Man Lun Ng

 Sexualität in China

Ursprünglich erschienen in: Gindorf, Haeberle (Hrsg.): Sexualwissenschaft und Sexualpolitik, Schriftenreihe
Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 3, Walter de Gruyter, Berlin, New York, 1992, S. 359-376.
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

Inhalt

Die legendäre Vorzeit 360

Die beiden bedeutendsten chinesischen Philosophien. 361

Der Taoismus. 361

Der Konfuzianismus. 362

Religiöse Einflüsse. 364

Buddhismus. 364

Taoismus. 364

Das erste chinesische Werk über Sexualität 365

Mißverständnisse des Tao hinsichtlich der Sexualität 368

a)    „Sexueller Vampirismus" (Van Gulik 1961) 368

b)    Coitus reservatus oder männliche Enthaltsamkeit (Van Gulik 1961) 368

c)    Karezza (ruhiger und passiver Koitus) 369

d)    Männerzentriertheit 369

Der Einfluß taoistischer Vorstellungen über Sexualität in den folgenden Dynastien. 369

Der Aufstieg des Neukonfuzianismus und seine Folgen. 370

Repressive Einflüsse aus dem Westen. 371

Das Christentum.. 372

Die romantische Liebe. 373

Befreiende Einflüsse aus dem Westen. 373

Abweichungen. 374

Schlußfolgerung. 374

Anmerkung. 376

Literatur 376

 

Sexuelle Ideen und Praktiken unterscheiden sich in verschiedenen Kulturen und Zeiten. Die chinesische Kultur ist aber selbst so heterogen, daß auch die Geschichte der Sexualität in China sehr komplex ist.

 

Van Gulik (1961) war der erste Europäer, der ausführlich über die historischen Veränderungen chinesischer Vorstellungen über Sexualität und verschiedene Techniken schrieb, doch seinem Werk sind enge Grenzen gesetzt. Seine Kennt­nisse basierten ausschließlich auf chinesischer Literatur. Er verfügte über kein umfangreiches und solides medizinisches und soziologisches Wissen und gab zu, daß er manche Techniken und Ideale, von denen er berichtet, nicht verstand. Da er seine anhand der Literatur gewonnenen Erkenntnisse nicht mit Hilfe anderer Quellen überprüfen konnte, fiel es ihm schwer, Tatsachen von Phan­tasien zu unterscheiden und den Einfluß bestimmter sexueller Wertvorstellun­gen richtig einzuschätzen.

 

Der vorliegende Aufsatz will mit einem interdisziplinären Ansatz einen Über­blick über Sexualität in China vom Altertum bis in die Gegenwart geben und bezieht sich dabei auf Materialien, die aus der chinesisichen Philosophie, Literatur, Geschichte, Geographie, Anthropologie und Gesetzgebung zusam­mengetragen wurden.

 

Die legendäre Vorzeit

 

Verschiedene chinesische Legenden berichten, daß die chinesische Kultur, wie viele andere alte Kulturen, ihre Wurzeln in Fruchtbarkeitskulten hat. Die Götter, denen zuerst gehuldigt wurde, verkörperten Sexualität und Fruchtbar­keit und wurden als deren Förderer verehrt. Nach alten chinesischen Legenden war die Schöpferin der Menschen die Göttin Nu-Wa, die Frau des Fu-Xi, des Gottes der Tiere, der vor der Hochzeit gleichzeitig ihr Bruder war. Im Gegensatz zu anderen Fruchtbarkeitskulten schrieben die chinesischen Sexualität nicht nur den Göttern zu, sondern auch unbeseelten Dingen und den Grundprinzi­pien, die das Universum beherrschen. Diese Vorstellung, die Idee des Ausgleichs zwischen Yin und Yang, stellt die älteste und ursprünglichste Philosophie der Chinesen dar, und ihre Einflüsse wirken bis in die Gegenwart fort.

 

Die Idee des Yin und Yang und ihre Beziehung zur Sexualität im weltlichen Bereich ist am deutlichsten und symbolischsten im „I-Ching" (Buch der Wand­lungen; Wei 1970) dargestellt. Das Yin-Yang-Symbol ist ein Kreis mit einer weißen und einer schwarzen Hälfte, die durch eine geschwungene Linie von­einander getrennt sind. Jede Hälfte enthält einen kleinen Kreis der anderen Farbe. Weiß symbolisiert Yang (das männliche Prinzip), schwarz Yin (das weibliche Prinzip), und das Diagramm bedeutet, daß beide einander ergänzen und daß sie durch Interaktion zum Ursprung aller Dinge werden. Die Folge, in der sich aus dieser Interaktion die Dinge entwickeln, wird symbolisch im Hexagramm weiter ausgedeutet. Im Hexagramm ist die sexuelle Vereinigung dargestellt durch das obere Triagramm Kau („Wasser", „Wolken" oder „Frau") und das untere Triagramm Li („Feuer", „Licht" oder „Mann"). In dem fest­gefügten und ausgeglichenen Symbol, das so entsteht, greifen drei gebrochene und drei durchgezogene Linien ineinander und betonen den Zusammenhang vollkommener Harmonie zwischen Mann und Frau, die einander ergänzen.

 

Die beiden bedeutendsten chinesischen Philosophien

 

Den Legenden und der Lehre von Yin und Yang folgend, entstanden die beiden Hauptströmungen der chinesischen Philosophie, die einen bedeutenden Einfluß auf das Sexualleben haben: der Taoismus und der Konfuzianismus.

 

Der Taoismus

 

Der Taoismus ist die frühere der beiden großen chinesischen Philosophien. Seine Lehren sind in zwei wichtigen Textsammlungen zusammengefaßt: im dem Lao-tse zugeschriebenen „Tao-teh-ching" (571 v. Chr.; Bynner 1946) und in den Werken des Zhuang-zi (300 v. Chr.). Der Taoismus befürwortet die Selbstge­nügsamkeit und die Kontrolle ausschweifender Wünsche und Leidenschaften. Er betrachtet die Bedürfnisse des Körpers als Ursache aller Leiden. Er spricht sich jedoch gegen Gesetze und ethische Normen als Mittel der Kontrolle menschlicher Leidenschaften aus und betrachtet Reglementierungen nur dann als nötig, wenn der natürliche Weg oder das Tao vernachlässigt wird.

 

Von diesem prinzipiellen Ansatz ausgehend, lehrt der Taoismus, daß sich sexuelle Probleme am besten vermeiden lassen, indem keine Kontrolle ausgeübt wird. In dieser Hinsicht stimmt die ontologische Lehre des Taoismus mit der Lehre von Yin und Yang im „I-Ching" überein. Er befürwortet die natürliche Harmonie zwischen Yin und Yang, d. h. die natürlichen Formen des Ge­schlechtsverkehrs.

 

Der Einfluß des Taoismus auf das chinesische Denken ist sehr weitreichend. In einigen nachfolgenden Dynastien, besonders in der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.), war er die allgemein anerkannte Philosophie, die von Regierung und Volk gleichermaßen akzeptiert wurde und die chinesischen Vorstellungen über Sexualität maßgeblich beeinflußte. Dennoch enthalten die taoistischen Schriften nur wenige direkte Aussagen zum Sexualverhalten. Es gibt z. B. keinen Bericht über Lao-tses Sexualleben und seine Alltagsansichten zur Sexualität. In den Schriften des Zhuang-zi, dem zweiten großen Meister des Taoismus, finden sich nur einige flüchtige Beschreibungen über das hete­rosexuelle Liebesleben und über zeitgenössische Formen der Liebeswerbung.

 

In einem Buch mit Erzählungen aus der Ming-Dynastie (1368 - 1643 n.Chr.) mit dem Titel „Jin-Gu Qi-Guan" (Seltsame Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart, Bao-Wang Lao-Ren 1784) wird Zhuang-zi als ein Mann be­schrieben, der drei Ehefrauen hatte, die er alle so liebte, „wie der Fisch das Wasser". Eine Geschichte in diesem Buch beschreibt, wie aufgeschlossen Zhuang der Sexualität gegenüber war:

 

„Einmal traf Zhuang eine junge Witwe am Grab ihres gerade verstorbenen Ehemanns. Mit einem Fächer wedelte sie energisch über die Erde des frischen Grabes. Zhuang war neugierig und fragte sie, warum sie dies tue. Die Witwe antwortete, sie tue dies, weil ihr Ehemann ihr vor dem Tod gesagt hatte, daß sie sich wiederverheiraten könne, sobald die Erde auf seinem Grab trocken wäre, und sie hoffe nun, die Erde gleich jetzt trocknen zu können. Zhuang lächelte über diese Antwort und half ihr, das Grab zu trocknen. Als die Erde schließlich trocken war, dankte die Frau Zhuang und schenkte ihm ihren Fächer zum Andenken. Erfreut nahm Zhuang das Geschenk an und wünschte ihr ein glückliches Leben."

 

Der Konfuzianismus

 

Die Lehren des Konfuzius und seiner Schüler finden sich in den „Vier Büchern". Zwei von ihnen, das „Li-ji" (Buch der Riten) und das „Shi-jing" (Buch der Oden), geben sehr unterschiedliche Eindrücke von Konfuzius' Einstellung zur Sexualität. Das „Li-ji" (Harvard-Yenching Institute 1966) beschreibt sehr de­tailliert die außerordentlich strikten Gesetze, die in der höfischen Gesellschaft früherer Dynastien in allen Formen des persönlichen Umgangs beachtet werden mußten. Beispielsweise war Männern und Frauen im täglichen Leben jeglicher Körperkontakt verboten. Selbst bei der Übergabe eines Gegenstandes durfte der Mann die Frau nicht berühren. Das „Shi-jing" (Legg 1960) dagegen ist eine Anthologie volkstümlicher Lieder und Gedichte. Einige dieser Gedichte beschreiben explizit, wie sehr erotische Anziehung, Liebeswerben und Geschlechtsverkehr als Teil der Lebensfreude geschätzt wurden. Das folgende Zitat aus einem Gedicht gibt wieder, was ein Mädchen am späten Abend zu ihrem Liebhaber sagt:

 

„Bitte entkleide mich zärtlich und langsam, Laß nicht das Jadeband um meine Taille klirren, Sonst könnten die Hunde bellen!"

 

Dieser Widerspruch in der konfuzianischen Einstellung zur Sexualität ist jedoch nur scheinbar, wenn man weiß, daß das „Li-ji" als Ausdruck von Konfuzius' Bewunderung für das Regierungssystem der Zhou-Dynastie (1100 - 770 v. Chr.) zusammengestellt wurde. Er sammelte verschiedene Aufzeichnungen über hö­fische Rituale für eine vollständige Dokumentation, die er aber nicht als allgemeine Verhaltensmaßregeln verstanden wissen wollte. Die Gedichte, die er für das „She-King" auswählte, zeigen andererseits, was Konfuzius als den Geist und die Schönheit des ländlichen Lebens ansah. Die sexuelle Freizügigkeit, die sich darin findet, könnte genau das gewesen sein, was ihm daran gefiel.

 

In seinem persönlichen Leben und den Lehren seiner Schüler zeigte sich Kon­fuzius als sehr aufgeschlossen gegenüber der Sexualität. Er erkannte dem sexuellen Verlangen denselben Stellenwert zu wie dem Nahrungsbedürfnis („Shi-se-xing-ya": Sexualität und Nahrung sind gleichwertige instinktive Be­dürfnisse). Er hatte nichts gegen das Streben nach sexueller Befriedigung. Er stellte dafür nur die Bedingung, daß es sich im Rahmen der herrschenden Gesellschaftsordnung harmonisch verwirklichen sollte. Er selbst war verheira­tet, hatte Kinder und ging in ungezwungener Weise mit Frauen und Mädchen um.

 

Die Schriften des Mencius zeigen die konfuzianische Einstellung zur Sexualität noch deutlicher. Obwohl Konfuzius der Gesellschaftsordnung und der Har­monie große Bedeutung beimißt, würde er einer Übertretung der Gesetze zustimmen, wenn diese mit dem normalen sexuellen Verlangen oder der Erzeu­gung von Nachkommen nicht vereinbar sind: „Wenn eine sexuelle Beziehung daran zerbrechen könnte, daß die Eltern davon unterrichtet werden, ist es besser, ihnen nichts zu sagen." (Wong & Li 1944)

 

Die folgende Unterhaltung zwischen Mencius und einem Kaiser zeigt ebenfalls, daß Mencius im sexuellen Verlangen keinen Widerspruch zu einer guten Füh­rung der Regierungsgeschäfte sah:

 

„Der Kaiser fragt Mencius: ,Herr, ich bin krank, ich habe ein starkes Verlangen nach den Freuden der Liebe. Was soll ich tun?' ,Daß Ihr Euch danach sehnt, zeigt nur, daß ihr ein Mensch seid wie alle anderen auch. Warum sorgt Ihr Euch deswegen?', antwortet Mencius." (Wong & Li 1944)

 

 

Religiöse Einflüsse

 

Buddhismus

 

In der Han-Dynastie (206 v.Chr. - 220 n.Chr.) etablierten sich in China zwei große Religionen, der Buddhismus und der Taoismus.

 

Der Buddhismus kam in der Zeit des Kaisers Han-Ming-Di (um 65 v.Chr.) nach China; die erste Schule war die Hinayana-Schule. Der Buddhismus lehrt, daß alle Arten des Verlangens, einschließlich der Sexualität, Versuchungen und Ursachen der Leiden sind. Der Einfluß dieser Lehre vollzog sich allmählich und wirkte sich erst viele Dynastien später wirklich aus. In der Han-Zeit hatte ein anderer Aspekt des Buddhismus größere Bedeutung: die Idee der Gleichheit zwischen Männern und Frauen. Diese wertete die gesellschaftliche Position der Frau in der Han-Dynastie und den folgenden auf und gestattete ihnen mehr Freiheit im Leben und in der Berufsausübung. Deshalb werden die Frauen in diesen Dynastien als stark, bestimmt und selbstbewußt in ihren Entscheidungen hinsichtlich sexueller Beziehungen und Eheschließungen beschrieben. Sie hatten die Freiheit, sich mit Männern zu treffen, und waren unabhängig in ihrem Beruf. In bestimmten sozialen Positionen oder für besondere Verdienste konn­ten sie auch zu Ritterinnen geschlagen werden.

 

Das folgende Zitat aus einem Gedicht einer späten Han-Dichterin (Zhuang 1978) zeigt, daß die Frauen dieser Zeit nicht zu schüchtern waren und es nicht unanständig fanden, über ihre Liebe zu einem Mann zu sprechen:

 

„Ich fühle mich so unglücklich;

Wie eine Peitsche möchte ich

Deine Arme umschlingen, wohin immer Du gehst,

Und Deinem Schoße nah sein."

 

 

Taoismus

 

Ursprünglich war der Taoismus eine Philosophie (siehe oben) — und es gab viele Philosophien in der Zeit der Streitenden Reiche, die alle versuchten, sich als beste für eine gute Regierung zu profilieren. Schließlich eroberte der Herr­scher von Quin alle anderen Staaten (223 v. Chr.). Während seiner Regierungs­zeit wurden viele Bücher verbrannt, um regierungsfeindliche Kräfte auszurot­ten. So wurden die meisten philosophischen Strömungen unterdrückt, der Taoismus hielt sich jedoch, indem er eine neue Form annahm, die dem Kaiser zusagte. Die Taoisten selbst verwandelten die Philosophie in eine Religion. Das dem Lao-tse zugeschriebene Werk „I-Ching" und die Schriften des Zhuang-Zi wurden in Neuinterpretationen mit mystischen Bedeutungen versehen. Sie sollten nun Anleitungen sein, wie man sich gegen böse Geister wehrt, wie man sich bis zur Gottwerdung vervollkommnen kann und — am allerwichtigsten — wie man das Elixier des ewigen Lebens gewinnt. Da die Herrscher von Qin und die der nachfolgenden Dynastien diese mystischen Kräfte gerne besitzen wollten, unterstützten sie den Taoismus als Religion in solchem Maße, daß viele taoistische Priester in hohe Regierungsämter eingesetzt wurden.

 

Das erste chinesische Werk über Sexualität

 

Als sich die Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit allmählich als sinnlos erwies, verlegten sich die Taoisten auf ein anderes Gebiet, um den Kaiser zu erfreuen und in seiner Gunst zu bleiben: Sexualität. Sie schrieben Bücher über sexuelle Praktiken, über verschiedene Möglichkeiten der Liebesfreuden und — mehr als das — darüber, wie man durch häufigen Geschlechtsverkehr sein Leben verlängern kann. Dieses Ziel erschien den Kaisern natürlich sehr erstre­benswert, und so entstand vor diesem Hintergrund das bekannte „Su-Nui- Jing", das klassische chinesische Werk über Sexualität (Hong Kong Medical Research Society 1964).

 

Da es das wichtigste klassische chinesische „Handbuch" über Sexualität ist, lohnt es eine genauere Betrachtung. Die vielen anderen Werke, die in den folgenden 1000 Jahren über Sexualität verfaßt wurden, sind bloße Wiederho­lungen oder Neuinterpretationen dieses Textes ohne substantiell neue Aspekte. Außerdem ist dieses Werk von Sexologen häufig ausführlich als repräsentativer Ausdruck chinesischer sexueller Theorien und Praktiken zitiert worden, woraus sich viele Zerwürfnisse und Mißverständnisse ergeben haben, die teilweise auf einer historisch unvermittelten, unsachgemäßen Lektüre des Textes beruhen, teilweise auf schlechten Übersetzungen und Fehlinterpretationen.

 

In den Grundzügen kann der Inhalt des „Su-Nui-Jing" in 14 Punkten zusam­mengefaßt werden:

 

1.       Einführung: Dieser Abschnitt betont, daß Sexualität, wenn bestimmte Regeln beachtet werden, ein Quell unendlicher Freuden sein kann. Die Kenntnis dieser Regeln kann bei Mann und Frau zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit führen und das Leben in einem Maße ver­längern, wie es allein durch die Medizin nicht möglich ist.

2.       Allgemeiner Grundsatz: Dieser besteht darin, „Chi" (Gemütsverfassung), Herz und Willen in der rechten Balance zu halten, so daß das Liebesspiel ruhig, liebevoll und entspannt ausgeführt werden kann, frei von Gefühlen der Schuld oder Sünde. Wird dieser Grundsatz verletzt, stellen sich während oder nach dem Geschlechtsverkehr Impotenz, Depressionen oder Erschöp­fungszustände ein.

3.      Regeln des Kosens und Tändeins.

4.      An welchen Zeichen man die Bereitschaft der Frau für den Geschlechtsakt erkennt.

5.      Woran man erkennt, daß die Erektion stark genug ist.

6.      Regeln für die vaginale Penetration: Nur wenn beide Partner gut vorbereitet sind, soll der Mann in die Frau eindringen, und dafür gibt es neun grundsätzliche Wege.

7.      Acht besondere Regeln für den Geschlechtsverkehr, die sich auch heilend auf vorzeitige Ejakulation, Schüchternheit, Verdauungsstörungen, Gelenk­schmerzen, Herzklopfen, Menstruationsbeschwerden und Scheidenausfluß auswirken können.

8.      Sieben Übel (Qi-shang), die durch ungeeignete Sexualpraktiken hervorge­rufen werden können: Schwindel, Mundtrockenheit, allgemeine Unlust an der Sexualität, vorzeitige Ejakulation, Impotenz, Schmerzen im Penis bei der Ejakulation. Diese Übel können durch bestimmte sexuelle Techniken geheilt werden.

9.      Häufigkeit der Ejakulation und Lebensfreude: Wenn ein Mann sich selbst soweit disziplinieren kann, daß er nicht bei jedem Geschlechtsverkehr ejakuliert, wird dies für ihn in vielen Hinsichten vorteilhaft sein. Der größte Vorteil ist, daß er nach dem Geschlechtsverkehr nicht müde sein wird und deshalb in einer kurzen Zeitspanne die Freuden der Liebe häufiger genießen kann. Dies ist besser, als nur das Lustgefühl einer einzigen Ejakulation zu haben. Schließlich wird dieses Verhalten ihn glücklicher, stärker und aktiver machen und seinem Geist Klarheit verleihen.

10.    Häufigkeit der Ejakulation und Gesundheit: Es ist auch nicht gut, nie zu ejakulieren. Am besten ist es, die Häufigkeit der Ejakulation kontrollieren zu können und sich dabei an den eigenen Fähigkeiten und der Gesundheit zu orientieren, unabhängig davon, mit wie vielen Frauen der Mann in einer Nacht Geschlechtsverkehr hat. Dieser Abschnitt gibt außerdem Empfeh­lungen für die Häufigkeit der Ejakulation im Hinblick auf das Alter.

11.    Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs: Dieser sollte gut gewählt sein. Z.B. soll man zur Mittagszeit oder Mitternacht, bei Neumond oder Unwetter, nach einem Unglücksfall, bei Volltrunkenheit oder nach einem üppigen Mahl und mit offenen Hämorrhoiden keinen Geschlechtsverkehr haben.

12.    Wie man ein gesundes Kind zeugt: Dazu dürfen die Eltern nicht zu alt sein. Sie müssen zur richtigen Zeit und mit den richtigen Methoden Ge­schlechtsverkehr haben, beginnend mit dem dritten Tag nach der Menstrua­tion und kurz vor der Morgendämmerung.

13.    Wie man eine gute Frau wählt, die fruchtbar ist, und wie man guten Geschlechtsverkehr mit ihr hat.

14.     Kräuterrezepte zur Behandlung der Impotenz und des Scheidenausflusses.

Es ist interessant, dieses Werk mit modernen westlichen Lehren über Sexualität zu vergleichen. Die Lust an der Sexualität betreffend, zeigt das „Su-Nui-Jing" mehr Vielfalt, verbunden mit mehr Weitsicht - nicht nur im Hinblick darauf, wie man den Geschlechtsakt genießt und wie man ihn verlängert, sondern auch, wie man die Häufigkeit der körperlichen Genüsse steigern kann. Die westlichen Lehren dagegen - was vielleicht an dem rudimentären Weiterwirken früherer Vorstellungen liegt, daß Sexualität sündhaft und schmutzig ist und Ausschweifungen ungesund sind - stellen die Freuden der Liebe in einer eher passiven Weise dar, als käme es nur darauf an, das sexuelle Verlangen zu stillen, wie man eine Feuersbrunst löscht. Noch etwas anderes fällt an diesem chine­sischen „Handbuch" auf: Es enthält keine Anleitung für sadistische und masochistische Techniken, für Anal- oder Oralverkehr. Dies zeigt, daß die alten Chinesen, obwohl sie eine Vielzahl sexueller Techniken akzeptierten, den „nor­malen" Geschlechtsverkehr als natürlicher und deshalb als dem Tao angemes­sener betrachteten. Andere Formen von Sexualität wurden toleriert, jedoch - wenn auch nicht als unbedingt schädlich - nicht als nützlich und sinnvoll angesehen.

 

In therapeutischer Hinsicht betont das Buch die Verhütung sexueller Probleme durch eine gute Wahl der Zeit, des Ortes, der seelisch-geistigen Verfassung etc. Die Behandlungsmethoden, die vorgeschlagen werden, sind verhaltensorientiert mit praktischen Anleitungen, die an die modernen Techniken von Masters und Johnson erinnern.

 

Im allgemeinen sind daher die meisten Empfehlungen des Buches recht ver­nünftig, menschlich und — sogar vom gegenwärtigen Standpunkt aus betrach­tet — fortschrittlich. Einige der Ratschläge oder Theorien sind natürlich vom heutigen Erkenntnisstand aus unwissenschaftlich und falsch (z. B. die Bestim­mung des besten Zeitpunkts für den Geschlechtsverkehr, um ein Kind zu zeugen), doch dies war beim damaligen Stand der Wissenschaft unvermeidlich. Einige andere Annahmen der Taoisten erscheinen auch zweifelhaft, doch bisher kann die moderne Medizin sie nicht widerlegen.


 

Mißverständnisse des Tao hinsichtlich der Sexualität

 

Einige Mißverständnisse des taoistischen Textes sind bei westlichen Wissen­schaftlern wie bei chinesischen gleichermaßen verbreitet und haben zu Schwie­rigkeiten im Verständnis der chinesischen Sexualität geführt:

 

a)   „Sexueller Vampirismus" (Van Gulik 1961)

 

Dieser stützt sich auf Zitate wie etwa das folgende: „Sieh in deinem weiblichen Partner den rivalisierenden Feind"; „Cai-Yin-Bu-Yang" (etwa: Zieh das Yin aus der Frau, um dein Yang zu stärken); und „Nimm soviele Mädchen, wie du kriegen kannst". Diese Aussagen sollten im übertragenen Sinne verstanden werden, denn Metaphern und Bilder sind in der chinesischen klassischen Lite­ratur sehr verbreitet. Wenn der weibliche Partner als Feind bezeichnet wird, so soll dies lediglich betonen, daß man den Geschlechtsverkehr behutsam und mit Bedacht ausführen und sich nicht völlig gedankenlos und unvorbereitet hineinstürzen soll, und daß man bis zu einem gewissen Grade eigennützig sein und das eigene Vergnügen mehr im Auge haben soll, als sich übermäßig für das des Partners zu verausgaben. Ähnliche Aussagen finden sich in modernen Handbüchern zur Sexualtherapie (Kaplan 1974).

 

Auch „Cai-Yin-Bu-Yang" sollte nicht wörtlich genommen werden. Es bedeutet nur, daß es sich auf die Gesundheit eines Mannes positiv auswirken kann, mit einer Frau Geschlechtsverkehr zu haben. Es heißt nicht, daß beim Liebesakt dem weiblichen Körper etwas, das man „Yin" nennt, weggenommen wird, um damit das „Yang" im Körper des Mannes zu nähren. „Yin" und „Yang" sind in der taoistischen Lehre abstrakte Prinzipien, die sich in keiner Form mate­rialisieren können.

 

b)  Coitus reservatus oder männliche Enthaltsamkeit (Van Gulik 1961)

 

Die vollständige Unterdrückung der Ejakulation ist kein Zweck oder eine der Methoden taoistischer Lehren zur Sexualität. Das Buch lehrt nur, daß die Ejakulation kontrolliert werden sollte, wenn der Mann das größtmögliche Lustgefühl erleben möchte. Dies ist wahrscheinlich ein auf falscher Übersetzung beruhendes Mißverständnis. So ist z. B. Chang (1977) in seinem Buch, das verschiedene Fehldeutungen taoistischer Vorstellungen zur Sexualität disku­tiert, immer noch nachlässig genug, eine Passage im „Su-Nui-Jing" folgender­maßen zu übersetzen: „Wenn ein Mann seine Ejakulationen bis zu einem absoluten Minimum reguliert und einschränkt, wird dies seinen Körper kräf­tigen". In Wirklichkeit heißt der Text: „Ruo-Dong-Er-Bu-Xie, Qi-Li-You-Yu", was bedeutet: „Wenn er sexuell aktiv ist und nicht ejakuliert, wird er hinterher mehr Kraft übrig haben." Es steht dort nichts über die Reduktion der Ejaku­lation auf ein absolutes Minimum oder über die Kräftigung des Körpers.

 

c)   Karezza (ruhiger und passiver Koitus)

 

Hierbei handelt es sich um ein noch größeres Mißverständnis. Der Taoismus hält Passivität und Ruhe für eine sinnvolle Einstellung gegenüber Lebenspro­blemen; was jedoch die Sexualität angeht, sind die vorgeschlagenen Regeln, wie oben dargestellt, sehr auf aktives Verhalten ausgerichtet.

 

d)  Männerzentriertheit

 

Es ist ein Mißverständnis, daß die Regeln in der taoistischen Sexualliteratur nur für Männer und ihr Wohlbefinden aufgestellt wurden. Dieses wird auch an vielen nachfolgenden Büchern ähnlichen Inhalts deutlich. Im „Dong-Zuan- Zi" (Die Lehre des Meisters Dong-Zuen) z. B. wird festgestellt, daß „nicht nur Männer (durch den Geschlechtsverkehr) genährt und gestärkt werden können, sondern auch Frauen". Ein klassischer Kung-Fu-Roman „Shu-Shan-Jian-Xia- Zhuan" (Die Schwertkämpfer des Shu-Gebirges, Huan-Zhu Lou-Zhu 1930) beschreibt in übertriebener Weise, wie der männliche Held von den taoistischen Lehren verpflichteten Heldinnen überwältigt wird, die mit den sexuellen An­leitungen des Taoismus durchaus vertraut sind.

 

Der Einfluß taoistischer Vorstellungen über Sexualität in den folgenden Dynastien

 

Taoistische Bücher waren bei den Reichen wie bei den Armen weit verbreitet. Der Taoismus war die Staatsreligion in der Han- und der Tang-Dynastie. Der Buddhismus setzte sich erst später durch, konnte den Taoismus aber nie völlig ersetzen. Die Werke der Dichter und Romanciers in der Tang- und Song- Dynastie zeigen, daß die taoistischen Lehren nicht nur abstrakte Glaubensin­halte waren, sondern während dieser Zeit — im sexuellen wie in anderen Bereichen — auch tatsächlich praktiziert wurden. Es gibt viele gute Gründe für die Annahme, daß die Chinesen das Tao der Sexualität extensiv praktizier­ten, d. h. innerhalb der Grenzen der zeitgenössischen Sexualnormen und der herrschenden Ehegesetze. Viele Dichter und Gelehrte der Tang- und Song- Dynastie (618 - 1279 n.Chr.) äußerten sich sehr offen über ihr Sexualleben. Sie waren stolz darauf, Prostituierten gegenüber Nachsicht und Freundschaft zu üben oder mit ihnen zusammenzuleben. In den erotischen Bildern der Yuan- und Ming-Dynastie (1271 - 1644 n. Chr.) werden viele sexuelle Techniken dar­gestellt, die im „Su-Nui-Jing" beschrieben sind, einschließlich des Oralverkehrs, erotische Schaukeln, Masturbation, Liebesspiele zu dritt oder viert und andere exotische sexuelle Praktiken (Van Gulik 1951, Douglas & Slinger 1979).

 

Da der Taoismus Sexualität als Teil der Natur und als Abbild des Zusammen­wirkens der Kräfte des Universums betrachtet, zeigen viele Bilder sexuelle Aktivitäten im Freien. Auf einigen Bildern sind Eltern zu sehen, deren Kind neben dem Bett spielt, während sie Geschlechtsverkehr haben. Diese Szenen erwecken viel eher den Eindruck eines glücklichen, entspannten Familienlebens als eines pornographischen, abartigen oder sündhaften.

 

Der Aufstieg des Neukonfuzianismus und seine Folgen

 

Trotz des weitverbreiteten Glaubens an den Taoismus und seiner großen An­hängerschaft konnten jedoch Möglichkeiten des Mißverständnisses und falscher oder abergläubischer Anwendungen nicht ganz ausgeschlossen werden. Im Laufe der Zeit kam es so zu wiederholten Fehlinterpretationen der taoistischen Sexuallehren. Die Literatur der Song- und Yuan-Dynastie zeigt - z. B. im „Xi- You-ji, Liao-Zhai Zhi-Yi" (Eigenartige Geschichten aus dem Gesprächszimmer, Pu 1969) -, daß einige taoistische Vorstellungen auf die Spitze getrieben, falsch, abergläubisch und verzerrt gedeutet wurden.

 

Während einige dieser Fehlinterpretationen auf oberflächlicher Lektüre oder subjektiver Deutung basieren, gab es dafür noch andere, ernsthaftere Ursachen. Anders als in der Han- und Tang-Zeit waren die Chinesen seit der Song- Dynastie bis zum letzten Jahrhundert der Kaiserzeit ständig durch externe Kräfte bedroht. Die Song-Herrscher wurden von den Mongolen attackiert, die Yuan-Herrscher waren in Wirklichkeit Mongolen, die Ming-Dynastie wurde von den Japanern und den Mandschuren bedroht, in der Qing-Zeit herrschten die Mandschuren, die aber ihrerseits wieder in den letzten Jahren ihrer Regie­rung von westlichen Mächten bedroht wurden. Die Chinesen lebten so in ständiger Unsicherheit. Sie mußten Möglichkeiten und Wege finden, an Stärke zu gewinnen. Daraus erwuchs das Bedürfnis, den Konfuzianismus nicht nur wiederzubeleben, sondern ihn auch in einer besonders strikten Deutung zu studieren, zu lehren und praktisch anzuwenden. Dies führte z. B. dazu, daß die manieristischen Rituale der Zhou-Dynastie, die ursprünglich nur bei zeremo­niellen Gelegenheiten für Mitglieder der Hocharistokratie galten, in allen Klas­sen Verbreitung fanden: Der physische Kontakt zwischen Männern und Frauen war verboten, der offene Ausdruck sexuellen Verlangens oder sexueller Akti­vitäten wurde unterdrückt.

 

Sexualität wurde tabuisiert und als schmutzig und schädlich betrachtet. Wurde eine ehrbare Frau von einem Arzt untersucht, durfte sie ihm nicht persönlich gegenübertreten, sondern ihm von ihren Schmerzen nur hinter einem Wand­schirm berichten und die Stellen, an denen ihr etwas weh tat, für den Arzt an einer Holzpuppe markieren. Auch um ihren Puls zu fühlen, durfte der Arzt sie nicht direkt berühren; er mußte die Pulsfrequenz nach den Schwingungen messen, die von zwei Fäden an ihrem Handgelenk übertragen wurden. Die Ehen wurden nun von den Eltern arrangiert, eine geschiedene Frau war entehrt, Witwen durften sich nicht wiederverheiraten und voreheliche sexuelle Bezie­hungen wurden schwer bestraft.

 

Durch diese Unterdrückung wurde das sexuelle Verlangen in Bahnen gelenkt, in denen es nur noch extrem indirekt ausgedrückt werden konnte. Über Se­xualität zu schreiben, galt als unfein — geschah es doch, wurden die taoistischen Ideen falsch gedeutet und herabgewürdigt. Völlig verzerrte Vorstellungen über Sexualität zirkulierten: Samen galt als unschätzbare Kostbarkeit, der Ge­schlechtsakt wurde zum heterosexuellen Krieg, die Idee des sexuellen Vampi­rismus und Konzeptionen unzulässiger Materialisierungen von Yin und Yang entstanden in dieser Zeit. Da die Frau nicht mehr als sexuelles Wesen geschätzt werden durfte, avancierten ihre gebundenen Füße zum Fetisch, was viel zu den körperlichen Leiden der chinesischen Frauen für fast 1000 Jahre beitrug. Ein vergleichbares Ausmaß von Gruppenfetischismus kommt in anderen Kulturen so gut wie nicht vor (Levy 1966).

 

Andere Varianten des Sexualverhaltens rückten in den Vordergrund und wurden teilweise in erheblichem Umfang praktiziert. Die Homosexualität verbreitete sich stärker als je zuvor, die Prostitution blühte, und im Namen gesetzlicher Strafen wurden Frauen sexuell gefoltert (Pong 1974). Z. B. wurden in der Song- Dynastie in einigen Bezirken Ehebrecherinnen mit der „Strafe des hölzernen Bockes" zu Tode gefoltert. Die Frau mußte dabei nackend auf einem hölzernen Bock sitzen, der Räder hatte. Während die Frau zur öffentlichen Demonstration ihrer Schande durch die Stadt gezogen wurde, stieß aus dem Rücken des Bocks — synchronisiert mit der Drehung der Räder — ein scharfer Stab wiederholt in die Vagina der Frau. Die Bestrafung war beendet, wenn die Frau vaginal verblutet war (Zhong-Hua Tu-Shu-Guan 1913).

 

Repressive Einflüsse aus dem Westen

 

Der Neokonfuzianismus führte zu gewissen Formen sexueller Unterdrückung in der gebildeten Schicht und der oberen Mittelschicht und kanalisierte die Sexualität in andere Verhaltensweisen, doch war die Unterdrückung nicht vollkommen, denn Homosexualität und Prostitution wurden toleriert, ja sogar anerkannt. Künstler konnten sich immer noch durch erotische Illustrationen einen Namen machen, und in der klassischen Literatur wurden explizite ero­tische Darstellungen nicht unbedingt vermieden. Bedeutende klassische Werke der Ming- und Ching-Dynastie, wie z. B. „Geschichte des westlichen Zimmers", „Traum im roten Zimmer" und „Die Reise nach Westen", waren repräsentativ für ihre Zeit und enthalten alle explizite sexuelle Darstellungen, die nach modernem Verständnis als Pornographie bezeichnet werden können.

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn dieses Jahrhunderts waren viele westliche Gelehrte beeindruckt von der natürlichen und spontanen Ein­stellung, die die Chinesen gegenüber der Sexualität hatten. Matignon (1901) z. B. führt zur chinesischen Haltung gegenüber der Homosexualität folgendes aus:

 

„Die öffentliche Meinung ist dieser Art der Verirrung gegenüber völlig indifferent und kümmert sich überhaupt nicht darum, außer um festzustellen, daß, wenn es dem dominierenden Partner Freude macht und der andere einverstanden ist, nie­mandem daraus ein Schaden erwächst."

 

 

Russell (1928) schreibt:

 

„Sollte ich den wichtigsten Unterschied zwischen den Chinesen und uns in einem Satz zusammenfassen, würde ich sagen, daß sie in erster Linie nach Freude streben ... und daß Moral für sie nicht bedeutet, ständig die eigenen Impulse zu überwachen und sich in die anderen einzumischen."

 

 

Die repressive Einstellung gegenüber der Sexualität verstärkte sich in China erheblich durch westliche Einflüsse. Von westlichen Mächten mehrmals besiegt und gedemütigt, hatte sich die Haltung der Chinesen gegenüber der westlichen Kultur sehr verändert: Der ursprünglichen Verachtung folgten Furcht, dann Bewunderung, schließlich blinde Verehrung. Allmählich übernahmen sie einige Ansätze westlicher Lebensphilosophien, was sich repressiv auf sexuelle Vor­stellungen auswirkte. Die wichtigsten westlichen Einflüsse waren folgende:

 

Das Christentum

 

Das Christentum gelangte noch vor der westlichen Militärinvasion nach China. Obwohl nur ein geringer Prozentsatz der Chinesen Christen sind, wirkt sich gegenwärtig der christliche Einfluß indirekt durch Handelsbeziehungen mit westlichen Ländern und durch politische Ideen oder Systeme aus, denen die Chinesen seit dem frühen 20. Jahrhundert gefolgt sind.

 

Der christliche Einfluß auf die Sexualität manifestiert sich in der Etablierung der monogamen Ehe, die im gegenwärtigen China als einzig legale Form der Ehe anerkannt wird und über jedes körperliche Bedürfnis und alle anderen sozialen oder praktischen Belange dominiert. Andere christliche Ideen, die den Chinesen ursprünglich fremd waren, sind übernommen worden, besonders Schuldgefühle, die sich auf fast alle Bereiche außerehelicher Sexualität erstrek- ken und auf alle Arten sexueller Aktivitäten, die nur der körperlichen Lust dienen oder keinen Reproduktionszweck erfüllen, einschließlich sexueller Phan­tasien, Masturbation, Prostitution und den Gebrauch von Verhütungsmitteln.

 

Ein gutes Beispiel für den Einfluß christlicher Wertvorstellungen auf die ge­genwärtige chinesische Kultur ist auch die versuchte Entkriminalisierung der Homosexualität in Hongkong. In China gab es niemals Gesetze gegen Homo­sexualität, es gibt auch heute keine solchen Gesetze in der Volksrepublik China [1] oder in Taiwan. Seit Hongkong jedoch von den Briten regiert wird, schreibt das Gesetz — in Anlehnung an das britische Recht — Strafen bis zu lebens­länglichem Gefängnis für Analverkehr und bis zu zwei Jahren Gefängnis für jeden Akt „grober Unzucht" zwischen Männern vor, unabhängig davon, ob dieser mit oder ohne Einverständnis der Beteiligten, privat oder in der Öffent­lichkeit ausgeführt wurde. Diese Ablehnung der Homosexualität hat sich in den Köpfen der Chinesen in Hongkong derartig festgesetzt, daß sie sich wei­gerten, den Briten zu folgen, als diese 1967 die Gesetze gegen die Homosexua­lität liberalisierten. Sie argumentierten, daß die Homosexualität mit traditio­nellen chinesischen Werten nicht zu vereinbaren sei.

 

Die romantische Liebe

 

Die romantische Liebe ist eine andere aus der westlichen Kultur importierte weltanschauliche Strömung, die zur sexuellen Unterdrückung in China beiträgt. Sie betont das Subjektive, Ideale, Neue und Schöne. Im Gegensatz zu sozialen Beschränkungen und traditionellen gesellschaftlichen Kontrollmechanismen wird größter Wert auf die Freiheit des Gefühls gelegt. Im Hinblick auf Sexua­lität besteht dieser Romantizismus auf dem Vorrang von Liebe und tiefen emotionalen Beziehungen vor rein körperlicher Aktivität, auf der Vorstellung, daß es keine Sexualität ohne Liebe geben soll, auf die Opferung des Selbst in der Liebe, und er stellt viele komplizierte Anforderungen an die Liebeswerbung und den Umgang der Liebenden miteinander zur Stimulation und Überhöhung der Gefühle. Diese Art von Romantizismus erhebt die Liebe zu einer mystischen Angelegenheit mit fast übernatürlichen Kräften und verführt dazu, Sexualität von der Realität zu trennen. Diese Ideen haben die Menschen im gegenwärtigen China in ihre alltäglichen Vorstellungen und Handlungen integriert.

 

Befreiende Einflüsse aus dem Westen

 

Es gibt natürlich auch westliche Einflüsse, die befreiende Auswirkungen auf die Sexualität in China haben. Diese bestehen im Individualismus, im Kapi­talismus und im Prozeß der Modernisierung. Diesen westlichen Wertvorstel­lungen folgend, sind die Chinesen gezwungen gewesen, ihre suppressiven se­xuellen Verhaltensweisen und Einstellungen zu verändern, um sich den sozialen Wandlungen anzupassen, die mit den Fortschritten in der Sexualmedizin, mit dem Reisen, den Massenmedien, neuen Technologien, sozialen und kommer­ziellen Aktivitäten zusammenhängen. Da diese westlichen befreienden Ein­flüsse, verglichen mit den früheren suppressiven, neueren Datums sind, variieren ihre Auswirkungen auf die chinesische Gesellschaft stark in Abhängigkeit von sozialen Strukturen, politischen und ökonomischen Systemen und dem Grad der Modernisierung. Vergleicht man die Ergebnisse von Untersuchungen zur Sexualität in der Volksrepublik China, Hongkong, Taiwan und Singapur, zeigt sich, daß die sexuelle Unterdrückung größer in Gesellschaften ist, die weniger westlichen Einflüssen unterliegen und die im Hinblick auf Modernisierung, Kapitalismus und Individualismus ein niedrigeres Niveau haben.

 

Abweichungen

 

Die Einstellungen zur Sexualität und deren praktische Ausführungen sind kaum in irgendeiner Kultur gleichförmig, und ihre Entwicklung ist kaum zu lenken. Die vorhergehenden Ausführungen zur Geschichte beziehen sich nur auf die Han, die größte ethnische Gruppe in China, zu der ungefähr 95% der Chinesen gehören und die die höchst entwickelte und einflußreichste Kultur in China ist. Es gibt jedoch viele Minderheiten, die ganz andere historische Ursprünge haben. Menschen dieser Gruppe haben häufig ganz andere sexuelle Einstellun­gen und Praktiken (Lou 1970). Es gibt sehr viele und zum Teil erhebliche Abweichungen von der Han-Kultur, doch können hier nur einige davon zum Zwecke der Illustration beschrieben werden.

 

Im Bezirk Wei-On von Kiangsu kann z. B. ein armer Mann, der es sich nicht leisten kann, für immer eine Frau zu nehmen, von einem anderen Mann eine Frau für ein oder zwei Jahre leihen, um Nachkommen zu haben. In Chikiang kann ein Mann die Frau seines Bruders zu sich nehmen, wenn dieser gestorben ist, und ein kleines Mädchen kann in eine reiche Familie als Kindbraut „ver­heiratet" werden. Im Stamme der Hakka in Hunan ist den Ehepartnern au­ßereheliche Sexualität gestattet. Diese Liebhaber und Geliebten werden „männliche oder weibliche Kollegen" genannt, und wenn die Ehepartner sich trennen, können sie ohne Komplikationen mit ihren „Kollegen" zusammenleben.

 

Im Stamme der Miao gibt es voreheliche heterosexuelle Beziehungen. Eine Sitte der Liebeswerbung, die „Zuo Mei" genannt wird, bedeutet, daß ein junger Mann die Nächte mit dem Mädchen seiner Wahl verbringen kann. Die Miao haben auch freie und einfache Heirats- und Wiederverheiratungsgebräuche.

 

Die Tibetaner sind leidenschaftliche Anhänger des Buddhismus, aber sie be­trachten die Eheschließung nicht als ein heiliges Ritual. Bei ihnen existieren Monogamie, Polygamie, „Ehen auf Probe" und zeitlich begrenzte Ehen neben­einander. Außerdem können sich mehrere Brüder eine Frau teilen.

 

Schlußfolgerung

 

Diese sehr verschiedenen Formen sexueller Beziehungen und noch viele andere, hier nicht erwähnte, die im gegenwärtigen China weiterbestehen, zeigen, daß es zu vereinfachend wäre, Sexualität in China in ein gleichförmiges Muster zu pressen.

 

Über 3000 Jahre Kultur, die verschiedenen Faktoren, die sich im Laufe der Geschichte auf chinesisches Sexualverhalten ausgewirkt haben, die verschie­denen Reaktionen auf diese Einflüsse und die Heterogenität des chinesischen Volkes — dies alles spricht entschieden gegen eine vereinfachende Betrachtung der Sexualität in China. Es ist daher angemessener, über die Sexualität ver­schiedener Gruppen in bestimmten geographischen Gebieten zu sprechen und auch dann noch Raum zu lassen für Veränderungen, individuelle Unterschiede, Mißverständnisse und unterschiedliche Interpretationen. Will man zusammen­fassend etwas über bestimmte Charakteristika der Sexualität in China sagen, so müßten die folgenden Aspekte akzentuiert werden:

 

1.     Im Hinblick auf Sexualität ist die chinesische Kultur sehr vielfältig und reichhaltig. In Philosophie, Religion, Medizin, Literatur und Kunst nimmt sie einen bedeutenden Platz ein. Sie wurde immer ernst genommen und in einem Maße mit Geist, Engagement und Raffinesse behandelt, das von anderen hochzivilisierten Kulturen kaum übertroffen werden kann.

2.     Aufgrund ihrer langen Geschichte und ihrer Heterogenität haben die Chi­nesen mit nahezu jeder denkbaren Form von sexuellen Beziehungen oder Ehesystemen experimentiert oder Erfahrungen gesammelt. Da heutzutage das Konzept der monogamen, lebenslänglichen Ehe mit ernsthaften Schwie­rigkeiten, Zweifeln und Herausforderungen konfrontiert ist, verdient die chinesische Erfahrung mit anderen heterosexuellen Beziehungsformen be­sondere Aufmerksamkeit. Untersuchungen in dieser Richtung könnten ein neues Licht auf die Möglichkeiten anderer Ehesysteme werfen und Hinter­gründe, Theorien und Faktoren enthüllen, die zu ihrer Entwicklung beitru­gen.

3. Die chinesischen Konzeptionen und praktischen Ausführungen von Sexua­lität sind immer konkret, tolerant, flexibel und — vor allem — nicht strafbar gewesen. Es bestand immer Bereitschaft, sie neuen Bedürfnissen und Um­gebungen anzupassen. Dieses ist ein wesentlicher Aspekt ganzheitlicher Weltsichten in den meisten östlichen Philosophien. Harmonie zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur ist der einzige Maßstab dafür, was richtig oder falsch ist. Deshalb gibt es im Chinesischen keine Worte, mit denen ein Unterschied zwischen Erotik und Pornographie gemacht werden kann. Im Westen versucht man, zwischen ,rohem' Sex und feinerer Erotik zu diffe­renzieren, doch die Chinesen haben beides immer identifiziert. Für sie ist Sex nie nur genital oder physisch. Die Struktur des chinesischen Zeichens „xing" stellt die chinesische Konzeption von Sexualität sehr deutlich dar. Das Zeichen besteht aus zwei Teilen. Der rechte Teil „Xin" bedeutet Herz, Geist oder Persönlichkeit, der linke Teil „Sheng" Körperliches, Geburt, Leben und Handeln. Sex/Erotik ist daher für die Chinesen immer etwas, das sowohl den körperlichen wie den seelischen Bereich betrifft, also das Leben.

 

Viele der gegenwärtigen Probleme und Konflikte des Sexuallebens in modernen Gesellschaften könnten in Schwierigkeiten und Unbeweglichkeiten traditionel­ler westlicher Sexualdoktrinen ihren Ursprung haben. Die chinesischen Kon­zeptionen und praktischen Ausführungen könnten in andere und besser reali­sierbare Richtungen weisen, Sexualität zu verstehen, mit ihr umzugehen und sexuelle Probleme zu lösen. Es ist an der Zeit, der chinesischen Sexualität das wissenschaftliche Studium, die Förderung und Entwicklung angedeihen zu lassen, die sie verdient.

 

Anmerkung

 

[1] M. L. Ng's Betrachtungsweise der Rechtsprechung im bezug auf Sexualität in der Volksre­publik China ist etwas idealistisch, wie der Beitrag „Sexualpolitik in der Volksrepublik China" von Fang Fu Ruan (vgl. S. 377 — 393) zeigt. Dennoch hat — auch dies läßt sich Fang Fu Ruans Aufsatz entnehmen — Ng insofern recht, daß die Homosexualität in der VR China nicht als solche strafrechtlich geahndet, sondern nach Art. 160 des Strafrechts als „andere kriminelle Handlung" bestraft wird. (Vgl. S. 388 f.)

 

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Aus dem Englischen von Sabrina Hausdörfer