Archiv für Sexualwissenschaft



Erwin J. Haeberle

Was ist sexuelle Gesundheit?
Eine kritische Würdigung der WHO-Definition

Vortrag, gehalten während des Andrologischen Symposiums (Veranstalter: Berliner Andrologische Gesellschaft e.V.):
"Kranke Sexualität des Mannes" in Berlin am 24. Januar 1998. Auch in: Sexualmedizin 20, 142-148,1998

Was ist sexuelle Gesundheit? DieAntwort auf diese Frage können alle leicht finden, die einen Intemet-Anschluss haben.

Wenn Sie die Internet-Seite unseres "Archivs für Sexualwissenschaft" in Berlin aufrufen, so finden Sie dort gleich zu Anfang unsere Aufgabe beschrieben, nämlich der "Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung der sexuellen Gesundheit" zu dienen.'Der Begriff sexuelle Gesundheit ist dabei unterstrichen, und jeder Kenner weiss sofort, dass dies eine Aufforderung zum Anklicken ist. Tatsächlich, kaum ist der Mausklick erfolgt, so erscheint auf dem Bildschirm eine ausführliche Definitiondes Begriffs, geliefert von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Report von 1975:

 
Sexuelle Gesundheit ist die Integration der somatischen, emotionalen, intellektuellen und sozialen Aspekte sexuellen Seins auf eine Weise, die positiv bereichert und Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe stärkt.
Grundlegend für dieses Konzept sind das Recht auf sexuelle Information und das Recht auf Lust.
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Die WHO zitiert dann noch einige Experten, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Danach enthält das Konzept der sexuellen Gesundheit drei Grundelemente:

 
1. Die Fähigkeit, das Sexual- und Fortpflanzungsverhalten in Einklang mit einer sozialen und persönlichen Ethik zu geniessen und zu kontrollieren,
2. die Freiheit von Angst, Scham, Schuldgefühlen, falschen Vorstellungen und anderen psychologischen Faktoren, die die sexuelle Reaktion und sexuelle Beziehungen beeinträchtigen,
3. die Freiheit von organischen Störungen, Krankheiten und Mängeln, die sexuelle und reproduktive Funktionen behindern.

Der zitierte WHO-Report kommt daher zu dem Schluss:

 
Die Vorstellung sexueller Gesundheit impliziert also eine positive Einstellung zur menschlichen Sexualität, und der Zweck sexueller Gesundheitspflege sollte nicht nur Beratung und Betreuung bei Fortpflanzung und sexuell übertragbaren Krankheiten sein, sondern die Verbesserung der Lebensqualität und persönlicher Beziehungen.

Diese programmatischen Äusserungen der WHO sind wiederholt als tautologisch und auf jeden Fall ideologisch kritisiert worden. In der Tat formulieren sie ein Ideal der bürgerlichen Mittelschicht in den westlichen Industrieländern des späten 20. Jahrhunderts und können daher weder geographisch noch historisch eine universelle Gültigkeit beanspruchen.

Züchtiges Weib: selten sexuelle Befriedigung
Noch im 19. Jahrhundert wäre selbst bei uns die WHO-Definition auf heftige Kritik gestossen. Damals sah man den Hauptzweck jedes Sexualverhaltens in der Fortpftanzung, die hier nur beiläufig und immer erst an zweiter Stelle erwähnt wird, und ein Recht auf Lust und die Fähigkeit zum sexuellen Genuss hätte man zumindest den Frauen kaum zugestanden. So schrieb zum Beispiel der bedeutende und einflussreiche viktorianische Arzt William Acton ein grundlegendes Werk über "Die Funktionen und Störungen der Fortpflanzungsorgane" (1857), in dem die weiblichen Organe oder überhaupt Frauen kaum vorkommen. Nur an einer Stelle geht er indirekt auf sie ein, nachdem er behauptet hat, die männliche Selbstbefriedigung führe zu Erschlaffung, schwerer Krankheit und sogar zum Tode. Dann aber weiss er auch wieder die impotent gewordenen und heiratsscheuen Männer kraft seiner wissenschaftlichen Autorität zu beruhigen:

 
Irrige Vorstellungen lassen viele junge Männer glauben, die ehelichen Pflichten verlangten zuviel von ihrer erschöpften Kraft, und deshalb fürchten und vermeiden sie die Ehe...
Aber: Die Mehrheit der Frauen ist glücklicherweise wenig durch irgendwelche sexuellen Gefühle belastet .. In der Regel wünscht ein züchtiges Weib selten sexuelle Befriedigung für sich selbst. Sie unterwirft sich dem Gatten, aber nur ihm zu Gefallen, und gäbe es nicht ihren Mutterwunsch, so würde sie es vorziehen, von seinen diesbezüglichen Antsprüchen befreit zu sein.
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So also sah die weibliche sexuelle Gesundheit einmal in unserem eigenen Kulturkreis aus. Dementsprechend wurden Frauen, die auf ihrer Lust bestanden, als "Nymphomaninnen" verteufelt, nicht selten zur Triebdämpfung medizinisch behandelt oder im Extremfall sogar in Irrenhäuser weggesperrt.

Überhaupt erzeugte das verleugnete und verdrängte, aber insgeheim doch geahnte Lustpotential der Frauen allgemein in der Männerwelt Angst, wie sich bis in unser Jahrhundert hinein an literarischen Werken von Strindberg bis Weininger, Wedekind und Heinrich Mann ablesen lässt. Dort werden weibliche "Vamps" beschrieben, die eben wie unersättliche Vampire den Männern die Lebenskraft aussaugen. Auch Marlene Dietrichs "fesche Lola" im "Blauen Engel", die "von Kopf bis Fuss auf Liebe eingestellt" ist und den armen Emil Jannings ruiniert, verkörpert noch diesen männlichen Alptraum.

Die weibliche Sexualität konnte aber selbst da krankhaft sein, wo sie für Männer gefahrlos blieb. So erfand im Jahre 1869 der Mediziner Carl Westphal an der Berliner Charité eine neue Krankheit, die bald Generationen von Psychiatern und Psychoanalytikern in Arbeit und Brot setzen sollte - die Homosexualität oder wie er selbst sie nannte, die "konträre Sexualempfindung". Wie er in seinem weltweit ersten Fallbericht schrieb, war sie das "Symptom eines neuropathischen (psychopathischen) Zustandes". Dabei hatte die junge Frau, über die hier im "Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten" (Bd. II) berichtet wurde, sich nichts weiter zuschulden kommen lassen, als sich in andere junge Frauen zu verlieben, was ausserdem strafrechtlich ohne jede Bedeutung war.

Anders verhielt es sich allerdings mit den männlichen Fallbeispielen, die nun in schneller Folge die Seiten des "Archivs" zu füllen begannen. Hier nämlich drohte ein Gesetz gegen "Widernatürliche Unzucht" (§ 154, später § 175) mit harten Strafen. Die aufstrebende Psychiatrie hoffte nun, dieses Gesetz zu unterlaufen oder vielleicht sogar ganz auszuhebeln, indem sie in Westphals Zeitschrift Belege für den "krankhaften Charakter" gleichgeschlechtlichen Begehrens zusammentrug. Darin würde am Ende nämlich nicht mehr die Justiz, sondern die Medizin für die Betreffenden zuständig sein. Die Konträrsexuellen waren keine Verbrecher, die man in der "Plötze" bestrafen, sondern Patienten die man in der Charité kurieren musste.

Die Ironie der Geschichte will es nun, dass im gleichen Jahr 1869 ausgerechnet die prominentesten Mediziner der Charité - Virchow, von Langenbeck und Bardeleben - sich in einem offiziellen Gutachten für den preussischen Justizminister bei diesem Thema für unzuständig erklärt hatten. Als liberale Bürger bestärkten sie ihn zwar in seiner Absicht, das Gesetz abzuschaffen, aber als "medizinische Sachverständige" lehnten sie es ab, in puncto Strafwürdigkeit hier irgendeine Kompetenz vorzutäuschen oder sich anzumassen.

Furor therapeuticus
Die ehrgeizigen, jungen Psychiater Europas - unter ihnen Richard von Krafft-Ebing - focht dies aber nicht an. In Büchern und Zeitschriften, Vorlesungen und Seminaren, gerichtlichen Gutachten und öffentlichen Vorträgen propagierten sie unermüdlich die Krankhaftigkeit gleichgeschlechtlichen Verhaltens und ihre eigene Kompetenz, es zu heilen. Als Therapeuten schlugen sie im Laufe der Zeit alles Mögliche vor, von der Hypnose und Psychoanalyse bis zur Hormonbehandlung und Hodenverpflanzung. Natürlich rief dies auch viel Widerstand hervor, besonders von schwulen Ärzten, wie etwa Magnus Hirschfeld. Ihm gelang es sogar, Krafft-Ebing kurz vor dessen Tode noch zur Revision seiner früheren Ansichten zu bewegen und eine gesunde Homosexualität für möglich zu erklären. Trotz alledem: Der
furor therapeuticus war nicht mehr aufzuhalten und breitete sich über die gesamte westliche Welt aus.

Ein britischer "Dr. Mengele"?
In England, wo bis vor nicht allzu langer Zeit gleichgeschlechtliche Handlungen strafbar waren, gelang es den Medizinern sogar, eine Zwangsbehandlung von gerichtsnotorischen Homosexuellen durchzusetzen. Noch in den fünfziger Jahren wurde Alan Turing, einer der grössten Mathematiker des Jahrhunderts, einer solchen Zwangsbehandlung unterworfen und so in den Selbstmord getrieben. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er wesentlich zur Entschlüsselung der deutschen Kodiermaschine "Enigma" beigetragen und so einen Sieg Nazi-Deutschlands entscheidend mitverhindert. Nach dem Kriege aber geriet er in die Fänge der eigenen Sittenpolizei und wurde unter Beihilfe von Ärzten wissenschaftlich, gesellschaftlich und gesundheitlich ruiniert. Und er war nicht der Einzige: Erst kürzlich bekannte mir ein englischer Kollege auf einem Kongress sehr beschämt, dass er selbst in jüngeren Jahren noch routinemässig Homosexuelle zwangsbehandelt hatte, die ihm vom Gericht überwiesen worden waren. Er zeigte ihnen Dias von nackten Männern und versetzte ihnen gleichzeitig Stromstösse oder gab ihnen Brechmittel ein, um sie so von ihrer krankhaften Neigung zu heilen. "Wir haben das einfach gemacht, ohne gross darüber nachzudenken, weil es ebenso verlangt wurde", sagte er verbittert, und jetzt kommt er sich im Nachhinein wie eine Art britischer Dr. Mengele vor.

Nun, wie wir alle wissen, hat hier seit Ende der sechziger Jahre eine erstarkende Schwulenbewegung Abhilfe geschaffen, wenigstens in Westeuropa und in den USA. Ja, auf den Protest aggressiver Schwulengruppen hin liess sich 1973 die American Psychiatric Association schliesslich herbei, die Krankheit "Homosexualität" aus ihrem diagnostischen Handbuch zu streichen. So wurden, von einem Tag auf den anderen, Millionen kranke Männer und Frauen in aller Welt wieder gesund - die grösste und schnellste Massenheilung der Medizingeschichte. Interessanterweise gab es keinen Nobelpreis dafür.

Es gibt aber immer noch Kliniker, die bis zum heutigen Tage mit ihren Therapieversuchen weitermachen. So existiert etwa in Amerika immer noch eine National Association for Research and Therapy of Homosexuality (NARTH), die in ihrer Zeitschrift weiterhin grosse Heilerfolge meldet und dagegen ankämpft, dass ihre Behandlung von der etablierten Psychiatrie jetzt als unethische "Konversionstherapie" verurteilt wird.

Dieser letztere, hochinteressante Ausdruck liefert den eigentlichen Schlüssel zum Verständnis des gesamten Problems, das wir hier diskutieren. So wie Männer und Frauen von der ketzerischen Homosexualität zur orthodoxen Heterosexualität konvertieren sollen, so hatte man früher einmal abweichende Protestanten wieder zum Katholizismus bekehrt. Es handelt sich also um eine religiöse oder moralische Wende verirrter Schafe zurück zur Herde und auf den richtigen Weg, wie es die mittelalterliche Pastoraltheologie ja auch deutlich machte, wenn sie von jeder Ketzerei als einer aberratio, deviatio oder perversio sprach. Als dann im 19. Jahrhundert Mediziner daran gingen, die früheren Fleischessünden in geistige Krankheiten umzudeuten, kamen ihnen die alten Tadelbegriffe sehr zupass. Als Aberrationen, Deviationen und Perversionen fanden sich die alten Laster säkularisiert als Abweichungen und Verdrehungen des rechten Sexualverhaltens wieder, und wie früher der Inquisitor der Beschützer des katholischen Glaubens gewesen war, so wurde nun der Psychiater zum Büttel der bürgerlichen Moral.

Wie aber das Beispiel der Homosexualität gezeigt hat, ist die Psychiatrie - von einigen Ewig-Gestrigen abgesehen -inzwischen viel selbstkritischer und bescheidener geworden. Nicht nur homosexuelles, sondern auch allerlei anderes sexuelles Verhalten, wie etwa der Fetischismus oder Sadomasochismus, gilt ihr nicht mehr von vornherein und immer als krankhaft, sondern nur unter gewissen, sehr eng definierten Umständen. Ja, sie hat zumeist auch die alten theologischen Begriffe ganz aufgegeben und spricht nicht mehr von Aberrationen oder Deviationen, und der Begriff "Perversion" findet sich fast nur noch in psychoanalytisch orientierten Schriften wieder. Nein, die frühere Nähe zur Religion möchte man heute nicht mehr und sucht daher nun auch sprachlich Distanz.

Zauberwort "Paraphilie"
Das neue, anscheinend objektive Zauberwort heisst "Paraphilie", also Nebenliebe. Sieht man allerdings genauer hin, so ist sie von der alten "Perversion" nicht allzuweit entfernt. Immer noch wird die Existenz einer natürlichen, korrekten "Philie" unterstellt, um die sich, auf niedriger Stufe, mindere Paraphilien versammeln, so wie das untergeordnete paramedizinische Personal um den "richtigen Doktor". Es ist ihm weder an Rang noch Ansehen gleich, sondern hebt vielmehr seine wahre Bedeutung erst richtig hervor. Was für die praktische Organisation eines Krankenhauses sinnvoll sein mag, ist jedoch in der Wissenschaft mehr als dubios.

Um es ganz klar zu sagen: Es gibt keinen wissenschaftlichen Weg, hier absolute Werte zu finden, zwischen korrekter und verkehrter, Haupt- und Nebensexualität zu unterscheiden, also von einem Sein auf irgendein Sollen zu schliessen. Also ist es auch Täuschung oder Selbsttäuschung, wenn eine Fachterminologie so etwas suggeriert. Fast immer handelt es sich dabei um versteckte oder unbewusste Reste mythischen, naturrechtlichen Denkens, das in der modernen Wissenschaft keinen Platz mehr hat. Ich empfehle in diesem Zusammenhang dringend die Lektüre der Werke Hans Kelsens, der schon vor über 50 Jahren als Rechtsphilosoph und praktischer Jurist die hier überfällige Ideologiekritik geleistet hat. Kurz, auch der Begriff "Paraphilie" gehört wie seine theologischen, pseudowissenschaftlichen Vorgänger, als moralischer Tadel eher in das Erzbistumsblatt von Fulda als in ein wissenschaftliches Lehrbuch.

Für klare Massstäbe
Aber ich weiss auch, dass sich die Medizin, ganz besonders aber die Psychiatrie, als angewandte Wissenschaft eine vollständige ideologiekritische Reinheit nicht leisten kann. Abstraktes Räsonieren hilft ihr nicht, wenn ein Patient sie um Erlösung von sexuellen Zwangshandlungen bittet, oder wenn sie Sexualstraftäter begutachten soll. Hier werden klare Massstäbe und griffige Formulierungen verlangt, die einer besorgten Familie einleuchten, und die auch ein Richter versteht. Dennoch sollte sie dabei keine vermeintlich objektiven und ewigen Werte unterstellen, sondern klar aussprechen, was unter welchen Umständen wann und warum für wen inakzeptabel ist. Erst indem sie so ihre eigenen Werturteile offenlegt, erreicht sie heute noch die notwendige Autorität, um in einer zunehmend säkularisierten und multikulturellen Welt helfen zu können. Wohl oder übel muss sie also pragmatisch vorgehen und kann auch nicht dem allgemeinen Verständnis ihrer Zeit und Gesellschaft allzu weit vorauseilen. Sie muss mit rationalen Argumenten zwischen gut und schlecht und sogar zwischen grösseren und kleineren Übeln entscheiden, denn, nachdem sie hier die Kirche beerbt hat, ist sie nun einmal in Fragen der sexuellen Anpassung und Abweichung zur moralischen Instanz geworden.

Anders als etwa der amerikanische Psychiater Thomas Szasz, stelle ich mir diesen Machtzuwachs der Medizin in moralischen Fragen also auch nicht als das Ergebnis einer finsteren Verschwörung vor, obwohl die anfangs erwähnten Beispiele auf den ersten Blick so etwas suggerieren könnten. Nein, in ihre Machtposition ist die Medizin ebenso unfreiwillig hineingestossen worden wie freiwillig eingetreten. Es sind die grösseren gesellschaftlichen Umschichtungen und Umstrukturierungen der Neuzeit, die das heutige moralische Wertvakuum geschaffen und keinen anderen als den Mediziner gefunden haben, um es auszufüllen. Dass wir heute fragen: "Was ist sexuelle Gesundheit", beweist dies besser als alles andere. Im 18. Jahrhundert hätten wir noch gefragt: "Was ist sittliche Tugend?"

Die Weltgesundheitsorganisation hat vor über einem Vierteljahrhundert gewagt, unsere neuzeitliche Frage zu beantworten und, neben der obligaten Kritik, verdient sie dabei Anerkennung für ihren Mut. Mag die von ihr formulierte Definition auch nicht allgemeingültig und ewig sein, das mindert den Wert des darin aufgestellten Ideals für unsere eigene Gesellschaft kaum, in der es ja - wenn auch in Konkurrenz zu anderen Idealen - weitgehend wirksam ist.

Ebenso ist es mit den Diagnosebüchern der Psychiatrie. Sie werden seit Jahrzehnten ständig revidiert und werden dabei - was die Sexualität betrifft - immer schmaler, bescheidener und selbstkritischer. Sie werden auch immer genauer.

Statt Gummidiagnosen enge Kriterien
Gab es zu Anfang unseres Jahrhunderts noch wahre Gummidiagnosen wie "Degeneration", "sexuelle Psychopathie" oder "moralisches Irresein", unter die man fast nach Belieben alles subsumieren konnte, was irgendeinem Tugendwächter nicht gefiel, so sind heute die Kriterien für Therapiebedürftigkeit sehr spezifisch und sehr eng. Das ist das Resultat ausdauernder Selbstkritik, die wiederum durch Kritik von ausserhalb der Psychiatrie ständig weiter angespornt wird.

Ein aktuelles Beispiel ist der Druck, der heute von den weltweit immer besser organisierten Menschen mit Geschlechtsrollen- und Geschlechtsidentitätsproblemen ausgeht. Wiederum ist ein Blick auf die Internet-Seite unseres Archivs für Sexuaiwissenschaft sehr instruktiv. Unter der Rubrik "Gender Issues" bieten wir direkte "Links" zu verschiedenen Individuen und Gruppen an, die sich als "Intersexe" und "Transgendered People" zu dem Zweck organisiert haben, nicht nur die breite Öffentlichkeit, sondem auch die Ärzteschaft aufzuklären. Sie stellen langetablierte und bisher kaum hinterfragte medizinische Verfahren in Frage, und ihr teilweise aggressiver Ton lässt vermuten, dass man der Diskussion mit ihnen nicht mehr allzu lange ausweichen kann. Unter anderem wird dies auch zu einer weiteren Revision der Fachterminologie führen. Hier hinkt die Medizin seit langem hinter der Wirklichkeit her. Es ist schon bezeichnend, dass es im Deutschen immer noch keine Entsprechung des englischen Begriffes "Gender" gibt. Gerade um diesen Begriff kreisen augenblicklich jedoch die interessantesten Diskussionen in der gesamten Sexualwissenschaft, und sie nähren sich von der Auseinandersetzung mit den erwähnten Gruppen, die man früher wie selbstverständlich alle als Patienten bezeichnet und behandelt hat, und von denen viele heute dieses Etikett für sich ablehnen.

Ich erwähne dieses Beispiel hier am Schluss, weil es unter anderem auch zeigt, wie die elektronische Revolution den wissenschaftlichen Diskurs verändern wird. Sie wird für alle deutlich machen, dass der Begriff der sexuellen Gesundheit immer das Ergebnis einer nur zeitweilig haltbaren Übereinkunft zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen war und bleiben wird. Weltweit und blitzschnell werden sich die hier berührten Interessen zu Wort melden, früher ungehörte Stimmen werden Beachtung finden, und all das wird eine noch gründlichere Selbstkritik der Wissenschaft erzwingen und so am Ende ihren Nutzen erhöhen.

Wenn also das Robert-Koch-Institut in Berlin jetzt erstmals versucht, durch die Sammlung, Analyse und Verbreitung von Information ausdrücklich die sexuelle Gesundheit zu fördern, so schaltet es sich bewusst in diesen niemals endenden Prozess ein. Unsere Hauptbeteiligung liegt dabei auf der Prävention, deren Bedeutung überall in der Gesellschaft immer mehr erkannt wird. Ich selbst bin überzeugt, dass die sexualwissenschaftliche Forschung sich im 21. Jahrhundert viel mehr mit der Prävention als mit der Therapie beschäftigen wird. Wer aber Prävention will, der wird immer lieber über sexuelle Gesundheit als über sexuelle Krankheit sprechen, denn, wie ein englisches Sprichwort sagt, "Eine Unze Vorbeugung wiegt ein Pfund Heilung auf". So gesehen, ist es auf jeden Fall ein Fortschritt, dass die WHO ihre Definition gewagt und sich damit einem Thema gestellt hat, das uns hoffentlich alle noch lange beschäftigen wird.


1. Dieses und die folgenden WHO-Zitate aus: Education and Treatment in Human Sexuality: The Training of Health Professionals, WHO Technical Report Series Nr. 572, 1975 (dt. Übers. vom Verf.)

2. William Acton: The Functions and Disorders of the Reproductive Organs in Childhood, Youth, Adult Age, and Advanced Life, Considered in their Physiological, Social and Moral Relations, zitiert nach Steven Marcus: The Other Victorians, New York 1964, S. 31

 

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