hirschfeld wie kein anderer den Kontakt zu allen sexuellen Minderheiten pflegte, unter denen er sich völlig natürlich bewegen konnte wie ein Fisch im Wasser. Umgekehrt war auch sein Institut ein Sammelplatz für alle möglichen unbürgerlichen Gestalten - ein Umstand, der ihm den Ruf der wissenschaftlichen ,Unseriosität' eintrug. Wie wir heute aber bewundernd und bedauernd feststellen müssen, hatte Hirschfeld mit seinem Vorgehen recht und seine Kritiker Unrecht. Er wußte wirklich wovon er redete, wenn er von sexuellen Leiden sprach und seine Hoffnung auf die Wissenschaft setzte. Persönliche Angriffe konnten ihn daher nicht beirren. Ja, er pflegte seinen Schülern zu sagen: "Kämpft auch für die, gegen die Ihr kämpft!" - ein Satz, den sich auch jeder Kämpfer in der AIDS-Vorbeugung merken sollte.

Wir sollten nicht, wie die Jünger LaRouches, annehmen, daß die Gegner einer sofortigen, umfassenden Vorbeugung konspirative Finsterlinge und Bösewichter sind. Wenn Gesundheitsbürokraten voreilig und unüberlegt nach letztlich sinnlosen Zwangsmaßnahmen rufen, so liegt darin auch ein Versagen der Wissenschaft, die ihnen nicht klar bewiesen hat, warum so etwas nicht funktionieren kann. Dieser Beweis muß sobald wie möglich überall auf der Welt angetreten werden. Und er kann angetreten werden, wenn man sich nur die Mühe macht, die sozialpolitischen Konsequenzen des Zwanges nach allen Richtungen zu durchdenken.               

Wohlgemerkt, auch wissenschaftliche Beweise sind keine Garantie, daß der immer mögliche ,Vormarsch der Torheit' tatsächlich aufgehalten wird. Die ,Wahrheit' führt nicht zwangsläufig zur ,Gerechtigkeit'. Wie die Historikerin Barbara Tuchman uns an Beispielen vom Trojanischen Krieg bis in unsere Tage gezeigt hat, sind Regierungen und Institutionen sehr wohl in der Lage, bis zum bitteren Ende gegen ihre eigenen Interessen zu handeln 42.

Wenn aber überhaupt keine Beweise vorliegen, keine Zweifel geäußert, keine Fragen gestellt und keine Argumente geliefert werden, kurz, wenn die Sozialwissenschaften hier versagen, dann ist die endliche Flucht in die Panik fast unausweichlich. Wenigstens den Versuch einer rationalen Einflußnahme sind wir als Wissenschaftler uns selbst und unserer Gesellschaft schuldig.

Anmerkungen

(Um den öffentlichen und dringlichen Charakter der diskutierten Probleme zu demonstrieren, werden hier vornehmlich Pressemeldungen zitiert.)

1. Magnus Hirschfeld, "Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage" Begrüßungsansprache in Weil, A. (Hg.), Sexualreform und Sexualwissenschaft - Vorträge gehalten auf der I. Internationalen Tagung für Sexualreform auf Sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin, Stuttgart 1922, S.5-6.

2. "Nation's blood supply is safe, but ...", San Francisco Examiner, 10. Juli 1986; "Screened blood donor transmits AIDS virus", San Francisco Chronicle, 20. Juni 1986; "AIDS fear raises interest in the commercial blood banks", S.F.Examiner, 15.Mai 1986; "Blood bank to store the donor's own", S.F. Chronicle, 15. Mai 1986; "Fear of AIDS spurs rise of companies that freeze and store donors' own blood", The New York Times, 17. August 1986; "Reagan backs personal blood banks", S.F.Chronicle, 24.Juni 1986; "AIDS experts criticize Reagan's idea on blood", S.F.Chronicle, 25.Juni 1986; "Irwin blood bank sued - baby's AIDS death", S.F.Chronicle, 5.September 1986; "Another AIDS victim sues blood bank over transfusion", S.F.Chronicle, 19.Sept. 1986.

3. "N. Y. may legalize sales of needles in AIDS fight", S.F.Examiner, 4.Sept. 1985; "Choosing between two killers" (Leitartikel, fordert die Freigabe von Nadeln), The New York Times, 15. Sept. 1985; "Spreading of AIDS by addicts cited", The New York Times, 1. Dez. 1985, "New Fear on Drugs and AIDS", The New York Times, 6. April 1986; "AIDS soars among Bay Area drug users", S.F.Chronicle, 22.Juli 1986; "S.F. may fight AIDS by supplying Addicts' needles", S.F.Chronicle, 25.Juli 1986; "How needles spur spread of AIDS here - incidence doubles in 6 months among intravenous drug users", S.F.Examiner, 11. Aug. 1986; "Needle drug users an AIDS powder keg", S.F. Chronicle, 25. Aug. 1986.

4. "Homosexuals stepping up AIDS education", The New York Times, 22.Sept. 1985; "Half of study's gay men carry antibody to AIDS", S.F.Examiner, 16.Januar 1986; "L.A. men change habits to avoid AIDS, poll says", S.F.Examiner, 21.März 1986; "Safe sex in an unsafe world" by John Lorenzini, a person with AIDS, TAOS Newsletter, vol.4, No.l, 1986.

5. "AIDS test Stands between gay dad and his kids", S. F.Examiner, 11.Mai 1986; "Father has to wait on AIDS test appeal", S.F.Examiner, 29.Mai 1986; "Ex-wife drops demand dad take AIDS test", S.F.Examiner, 25.Sept. 1986; "Gay dad needn't take AIDS test, judge rules", S.F.Examiner, 12.Juni 1986; "Homosexual fathers found to face AIDS issue on visits", The New York Times, 5. Oktober 1986.

6. "AMA considers call for wedding AIDS test", S.F. Examiner, 9. Dez. 1985; "AMA's stands on AIDS tests, tobacco ads," S.F.Chronicle, 11. Dez. 1986; "AIDS brochure", Modesto Bee, 3. Okt. 1986.

7. "Heterosexual risks cited in AIDS study", S.F. Chronicle, 11.Febr. 1986; "With AIDS about, heterosexuals are rethinking casual sex", The New York Times, 22. März 1986; "New case shows AIDS spread by ordinary heterosexual contact", S.F.Examiner, 10.April 1986; "Sex study confirms straights should be as careful as gays", S.F.Examiner, 16.März 1986; "Heterosexuals: a new risk group", The Village Voice, 27.Mai 1986; "6 straight women in S.F. have AIDS", S.F.Chronicle, 3. Juni 1986; "A drive to alert heterosexuals to AIDS peril", S.F. Chronicle, 31.Juli 1986; "Heterosexual AIDS cases are increasing", S. F. Chronicle, 1. Aug. 1986; "Many AIDS cases reclassified as heterosexual", S.F.Examiner, 1.Aug.1986; "Fear of AIDS grows among heterosexuals", The New York Times, 30.Aug. 1986; "100000 S.F. heterosexuals may risk AIDS, study says", S.F.Chronicle, 24.Sept. 1986; "Experts blast new AIDS study as distorted", S.F.Examiner, 25.Sept. 1986.

8. "Hundred of hookers sought for AIDS study", S.F. Chronicle, 1.Jan. 1986; "S.F. doctors weave network to help street teens", S.F.Examiner, 14. April 1986; "S.F. group helping AIDS-prostitute study", S.F. Chronicle, 8.Mai 1986; "Prostitutes off the hook in AIDS study", S.F.Examiner, 9. Mai 1986; "Fear of AIDS driving hookers off the streets", S.F. Chronicle, 15. Sept. 1986; "Prostitutes gather in Belgium to discuss their civil rights", The New York Times, 2. Okt. 1986; "Prostitutes make appeal for AIDS prevention", The New York Times, 5.Okt. 1986.

9. "New Report on Women and AIDS", S.F. Chronicle, 7.März 1986; "Women and AIDS", Newsweek, 14.Juli 1986; "AIDS goes straight - Last year, the number of women in the U.S. with AIDS doubled", US, 25.August 1986; "Bay area women feeling AIDS panic", S.F.Examiner, 21. Sept. 1986.

10. "Children with AIDS cast off by parents", S. F. Examiner, 17. April 1986; "Finding babies' AIDS earlier", S.F.Examiner, 8.Mai 1986; "Babies born with AIDS", Newsweek, 22.Sept.1986; "Sonoma monastery to shelter infants with AIDS", S. F. Examiner, 2. Okt. 1986; "California monastery to care for infants born with AIDS", The New York Times, 5. Okt. 1986.

11. "Pentagon rule on AIDS, drugs - In a reversal, it says test results can be grounds for dismissal", S.F.Examiner, 29.Okt.1985; "Navy tests sailors in Japan for AIDS", S.F. Chronicle, 27.Jan.1986; "GI dependents overseas can get AIDS tests", S.F.Examiner, 31.Jan.1986; "Sailor who refused AIDS testing convicted", S.F.Examiner, 24.Juni 1986; "U.S.Research finds AIDS increase in young seeking to enter military", The New York Times, 26. Juni 1986; "Military statistics on AIDS in the U.S.", Science, 18.Juli 1986; "New Pentagon report on screening for AIDS", The New York Times, 7.Sept.l986; "Military AIDS curb issued for R.O.T.C.", The New York Times, 14.Sept. 1986 "Death of Stanford student, 26, spurs friends to educate public", S.F.Examiner, 6. Mai 1986.

12. "AIDS behind bars - screening inadequate, some doctors charge", S. F. Examiner, 29. Sept. 1985; "3 inmates with AIDS freed to Mother Theresa", S.F. Chronicle, 1.Januar 1986; "Mother Theresa wants to help more inmates with AIDS", S.F.Chronicle, 3.Jan. 1986; "Prisons are on the alert against AIDS", The New York Times, 12.Jan. 1986; "Prison AIDS bill goes to governor", S.F.Examiner, 21.Aug.1986; "AIDS on increase among prisoners", S.F.Examiner, 22.Sept. 1986; "AIDS victim to serve time in his home", Bay Area Reporter, 2. Okt. 1986.

13. "Black recruits' AIDS exposure", S. F. Chronicle, 21. Juli 1986; "AIDS researchers focus on spread to minorities", S.F. Examiner, 2. August 1986.

14. "Suburbia struggles to find its high-risk groups", S.F. Chronicle, 7. Juli 1986; "AIDS hitting hard in Bay suburban areas", S.F. Chronicle, 7. Juli 1986; "Contra Costa confronts suburbanization of AIDS", S.F.Examiner, 8.Juli 1986.

15. "Employer accused of bias on AIDS", S.F. Chronicle, 9.August 1986; "AIDS disclosure: dilemma for real estate agents", S.F.Examiner, 22.Jan. 1986; "No victory for prison guard with AIDS", S.F.Examiner, 29.Aug. 1986; "Hospital fires man for positive test", Bay Area Reporter, 2.Okt. 1986; "Airline apologizes to S.F. AIDS Patient", S.F.Chronicle, 9.Aug.l986; "Attorney to pursue suit despite Siger's death - Airline again removes man with AIDS from flight. FAA investigating; congressional hearings possible", Bay Area Reporter, 11. Sept. 1986.

16. "Justice Dept. Ruling - AIDS bias allowed in certain cases", S.F. Chronicle, 23. Juni 1986; "U.S. limits rights of AIDS victims", S.F.Examiner, 23.Juni 1986; "U.S. Ruling on AIDS upsets gay advocates",  S.F.Chronicle,  24.Juni  1986;  "Local  AIDS  agencies  protest  U.S. job  ruling", S.F. Examiner, 24.Juni 1986; "First ruling that AIDS not covered in bias law", S.F. Chronicle, 7. Aug. 1986; "States' AIDS discrimination laws reject Justice Department's stand", The New York Times, 17.Sept.1986; "A U.S. Ruling on AIDS lets baseless fear discriminate" (Kommentar von Charles Krauthammer), International Herald Tribune, l.Juli 1986.

17. "One year old - ARC/AIDS vigil survives, serves as reminder to all", Bay Area Reporter, 23.Okt. 1986; "Scientists seeking broader definition of AIDS", S.F. Examiner, 27.Okt. 1986.

18. Voltaire, Candide, 4. Kapitel

19. Der Einwand gilt für folgende unpublizierte Studien: Dietrich Dörner, Ein Simulationsprogramm für die Ausbreitung von AIDS, und Andreas Donner, Simulationsprogramm AIDS, beide in der Abtlg. Psychologie II der Universität Bamberg, und Norman T.J. Bailey, Use of Simulation Models to Help Control AIDS und Epidemic Prediction and Public Healt Control, with Special Reference to Influenza and AIDS, Universität Genf, Kantonsspital Informationsabtlg. (Die letztere Arbeit wurde beim 1. Weltkongreß der Bernoulli-Gesellschaft in Taschkent, USSR vorgetragen -8.-14. Sept. 1986).

20. "A hospital just for AIDS in Houston", The New York Times, 15. Juni 1986; "Hospital in Houston plans to treat AIDS for profit", S.F.Examiner, 17.Juni 1986; "AIDS-only hospital opens in Houston", S. F. Chronicle, 3. Sept. 1986.

21. Peter Huber, "If they discovered a vaccine tomorrow ...: AIDS and the lawyers", The New Republic, 5. Mai 1986.

22. "AIDS bill gutted in Senate", S.F.Examiner, 22. Aug. 1986.

23. "AIDS hospital wants to test vaccine on humans", S. F. Examiner, 10. Okt. 1986.

24. Das Europäische Parlament, Entschließung zu AIDS, (abgedruckt in "AIDS. Zwischen Angst und Verdrängung". Werkstattgespräch, 24. Febr. 1986, SPD-Vorstand, Abtlg. Presse und Information).

25. Siehe etwa Stephen Jay Gould, The Mismeasure of Man, New York 1981.

26. "Firm develops test to detect AIDS virus prior to symptoms", Modesto Bee, 13. April 1986; "Test to predict AIDS may be ready next year", Bay Area Reporter, 25. Sept. 1986; "New blood test offers doctors immediate diagnosis of AIDS", S.F.Examiner, 30.Sept. 1986.

27. Siehe Helen Singer Kaplan, Clifford Sager und Raul Schiavi, "AIDS and the Sex Therapist" in Journal of Sex & Marital Therapy, Winter 1985 und dieselben, "Preventing the Spread of AIDS" in Journal of Sex & Marital Therapy, Herbst 1986; siehe auch Erwin J. Haeberle, "AIDS and the Sex Therapist: A Rebuttal" in Sexuality Today, 17. Februar 1986.

28. "Firm changes AIDS-free guarantee to membership card", S.F.Examiner, 24.Jan.1986; "L.A. firm's AIDS test is called unreliable", S.F. Chronicle, 7.Juli 1986; "AIDS testing firm worries researchers", S.F.Examiner, 8.Juli 1986.

29. Siehe David L. Kirp, "'Drastic' measures in disputed AIDS study", San Francisco Examiner, 9.Februar 1986 und William F.Buckley Jr., "Crucial steps in combating the AIDS epidemic -Identify all the carriers", The New York Times, 16. März 1986.

30. ,"Very big' market for drug firms", S.F.Examiner, 19.Jan. 1986; "French suit dismissed", S.F.Examiner, 11. Juli 1986; "AIDS and the profit motive", Modesto Bee, 22.Okt.1986.

31. Health Department denounces bogus AIDS quarantine notices", S.F.Examiner, 6.Sept. 1985.

32. "Falwell calls for AIDS Quarantine", The New York Native, 15.-28. Juli; "GOP Senate hopeful derided over use of AIDS, gay issues", S. F. Chronicle, 10. Dez. 1985.

33. "Harsh AIDS action favored in new poll", S. F. Chronicle, 19. Dez. 1985.

34. "Texas to request AIDS quarantine", S.F. Chronicle, 23.Okt. 1985; "Texas assailed on AIDS quarantine", S.F.Examiner, 14.Jan.1986; "Texas drops AIDS quarantine plan", S.F.Examiner, 17. Jan. 1986.

35. Etwa in J.F.Grutch und A.D.J.Robertson, "The Coming of AIDS", The American Spectator, März 1986.

36. "Internment camp victims can sue U. S.", S. F. Chronicle, 22. Jan. 1986.

37. "Politics of a disease - Who are doctors behind anti-AIDS laws across U.S.?", S.F.Examiner, 23. Okt. 1986.

38. "AIDS classes in grade school urged by Surgeon General", S.F. Chronicle, 22.Okt. 1986.

38a. "AIDS classes in grade school urged by Surgeon General", S.F. Chronicle, 22.Okt. 1986.

39. "A plan to consolidate federal AIDS programs", S.F.Chronicle, 24.Dez. 1985; "Health officials urge national panel on AIDS", 5. F. Chronicle, 7. Juni 1986; "More AIDS programs needed, health workers say", S.F.Examiner, 12.Sept.1986; "Sen.Wilson wants a panel to coordinate AIDS effort", S.F.Chronicle, 15.Okt. 1986.

40. "State urged to establish agency on AIDS", S. F. Chronicle, 15. Nov. 1985.

41. Aufruf der DGSS zur Vorbeugung gegen AIDS, 10. Aug. 1985; nachgedruckt in Frankfurter Rundschau, 15. Aug. 1985.

42. Barbara Tuchman, The March of Folly; From Troy to Vietnam, New York 1984.