Erwin J. Haeberle

AIDS und die Aufgaben der Sexualwissenschaft

Ursprünglich erschienen in: Sexualitäten in unserer Gesellschaft,
Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 2, R. Gindorf, E.J. Haeberle (Hrsg.),
Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1989, S. 63-84

Das "Aufgegriffene" Immun-Defekt-Syndrom
Das Akademische Intelligenz-Defekt-Syndrom
Prinzipien prophylaktischer Fehlplanung
AIDS als internationales Problem
AIDS als interdisziplinäres Problem
AIDS als sexualwissenschaftliches Problem
Forschung
Lehre
Praktische Empfehlungen
Anmerkungen

AIDS ist heute der entscheidende Testfall für die Sexualwissenschaft. Wenn sie diesem Problem gegenüber versagt, dann hat sie ihre Existenzberechtigung verloren.

Die bisher noch weitgehend hilflose Medizin kann und wird auch jahrzehntelang weiter Niederlagen gegen diese Krankheit überleben. Die Psychologie und die Pädagogik, die Soziologie, die Jurisprudenz, die Ökonomie und die Politikwissenschaft - obwohl alle gefordert - können sich dieser Forderung noch auf lange Zeit ungestraft entziehen. Ihr Überleben hängt weder wissenschaftstheoretisch noch praktisch-institutionell davon ab, wie sie mit AIDS fertig werden. Die Sexualwissenschaft aber, die, an nur wenigen Universitäten widerwillig geduldet, ohnehin eine allgemein beargwöhnte Kümmerexistenz fristet, muß nun ihren Wert beweisen, oder sie wird verdientermaßen von der akademischen Szene verschwinden.

Andererseits bietet diese Herausforderung aber auch eine neue Chance für Sexologen, ihren Mitmenschen zu helfen, mehr Verständnis für ihre Wissenschaft zu erwecken und vor allem, diese Wissenschaft selbst als geistige Unternehmung eigener Art ein gehöriges Stück weiter voranzubringen. So bedeutet AIDS unter anderem auch für uns alle hier zumindest eine berufliche Krise, die negativ oder positiv ausgehen kann.

Das "Aufgegriffene" Immun-Defekt-Syndrom

AIDS ("Aufgegriffenes" Immun-Defekt-Syndrom) ist der Name für das mögliche, und bisher immer tödliche, Endstadium einer Virusinfektion. Ob es bei diesem Namen bleibt, ist, wie so vieles bei der noch weitgehend rätselhaften Krankheit, nicht sicher. Sie wird nach heute herrschender Meinung durch ein Virus ausgelöst, das von verschiedenen Forschern verschieden benannt wurde und für das man nun als Kompromiß den neuen Namen HIV (Human Immunodeficiency Virus) vorgeschlagen hat, da es beim Menschen die körpereigenen Abwehrkräfte zerstört, also zu einem Immun-Defekt führt 1. Dies Virus wird anscheinend nur durch Blut- und Sexualkontakt, nicht durch alltäglichen Umgang, übertragen und kann (muß aber nicht) sehr schnell oder erst im Laufe von Jahren zu verschiedenen leichten und schweren Krankheitsbildern führen, von denen AIDS nur die schlimmste Möglichkeit darstellt. Gewisse mildere Fälle werden als ARC (AIDS-Related Conditions) bezeichnet. Für noch mildere Fälle gibt es bisher keinen Sammelnamen; die Übergänge zwischen all diesen Krankheitsbildern sind aber ohnehin fließend. Es ist also nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, daß hier mit der Zeit eine ganz neue, entweder differenziertere oder vereinfachende Nomenklatur eingeführt werden muß 2.

Es wird außerdem vermutet, daß bei der Infektion gewisse zusätzliche Faktoren wie Streß, schlechte Ernährung, Drogengebrauch, andere Krankheiten oder selbst andere Viren eine Rolle spielen. Ja, einige Forscher halten daran fest, daß das Human Immunodeficiency Virus selbst nur ein Zusatzfaktor sein könnte.

Schließlich wird noch angenommen, daß alle einmal infizierten Frauen und Männer ihr Leben lang infektiös bleiben, also andere anstecken können, auch wenn sie selber nicht erkranken. Diese Ansteckung könnte aber nur, wie noch einmal betont werden muß, durch direkten Austausch von Körperflüssigkeiten (vor allem Blut und Samen) erfolgen. Sexualkontakt wäre und bliebe die Hauptinfektionsquelle, und die einfachste Vorbeugung bestünde demnach in gewissen Änderungen des Sexualverhaltens. Gerade in diesem Umstand liegt nun die Herausforderung an die Sexualwissenschaft.

Das Akademische Intelligenz-Defekt-Syndrom

AIDS hat sich innerhalb weniger Jahre epidemisch in weiten Teilen Zentralafrikas, Südamerikas, der USA und Europa verbreitet. Der daraus resultierende gesundheitliche Notstand hat in den betroffenen Gebieten zu verschiedenen unkoordinierten, klugen und unklugen, wirksamen und wirkungslosen Bekämpfungsmaßnahmen geführt, manchmal aber auch zu Verdrängung, Lähmung und Untätigkeit, zu einer fatalistisch-trägen oder leichtfertig-verantwortungslosen Haltung bei vielen Behörden, Medien und selbst bei besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Auch die Wissenschaft allgemein hat bisher kein besonders erbauliches Bild geboten. Nur einige hervorragende Mediziner haben in verschiedenen Ländern gleichzeitig das Problem energisch in Angriff genommen und in bemerkenswert kurzer Zeit erhebliche Kenntnisse darüber gesammelt. Diese Mediziner und ein paar andere Wissenschaftler meine ich also nicht, wenn ich nun auf eine zweite, mit AIDS verbundene Epidemie hinweise, die fast ebenso gefährlich ist: das "Akademische Intelligenz-Defekt-Syndrom". Was ich damit meine, möchte ich an einem Beispiel aus den USA illustrieren.

Im Februar dieses Jahres enthüllte eine unserer beiden Tageszeitungen, der San Francisco Examiner, ein Forschungsprojekt von 12,5 Millionen Dollar, das schon mehrere Prüfungsinstanzen erfolgreich durchlaufen hatte und kurz vor seiner endgültigen Bewilligung und Finanzierung stand. Danach sollten unter anderem gewisse Vorbeugungsmaßnahmen gegen AIDS auf ihre Durchführbarkeit und ihre Kosten geprüft werden. Etwa:

1. Zwangsisolierung nicht nur aller AIDS-Kranken, sondern auch aller infektionsgefährdeten Individuen und Gruppen sowie deren Zwangstestung und Zwangsidentifizierung. Im Originalwortlaut des Antrags gehört dazu "das Konzept einer Art Davidstern".

2. Verbot jeden Umgangs von Gesunden mit derartigen Personen und "intensive Techniken der Verhaltensänderung" für alle, die diesem Verbot zuwider handeln könnten.

Die Antragsteller hielten die vorsorgliche Planung solcher Schritte für dringend geboten, da, wie sie versicherten, AIDS auch im Alltag leicht übertragbar sei und weil sonst innerhalb des nächsten Jahrzehnts 10 Prozent der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten infiziert sein würden.

Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Was soll dies groteske Beispiel? Welcher Wissenschaftler wird denn einen solch frivolen und gleichzeitig faschistoiden Antrag stellen? Vor allem, welcher Geldgeber wird denn auch nur erwägen, ihn mit Millionen zu unterstützen? Ist das Ganze nicht einfach zu absurd für eine ernsthafte Diskussion?

Die Antwort darauf heißt leider: Nein, denn die näheren Umstände dieses Antrags verdienen durchaus eine Untersuchung. Sie sind nämlich noch erschreckender als der Antrag selbst.

Wie sich herausstellte, kamen die Vorschläge von einer Gruppe einflußreicher Leute, darunter eine Firma, die schon seit Jahren geheime Forschungen in biologischer Kriegsführung durchgeführt hatte, und zwei Mitglieder der Hoover Institution an der Stanford Universität. Der eine, ein Sowjet-Experte, hatte einmal die amerikanischen Abrüstungsverhandlungen geleitet, und die andere war noch kurz vorher als Kandidatin für das Gesundheitsministerium in Washington im Gespräch gewesen. Diese Dame war außerdem weit mehr als eine einfache Forscherin an der Hoover Institution. Sie war die Ehefrau des Direktors.

Die Finanzierung wiederum sollte vom Verteidigungsministerium kommen, das erhebliche Gelder besaß, aber nicht recht auszugeben wußte. Um es ganz genau zu sagen: Das Militär hatte plötzlich, als Entschädigung für einen nichtbewilligten Panzer, vom Kongreß ohne große Debatte 40 Millionen Dollar für "AIDS-Forschung" erhalten. Die beiden Mitglieder der Hoover Institution beanspruchten davon für sich selbst aber nur 346000 Dollar als Berater in "juristischen, ethischen und politischen Fragen". Das war auch nur sinnvoll, denn die Hoover Institution - als konservativer think tank bekannt - besitzt zur Zeit großes politisches Gewicht und unterhält sehr enge Verbindungen zum Weißen Haus 3.

Wie man sieht, war das ganze Projekt sehr gut eingefädelt. Es scheiterte am Ende wohl nur, weil ein liberaler Kollege aus Berkeley es in der Zeitung enthüllte und damit öffentlich zur Diskussion stellte. Zwar wurde er daraufhin noch telephonisch vom Direktor der Hoover Institution bedroht, der eben nicht nur Ehemann der einen Antragstellerin, sondern zusätzlich auch noch Regent der Universität in Berkeley ist, aber die anderen distanzierten sich unter dem Hohn und Spott aller Fachleute von dem Vorhaben 4. Die 40 Millionen Dollar des Pentagon für die AIDS-Forschung sind also noch unangetastet. Das ist besonders beruhigend, da die Regierung nun alle übrige, bereits laufende AIDS-Forschung um 22 Prozent auf insgesamt 193 Millionen Dollar kürzen will 5.

Prinzipien prophylaktischer Fehlplanung

Ich habe diese Episode hier besonders ausführlich beschrieben, weil sie meiner Meinung nach mehrere Prinzipien deutlich macht, nach denen vielerorts eine angebliche AIDS-Vorbeugung betrieben wird. 

Das erste ist das Prinzip der lückenlosen Kontrolle. Man will die Virusträger irgendwie ,unschädlich' machen und versucht, das durch eine weitgehend illusionäre Kontrolle zu erreichen. Diese kann zunächst relativ unauffällig, locker und sporadisch sein, muß aber ihrer eigenen Logik nach endlich zur permanenten Erfassung, Kennzeichnung und Ausgrenzung immer größerer Bevölkerungsgruppen führen. Das Modell für diesen Ansatz liefern ältere Verfahren zur Bekämpfung gewisser ,klassischer' Infektionskrankheiten. Es ist nun sehr schwer, manchen Behörden klarzumachen, daß AIDS mit diesen Krankheiten nicht zu vergleichen ist, und daß die sogenannten "bewährten seuchenpolizeilichen Maßnahmen" hier nicht greifen können. Die HIV-Träger haben zumeist und für lange Zeit keinerlei Symptome, sind aber lebenslang infektiös durch Blut- und Sexualkontakt. Sie wären erstens überhaupt nur durch umfassende Testprogramme zu finden und müßten dann zweitens für den Rest ihres Lebens (nicht etwa nur 40 Tage wie bei der traditionellen Quarantäne!) eingesperrt oder zumindest äußerlich markiert werden. Eine ,Art Davidstern' auf der Kleidung oder an der Wohnungstür würde aber nicht genügen. Das erkannte z.B. auch der konservative Polit-Kommentator William F. Buckley sehr klar. Er schlug deshalb folgerichtig die Tätowierung der Betroffenen vor, und zwar bei ,Fixern' auf dem Oberarm, bei Homosexuellen auf dem Gesäß 6.

Ersparen wir uns hier den Nachweis, daß auch solche totalitären Maßnahmen aus mehreren praktischen Gründen gar nicht funktionieren können, und stellen wir nur fest, daß ihnen allen ein offensichtlicher Intelligenz-Defekt zugrunde liegt. Dieser Defekt bei sonst rationalen Leuten läßt sich nur durch vielleicht unbewußte Angst- und Abwehrreaktionen erklären. Er ist aber auch durch ein weitgehendes akademisches Versagen mitbestimmt. Die verschiedenen einschlägigen Wissenschaften als Hüterinnen der menschlichen Vernunft haben es leider bisher verabsäumt, das Problem AIDS ausreichend zu studieren. Wo aber ein wissenschaftlich geschärftes Bewußtsein für die Komplexität des Themas fehlt, da haben uninformierte, mächtige Laien mit ihren Patentrezepten leichtes Spiel.

Ein weiters Prinzip vieler AIDS-Programme ist das der eingefahrenen bürokratischen Bahnen. Dies drückt sich nicht nur im Inhalt der Programme aus, sondern auch in der Auswahl des Personals. Mit anderen Worten, nicht nur was getan wird, sondern auch wer es tut, hängt wesentlich von überkommenen Denkgewohnheiten und von etablierten Zugängen zu möglichen Geldgebern ab, seien diese nun öffentlich oder privat. Deshalb besteht immer die Gefahr, daß selbst qualifizierte Außenseiter ohne Chancen bleiben. Viel eher erhalten als ,seriös' bekannte Firmen und Individuen den Zuschlag, oft völlig unabhängig von jeder spezifischen Eignung. Ausnahmen werden dann höchstens für schwache, leicht lenkbare Hilfstruppen gemacht, die keine echte Richtungsänderung bewirken können. In dem genannten Beipiel wurde zwar der glatte Sieg eines ,old-boy-networks' in letzter Stunde verhindert, es bleibt aber zweifelhaft, daß Forscher mit weniger guten Beziehungen nun an die AIDS-Millionen des Pentagon herankommen. Und schließlich: Warum wurden diese Millionen überhaupt an eine Behörde gegeben, die gar nichts damit anfangen kann?

Ein drittes, verwandtes Prinzip ist das des guten politischen ,Image', des schönen Anscheins, der Angepaßtheit und garantierten Harmlosigkeit, kurz, der reibungslosen Akzeptanz aller Maßnahmen, wiederum oft unabhängig davon, ob sie in der Praxis wirklich nützen. Hier trafen in unserem Beispiel die Interessen der Antragsteller und die des präsumptiven Geldgebers zusammen. Drastisch und mindestens teilweise unpopulär, wie die vorgeschlagenen Maßnahmen waren, standen sie doch in einer gewissen militärischen Tradition. Gleichzeitig machten sie den Eindruck wirklicher Tatkraft und Entschlossenheit, und schließlich vermieden sie jede Berührung mit dem ,heißen' Thema sexuelle Aufklärung. Das war nun zwar bei einer sexuell übertragbaren Krankheit etwas seltsam und hätte eigentlich sofort zur Disqualifizierung führen müssen, war in Wirklichkeit aber ein Vorteil. Es war auch nicht der Grund für die schließliche Zurücknahme des Antrags. Es ist sogar denkbar, daß dieser Antrag inhaltlich gar nicht ernst gemeint war und nur dazu dienen sollte, relativ leicht erreichbares Geld zu kassieren. Ja, die Antragsteller können persönlich durchaus gegen ihre eigenen Vorschläge gewesen sein. Vielleicht redeten sie hier nur bewußt dem Militär nach dem Munde und rechneten sogar damit, daß ihre teuer bezahlte Studie am Ende in Archiven vergilben würde. Dann war es ja gleichgültig, ob darin sexuelle Details behandelt wurden oder nicht. Wie Bürokraten wirklich über sexuelle Aufklärung denken, wird jedenfalls an einem weiteren Beispiel klar, das leider noch volle Realitätskraft besitzt.

Das Center for Disease Control in Atlanta, GA, eine Bundesbehörde, die viele AIDS-Projekte koordiniert und auch selber durchführt, gab Ende vorigen Jahres besondere Richtlinien für die Vorbeugung heraus. Darin wurde einerseits die Bedeutung einer sexuellen Verhaltensänderung unterstrichen, andererseits aber eine wirklich effektive Strategie abgelehnt, die dieses Ziel erreichen könnte. Einerseits wurden Selbsthilfegruppen aus dem ganzen Lande gebeten, Finanzierungsanträge für Aufklärungskampagnen zu stellen, andererseits wurde ihnen aber bedeutet, daß diese nicht allzu "explizit" sein dürften. Einerseits sollte ,ansteckungssicherer Sex' propagiert werden, andererseits sollte diese Propaganda aber auf keinen Fall "pornographisch" sein. Ja, als tatsächlich Anträge auf insgesamt 1,6 Millionen Dollar eingingen, wurden sie erst einmal 'auf Eis gelegt', weil die Bürokraten eine negative Reaktion von seiten der Regierung und der breiten Öffentlichkeit befürchteten. Stattdessen wurde bestimmt, daß alles Aufklärungsmaterial von einem mindestens fünfköpfigen örtlichen Komitee auf guten Geschmack und auf die gehörige Züchtigkeit hin zu prüfen sei. Dies Komitee muß nun "einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren und darf nicht hauptsächlich aus den jeweiligen Zielgruppen des Materials rekrutiert werden" 7. Also nicht die Gefährdeten selber, nicht die Kenner der verschiedenen sexuellen 'Szenen' sollen entscheiden, sondern brave Durchschnittsbürger. Mit anderen Worten, wie eine ,schwule' Zeitung es formulierte: "Ein paar alte Damen in Pasadena werden uns sagen, was wir nicht lutschen sollen" 8. Die ärztlichen Autoren der Richtlinien, die es privat und beruflich natürlich besser wußten, wanden sich in peinlichen Erklärungen, hatten aber nicht den Mut, sich dem politischen Druck entgegenzustellen. Angewidert kommentierte unsere konservativste Tageszeitung, die San Francisco Chronicle: "Dies ist nicht der Augenblick für Bundesgesundheitsbeamte, eine altjüngferliche Einstellung zu zeigen und die Finanzierung von AIDS-Aufklärungskampagnen aufzuhalten, weil sie vielleicht zu drastisch, d. h. pornographisch sind. Dies ist ein hartherziges Spiel mit dem Leben von Millionen Amerikanern 9."

In San Francisco war man allerdings auch dem bürokratischen Dilemma von vornherein aus dem Weg gegangen. Man hatte nämlich eine autonome, gemischt öffentlich und privat finanzierte AIDS-Stiftung gegründet, die nun eine Mittelstellung zwischen Behörden und gefährdeten Gruppen einnimmt. Sie kann also unbekümmert in eigener Regie Aufklärung betreiben und sexuelle Minderheiten in deren eigenem Jargon ansprechen, ohne die Politiker selbst zu exponieren. Im Gegenteil, sie kann bei ihrer Arbeit so drastisch vorgehen, wie sie will. Dies Modell einer Aufklärungsorganisation ist aber selbst in den übrigen Vereinigten Staaten kaum nachgeahmt worden, geschweige denn in anderen Ländern. Dort sollen vielmehr weiterhin irgendwelche Beamte direkt Steuergelder für Programme ausgeben, die ihnen selbst unverständlich und dem Steuerzahler allgemein viel zu unanständig sind. Im Endeffekt kommen dabei immer nur halbe Maßnahmen heraus. Die Angst der Bürokratie vor der Sexualität ist eben noch größer als ihre Angst vor dem Tod, und so wird sie eine sexuelle Aufklärung über AIDS auch immer nur unter der Bedingung finanzieren, daß sie unwirksam bleibt. Viel lieber gibt man das Geld für die Forschung aus, d.h. für Leute in weißen Kitteln, die in sauberen Labors Reagenzgläser schütteln und Instrumente ablesen, denn dagegen kann kein sexualfeindlicher Bürger Einwände haben.

Die Gesundheitsbürokratie wird aber auch gleichzeitig ihre eigene volle Kompetenz behaupten und sich gegen jede Information abschirmen, die diese Kompetenz in Frage stellt. Besonders sexualwissenschaftliche Informationen können diese Wirkung haben und sind zunächst einmal prinzipiell unwillkommen. Sie werden deshalb meist als irrelevant und überflüssig abgelehnt. Das gilt aber eigentlich für alle Bürokraten, selbst Universitätsverwaltungen, in allen Ländern. Sexologen haben also überall Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen, und sie werden wohl überhaupt erst zum Zuge kommen, wenn AIDS - von niemanden mehr bestreitbar - als internationales und interdisziplinäres Problem erkannt worden ist.

AIDS als internationales Problem

Das Human Immunodeficiency Virus stammt, heutigen Vermutungen zufolge, wahrscheinlich aus Zentralafrika, wo es inzwischen wohl schon Millionen von Frauen und Männern infiziert und Tausende von Todesopfer gefordert hat. Auch in anderen Ländern der ,Dritten Welt', wie Haiti und Brasilien, hat die Epidemie schon Ausmaße erreicht, die weit über alles hinausgehen, was in den USA und Europa zu beobachten ist. Man ist hier allerdings noch auf einzelne Stichproben, Schätzungen und Spekulationen angewiesen, da in einigen der genannten Länder die epidemiologische Forschung kaum gefördert, wenn nicht sogar absichtlich behindert wird. Der Grund dafür ist wiederum hauptsächlich ein bürokratischer, denn eine international bekanntgewordene tödliche Epidemie würde unbarmherzig die gesundheitspolitischen Unzulänglichkeiten der betroffenen Regierung bloßlegen. Zweitens hätte sie auch durch die Abschreckung von Touristen noch eine zusätzliche ökonomische Auswirkung, die für eine unterentwickelte Nation verheerend sein könnte.

Immerhin bemüht sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die dabei sehr diplomatisch vorgehen muß, allen Ländern der ,Dritten Welt' bei ihren Bekämpfungsmaßnahmen zu helfen und sie auch zu einer wirksamen Zusammenarbeit zu bringen. Es versteht sich aber von selbst, daß hier wieder nur reine Forschungs- und Therapiefragen, nicht Vorbeugungsfragen, im Vordergrund stehen. Mit anderen Worten: Die Medizin hat den Vorrang, und die Sexualwissenschaft steht im zweiten Glied oder wird erst gar nicht vorgelassen. In einer Lage, in der es weder eine erfolgreiche Behandlung noch eine Immunisierung gibt, in der also die Vorbeugung die einzige Chance gegen AIDS und seine verwandten Krankheitsbilder bietet, mag das absurd erscheinen, es ist aber dennoch die Realität. Programme zur Propagierung infektionsfreier Sexualpraktiken etwa, die schon in den Industrienationen heikel genug sind, wären in den meisten Entwicklungsländern, wenn überhaupt, dann nur stark verändert durchzuführen. Die notwendigen Veränderungen aber müssen erst einmal von Sexualwissenschaftlern am Ort studiert werden. Solche Wissenschaftler gibt es aber kaum, und so schließt sich der Teufelskreis 10.

Dennoch könnten viele Entwicklungsländer wahrscheinlich einiges von den Industrienationen lernen, besonders von den Amerikanern. San Francisco zum Beispiel, mit einer ethnisch sehr vielfältigen Bevölkerung, hat inzwischen AIDS-Vorbeugungsmaterial nicht nur in englischer Sprache entwickelt, sondern auch in Spanisch, Chinesisch, Japanisch und Tagalog. Außerdem besitzen die Universitäten in unserer näheren Umgebung die verschiedensten 'Abteilungen für Ethnische Studien' mit vielsprachigem Lehrpersonal, das selber aus allen Weltteilen stammt. Es böte sich also durchaus an, hier ein Internationales AIDS-Vorbeugungszentrum einzurichten, das die hiesigen Erfahrungen nutzt, Informationen verbreitet und Material in allen Sprachen, auch auf Bestellung, entwickelt.

Ein solches Zentrum wäre aber auch schon gerechtfertigt, wenn es sich nur transatlantisch dem Austausch mit Europa widmen würde. Ich selber werde zum Beispiel inzwischen fast täglich aus der Bundesrepublik und auch aus der DDR um Rat, Informationen und Druckschriften gebeten, und unser Privatinstitut hat in den letzten Monaten Besucher aus Deutschland, der Schweiz, Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland gesehen, die nur Auskünfte und Material zur Vorbeugung gegen AIDS haben wollten. Wir helfen natürlich, so gut wir können, aber ohne Förderung von außen sind uns dabei finanziell sehr enge Grenzen gesetzt.

Was die Bundesrepublik selbst angeht, so hinkt sie sowohl epidemiologisch wie auch prophylaktisch etwa drei Jahre hinter den Vereinigten Staaten her. Oder anders ausgedrückt: Die Deutschen haben einen etwa dreijährigen Vorsprung vor den Amerikanern, den sie für die Vorbeugung nützen könnten. Es ist keine Kritik an dem persönlichen Einsatz vieler, oft ehrenamtlich tätiger Männer und Frauen, wenn ich feststelle, daß dieser Vorsprung bisher kaum genutzt worden ist. Schon auf der rein finanziellen Ebene - und nur relativ berechnet - halten die deutschen Anstrengungen keinen Vergleich mit den amerikanischen aus 11. Man kleckert immer noch, wo man schon vor Jahren hätte klotzen müssen. Auch die transatlantische Zusammenarbeit fehlt fast völlig, nicht in der Forschung, aber bei der Vorbeugung. Kurze Stippvisiten von Individuen in beiden Richtungen über den Atlantik sind kein Ersatz für eine wirkliche Informationsbrücke. Auch hier bewegt sich alles bisher nur in ausgefahrenen Schienen. Es gibt eine Vielzahl von gut dotierten deutsch-amerikanischen Austauschprogrammen -ein Programm zur AIDS-Vorbeugung gehört nicht dazu. Auch nimmt man in der Bundesrepublik nicht zur Kenntnis, daß die sozialen Aspekte von AIDS neben den medizinischen immer wichtiger werden und diskutiert werden müssen. In den USA werden inzwischen entsprechende große Kongresse mit Teilnehmern aus allen Gebieten der Wissenschaft, der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes veranstaltet. In Deutschland quält man sich noch mit verschiedenen Kleintagungen für Spezialisten oder Selbsthilfegruppen herum. Kurz, die Dringlichkeit und Vielschichtigkeit des Problems werden weiterhin geleugnet. 

AIDS als interdisziplinäres Problem

Wie komplex die mit AIDS zusammenhängenden sozialen Fragen in Wirklichkeit sind, läßt sich bei uns in den USA an vielen, mittlerweile leider alltäglichen Beispielen zeigen. Ich wähle, etwas willkürlich, eine aktuelle Zeitungsmeldung:

"Nach einem jüngsten Gerichtsurteil in Illinois dürfen zwei junge Mädchen, die mit ihrer Mutter in Chicago wohnen, ihren geschiedenen, heute homosexuell lebenden Vater in San Francisco nur besuchen, wenn dieser sich einem HIV-Antikörpertest unterzieht 12."

Man vermutet, obwohl das nicht ausdrücklich gesagt wird, daß das Testergebnis auch noch negativ ausfallen müßte, um den Besuch möglich zu machen. Jedenfalls hat der Vater den Test abgelehnt und um Aufhebung des Urteils gebeten. Der Fall ist zur Zeit noch nicht endgültig entschieden. Eindeutig ist, daß der Richter in Unkenntnis der medizinischen Tatsachen gehandelt hat. Medizinisch ist seine Entscheidung unsinnig. Ganz gleich aber, wie er schließlich ausgeht, wirft dieser eine Prozeß heute schon viele verwickelte Fragen auf. Etwa: Wenn der Vater den Test jetzt mit negativem Ergebnis tatsächlich machen läßt, muß er ihn dann jedesmal wiederholen, wenn er seine Töchter sehen will? Oder: Wer schützt die Vertraulichkeit eines Testergebnisses, das gerichtsnotorisch geworden ist? Oder: Wenn der Vater AIDS bekommen sollte, dürfen seine Kinder dann als Besucher in sein Krankenhauszimmer? An sein Sterbebett? Oder: Wenn ein Gericht geschiedene Väter zum Test zwingen kann, kann es dann auch andere Menschen in anderen Situationen zum Test zwingen, z. B. Straftäter, Polizisten, Gefängniswärter, Verkehrssünder und Verkehrsopfer, Gerichtsangestellte? - Hier kommen offensichtlich Fragen der Medizin, des Rechts, der juristischen Fortbildung, des Datenschutzes, der Erziehung und der Ethik zusammen, die nur im interdisziplinären Gespräch zu klären sind.

Aber, vom Streit um den Test und den Kinderbesuch einmal abgesehen, verlangen hier auch sexualwissenschaftliche Fragen eine Antwort. Wenn der Mann nämlich zwei natürliche Töchter hat und heute vorwiegend homosexuell verkehrt, was ist sein wirkliches Infektionsrisiko? Ist es ein Vorteil, daß er in San Francisco lebt, wo ansteckungssichere Sexualpraktiken in der 'Schwulenszene' akzeptiert sind, oder ist es ein Nachteil, weil dort ein größerer Prozentsatz seiner potentiellen Partner bereits infiziert ist? Was sind seine eigenen sexuellen Gewohnheiten?

Bisher wird bei solchen Fragen noch wild herumspekuliert, denn gesicherte Kenntnisse sind rar. Die genauen sexuellen Übertragungswege des Virus sind weiterhin strittig. Eine erschöpfende ,sex history' im Sinne Kinseys ist bisher bei keinem einzigen Infizierten oder AIDS-Kranken aufgenommen worden.

Auch der in unserem Beispiel verlangte HIV-Antikörpertest ist in seiner Gesamtaussage noch sehr unklar. So sagt uns zum Beispiel auch ein positives Testergebnis nichts darüber, ob oder wann das indirekt nachgewiesene Virus zu einer Krankheit führt, oder wenn ja, zu welcher. Es ist aber zu erwarten, daß über kurz oder lang ein einfacher, billiger und genauer Test für das Virus selbst entwickelt wird. Dann wird sich für alle Infektionsverdächtigen und besonders für Menschen mit positivem Testergebnis die Schlinge in der sozialen Kontrolle wieder etwas enger zusammenziehen. Ob dann noch schlimmere Gerichtsurteile bevorstehen, läßt sich heute nicht sagen. Eins steht aber fest: Katastrophale Fehlentscheidungen, auch außerhalb des Gerichtssaals, sind nur zu verhindern, wenn Wissenschaftler vieler verschiedener Fachgebiete sobald wie möglich zu einer regelmäßigen Zusammenarbeit finden.

AIDS als sexualwissenschaftliches Problem

Welche Rolle kann nun die Sexualwissenschaft bei der Bekämpfung von AIDS spielen? - Wir finden die Antwort, wenn wir uns auf die Geschichte unseres Faches besinnen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Damals gab es zwar das Human Immunodeficiency Virus mit seinen möglichen Folgeerscheinungen noch nicht, es gab aber schon einen organisierten Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten, die damals zu allermeist auch noch unheilbar waren. Ja, der Kampf gegen die 'klassischen' Geschlechtskrankheiten war ein wichtiges Motiv bei der endlichen Begründung einer eigenen Wissenschaft vom Sexuellen. Nicht zufällig waren viele sexualwissenschaftliche Pioniere Dermatologen, so auch Iwan Bloch und Max Marcuse. Sie waren allerdings weiterblickende, sozial engagierte Dermatologen, die hinter dem jeweiligen Krankheitsbild die größeren gesellschaftlichen Probleme wahrnahmen - Armut, Wohnungselend, sexuelle Unwissenheit, doppelte Moral, Ausbeutung, Prostitution, die ungerechte Verfolgung sexueller Minderheiten und eine unzeitgemäße Sexualgesetzgebung. Mit anderen Worten, sie erkannten, daß auch die beste medizinische Behandlung des Einzelnen im Grunde nur ein Herumkurieren an sozialen, ja politischen Symptomen war. Sie forderten deshalb eine umfassende Untersuchung aller Sexualprobleme und dann schließlich auf dieser Grundlage eine allgemeine Sexualreform.

Sie mußten dies allerdings als akademische Außenseiter tun, denn der etablierte Wissenschaftsbetrieb war weit davon entfernt, die Sexualität zum Zentralgegenstand der Forschung zu machen. Er verhielt sich vielmehr ablehnend, nicht nur diesen Dermatologen gegenüber, sondern auch allen anderen sexologisch Interessierten wie den Sexualhistorikern, Sexualpädagogen und zunächst auch den Psychoanalytikern. Männer wie Magnus Hirschfeld und Frauen wie Helene Stöcker, die Homosexualität und Abtreibung legalisieren wollten und offen emanzipatorische Ziele vertraten, fanden den Zugang zur Universität erst recht verschlossen. Dort sah man die Dinge anders, gelassener; die Dringlichkeit, mit der die Sexologen auf Reformen pochten, erschien dort unfein, ja eigentlich unbegreiflich, und man ließ es die Mahner fühlen. Kurz, die ersten Sexualwissenschaftler waren nicht immer überall willkommen. Im Gegenteil: Sie mußten sich oft mit ihren Einsichten gegen erhebliche Widerstände regelrecht aufdrängen, unbequem machen, dazwischenschieben.

In den Augen der intellektuellen feinen Gesellschaft hatten die Sexologen aber noch einen weiteren Fehler, der sie suspekt machte: Sie standen mit vielen erotischen Nonkonformisten auf vertraulichem Fuß - mit Anhängern einer ,freien Liebe', ledigen Müttern, Homosexuellen, Sadisten, Masochisten, Zuhältern, Dirnen und Pornographen, kurz, mit Ausgestoßenen, Rebellen, Perversen und Psychopathen, für die sie auch noch um Verständnis warben. Von allen seinen Kollegen aber trieb Hirschfeld es am schlimmsten: Nicht nur war sein Institut ein Sammelplatz für warme Brüder, kesse Väter, Hermaphroditen und Transvestiten, sondern er selbst bewegte sich in Nudistenlagern und Schwulenkneipen, auf Tuntenbällen und auf dem Berliner Strich wie ein Fisch im Wasser. Solch ein Mann konnte ja gar nicht seriös sein! Man stelle sich nur einmal den ebenfalls kontroversen, aber sonst stockbürgerlichen Sigmund Freud in entsprechenden Situationen vor, um sofort einzusehen, um wieviel unorthodoxer und mutiger Hirschfeld war. Wie wir heute aber wissen, hat gerade dieser Mut seiner damaligen akademischen Reputation am meisten geschadet.

Nun, wir wissen auch, daß es am Ende dann doch keinen Unterschied machte - nicht nur Hirschfeld, sondern auch seine respektableren Kollegen wurden von den Nazis vertrieben, und ihr Werk wurde systematisch zerstört. Als die Sexualwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrte, war sie sehr viel artiger und bescheidener geworden. Ihren Geburtsort Berlin wagte sie erst gar nicht mehr zu betreten. Dort ist die Forschung inzwischen wieder so ,vornehm' geworden, daß sie keinerlei Kontakt mehr mit sexuellen Minderheiten pflegt. Diese sind sich nun wieder selbst überlassen. Was sie wo, wie, warum und mit wem tun, ist nun ,droben im Licht' nicht mehr genau bekannt. Die in der Weimarer Republik, ja schon in wilhelminischer Zeit gut funktionierende Kommunikation zwischen wissenschaftlicher Oberwelt und sexuellem Untergrund ist, so scheint es, für unsere Gegenwart und nähere Zukunft verloren.

Man muß allerdings auch zugeben, daß diese Kommunikation bis vor kurzem nicht mehr so wichtig schien. Die Gesellschaft hatte sich, gerade auf sexuellem Gebiet, sehr liberalisiert, die offene Unterdrückung hatte fast aufgehört, das Sexualstrafrecht war reformiert, die Pornographie weitgehend freigegeben, die Empfängnisverhütung für alle praktikabel geworden. Und vor allem: Die früher mit Recht so gefürchteten Geschlechtskrankheiten waren alle ohne große Umstände heilbar. So konnte denn auch die Sexualwissenschaft als eine zwar unterhaltende, gelegentlich geistreich provozierende, im Grunde aber esoterische, überholte und unwichtige, letztlich überflüssige Unternehmung erscheinen.

Und nun kommt AIDS und wirft uns alle in die Lage unserer sexologischen Pioniere zurück! Wieder gilt es, den Kampf gegen eine sexuell übertragbare Krankheit zu organisieren, wieder müssen wir hinter den Symptomen dieser Krankheit die größeren sozialen und politischen Probleme aufzeigen, wieder müssen wir sexuelle Minderheiten schützen, wieder ihre Nähe suchen, ihre Gewohnheiten kennenlernen. Wieder müssen wir den Vorwurf der ,Unseriosität' auf uns nehmen, wieder den glatten Betrieb der etablierten Wissenschaft stören, wieder auf Dringlichkeit pochen, uns wieder unbeliebt machen, uns wieder dazwischendrängeln. Wir müssen wieder einmal beweisen, daß unsere Arbeit praktischen Sinn hat, daß wir keine Verantwortung scheuen, daß wir uns auskennen, wo andere nur Vermutungen hegen, daß wir nicht nur denken und reden, sondern auch handeln können.

Unsere Aufgaben sind vielfältig, in der Forschung sowohl wie in der Lehre.

Forschung

Die genauen Infektionswege des Human Immunodeficiency Virus sind, wie gesagt, noch umstritten. Die sexuelle Übertragung scheint von Mann zu Mann und von Mann zu Frau sehr viel leichter zu sein als von Frau zu Mann, obwohl sie auch hier eindeutig nachgewiesen ist. Die genauen Einzelheiten und deshalb die verschiedenen Risikograde verschiedener sexueller Techniken sind also noch unklar. Hier könnten systematische und ausführliche sexologische Interviews vielleicht Aufklärung bringen.

Weiter: Da das Virus sich in den USA und Europa zunächst sehr stark durch männlichen homosexuellen Verkehr verbreitet hat, wäre es sehr wichtig zu wissen, wieviele Männer bisexuell verkehren, also eine homosexuell erworbene Infektion heterosexuell weitergeben könnten. Hierüber liegen bisher nirgends genaue Angaben vor, und die Schätzungen gehen weit auseinander. Die einzige wissenschaftlich brauchbare Studie auf diesem Gebiet ist der nun fast 40 Jahre alte ,Kinsey Report' über Das Sexualverhalten des Mannes (1948). Dieser Report gibt uns viele wertvolle Hinweise, sagt aber über gewisse andere, nun sehr wichtige Detailfragen so gut wie gar nichts 13.

Kinsey gelang es nachzuweisen, daß eine strikte Trennung zwischen homosexuellen und heterosexuellen Männern nicht möglich ist, da nur etwa 4% aller Männer sich ihr Leben lang ausschließlich homosexuell verhalten und nur 50% ausschließlich heterosexuell reagieren. Es bleiben also 46% der gesamten männlichen Bevölkerung, die in irgendeiner Form, wenigstens zeitweilig, körperlich oder seelisch ein bisexuelles Verhalten zeigen. Das bedeutet aber andererseits noch nicht, daß sie alle tatsächlich homosexuell verkehren und noch weniger, daß sie sich dabei infizieren könnten. Nicht nur die Häufigkeit verschiedener sexueller Techniken, sondern auch die Anzahl der bisexuellen Kontakte bleiben in Kinseys Studie unklar. Sie illustriert vor allem ein Verhaltenskontinuum und stellt dabei nur das Verhältnis von heterosexuellen zu homosexuellen ,Erfahrungen' dar. Mit diesen Erfahrungen sind aber nicht nur konkrete Handlungen, sondern auch unerfüllte Wünsche und Phantasien gemeint. Kinsey gibt also gerade in dem für uns nun entscheidenden Punkt keine absoluten Zahlen. Weiterhin macht er deutlich, daß viele Individuen im Laufe ihres Lebens auf dem bisexuellen Kontinuum auf und ab wandern. Kurz, es ist äußerst schwierig, aus Kinseys Statistiken - selbst wenn man sie für universal gültig hält - die genaue Anzahl oder auch nur Prozentzahl infektionsträchtiger Sexualkontakte herauszufiltern. Die bisexuelle Übertragungsbrücke für das Human Immunodeficiency Virus wird also nur in sehr verschwommenen Umrissen sichtbar. Wir können nur ahnen, daß sie viel breiter ist als vielerseits angenommen.

Es würde sich aber wohl lohnen, mit Hilfe des ersten ,Kinsey-Reports' und gewisser Begleitstudien oder sogar der neu auszuwertenden originalen Interview-Daten nach den präzisen Kontaktzahlen zu fahnden. Kinsey selbst hatte noch eine besondere Untersuchung des heterosexuell-homosexuellen Kontinuums geplant. Sie wurde nur durch die Streichung seiner Forschungsgelder und seinen frühen Tod verhindert 14. So ist seine Hinterlassenschaft fragmentarisch geblieben. Nach ihm sind aber ähnlich ehrgeizige sexologische Forschungen nicht mehr finanziert worden, denn sie galten allgemein als kontrovers, eigentlich unwichtig und sogar frivol. Daher fehlt uns heute im Kampf gegen AIDS viel nötiges Wissen.

Zum Beispiel: Ein Computer-Modell der jetzigen epidemiologischen Entwicklung von AIDS kann nur sinnvolle Aussagen oder gar Voraussagen machen, wenn es wenigstens ungefähr korrekte homosexuelle und bisexuelle Kontaktzahlen enthält. Da diese Zahlen wiederum nach dem bisexuellen Kontinuum abgestuft und aus den verschiedenen Kinsey-Studien vorsichtig extrapoliert werden müssen, ist ein solches Computer-Modell ohne sexualwissenschaftliche Mitarbeit gar nicht herstellbar. Ein einigermaßen verläßliches Modell dieser Art könnte aber gesundheitspolitisch nicht nur national, sondern auch international von wesentlicher Bedeutung sein 15.

Gerade an diesem Beispiel wird aber auch wieder deutlich, daß viele Probleme mit AIDS nur interdisziplinär zu lösen sind. Das gilt auch für psychologische Probleme, wie etwa die Motivierung von infektionsgefährdeten Gruppen und Individuen zur Verhaltensänderung. Wir wissen, daß mindestens für alle ,Testpositiven', also bereits Infizierten, eine Änderung des Sexualverhaltens absolut unverzichtbar ist; sie muß also auch ein Teilziel jeder Test-Nachberatung sein. Wie soll aber der Durchschnittsarzt oder -psychologe eine solche Beratung erfolgreich durchführen, wenn er nicht alle möglichen Sexualverhalten in allen möglichen gefährdeten Gruppen genau kennt? Die gängigen, laienhaften Annahmen darüber, auch unter promovierten Akademikern, sind oft völlig falsch und können zu fatalen Mißverständnissen führen. Hier kann nur der Sexualwissenschaftler die richtigen Informationen liefern.

Er weiß aber auch, daß Sexualverhalten auf die Dauer nur zu ändern ist, wenn die Änderung kollektiv in der jeweiligen Gruppe akzeptiert und gestützt wird. Das aber erfordert eine ständige Kontaktpflege sowie einen leichten Zugang zu allen diesen Gruppen, und dies wiederum ist die ureigene Domäne des Sexologen. Er, wie kein anderer Wissenschaftler, muß und kann das Vertrauen sonst unsichtbarer oder unerreichbarer Minderheiten gewinnen und dann auf dieser Basis eine Reihe von Forschungen durchführen, die für seine Kollegen aus anderen Fachgebieten unmöglich sind. So werden etwa an unserem Institut in San Francisco zur Zeit Studien in heterosexuellen Sex-Clubs über mögliche HIV-Infektionen durchgeführt und über das Sexualverhalten homosexueller und bisexueller Männer nach ihrer AIDS-Diagnose. Ich möchte behaupten, das besonders die letztere, äußerst wichtige Untersuchung ohne die Spezialkenntnisse und Gruppenkontakte eines Sexualwissenschaftlers gar nicht denkbar ist. Die Liste möglicher und notwendiger sexologischer Forschungsbeiträge ließe sich beliebig verlängern; an dieser Stelle genügen aber wohl diese ersten Hinweise. Noch wichtiger als solche Projekte sind augenblicklich vielleicht die Ausbildungs- und Fortbildungsaufgaben der Sexualwissenschaft.

Lehre

Die erste Pflicht der Sexualwissenschaftler ist es natürlich, ihren eigenen Nachwuchs auszubilden und ihn dabei auch mit allen existierenden sexuellen Minderheiten, Subkulturen und ,Szenen' persönlich vertraut zu machen. Das heißt, zur Sexologie als theoretischer Anstrengung gehört auch eine praktische und ständig fortgesetzte Erfahrung ,vor Ort'. Ein Sexologe, der etwa Bordelle, Sexkeller, Herrensaunen, Nacktbadestrände, Sadomasochistenklubs und ähnliches nur aus Büchern kennt, hat seinen Beruf verfehlt. Er wird auch beim Kampf gegen AIDS versagen, denn er kann dann unmöglich in diesen Umgebungen direkt für die Vorbeugung wirksam werden. In diesem Sinne muß die Sexualwissenschaft vor allem eine Sexualanthropologie, d. h. Feldforschung sein. Die großen Empiriker Hirschfeld und Kinsey haben uns all das vorgemacht und können uns hier als Vorbilder dienen.

In zweiter Linie käme dann die sexologische Fortbildung von Akademikern aus anderen Fachgebieten hinzu, etwa von Medizinern, Psychologen, Soziologen, Sozialarbeitern, Juristen, Theologen usw. Viele dieser Kollegen müssen sich, meist unzureichend vorbereitet, mit sexuellen Fragen befassen und oft wichtige Entscheidungen fällen. Spezielle Fortbildungsseminare oder -kurse könnten ihnen also sehr nützlich sein. Es gibt dafür auch bereits sehr gute Ansätze, sowohl in den USA wie auch in der Bundesrepublik. Hier wird bisher am besten die Verbindung Sexologie und Medizin gepflegt. Die jährlichen Fortbildungstage für praktische Sexualmedizin in Heidelberg, die in der vergangenen Woche ihr zehnjähriges Bestehen feiern konnten, sind ein sehr gutes Beispiel 16. Aber auch dort wäre eine erhebliche Ausdehnung wünschenswert, ja, sie ist wohl auch unausweichlich. Mit dem Anwachsen der Bedrohung durch AIDS werden sich immer mehr Ärzte wenigstens ein gewisses sexologisches Elementarwissen aneignen müssen.     

Weitere Berufsgruppen, die sich mit AIDS befassen müssen und also eine sexologische Fortbildung brauchen, sind Krankenpfleger, Beamte im Strafvollzug, in der Schulverwaltung, in der Sozialfürsorge usw. Dazu kommen noch verschiedene Angestellte in halbprivaten oder privaten Organisationen wie Rotes Kreuz, Pro Familia, den Kirchen und den Gewerkschaften. In San Francisco wiederum hat man inzwischen auch ein Sonderprogramm für Betriebe entwickelt, das von diesen selbst finanziert wird. Dabei halten Spezialisten in der AIDS-Vorbeugung Seminare für alle Mitarbeiter ab. Dies beugt aber nicht nur der Infektion vor, sondern vor allem auch möglicher Panik und Diskriminierung am Arbeitsplatz, falls tatsächlich jemand an AIDS erkranken sollte. Da die Firmen, vom Direktor bis zum Pförtner, nun ausreichend informiert sind, können sie zu allerseits akzeptablen und humanen Lösungen kommen. (In der Praxis arbeiten die AIDS-Kranken meist einfach weiter, solange es ihre Gesundheit erlaubt.) Kurz zusammengefaßt: Bei der Fortbildung und AIDS-Vorbeugung eröffnet sich den Sexualwissenschaftlern nun ein sehr weites Feld. Sie müssen aber die Initiative ergreifen und dieses Feld entschlossen betreten, sonst ist ihre Glaubwürdigkeit dahin.

Ja, sie können und sollten noch viel weiter gehen. Einige meiner Kollegen in San Francisco zum Beispiel haben ein ,sexologisches Gesundheitsprojekt' begründet, das alle denkbaren Sexualpraktiken auf ihr mögliches Infektionsrisiko untersucht und Wege erforscht, dieses Risiko zu vermindern. Die Arbeitsergebnisse werden dann, gefördert von der San Francisco AIDS Foundation, in öffentlichen und privaten Seminaren für alle möglichen Zielgruppen präsentiert - für Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle, Sadomasochisten usw. Das Projekt hat inzwischen auch verschiedene Druckschriften und Broschüren sowie ,Safe Sex'-Videokassetten hergestellt, die von sehr vielen sehr dankbar aufgenommen worden sind 17. Nichts von diesem Material hätte ohne sexologische Kenntnisse und Kontakte entwickelt werden können. Besonders die traditionelle Medizin ist mit solchen Aufgaben hoffnungslos überfordert. Also ist hier eine sexologisch-medizinische Zusammenarbeit praktisch vorprogrammiert.

Das gilt auch für viele andere Fachgebiete, die von solcher Zusammenarbeit profitieren könnten. Leider fehlt aber der sexologische Gesichtspunkt an den Universitäten allgemein, und deshalb sind sie auch meist nicht in der Lage, allein wirkungsvolle AIDS-Programme zu schaffen. Die großen Universitäten in der Umgebung von San Francisco - Berkeley, Stanford und San Francisco State University - sind eine Ausnahme, da sie von den vielfältigen Anstrengungen der Stadt profitieren. San Francisco State University, die einen eigenen sexologischen Studiengang anbietet, war im November 1985 die erste, die eine ganze AIDS-Vorbeugungswoche für die Studentenschaft organisierte, und auch die anderen akademischen Bildungsanstalten zogen dann bald nach 18. Etwas Derartiges wäre aber auch dringend an deutschen Universitäten geboten. Daß es bisher nicht dazu gekommen ist, spricht weder für sie noch für die deutsche universitäre Sexualwissenschaft. Es genügt keineswegs, wenn Professoren in würdevollen Erklärungen vor Diskriminierung und Panik warnen 19. Sie müssen auch gleichzeitig aktiv und positiv diesen Gefahren vorbeugen. Wo sind aber die deutschen universitären Ringvorlesungen, Diskusssionsveranstaltungen, Vorträge und Seminare über die sozialen, ja politischen Aspekte von AIDS? Wo ist die internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit? Will man erst warten, bis die Panik ausgebrochen und die Diskriminierung Wirklichkeit geworden ist? Will man dann auch wieder nur Erklärungen abgeben, ohne etwas Praktisches zu tun?

Die hochmütige Weltfremdheit der deutschen Wissenschaft - in der Vergangenheit so oft im Ausland bemängelt und im eigenen Lande beklagt - besteht trotz verschiedener 'Reformen' an allzu vielen Universitäten weiter fort. Wir sozialwissenschaftlichen Sexualforscher dürfen uns dadurch aber nicht entmutigen lassen. Wir haben einiges zur Bekämpfung von AIDS beizutragen. Machen wir uns also nützlich!

Praktische Empfehlungen

Die Sexualwissenschaft ist, ihrer Geschichte und ihrer Aufgabe nach, eine interdisziplinäre Unternehmung 20. Sie ist auch von Anfang an international orientiert gewesen, obwohl sie ihre förmliche Organisation und ihren größten Einfluß vor 1933 in Deutschland erreichte. Seither darbt sie in ihrem Geburtsland recht provinziell dahin, könnte jetzt aber vielleicht eine neue Blüte erleben, wenn sie sich rechtzeitig auf ihre Pflichten besinnt.

Dazu gehört vor allem die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, wie sie uns in den USA selbstverständlich ist. Wie gesagt, pflegen wir zum Beispiel sowohl von der San Francisco State University als auch von unserem Privatinstitut aus internationale Kontakte zu Kollegen in den verschiedensten Fakultäten. Mein eigener Auftritt hier ist nur die neueste Illustration dafür. Unsere Tagung, die ihrerseits wiederum Wissenschaftler mehrerer Länder und Fachrichtungen zusammenbringt, demonstriert aber auch im Ansatz, wie die Entwicklung erfolgreich weiter verlaufen könnte.

Wenn wir nun miteinander in die Zukunft sehen, so empfiehlt es sich allerdings, zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren zu unterscheiden, sonst halten wir die unvermeidliche Enttäuschung nicht aus. Erinnern wir uns an Magnus Hirschfelds wehmütigen Seufzer: "Ein Ideal kann niemals Wirklichkeit werden, da die Wirklichkeit nie ideal ist21."

Zu den Mängeln der Wirklichkeit gehören leider auch akademische Arroganz, bürokratische Trägheit und allgemeine Phantasielosigkeit, und so mag es eine Weile dauern, bis selbst einfache, dringende Empfehlungen akzeptiert werden. Ich selbst habe an anderer Stelle schon mehrere praktische Vorschläge zur Vorbeugung gemacht 22 und möchte hier nur noch einmal die beiden wichtigsten wiederholen:

 1. Eine internationale, interdisziplinäre AIDS-Studienkommission, die vor allem die sozialwissenschaftlichen Aspekte des Problems studiert, also nicht medizinisch beherrscht wird. Dies ist umso wichtiger, als die internationale Zusammenarbeit der Mediziner in AIDS-Forschung und Therapie mittlerweile gut organisiert ist. Auf dem Gebiet der sozialen und politischen Nebenfolgen von AIDS ist aber eine solche Zusammenarbeit kaum zu erkennen. Fragen des Testzwangs, des Datenschutzes, der Diskriminierung am Arbeitsplatz, der Versicherung, des Tourismus, der Einwanderung, des Sexualstrafrechts, des Strafvollzugs, der beruflichen Fortbildung und Ethik - alle diese und viele andere vertrackte Probleme greifen hier ineinander und müssen möglichst frühzeitig antizipiert und sachverständig durchgespielt werden. Hier nun kann die Sexualwissenschaft, als ein Forschungsgebiet unter anderen, sehr wertvolle Beiträge leisten, ja, in vielen Fällen ist ihre Mitwirkung unverzichtbar. Sexualwissenschaftliche Forschungen sollten also in alle entsprechenden Projekte von vornherein eingebaut und ausreichend finanziert werden.

 2. Eine weitgehend autonome, gemischt öffentlich und privat finanzierte Deutsche AIDS-Stiftung, die eine professionell organisierte Aufklärung und Vorbeugung für alle gefährdeten Gruppen und Individuen konzipiert, koordiniert und verbreitet. Aus unseren amerikanischen Erfahrungen wissen wir heute, daß eine solche Aufklärungsorganisation potentiell die gesamte Bevölkerung ansprechen muß. Sie muß daher vorausplanen und hochqualifizierte Spezialisten aus den verschiedensten Lebensbereichen fest anstellen können. Weitgehend amateurhafte ,Selbsthilfegruppen' mit ehrenamtlichen Helfern sind kein Ersatz. Sie sind notwendige Elemente einer solchen übergreifenden Organisation, ja, sie brauchen diese Organisation als Beistand und Schutzbild, um selbst voll wirksam werden zu können. Ohne die Führungs- und Vermittlerrolle einer unabhängigen Stiftung sind Selbsthilfegruppen vielmehr jedem politischen Wind und jeder bürokratischen Laune ausgeliefert. Natürlich ist ihre direkte amtliche Kontrolle für die Kontrolleure bequem, aber - wie das erwähnte Beispiel der CDC-Aufklärungsrichtlinien zeigt - für eine wirkliche Aufklärung ineffektiv. Sie hat erst dann eine Chance, wenn sie auf wissenschaftlicher Grundlage fachmännisch organisiert wird. Offensichtlich ist dabei die Sexologie von allen Wissenschaften die wichtigste.

Die beiden hier vorgeschlagenen Institutionen sind als Entsprechungen und Zusammenfassungen der wichtigsten Programme in San Francisco konzipiert und auch schon für die deutschen Verhältnisse entsprechend modifiziert. Da zum Beispiel die deutschen Homosexuellen und Bisexuellen nicht annähernd so gut organisiert sind wie die amerikanischen, da andererseits die deutschen Politiker aller Parteien allgemein in sexuellen Fragen liberaler sind als ihre amerikanischen Kollegen, da das deutsche Sexualstrafrecht in vieler Hinsicht progressiver erscheint, und da die Bundesrepublik außerdem räumlich viel kleiner ist als die Vereinigten Staaten, scheint eine gewisse Zentralisierung auf höherer Ebene wünschenswert. Gleichzeit sollte dabei die öffentlich-private Zusammenarbeit gefördert werden. Es ist zwar zu berücksichtigen, daß das deutsche Spenden- und Stiftungswesen im Vergleich zu den USA unterentwickelt ist und erst noch ermuntert werden muß; gerade diese Ermunterung kann aber von einer AIDS-Studienkommission und einer Deutschen AIDS-Stiftung besonders gut gegeben werden.

Diese neuen Einrichtungen können aber auch vor allem die bereits angelaufenen Anstrengungen der Bundesregierung sehr beschleunigen und wirkungsvoller machen - etwa die Erarbeitung amtlicher Richtlinien und Lehrpläne, Kongreßveranstaltungen, Aufklärungskurse verschiedener Art, den Druck von Merkblättern für die Allgemeinheit und bestimmte Personengruppen, die Produktion von Filmen, Video- und Audiokassetten, die Unterstützung von Selbsthilfegruppen, Benefizveranstaltungen, psycho-soziale Beratung und Betreuung, Gesundheitsaufsicht und, nicht zuletzt, die sexualwissenschaftliche Forschung.

Bis diese Ideale Wirklichkeit geworden sind, und selbst wenn sie es, wider alle Vernunft, niemals werden, sollten wir aber nicht müßig bleiben. Wir können wenigstens fragmentarisch und gelegentlich hier und da tätig werden und sollten unsere Hilfe überall anbieten. Wir müssen eben begreifen, daß niemand auf uns zukommen und uns direkt um diese Hilfe bitten wird. Im öffentlichen und leider auch akademischen Bewußtsein ist die Sexologie seit ihrer Zerstörung durch Hitler nicht mehr als umfassende Wissenschaft präsent. Da sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz gegen ihre eigene Entwicklungslogik, nur an ein paar medizinische Fakultäten angeschlossen worden ist, wird sie bis heute meist mit einem ihrer Spezialgebiete, der Sexualmedizin, verwechselt. Die Behandlung von Sexualstörungen bei Patienten und die Begutachtung von Sexualstraftätern wird ihr ohne weiteres zugestanden, aber eine sozialwissenschaftliche Sexualforschung erscheint leicht als suspekt. Zwar haben auch seither deutsche Kollegen gelegentlich eine solche Forschung betreiben können, auf die Dauer fehlte ihnen dann aber doch die institutionelle Stütze. Es ist deshalb traurig, aber wahr, daß augenblicklich qualifizierte Sexualforscher fehlen, die alle jetzt wartenden Aufgaben übernehmen könnten. Hier haben wir es noch mit einem andauernden Sieg Hitlers zu tun, den wir ihm erst noch entreißen müssen.

Der Gedanke ist unabweislich, daß Deutschland heute beim Kampf gegen AIDS sehr viel besser da stünde, wenn Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft in Berlin wiederaufgebaut worden wäre. Es hätte ganz allein und wie selbstverständlich die Doppelrolle einer AIDS-Studienkommission und AIDS-Stiftung übernommen und wäre so auch wieder in eine international bahnbrechende Rolle hineingewachsen. Es gehört zu den großen Skandalen der bundesdeutschen Wissenschaftsgeschichte, daß, bei einem sonst beispiellosen Ausbau des Hochschulwesens, dieses Institut heute immer noch fehlt.          

Dennoch, wir sozialwissenschaftlichen Sexualforscher müssen weitermachen und uns behelfen, so gut es geht. Den Leitgedanken für unsere Arbeit können wir dabei wiederum von Hirschfeld selbst übernehmen, der sagte: "Das soziale Problem besteht darin, Verhältnisse zu schaffen, die es möglichst vielen Menschen erlauben, gut zu sein23." Auf AIDS angewandt, kann das heute nur heißen: "Das sexuelle Problem besteht darin, Verhältnisse zu schaffen, die es möglichst vielen Menschen erlauben, glücklich zu sein und gesund zu bleiben."

Anmerkungen

1. Das Virus wurde zunächst von Luc Montagnier LAV (Lymphadenopathy-Associated Virus) genannt, dann von Robert Gallo HTLV-III (Human T-cell Lymphotropic Virus, Typ III), dann von Jay Levy ARV (AIDS-Related Virus). Der neue Name HIV (Human Immunodeficiency Virus) wurde Anfang Mai 1986 von einem Sonderkomitee des International Committee on the Taxonomy of Viruses (Vorsitz: Harold Varmus, UC San Francisco) in einem Brief an die Zeitschriften Nature and Science vorgeschlagen. Dieser Kompromiß, der u. a. auch einen Prioritätsstreit zwischen Montagnier und Gallo umgeht, hat den zusätzlichen Vorteil, den Begriff AIDS oder die Nennung anderer spezifischer Krankheitsbilder zu vermeiden. Nicht jede Infektion mit dem Virus führt ja zur Krankheit, und wenn, dann muß die Krankheit nicht unbedingt der engen klinischen Definition AIDS entsprechen. (Siehe auch "Scientists offer name in try to end AIDS dispute". San Francisco Chronicle, 21. April 1986, und "Big dispute over changing AIDS name", San Francisco Examiner, 1. Mai 1986.) 

2. Eine Definition von AIDS zum Zwecke der Meldung wurde zuerst veröffentlicht im September 1982 in Morbidity and Mortality Weekly Report. Am 28. Juni 1985 wurde diese Definition dann in der gleichen Zeitschrift revidiert. Sie bezieht sich nach wie vor jedoch nur auf die sehr schweren Manifestationen der Krankheit, die vor allem opportunistische Infektionen wie Pneumocystis carinii pneumonia und/oder das Kaposi-Sarkom einschließen müssen. - Eine bindende Definition von ARC gibt es zur Zeit nicht, weshalb die hier in Frage kommenden Krankheitsbilder auch nicht bundesweit gemeldet werden. Die Ärztevereinigung "Bay Area Physicians for Human Rights" in San Francisco hat neuerdings eine praktische Arbeits-Definition vorgeschlagen. Danach müssen mehrere klinische, immunologische und andere Laborbefunde zusammentreffen, etwa Lymphadenopathie und Herpes Zoster und eine Zählung von T-Helferzellen unter 400/mm2 und ein HIV-Antikörper-positives Testresultat. Noch mehrere andere Kombinationen unter verschiedenen Befunden sind möglich, so etwa bei Gewichtsverlust um mehr als 10% des Körpergewichts, monatelangem Fieber oder Mundpilz. Dennoch bleibt auch diese Definition relativ eng. (Siehe "A working definition of ARC". Focus - A Review of AIDS Research, vol. 1, Nr. 3, Febr. 1986.) Nähere Information über diese Definition kann auch bezogen werden von BAPHR, Box 14546, San Francisco, CA 94114. Siehe außerdem Gottlieb, M. et al. "Classification of HTLV-III/LAV-Related Diseases". Journal of Infectious Diseases (1985) 152 : 1095. 

3. Die Initiatoren des Projekts waren ursprünglich das Institute for Cancer Research und AIMS (Advanced Investigation of Medical Science), beide am Pacific Presbyterian Medical Center in San Francisco. AIMS hatte seit 1962 an geheimen Forschungen zur chemischen und biologischen Kriegsführung teilgenommen. Die beiden Mitglieder der Hoover Institution waren Richard Staar und Rita Ricardo-Campbell, Ehefrau des Direktors Giert Campbell. Dieser ist gleichzeitig Regent der University of California, eines Universitätssystems, zu dem auch UC Berkeley gehört. Siehe David L. Kirp, ,"Drastic' measures in disputed AIDS study". San Francisco Examiner, 9. Februar 1986.

 4. Siehe "Stanford disavows germ-war group's planned AIDS study". San Francisco Examiner, 10. Februar 1986, und David L.Kirp, " Hoover and AIDS". San Francisco Examiner, 12. Februar 1986.

 5. Die von der Regierung vorgeschlagene Kürzung wird aber wahrscheinlich vom Kongreß ignoriert werden, der sogar dazu neigt, die Ausgaben für die Bekämpfung von AIDS drastisch zu erhöhen. So beschloß etwa das Repräsentantenhaus im Mai 1986 einen AIDS-Haushalt von 346000 Dollar, und der Senat wird vermutlich ebenfalls etwa in dieser Größenordnung bleiben.

 6. William F. Buckley Jr., "Crucial steps in combating the AIDS epidemic - Identify all the carriers". New York Times, 16. März 1986. Zumindest eine strikte "Quarantäne" wurde im gleichen Monat in  einer  sonst  seriösen  konservativen  Zeitschrift  vorgeschlagen:  James  F.Grutch,  Jr.,  und A.D.J. Robertson, "The Coming of AIDS - It didn't Start with homosexuals, and it won't end with them". The American Spectator, vol. 19, Nr. 3, März 1986.

 7. Centers for Disease Control, Centers for disease control guidance on written, pictorial, and audiovisual materials and questionnaires or survey instruments related to AIDS risk reduction and for conducting group educational sessions in CDC funded programs. Atlanta, GA, CDC, 23. Dezember 1985. Siehe auch die heftige Kritik an diesen Richtlinien von sexologischer Seite: Ronald Moglia, "The Safe Sex Shell Game". SIECUS Report, vol. XIV, Nr. 5, Mai 1986.

 8. Leitartikel in Bay Area Reporter, vol.XVI, Nr.4, 23.Januar 1986.

 9. Leitartikel in San Francisco Chronicle, 3. Januar 1986.

 10. Verschiedene Weltkongresse für Sexologie haben die geringe Anzahl und unzureichende Ausbildung von Sexologen der Dritten Welt deutlich gemacht, besonders wenn diese Kongresse in solchen Ländern selbst stattfanden, wie 1979 in Mexico City und 1985 in Neu-Delhi. In ihrer offiziellen Broschüre für Europa stellt die WHO aber eindeutig fest: "The most effective control measures will be somewhat different from country to country, depending on cultural and administrative traditions. The most important means at present available of limiting the spread of infection ... is the Provision of information about the ... probable routes of transmission. ... This information should be widely disseminated in the Community and in groups at increased risk ..., and should be provided in layman's language ... Homosexual and bisexual men should be informed about measures to reduce the risk of infection ... This information should be prepared and disseminated ... in collaboration with the male homosexual Community. ... Although the protective efficacy has yet to be demonstrated, risk of infection may be reduced by the use of Condoms. Although oral-anal and oral-genital contact... have not been shown to be as risky as anal intercourse, infection may spread by these means and their avoidance should be advised." Siehe World Health Organization Regional Office for Europe, Copenhagen, Guidelines on AIDS in Europe, 1985, S. 13-14.

 11. Die Stadt San Francisco, zum Beispiel, die mit 700000 Einwohnern kleiner ist als Hamburg, München oder West-Berlin, gibt im laufenden Haushaltsjahr 1985/86 eine Million Dollar aus dem Stadtsäckel allein für die Vorbeugung aus. Dazu erhält die San Francisco AIDS Foundation außerdem etwa 900000 Dollar aus privaten Spenden. Es war aber nur unter diesen Umständen möglich, die hier bestehenden mustergültigen Programme aufzubauen.

 12. Siehe "AIDS test Stands between gay dad and his kids", San Francisco Examiner, 11. Mai 1986.

 13. Kinsey, Alfred C, Pomeroy, Wardell B. und Martin, Clyde E.: Sexual Behavior in the Human Male, Philadelphia und London 1948. Diese sehr gründliche, und bisher einzige wissenschaftlich wirklich brauchbare Studie männlichen Sexualverhaltens allgemein, wies nach, daß eine strikte Trennung von Homosexuellen und Heterosexuellen nicht möglich, bisexuelles Verhalten aber sehr weit verbreitet ist. Es lassen sich aber aus Kinsey's ,Report' keine genauen Zahlen für potentiell HIV-infektionsträchtige bisexuelle Kontakte entnehmen. Einige zusätzliche Hinweise auf homosexuelle Kontakte finden sich jedoch in Gebhard, Paul H. und Johnson, Alan B.: The Kinsey Data-Marginal Tabulations of the 1938-1963 Interviews Conducted by the Institute for Sex Research. Philadelphia und London 1979.

 14. Siehe Pomeroy, Wardell B.: Dr. Kinsey and the Institute for Sex Research. New York 1972. S. 445-448.

 15. Ein erster, vielversprechender, wenn auch noch unzureichender Versuch in dieser Richtung ist von dem Psychologen Dietrich Dömer, Bamberg unternommen und dann von einem deutschen Nachrichtenmagazin etwas voreilig vorgestellt worden. Siehe: Der Spiegel, Nr. 18 (28. April 1986). S.209 und 212/213.

 16. Das Programm der Heidelberger Fortbildungstage enthielt schon 1985 eine besondere Veranstaltung zum Thema AIDS, bei der außer virologischen und epidemiologischen Fragen auch die der Prophylaxe behandelt wurde. Außerdem wurden bei dieser Gelegenheit offizielle Erklärungen aller drei deutschen sexologischen Gesellschaften (auch der DGSS) abgegeben und diskutiert. Die Vorträge und Diskussionen sind abgedruckt in Eicher, Wolf, Herms, Volker und Vogt, Hermann-J. Hg.: Praktische Sexualmedizin 1985. Wiesbaden 1986, S.235-284.

 17. The Institute for Advanced Study of Human Sexuality: Safe Sex in The Age of AIDS - For Men and Women, Secaucus, N.J. 1986; Taylor, Clark et.al.:The Hot'n Healthy Times ~ Condom Sense. San Francisco 1986; plus zwei ,Safe Sex'-Videokassetten: The National Sex Forum: "Norma and Tony" (für Bisexuelle und Drogenabhängige) und "All Hands on Dick" (für männliche Homosexuelle).

 18. Die AIDS-Vorbeugungs-Woche der San Francisco State University fand vom 11.-16. November 1985 statt. Sie stand unter der Schirmherrschaft der Bürgermeisterin und des gesamten Stadtrates und war somit auch der Bürgerschaft allgemein zugänglich. Das Programm bestand aus Vorträgen, Seminaren, Diskussionsrunden und künstlerischen Darbietungen (Film, Theater, Dichterlesung), und während der gesamten Woche waren die wichtigsten AIDS-Programme der Stadt mit eigenen Auskunftsständen auf dem Universitätsgelände vertreten. Seither sind ähnliche Vorbeugungstage auch von der Stanford Universität und der Universität in Berkeley durchgeführt worden.

 19. In den USA etwa hat Helen Singer Kaplan, eine sonst sehr angesehene Sexualtherapeutin, in ihrer Zeitschrift Journal of Sex & Marital Therapy (vol. 11, Nr. 4, Winter 1985) einen sehr kurzsichtigen und in Einzelheiten medizinisch unsinnigen Leitartikel zum Thema AIDS verfaßt. (Er wurde außerdem von ihren Mitherausgebern Clifford Sager und Raul Schiavi unterschrieben.) Kaplan behauptet hier u.a., daß "65% der asymptomatischen Virusträger niemals die (?) Krankheit bekommen werden." Für diese Behauptung gibt es keine Beweise (und kann es bisher auch nicht geben!) Kein ernsthafter Forscher hat heute solche gesicherten Zahlen zur Verfügung oder würde entsprechende Voraussagen machen. Kaplan behauptet ferner, daß "immunopositive (?) Indivi-duen niemals mehr Sexualkontakt haben ("have sex") können, ohne das Leben ihrer ... Partner zu gefährden." Sie behauptet auch: "Ansteckungssicheren Sex ("safe sex") gibt es nicht". Diese Behauptung ist nicht nur offensichtlich falsch, sondern verrät auch ein sehr beschränktes Verhältnis von den Möglichkeiten des Sexualkontakts - bei einer Sexualtherapeutin besonders seltsam. Zur Vorbeugung fällt ihr dann das Folgende ein: "Alle ledigen Männer und Frauen sollen mit Partnern aus den Hochrisikogruppen nur noch sexuell verkehren, wenn diese einwilligen, sich testen und abklären zu lassen". Dieser Ratschlag ist leider weitgehend unsinnig, da jede "Abklärung" durch einen HIV-Antikörpertest nur nach mehrwöchiger (oder gar mehrmonatiger) Wiederholung Sicherheit böte, und dann auch nur für den einen Tag, an dem der zweite Test "erfolgreich bestanden" ist. Solch ein Test kann eben sehr leicht ,falsch negativ' ausfallen, da nach einer Infektion die gesuchten Antikörper einige Zeit brauchen, um sich zu bilden. Andererseits sind sie bei einigen schweren Fällen von AIDS auch gar nicht mehr auffindbar, obwohl das Virus selbst natürlich durchaus noch übertragen werden könnte. Wichtiger als jeder Test bleiben daher die auch von der WHO empfohlenen Techniken des ,ansteckungssicheren' Sexualkontakts. (S.Anm. 10 supra.) Kaplan fordert dann weiter, daß "alle Personen, die Sexualkontakt mit multiplen Partnern haben, getestet werden. Dies schließt besonders sexuell aktive schwule ("gay") Männer ein, die nicht in monogamen Beziehungen leben, und Prostituierte". Folgerichtig fährt sie dann fort: "Die Sexualkontakte aller Infizierten sollten ermittelt und getestet werden". Kaplan schließt mit diesem erhebenden Appell: "Als Therapeuten fühlen wir Empathie und Mitleid mit den Patienten, die AIDS haben oder das AIDS-Virus in sich tragen, oder die Partner solcher Individuen sind ... Aber außerdem haben wir als Sexualtherapeuten jetzt eine viel schwerere Verantwortung. Wir sind in der besonderen Position, zahllose zukünftige und völlig unnötige Todesfälle zu verhindern, und unsere erste Priorität sollte sein, zu helfen, daß sich AIDS nicht weiter durch sexuellen Kontakt ausbreitet, indem wir an die Vernunft und das gute Gewissen von hochgefährdeten Individuen appellieren." - Als Kommentar zu diesem Leitartikel genügt es vielleicht, darauf hinzuweisen, daß Kaplan die sozialpolitischen Implikationen von Massentestungen ignoriert. Eine "Erfassung" aller Virusträger muß zwangsläufig zu konterproduktiven Repressionsmaßnahmen führen, besonders, wenn es stimmt, daß, wie sie behauptet, ansteckungssicherer Sex nicht existiert. (Gottseidank gibt es ihn aber doch!) Außerdem versteht Kaplan nicht, daß die Ermittlung von Sexualkontakten bei AIDS ohnehin zu keinem sinnvollen Ergebnis führen kann. Da zu erwarten ist, daß alle amtlich bekanntgewordenen Virusträger zu Opfern erheblicher Diskriminierung werden, werden die zunächst ermittelten ,Testpositiven' ihre wirklichen Partner nicht nennen. Sie werden im Gegenteil - kurz und drastisch gesagt - zu 90% behaupten, sie hätten sich auf einer Geschäftsreise bei einer ihnen unbekannten ,fixenden Nutte' angesteckt. Unter den Umständen schadet ein solcher Leitartikel nicht nur Kaplans eigenem Ansehen, sondern auch dem ihrer sexologischen Kollegen, denn sie alle geraten nun unter den Verdacht, mögliche Handlanger für Diskriminierung und staatliche Repression zu sein. Und leider nicht nur das: Die medizinischen Fehlinformationen und die verengte Sicht sexueller Möglichkeiten, die aus dem Artikel spricht, müssen in der Öffentlichkeit erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Sexologen wecken. Für die unmittelbar Gefährdeten aber, die es besser wissen, klingen Kaplan's hochtönende Worte von ,Empathie', ,Mitleid', Verantwortung', ,Vernunft' und ,gutem Gewissen' wie reiner Hohn. Für eine ausführliche Kritik an Kaplans Leitartikel siehe Erwin J. Haeberle: "AIDS and the Sex Therapist - A Rebuttal", Sexuality Today, vol. 9, Nr. 18 (17. Februar 1986).

Mangelndes Fachwissen verrieten leider auch einige deutsche Sexualwissenschaftler, die in einem Sonderheft Konkret-Sexualität (März 1986) verschiedene apodiktische Erklärungen zum Thema ,Operation AIDS: Das Geschäft mit der Angst - Sexualforscher geben Auskunft' anboten. Wo Kaplan aber unnötig dramatisiert und - bewußt oder unbewußt - repressiven Maßnahmen das Wort redet, versuchen ihre deutschen Kollegen, die Gefahr überhaupt zu verharmlosen. So behauptet dort etwa Gunter Schmidt (S.9): "Die Hochrechnungen sind sozialpsychologisch falsch, weil sie in den nichtriskierten Gruppen (die ja über 95% der Bundesbevölkerung ausmachen) die gleichen Sexualgewohnheiten voraussetzen, wie bei den männlichen Homosexuellen." Dies tun die Hochrechnungen jedoch nicht. Sie setzen nur voraus, daß das Virus durch infizierten Samen sexuell übertragbar ist, und daß viele Homosexuelle und ,Fixer' bereits infiziert sind. Laut Schmidt machen nun aber alle Mitglieder aller heute hoch gefährdeten Gruppen (homosexuelle und bisexuelle Männer und Drogenabhängige beider Geschlechter) und deren Sexualpartner und -Partnerinnen alle zusammen weniger als 5% der Bevölkerung aus. Dazu ist zu sagen: 1. Schmidt suggeriert hier, daß AIDS ein ,Minderheitenproblem' ist und bleiben wird, daß die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sich also keinerlei Sorgen um eine eigene Ansteckung zu machen braucht und die weniger als 5% betroffenen' schlimmstenfalls ausgrenzen könnte. 2. Schmidts Prozentzahl steht in eklatantem Widerspruch zu jeder sexualwissenschaftlichen Erkenntnis schon allein über bisexuelles Verhalten unter Männern. Laut Kinsey (s.o.) reagieren 46% der männlichen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens körperlich oder seelisch irgendwann bisexuell, und 37% haben wenigstens eine reale homosexuelle Erfahrung bis zum Orgasmus zwischen Adoleszenz und hohem Alter. 30% aller Männer haben zumindest einzelne homosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren zwischen dem Alter von 16 und 55 Jahren. 25% haben mehr als einzelne solcher Erlebnisse in diesem Zeitraum, 18% haben mindestens genau so viele homosexuelle wie heterosexuelle Erlebnisse oder Reaktionen, und 10% aller Männer sind mehr oder weniger ausschließlich homosexuell in ihrem Verhalten durch mindestens drei Jahre im Alter von 16-55 Jahren. (Kinsey: Sexual Behavior in the Human Male, S.650-651 und 656) Selbst wenn man nun bedenkt, daß Kinsey keine absoluten Zahlen für potentiell infektionsträchtige bisexuelle Konktakte liefert, und selbst wenn man seine Prozentzahlen als ,übertrieben' herunterschraubt, so bleiben dennoch die Behauptungen von Schmidt völlig außerhalb jeder wissenschaftlich begründbaren Diskussion. Schmidt fragt darauf anklagend (S.10): "Wo bleibt die Dimension der AIDS-Angst angesichts des Hungers und des Elends in der sogenannten Dritten Welt?" - Ein seltsamer Vorwurf, da man ja andererseits weiß, daß in einigen Gebieten der Dritten Welt AIDS heute schon ein größeres Problem darstellt als in den westlichen Industrieländern. - Ulrich Clement kritisiert, daß die üblichen AIDS-Kurven in der Presse einen kumulativen Inzidenzverlauf zeigen, wo doch ein zeitlicher Inzidenzverlauf sehr viel weniger bedrohlich wirkt (S.38-39). Das ist aber durchaus Ansichtssache, wie die zeitlichen Inzidenzraten etwa für San Francisco und die USA insgesamt zeigen:

                       San Francisco            USA insgesamt
1981 neue AIDS-Fälle:             24                      260
1982 neue AIDS-Fälle:             94                      994
1983 neue AIDS-Fälle:            294                     2719
1984 neue AIDS-Fälle:            501                     5331
1985 neue AIDS-Fälle:            760                 ca. 7000 (genaue Meldung
1986 (erstes Viertel)            240                           steht z.Zt. noch aus)

Wie man sieht, flacht die Kurve der AIDS-Neudiagnosen nach einem ersten, rapiden Anstieg in der Tat etwas ab (obwohl sie weiter steigt). Dies Bild ist aber insofern trügerisch, als die Neudiagnosen von ARC hier fehlen (schätzungsweise zehnmal soviel) und natürlich auch die Neuinfektionen (schätzungsweise hundertmal soviel). Bei der langen Inkubationszeit der verschiedenen durch das Virus hervorgerufenen Krankheiten, die sich im Laufe der Jahre sowohl zeitweilig bessern wie auch verschlimmern können, ist diese Kurvenabflachung also nur ein schwacher Trost. In Deutschland jedenfalls wird sie nicht sofort eintreten, denn dort steht zunächst einmal der anfängliche rapide Anstieg bevor. - Martin Dannecker wendet sich gegen eine massive Propagierung von ,Safe Sex', die eine Ehrenrettung der Masturbation einschließt. Diese "neue Sexualmoral" lehnt er ab, da "diese autistische und auf sich selbst zurückgeschmissene Sexualität... ein unreifes Verhalten ist und bleibt." (S.17) Und wie ein Psychiater des 19.Jahrhunders pathologisiert er weiter: "Ich bin inzwischen davon überzeugt, daß bei ungefähr fünfzehn Prozent der Homosexuellen das promiske Verhalten zwanghaft ist. Für diesen Teil kann man mit aller Vorsicht auch von einem süchtigen Sexualverhalten sprechen." (S. 19) Lassen wir die Frage beiseite, wie Dannecker zu seiner Prozentzahl kommt (sie ist als subjektiver Eindruck aus der Luft gegriffen), und bemerken wir nur den pseudowissenschaftlichen Versuch, wenigstens einen Teil der Homosexuellen wieder als krankhaft hinzustellen. Eine solche neuerliche Diffamierung - da nützt auch ,alle Vorsicht' nichts - würde von den amerikanischen ,Schwulen' jedoch mit Recht bekämpft werden. Ob die deutschen sich so etwas gefallen lassen, muß die Zukunft zeigen. Streng wissenschaftlich gesehen, bewegt sich Dannecker hier jedenfalls auf den Spuren von Krafft-Ebing im Bereich kulturspezifischer Werturteile. Moralisch tadelnde Begriffe wie "Süchtigkeit" und "Promiskuität" gehören nicht mehr in eine moderne, sich vor allem als empirisch verstehende Sexualwissenschaft. - Auch Volkmar Sigusch klammert sich an die romantische Ideologie unserer Vorväter und möchte "auf dem unabstellbar Triebhaften beharren" (S.72). Ja, er stellt befriedigt fest: "Die hiesige Sexualwissenschaft ... hat ... in Sachen "Safer Sex" vollkommen versagt, erfreulicherweise" (ibid.). Dem ist leider nichts hinzuzufügen außer, daß hier wenig Anlaß zur Freude besteht. Wer auf eine Vorbeugung gegen AIDS durch Verhaltensänderung rechnet, darf sich nicht mehr an deutsche universitäre Sexualforscher wenden. Sigusch hält aber ohnehin die Angst vor AIDS angesichts der Hunderttausend für übertrieben, die "jedes Jahr ... an Herzversagen, Krebs, Alkohol, Nikotin und anderen Drogen sterben" (S. 70). Ja, er fragt vorwurfsvoll: "Wer denkt... schon daran, ... daß mehr junge Frauen ... an der sogenannten Pille gestorben sind als Riskierte an AIDS?" (S.71). Kurz: wenn Epidemiologen zwischen Infektions- und anderen Krankheiten unterscheiden, dann sind sie gedankenlos; statistisch ist das Human Immunodeficiency Virus immer noch harmloser als ,die Pille', und wer auf schnell ansteigende Fallzahlen verweist, erzeugt nur unnötige Panik. Die von amerikanischen ,Schwulen' für sich selbst entwickelten Schutzmaßnahmen sind unter diesen Umständen repressiv, oder, wie Günter Amendt - sachlich falsch - formuliert: ,"Safe Sex' ist eine Sexualkampagne, die von oben kommt und aus den USA. ,Safe Sex' ist eine Hygiene-Kampagne, die eine neue repressive Sexualordnung propagiert. ,Safe-Sex' ist Ausdruck des US-amerikanischen Moral-Imperialismus ... Buchstabiert man AIDS von hinten, dann gelangt man mitten ins SDIAmerika" (S. 26). Hier nun werden sexualwissenschaftliche Inkompetenz und ein quasi automatischer Antiamerikanismus lebensgefährlich, denn sie können, wenn von Konkretlesern ernst genommen, bei vielen zu Sorglosigkeit, Unvorsichtigkeit, dann zu einer Infektion, zur Krankheit und endlich zum Tode führen. An diesen Beispielen - dem amerikanischen und dem deutschen - wird deutlich, wie wir sexologisch Interessierten uns nicht verhalten dürfen. Nach Kaplan "gibt es keinen 'Safe Sex'"; nach Amendt gibt es ihn zwar, er ist aber repressiv. In beiden Fällen ist die Ausrede perfekt - von beiden Seiten wird nichts für die Vorbeugung getan.

 20. Siehe auch Erwin J. Haeberle: "Sexualwissenschaft als Kulturwissenschaft - Zur Diskussion vor 1933", Sexualität als sozialer Tatbestand, Hg. Rolf Gindorf und Erwin J. Haeberle (Schriftenreihe sozialwissenschaftliche Sexualforschung 1, Berlin 1986).

 21. Magnus Hirschfeld: "Gedanken zum Nachdenken", Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Bd.l, Heft 7 (Juli 1908), S. 436.

 22. Erwin J.Haeberle:"AIDS - Was tun?", Die Zeit, Nr.43 (18.Oktober 1985), S.81-85.

 23. Hirschfeld a.a.O. S.435.