Der transatlantische Pendler
Ein Interview mit Harry Benjamin
Dr.med. Harry Benjamin,
geboren am 12. Januar 1885 in Berlin, Urvater der Sexuologie, Pionier der
Transsexuellen-Therapie, Schüler Eugen Steinachs, Freund Magnus Hirschfelds und
Alfred Kinseys, verfolgt bis zum heutigenTage alle sexologischen Entwicklungen
mit fachmännischem Interesse. Das nachstehende Interview
gab er im Oktober in seiner
New Yorker Wohnung im Hinblick auf seinen hundertsten Geburtstag: Sein
Gesprächspartner war Prof. Erwin I.Haeberte San Francisco, CA (z.Zt.
Gastprofessor.an der Medizinischen Fakultät - Abteilung Psychiatrie - der
Universität Genf; Schweiz).
Haeberle:
Lieber Harry, wir haben uns im Laufe der
Jahre oft über die Anfänge der Sexualwissenschaft unterhalten, und ich verdanke
Ihnen viel historisches Material sowie interessante persönliche Eindrücke.
Neuerdings ist auch in der Bundesrepublik Deutschland erfreulicherweise das
Interesse an der Geschichte dieser Wissenschaft sehr gewachsen, und so wissen
die Leser der Sexualmedizin diese Gelegenheit zu schätzen, wieder von einem zu
hören, der sozusagen von Anfang an dabei war. Wie kamen Sie eigentlich zur
Sexualmedizin?
Benjamin:
Ganz von Anfang an war ich nicht dabei. Ich erinnere mich allerdings, daß ich
als junger Mensch in Berlin einen Vortrag
August Forels besuchte, dessen Buch „Die sexuelle Frage“ damals eine
Sensation war und mich sehr beeindruckte. Auch
Magnus Hirschfeld lernte ich schon
sehr früh kennen, und zwar durch eine Freundin, die mit dem damaligen Berliner
Kriminalkommissar für Sexualdelikte, Dr: Kopp, bekannt war. Dieser wiederum war mit
Hirschfeld befreundet, und so machte ich die Bekanntschaft beider
Männer. Das war so um 1907. Sie nahmen mich mehrfach auf ihre Runden durch die
Berliner Homosexuellen-Bars mit. Ich erinnere mich noch besonders an das
Eldorado, wo Damen-Imitatoren auftraten und auch viele Besucher in der Kleidung
des anderen Geschlechts erschienen. Das Wort »Transvestit« war noch nicht
erfunden. Hirschfeld prägte es erst
1910 in seiner bekannten Studie. Mein Medizinstudium war aber von sexuellen
Fragen nicht berührt. Ich promovierte 1912 in Tübingen bei dem Internisten
Ernst von Romberg mit einer Arbeit
über Tuberkulose.
Haeberle:
Bevor wir mit Ihnen Berlin verlassen,
vielleicht noch einige Erinnerungen an die kaiserliche Residenz. Sie haben nur
ja einmal erzählt, wie Sie als Kind Bismarck auf der Straße gesehen haben. .
.
Benjamin:
Ja, aber als lebenslanger Opernliebhaber habe ich auch noch schönere
Erinnerungen, etwa daran, wie ich einmal mit der sehr jungen
Geraldine Farrar tanzte -- sie begann
ja ihre Karriere in Berlin - , und
wie ich 1904 zum erstenmal Caruso
hörte. Ich war noch Primaner, aber medizinisch schon sehr interessiert, und so
kam es, daß ich mit Hilfe des Theaterarztes einmal sogar Caruso in den Hals
sehen durfte. Ich habe aber vor lauter Aufregung nichts gesehen. Andererseits
weiß ich noch, daß ich bei Max Reinhardt die berühmte Aufführung von Gorkis
»Nachtasyl« gesehen habe, und 1905 war ich auch in der Uraufführung von
Wedekinds »Frühlings Erwachen«.
Haeberle:
Sie gingen aber recht früh nach Amerika,
und zwar im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit über die Tuberkulose.
Benjamin:
Ja, und das verdanke ich vor allem dem großen
Karl Ludwig Schleich, dem Erfinder der
örtlichen Betäubung, der damals schon als älterer Herr am Ende seiner Laufbahn
stand. Ich weiß nicht mehr, wie er auf mich aufmerksam wurde, aber er war es,
der mir empfahl, einem gewissen Dr. F. F. Friedmann nach New York zu folgen. Dieser.
Friedmann hatte mit einem
selbstentwickelten Serum erstaunliche Erfolge hei der Behandlung der Knochen-und
Gelenktuberkulose erzielt, die er nun auf die Lungentuberkulose ausdehnen
wollte, Ein reicher Arnerikaner lud ihn nach New York ein, wo er weiter forschen
und dessen Schwiegersohn behandeln sollte. Für die völlige Heilung waren eine
Million Dollar in Aussicht gestellt. Friedmann schiffte sich dann mit mir als
seinem Assistenten und einem Presseagenten auf der Kronprinzessin Cecilie ein.
Leider dauerte aber unsere Zusammenarbeit nicht lange, da Friedniann sich als
unethischer Arzt erwies. Sein Gönner wurde bald mißtrauisch, und den Patienten
bekamen wir erst gar nicht zu Gesicht. Als Friedmann dann von mir verlangte, ich
solle seine Forschungsergebnisse frisieren, war der Bruch unvermeidlich. Ich
schlug mich dann zunächst als Privatarzt durch und versuchte im August 1914 nach
.Berlin zurückzukehren. Unser Schiff war mitten auf dem Atlantik, als der Erste
Weltkrieg ausbrach. Wir wurden nach England umdirigiert. Ich konnte nicht mehr
nach Deutschland, und so kaufte ich mir von meinem letzten Geld eine Rückpassage
nach New York. Es war ein großes Glück für mich. Der Krieg blieb mir erspart,
und letztendlich kann ich dafür dem gewissenlosen
Friedmann dankbar sein.
Haeberle:
Wie faßten Sie dann in Amerika Fuß?
Benjamin:
Es war anfangs nicht einfach. Nach verschiedenen Ansätzen eröffnete ich 1915 in
New York einfach ein Konsultationszimmer, in dem ich auch schlief. Mein
Einkommen war nicht üppig; für eine Konsultation bekam ich damals zwei Dollar,
ein Hausbesuch brachte drei Dollar. Die Miete selbst kostete sechs Dollar in der
Woche.
Haeberle:
Wie kamen Sie denn mit Steinach und den
anderen Sexologen in Kontakt?
Benjamin:
Ich interessierte mich sehr für die Altersmedizin und. hörte, so von den
Versuchen Eugen Steinachs, der durch seine sog. Steinach-Operation
(Vasoligatur) Verjüngungseffekte bei Tieren erzielt hatte. Dann ergab sich 1921
die günstige Gelegenheit, eine Patientin bei voller Bezahlung auf einer Reise
nach Europa zu begleiten. Dabei lernte ich in Wien
Steinach persönlich kennen. Ich war sehr beeindruckt von seinen
Geschlechtsumwandlungsoperationen an Ratten und Meerschweinchen durch Kastration
und Drüsenverpflanzung. Ich besuchte ihn dann als sein Schüler fast regelmäßig
jeden Sommer bis in die dreißiger Jahre. So wurde ich sozusagen zum
transatlantischen Pendler, der zwischen Amerika und Europa vermittelte. Zum
Beispiel brachte ich auch Anfang der zwanziger Jahre den bekannten
Steinach-Film, einen abendfüllenden stummen Dokumentarfilm, nach New York und zeigte ihn dort der
Academy of
Medicine. Dieser wissenschaftliche Film war von der Ufa mit österreichischer
Hilfe gedreht worden und existierte in zwei Versionen: eine für die Fachleute
und eine andere für das allgemeine Publikum gedacht: In Deutschland war der Film
sehr erfolgreich, aber in Amerika fand sich am Ende kein Verleiher. Ich nehme
an, daß beide Versionen nun verloren sind.
Haeberle:
In Wien besuchten Sie auch Sigmund Freud.
Benjamin:
Ja, Steinach arrangierte ein Treffen für mich, und
Freud empfing mich in seiner Wohnung,
Berggasse 19. Er war sehr ernst, lachte aber doch kurz auf, als ich scherzhaft
erklärte, die Disharmonie des Seelenlebens lasse sich vielleicht durch die
Disharmonie der endokrinen Drüsen erklären. Freud war sehr biologisch
orientiert, und in diesem Sinne war er kein Freudianer. Er wäre sicher
schockiert, wenn er sehen könnter was in Amerika aus seiner Lehre geworden ist.
Freud gestand mir auch, daß er selbst
eine »Steinach-Operation« hinter sich hatte. Er glaubte tatsächlich, sie habe
ihm gut getan, seine Vitalität sei gestärkt, und selbst .sein Kiefer (Freud
litt an Kieferkrebs) - sei günstig beeinflußt worden. Heute wissen wir
natürlich, daß diese Eindrücke zum Teil auf Autosuggestion beruhten.
Freud bat mich, niemandem von seiner
Operation zu erzählen bis nach seinem Tode, und daran habe ich mich gehalten. Er
fragte mich auch, ob ich selber analysiert worden sei. Ich erwähnte meine
relativ kurze Analyse durch Arthur
Kronfeld in Berlin. Freud warnte mich, daß
Kronfeld »einen. sehr schlechten
Charakter« habe.
Haeberle:
Wie kamen Sie denn an Kronfeld?
Benjamin:
Ich lernte ihn 1921 bei Hirschfelds
erstem Kongreß in Berlin kennen, Das war die Internationale Tagung für
Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage im Langenbeck-Virchow-Haus.
Ich kannte ja Hirschfeld schon aus der
Zeit vor dem Kriege, und inzwischen hatte er in Berlin sein Institut eröffnet,
das ich ebenfalls später immer wieder besuchte. Ich kam nun regelmäßig nach
Berlin, und so sprach ich zum Beispiel auch auf dem großen
Sexualforschungskongreß Albert Molls
1926.
Haeberle:
Wie war denn Moll als Mensch? Man hört
oft, er sei sehr schwer verträglich gewesen.
Benjamin:
Er war ziemlich »preußisch«, kurz angebunden und dünkelhaft. Typ »deutscher
Professor«. Nicht besonders einnehmend. Ich habe aber auf seinen beiden
Kongressen gesprochen, auch auf dem in London 1930.
Haeberle:
Ihrer Freundschaft mit Hirschfeld tat das
aber keinen Abbruch?
Benjamin:
Nein. Hirschfeld hatte allerdings auch seine unattraktiven Seiten, Er war
sehr geizig und in seinem Äußeren oft ungepflegt. Dennoch war er ein bedeutender
Pionier von enormer Arbeitskraft. Als 1930, wegen der Nazis, sein Leben in
Deutschland immer schwieriger wurde, lud ich ihn nach New York zu einigen
Vorträgen ein und half ihm auch später, soweit ich konnte. Sehr um ihn gekümmert
hat sich auch unser gemeinsamer Freund, der amerikanische Dichter
George Sylvester Viereck, der
Hirschfeld publizistisch mit
Interviews in vielen amerikanischen Zeitungen unterstützte. Von Amerika aus trat
Hirschfeld dann seine bekannte Weltreise an. Zum letzten Mal sah ich ihn in
Chicago, wo Max Thorek, der Begründer
des International College of Surgeons, ein eindrucksvolles Essen für ihn gab.
Haeberle:
Hirschfeld schickte Ihnen auch einen
homosexuellen Deutsch-Amerikaner namens Elmhurst zu, der schon damals eine
Homosexuellenvereinigung in New York gründen wollte.
Benjamin:
Ich unterhielt mich mit Elmhurst und
mußte ihm in aller Fairneß von seinen großen Plänen abraten. Amerika war damals
für diese Dinge einfach noch nicht reif. Ich schlug vor, er solle zunächst
einmal im kleinen Freundeskreis anfangen. Was später daraus geworden ist, weiß
ich nicht. Ich verlor ihn aus den Augen.
Haeberle:
Sie haben dann mit Hirschfeld praktisch
noch bis zu seinem Tode korrespondiert.
Benjamin:
Die Korrespondenz habe ich Ihnen ja übergehen für den Fall, daß in Berlin wieder
ein Institut eröffnet wird. Dann gehören Hirschfelds Briefe natürlich dorthin.
Wenn sich in Berlin aber in absehbarer Zeit nichts tut, dann sollen sie an die
Bibliothek in Los Angeles gehen, der ich sie ursprünglich versprochen haue. Den
Begriff Transsexualismüs führte ich
1954 ein.Mein Buch zum Thema erschien aber erst 1966 ( “The Transsexual
Phenornenon“).
Haeberle:
Hirschfeld hatte ja einmal fast vor, sein
Institut nach Kalifornien zu verlagern, nur wurde aus diesem Plan nichts,
genausowenig wie aus dem Kongreß der Weltliga für Sexualreform, den Sie 1933 in
Chicago organisieren wollten.
Benjamin:
Leider. Ich korrespondierte darüber sogar mit
Havelock Ellis, der ja ebenso wie
Hirschfeld, mit
August Forel einer der Präsidenten der
Liga war. Auch EIlis lernte ich
persönlich kennen. Das war einige Jahre später, 1937, in England. Er war alt und
nicht mehr bei bester Gesundheit, aber dennoch eine sehr eindrucksvolle
Persönlichkeit, fast wie ein Heiliger. Er erinnerte mich etwas an
Rabindranath Tagore, den indischen
Dichter, den ich als Patienten bei
Steinach kennengelernt hatte. Ellis
unterhielt sich lange mit mir, kochte selbst Tee und war überhaupt ein
herzlicher Gastgeber. Auf eine englische Art war er sehr charmant.
Haeberle:
Sie kannten auch Norman Haire, den
jüngeren australisch-englischen Sexualreformer, der ebenfalls in der Weltliga
tätig war.
Benjamin:
Sehr gut. Bei seinem 60, Geburtstag 1952 war er sogar bei mir in New York, wo
wir eine kleine Feier für ihn veranstalteten. Er war leider herzkrank und mußte,
noch in New York, plötzlich in ein Krankenhaus. Dort besuchte ich ihn auch,
zusammen mit Alfred Kinsey. Wir
durften aber nur eine halbe Stunde bleiben, um
Norman Haire nicht zu überanstrengen.
Einige Monate später starb er dann in England.
Haeberle:
Wie, wann und wo trafen Sie denn Kinsey?
Benjamin:
Ich lernte Kinsey durch den bekannten amerikanischen Gynäkologen
R. L. Dickinson etwa 1945 in New York
kennen. Drei Jahre später wohnte er dann in San Francisco im gleichen Hotel wie
ich, dem Sir Francis Drake. Ich hatte ja inzwischen eine zweite, d.h.
Sommerpraxis eröffnet, gerade gegenüber diesem Hotel. Ich pendelte nun also
zwischen beiden amerikanischen Küsten.
Kinsey kam öfter nach Kalifornien wegen seiner
Interviews, und er bat mich um Rat wegen eines Jungen, den er dabei
kennengelernt hatte. Dieser sehr weibisch wirkende Junge wollte, wie er sagte;
ein Mädchen werden, und seine Mutter unterstützte diesen Wunsch.
Kinsey hatte nie einen solchen Fall
gesehen, und auch für mich war er neu. Dies ging über den mittlerweile
anerkannten Transvestismus hinaus. Den Begriff des Transsexualismus gab es noch
nicht, er bildete sich mir erst allmählich, nicht zuletzt aufgrund dieses erste
Falles. Ich führte den Begriff erst 1954 ein, und mein Buch zum Thema erschien
erst 1966 („The Transsexual Phenomenon“). Jedenfalls ließ ich den Jungen
psychiatrisch untersuchen und die Möglichkeit einer operativen Angleichung an
das weibliche Geschlecht prüfen. Die Psychiater waren sich darüber nicht einig.
Einige waren dafür, andere dagegen. Der Junge erhielt aber »weibliche«
Sexualhormongaben, die »beruhigend« wirkten. Er ging dann nach Deutschland, wo
er sich einer Teiloperation unterzog. Dann riß leider jeder Kontakt mit ihm ab,
und so weiß ich nicht, was schließlich aus dem Fall geworden ist.
Haeberle:
Mittlerweile ist ja nun, dank Ihrer
Pionierarbeit, die Transsexualität als eigene Diagnose medizinisch anerkannt,
und auch die entsprechenden Operationen sind nicht . mehr selten und dabei
technisch weit fortgeschritten. Wie sehen Sie das Problem heute?
Benjamin:
Man muß das Hauptproblem des Transsexuellen richtig verstehen, das auf englisch
sehr treffend mit »gender disphoria« bezeichnet wird, also die Unstimmigkeit
zwischen Anatomie und geschlechtlicher Selbstidentifikation. Das heißt nicht,
daß man in jedem Fall operieren soll, denn es gibt Fälle, in denen eine solche
Operation, manchmal Jahre später, bereut wird. Viele Transsexuelle kommen
vielleicht auch ohne Operation aus, solange sie hormonell behandelt werden und
die Kleidung des gewünschten, d.h. genauer gesagt, wirklich gefühlten
Geschlechts tragen können. Parallel dazu sollte man eine entsprechende
Psychotherapie durchführen. Wie gesagt, das kann mal eine tragbare Lösung sein.
Ich bin für die Operation, aber sie sollte sehr kritisch und vorsichtig
angewandt werden.
Haeberle:
Wenn Sie nun auf Ihre lange und
erlebnisreiche Karriere als Arzt und sexualmedizinischer Pionier zurückblicken,
was sind Ihre wichtigsten Eindrücke und Erlebnisse?
Benjamin:
Zunächst denke ich da natürlich an die rein menschlichen Eindrücke. Solche
Männer wie Schleich, Freud, .Steinach, Alfred Adler, Albert Moll, Hirschfeld
und seine Mitarbeiter Kronfeldl, Levy-Lenz
und Peter Schmidt, den Kunstsammler
Eduard Fuchs, Havelock Ellis, Norman
Haire.und Alfred Kinsey persönlich
gekannt zu haben, ist sicher ein Vorzug, der nicht vielen zuteil geworden ist.
Auch Margaret Sanger habe ich gut
gekannt, Ben Lindsey und viele andere
Amerikaner, die für die Linderung sexueller Not eingetreten sind. Diese
Erfahrung zeigt mir, daß Einzelne doch etwas bewirken können, und daß einige
wenige Menschen durch Mut und harte Arbeit die Leiden von vielen vermindert
haben. In meiner Jugend war z.B. die Syphilis noch unheilbar, und die
Empfängnisverhütung sehr unsicher. Hier hat sich die Lage radikal verändert.
Auch strafrechtlich, in bezug auf Prostitution und Homosexualität etwa, ist man
heute viel vernünftiger geworden. Überhaupt ist die ganze Sicht der Sexualität
differenzierter geworden, und. nicht nur ihre prokreative, sondern auch ihre
rekreative Funktion wird weithin anerkannt Zu meiner Studienzeit machte man noch
wenig Unterschiede. Erst Hirschfeld
machte die Transvestiten als besondere Gruppe erkennbar, und ich selbst konnte
dazu beitragen, davon wieder die Transsexuellen zu unterscheiden. Diesen
Menschen ist dadurch besonders auch gesellschaftlich sehr geholfen worden, Hier
hat die Sexologie in der Tat segensreich gewirkt. Ich habe allerdings auch
gesehen, wie diese ganze hoffnungsvolle Wissenschaft der Nazi-Barbarei zum Opfer
fiel, und wie sie doch wiiedererstand, hier in Amerika, aber auch in Europa.
Haeberle:
Was würden Sie unseren deutschen Lesern
der Sexualmedizin für die Zukunft wünschen?.
Benjamin:
Als gebürtiger Berliner würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn ich noch die
Rückkehr der Sexualwissenschaft nach Berlin erleben könnte. Wenn ich bedenke,
wie diese Stadt einmal das Weltzentrum dieser Wissensehaft war, dann ist es sehr
traurig zu sehen, daß das eigene stolze Erbe dort heute so gut wie vergessen
ist. So kann ja. auch leider der 8. Weltkongreß der Sexologie 1987 nicht in
Berlin stattfinden, sondern geht nach Heidelberg. Früher trafen sich Sexologen
aus alIer Welt in Berlin. nicht nur bei den Kongressen, sondern auch in
Hirschfelds Institut. Ich selber bin
ja mit meinen jährlichen Besuchen in den zwanziger Jahren das beste Beispiel.
Ich habe damals als »Wanderer zwischen zwei Welten« die sexologische Verbindung
Berlins mit Amerika gepflegt. Heute, da Berlin Amerika so viel verdankt, gibt es
ironischerweise keine Berliner Ansprechpartner mehr. Die transatlantische
Brücke, die ich so oft in beiden Richtungen überquert habe, ist für unser Fach
zerfallen und noch nicht wieder repariert:
Sexualmedizin 14. 42-45 (1985) |