John Money

 

Das Konzept der Homosexualität
in der Geschichte

 

Ursprünglich erschienen in: Haeberle, Gindorf (Hrsg.): Bisexualitäten, Gustav Fischer,
Stuttgart, Jena, New York, 1994, S. 119-131.
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Copyright-Inhabers.

Inhalt

Teil I: Terminologische Veränderungen der Homosexualität in der Geschichte der Sexualwissenschaft 1

Paiderastia und Päderastie. 1

Sodomie. 1

Widernatürliche Unzucht (Buggery) 2

Berdachismus. 2

Uranismus. 3

Sexuelle Inversion. 3

Homosexualität 4

Tribadie. 5

Lesbianismus. 5

«Gay». 5

Der Transvestit 6

Eonismus. 6

Transsexualismus und Gender Dysphoria. 7

Mimesis: Gynämimesis und Andromimesis. 7

Schluß. 8

Teil II: Ulrichs als Entdecker des sexologischen Konzepts der Bipotentialität 8

Literatur 10

 

Teil I: Terminologische Veränderungen der Homosexualität in der Geschichte der Sexualwissenschaft

 

Was früher als Soziologie des Wissens bekannt war, ist als sozialkonstruktionistische Betrachtung von Geschichte und Wissenschaft zurückgekehrt und heutzutage sehr en vogue. Die neue Mode äußert sich in der Soziologie als Doktrin der sozialen Konstruk­tion des Geschlechts; der sozialen Konstruktion der Sexualität, Homosexualität und Heterosexualität; der sozialen Konstruktion der Abweichung usw. Einige Konstruktio­nen sind politisch richtig, einige nicht. Richtig oder falsch: Alle sozialen Konstrukte haben eine Geschichte. Um es in Anlehnung an Santayana zu sagen: Diese Geschichte nicht zu kennen, bedeutet, jemanden dazu zu verdammen, sie zu wiederholen. Dieser Aufsatz behandelt die soziale Konstruktion der Homosexualität und ihre wechselnden Namen von der Antike bis zur Gegenwart.

 

Paiderastia und Päderastie

 

Im gegenwärtigen Vokabular wird das Wort Homosexualität benutzt, das früher nicht existierte. Im Zeitalter des Aristophanes, Xenophon und Plato gab es den Begriff pai­derastia (pais: Junge - erastes: Liebhaber). Im klassischen griechischen Sprachgebrauch bedeutete der Begriff die ideologisch hochgeschätzte sexuelle und pädagogische Verbin­dung zwischen einem männlichen Jugendlichen und seinem Mentor.

Obwohl die Römer paiderastia nicht idealisierten wie die Griechen, waren sie der sexu­ellen Praktik des Analverkehrs zwischen zwei Männern keineswegs abgeneigt. Der älte­re Mann übernahm dabei die aktive, der jüngere Mann die passive Rolle. Das latein­ische Wort Catamitus (deutsch: Katamit) bezeichnete einen effeminierten Jugendlichen, der regelmäßig den weiblichen Part bei der Kopulation übernahm. Catamitus ist die lati­nisierte Form von Ganymedes (Ganymed), der in der griechischen Mythologie in dem Ruf steht, der Schönste aller Sterblichen gewesen zu sein und der von Adlern entführt wurde, um der Mundschenk und der Geliebte des Zeus zu werden.

Im modernen Sprachgebrauch wird Päderastie als abwertendes Synonym für die bi­blische Sünde von Sodom gebraucht und hat den Bedeutungsgehalt ideologischer Wert­schätzung, der dem Begriff in der griechischen Antike inhärent war, verloren.

 

Sodomie

 

Das Hebräische hatte keinen Ein-Wort-Begriff wie den der griechischen Päderastie. Als alle Männer der Stadt Sodom (Genesis 19, 1-11) von Lot verlangten, daß er ihnen die beiden Boten Gottes ausliefern sollte, «damit wir sie erkennen», bezog sich dies auf die fleischliche Erkenntnis von Mann zu Mann (Spong 1988). So wurde die biblische Stadt Sodom in den nachfolgenden Jahrhunderten das Eponym für Sodomie, ein Begriff, der sich im Sprachgebrauch der Justiz und der Medizin bis in die Gegenwart gehalten hat. Seine Bedeutung hat sich verwirrend erweitert und bezeichnet nicht nur genitale Kon­takte zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern, sondern auch anal-genitale oder orogenitale Kontakte mit Partnern beider Geschlechter und jeglichen Sexualkontakt mit Tieren.

 

Widernatürliche Unzucht (Buggery)

 

Im gegenwärtigen britischen juristischen Sprachgebrauch ist Unzucht ein Synonym für die Sünde von Sodom. In der britischen Umgangssprache ist es ein Fluch oder eine schwere Beleidigung, jemanden einen «bugger» (Lump, Schuft, Sodomiter) zu nennen, während es im Amerikanischen eher ein Kosewort, z. B. für ein niedliches Kind, ist. Der Begriff ist etymologisch mit «bougie» verwandt, einem kreolischen Ausdruck für «in der Nase bohren», und mit «bougie man» oder «bogey man». Seine ursprüngliche Bedeu­tung ist «Bulgare» oder «bulgarisch». Im 11. Jahrhundert schrieb die mittelalterliche katholische Kirche in Rom die Ketzerei des Catharismus, auch bekannt als der nach der provenzialischen Stadt Albi in Süd-Frankreich benannte Albigensianismus, einer Wie­derbelebung der frühen manichäischen Häresie zu. Die Bulgaren der Balkan-Halbinsel im Osten wurden für diese Wiederbelebung und Verbreitung der Irrlehren verantwort­lich gemacht. Der Name ihres Volkes wurde zu «Bugger» entstellt und in eine Gat­tungsbezeichnung für die Triade von Ketzerei, Sodomie und Verrat umgemünzt, wobei die Zuschreibung eines der Begriffe die anderen beiden mitenthielt und ausreichend war, um das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe zu rechtfertigen. Diese Triade existiert heute noch, nur daß Sodomie und widernatürliche Unzucht (Buggery) inzwischen völlig austauschbar sind, während Ketzerei und Verrat in die Sünde des Unglaubens und der moralischen Untergrabung der sozialen Ordnung verwandelt wur­den. In der prüde ausweichenden Sprache des Rechts ist das «abscheuliche und unaus­sprechliche Verbrechen gegen die Natur» ein Euphemismus, der in seiner expliziten Bedeutung die Praktiken, die allgemein unter den Begriffen Sodomie oder widernatürli­che Unzucht subsummiert werden, erfordert, um vor Gericht ziemlich buchstäblich unaussprechlich zu sein.

 

Berdachismus

 

Sodomie und widernatürliche Unzucht (Buggery) bezeichnen beide sexuelle Praktiken zwischen zwei Männern, bei denen nicht unterschieden wird, ob ihre Rollen dabei aus­tauschbar sind oder ob der eine immer den eher weiblich-passiven, der andere den eher männlich-aktiven Part übernimmt. Ende des 15. Jahrhunderts, vielleicht etwas früher, fand jedoch ein neuer Ausdruck für einen Mann, der die weibliche Rolle bei der Kopu­lation nachahmt, über das Arabische, von dem persischen Wort «bardaj» herstammend, Eingang in die europäischen Sprachen. Im Spanischen wurde daraus «bardaxa» (alter­native Schreibweise: «bardaje»), im Italienischen «bardasso» und im Französischen «bardache». Der englische Begriff «berdache» entstand in Anlehnung an spanische und französiche Ausdrücke der frühen Kolonialzeit für gebürtige amerikanische Indianer, die als Schamanen und Heiler Männer waren und weibliches Rollenverhalten übernahmen (Williams 1986).

Williams (S. 9) vertraut auf die linguistischen Forschungen von Claude Courove und schreibt über die Bedeutung von «bardache»: «Die Ausgabe des <Dictionnaire français> von 1680 gibt folgende Definition: <ein junger Mann, der schändlich mißbraucht wird (Caesar war der Bardache von Nicomedes).> Die Ausgabe von P. J. LeRoux' <Dictionnaire Comique> von 1718 erläutert deutlicher: <Ein junger Mann oder Junge, der einem anderen als Sukkubus dient und gestattet, daß Sodomie an ihm begangen wird. Diese Schändlichkeit ist in Frankreich so verbreitet, daß Frauen sich zurecht darüber beklagt haben, und ich könnte einige Personen namentlich benennen, die sich Barda­chen, im allgemeinen sehr schöne Jungen, halten wie andere ihre Kourtisanen.> Dieses Lexikon führt «ganimede» als Synonym für «bardache» an, nach dem Jüngling, der in der griechischen Mythologie der Geliebte des Zeus war . . . «bardache» wie «ganime­de» beziehen sich auf den passiven Partner . . . «bougre» war der Ausdruck für den akti­ven Partner».

Im Englischen wurde «berdache» nicht zum Bestandteil der Allgemeinsprache, sondern ein Spezialbegriff in der Anthropologie der amerikanischen Indianer.

 

Uranismus

 

Ein neuer Begriff wurde der Nomenklatur von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) hin­zugefügt. Er war abgeleitet vom griechischen Mythos der Geburt der Venus, die ohne Mutter aus dem Schaum des Meeres entstand, in das die Genitalien des Uranos gefal­len waren, nachdem er von seinem Sohn Kronos kastriert worden war. Ulrichs' Begrif­fe, germanizistische Ableitungen von Uranos, waren «Urning» für den Mann, der ande­re Männer liebt, «Urningin» für die Frau, die andere Frauen liebt, und «Uranismus» als grundsätzliche Bezeichnung des Prinzips, jemanden des gleichen Geschlechts zu lieben. Diese neue Terminologie ermöglichte es Ulrichs semantisch, eine Typologie - die erste ihrer Art - und eine Kausaltheorie zu entwickeln, die in einzigartiger Weise mit der Medizin seiner Zeit und besonders mit gegenwärtigen Ansätzen vergleichbar ist, die in der Embryologie die Bipotentialität in der sexuellen Differenzierung aufzeigen (Ulrichs 1864, vgl. auch Money 1980).

Ulrichs wandte seine neue Theorie politisch an, indem er die Schlußfolgerung zog, daß gleichgeschlechtliche Liebe, die er als angeboren definierte, natürlich und nicht krimi­nell war (Kennedy 1988). Obwohl dies für das moralische und gerichtsmedizinische Establishment der Zeit nicht akzeptabel war, wurden doch Ulrichs' Typologie und theo­retische Ansichten anerkannt, jedoch unter der Maske anderer Namen. Ulrichs' Termi­nologie wurde vernachlässigt und geriet in Vergessenheit.

Karl Friedrich Otto Westphal (1833-1890), ein deutscher Psychiater, der mit Ulrichs' Schriften vertraut war, benannte in einer Publikation von 1869 «Uranismus» in «kon­träre Sexualempfindung» um. Auch dieser Begriff konnte sich nicht über die Jahrhun­dertwende hinaus halten. In der englischen Übersetzung der Schriften von Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) wurde daraus «antipathic sexual instinct», ein Begriff, der ebenfalls bald in Vergessenheit geriet, außer in Neuauflagen seiner «Psychopathia Sexualis».

 

Sexuelle Inversion

 

Nach Havelock Ellis (1959-1939) wurde Westphals Begriff erstmals als «inverted sexual proclivity» (invertierte angeborene Sexualveranlagung) ins Englische übersetzt (Ellis, Neuaufl. 1942), als sein Aufsatz von 1869 im britischen «Journal of Mental Science» 1871 rezensiert wurde. «Inversione sessuale» erschien 1878 in Italien und «inversion sexuelle» 1882 in Frankreich.

Der Begriff «sexuelle Inversion» diente dazu, das Phänomen konzeptionell von der Kate­gorie der sexuellen Perversion abzugrenzen, zu der es vorher gehörte. John Addington Symonds (1840-1893) verwendete den Begriff Inversion 1893 in der im Selbstverlag in begrenzter Auflage erschienenen ersten Ausgabe (12 Exemplare) seines Buches, das 1901 zum zweiten Mal veröffentlicht wurde: «A Problem in Greek Ethics, Being an Inquiry into the Phenomenon of Sexual Inversion». Von Symonds stammte der Titel «Sexual Inversion», den der erste publizierte Band von Havelock Ellis' «Studies in the Psychology of Sex» (Neuaufl. 1936) trug. Symonds starb plötzlich zu Beginn der Arbeit, er wäre sonst Co-Autor geworden.

 

Homosexualität

 

In den folgenden Bänden und Neuausgaben übernahm Ellis auch den Begriff «Homo­sexualität». Er tauchte erstmals 1869 in einem Pamphlet auf, das sich mit dem Anlie­gen einer Reform des Sexualstrafrechts an den Preußischen Justizminister wandte. Obwohl das Pamphlet anonym war, wurde es schließlich Karoly Maria Kertbeny (1824-1882) zugeschrieben, der unter dem Namen Karl Maria Benkert als Sohn des Schriftstellers Anton Benkert und der Malerin Charlotte Graf geboren worden war (Her­zer 1985).

Bereits seit 1864 wußten Kertbeny und Ulrichs gegenseitig von ihrem Engagement in der Reform des Sexualstrafrechts zugunsten von Männern, die wegen ihres Interesses an anderen Männern verfolgt wurden. Sie korrespondierten sporadisch bis 1869, vielleicht länger. Es ist nicht genug von ihrer Korrespondenz erhalten geblieben, um erkennen zu können, warum keiner der beiden die Terminologie des anderen übernahm. Kertbeny behielt einen Entwurf eines Briefes von 1868 an Ulrichs, in dem er schrieb, daß er «ein dickes Manuskript, unterteilt in vier Hauptabschnitte: Monosexuell, Homosexuell, Heterosexuell und Heterogenität (habe)» - d. h. selbstsexuell (autoerotisch), homo­sexuell, heterosexuell und heterogen (artenkreuzend) (Kennedy 1988). Das Manuskript wurde nie veröffentlicht und ist offensichtlich verlorengegangen.

Die Begriffe «homosexuell» und «heterosexuell», «Homosexualität» und «Heterose- xualität» werden von Gustave Jager zitiert und in der Ausgabe seines Buches «The Dis­covery of the Soul» von 1880 einem nichtidentifizierten Autor zugeschrieben (Herzer 1985). Die Begriffe «homosexuell» und «Homosexualität» fanden jedoch erst nach 1905 eine weitere Verbreitung. In diesem Jahr veröffentlichte Magnus Hirschfeld (1868-1935), der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin, Kertbenys Flugschrift von 1869 im «Jahrbuch für Sexuelle Zwischenstufen». Offensichtlich besetz­ten diese Begriffe eine linguistische und syntaktische Leerstelle, denn sie etablierten sich schnell im internationalen Vokabular des 20. Jahrhunderts wie auch «heterosexuell» und «Heterosexualität».

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch leitet sich die Bedeutung von «homosexuell» direkt von seiner Etymologie ab: von griech. «homos» = gleich, latein. «sexus» = Geschlecht und latein. «-alis» = zugehörig. Für sich selbst betrachtet, liefert die Etymologie keine Aufschlüsse darüber, was zum gleichen Geschlecht gehört. So kann «homosexuell» als Synonym für «isosexuell» in Fällen mit Diagnose Pubertas präcox (frühreife Pubertät) gebraucht werden, um das Zusammenpassen oder die Gleichheit von hormonellem Geschlecht und genitalem Geschlecht zu bezeichnen, wohingegen heterosexuelle Frühreife deren Ungleichheit bedeutet, bei einem Mädchen eine maskulinisierende, bei einem Jungen eine effeminierende frühreife Pubertät. In diesen Fällen werden Vermännlichung und Ver- weiblichung nur auf die Morphologie des Körpers und die Fortpflanzungsorgane ange­wandt, nicht auf Beziehungen zu anderen Menschen, männlichen oder weiblichen.

Im Gegensatz dazu wird im alltäglichen Sprachgebrauch als selbstverständlich ange­nommen, daß die Etymologie von «homosexuell», das, was immer dem gleichen Geschlecht angehört, zu einer Beziehung gehört. Die Beziehung kann auf der genitalen Ebene bestehen oder nicht. Es gibt viele und sehr unterschiedliche nichtgenitale Bezie­hungen mit Menschen des gleichen Geschlechts, die nach den Gesetzen der strikten Logik und der Sprache als homosexuell bezeichnet werden sollten. Der scheinbare Aus­bruch aus den Grenzen der strikten Logik wurde möglich, indem man der lateinischen Wurzel «sexus» doppelte Bedeutung verlieh. So wird im alltäglichen Sprachgebrauch als selbstverständlich angenommen, daß eine homosexuelle Beziehung nicht einfach jede Art von Beziehung zwischen Menschen des gleichen Geschlechts ist, sondern - überflüssi­gerweise - eine sexuelle gleichgeschlechtliche Beziehung.

 

Tribadie

 

Als der Begriff «homosexuell» sich durchzusetzen begann, wurde er auf Frauen ebenso angewendet wie auf Männer. Für Frauen gab es vorher zwei andere Begriffe: Tribadie und Lesbianismus. Tribadie leitet sich von griech. «tribein» = reiben ab, und bedeutet gegenseitige Reibung der Geschlechtsorgane zwischen Frauen. Das «Oxford English Dictionary» weist «tribade» als ein französisches Lehnswort des 16. Jahrhunderts aus und erwähnt seinen Gebrauch bei Ben Jonson 1601. Das Wort wurde auch von Havelock Ellis 1890 im sexologischen Sinne benutzt. In «Dorland's Illustrated Medical Dictionary» (2. Ausg. 1956) wird der Begriff «tribade» nur auf eine Frau angewandt, «die bei homo­sexuellen Praktiken die männliche Rolle übernimmt». «Longman's Dictionary of Psychology and Psychiatry» (1984) geht soweit zu behaupten, daß eine Tribade im allgemei­nen eine große Klitoris hat (was mit Sicherheit falsch ist) und die männliche Rolle spielt.

 

Lesbianismus

 

Wenn es überhaupt jemals aufgezeichnet war, wer den Begriff «Lesbe» geprägt hat, dann ist diese historische Überlieferung offensichtlich verlorengegangen. Nach dem «Oxford English Dictionary» gelangte das Wort 1870 zuerst in den Wortschatz und wurde bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts allgemeiner Sprachgebrauch. Ety­mologisch leitet es sich von Lesbos her, der griechischen Insel, auf der ca. 600 v. Chr. die Dichterin Sappho lebte. Ihre Liebesgedichte feierten die Liebe zwischen Frauen, und ihr Name wurde das Epynom sapphisch, das gleichzeitig diese Art der Liebe und die Strophenform, in der sie ausgedrückt wurde, bezeichnet.

Der Begriff «Lesbianismus» wurde im allgemeinen Sprachgebrauch nicht durch das Wort «Homosexualität» verdrängt, doch durch die Militanz der entgegengesetzten Stig­matisierung wurde Homosexualität vom Lesbianismus ausgegrenzt. Als «schwul» ein Ausdruck der Befreiung und Durchsetzung «schwuler» Rechte für Männer wurde, nahm «lesbisch» die gleiche Bedeutung für Frauen an.

 

«Gay»

 

Die Bedeutungsveränderung des Wortes «gay» von «merry» (lustig, fröhlich) und/oder «licentious» (ausschweifend, unsittlich) zu «homosexuell» kann schon in den «gay nine- ties» (den fröhlichen/schwulen 90ern) des 19. Jahrhunderts begonnen haben. Der Begriff «gay people» (lustige Leute) findet sich 1890 in einem Gerichtsprotokoll der Zeugen­aussage von Jack Saul im Zusammenhang mit dem Skandal um ein männliches Bordell in der Cleveland Street in London (Weeks 1980/81, S. 126). Saul, selbst eine professio­nelle «Maryanne» («Schwuchtel»), sagte aus, daß er seinen Lebensunterhalt teilweise mit kleinen Aushilfstätigkeiten, meistens mit Putzen, für «gay people» verdiente, womit er Prostituierte (jüngere Frauen und vielleicht auch Männer in Frauenkleidern) meinte. Manche von uns können sich noch daran erinnern, daß in den Vereinigten Staaten in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts «gay» schon als selbstbezeichnender Neolo­gismus für «homosexuell» in Gebrauch war. In den 40er Jahren hatte der Begriff eher einen selbstsatirischen und leicht affektierten Touch und wurde in erster Linie als Adjek­tiv benutzt.

In den späten 60ern wurde «gay» - ohne die Last eines Sexualitätsbezugs in seiner Ety­mologie - ein normativer politischer Begriff, der eine Community (Gemeinschaft) von Menschen bezeichnete, die einen Lebensstil und eine rechtliche und gesellschaftliche Tagesordnung für schwule Rechte und schwule Befreiung teilten, befreit von medizi­nischer und krimineller Stigmatisierung. Die neue Bedeutung des Begriffs verbreitete sich schnell in den englischsprachigen Ländern, und «gay» wurde entweder in andere Spra­chen übernommen oder durch einheimische Alternativen ersetzt, die die gleiche Bedeu­tung hatten - wie z. B. «schwul» in Deutschland (Herzer 1985).

«Gay» ist nicht einfach ein Synonym für «homosexuell», sondern ein Begriff, der eine radikale Veränderung eines Phänomens der menschlichen Existenz von einer Sünde über eine Krankheit zu einem sozialen Status bezeichnet. «Gay» sein heißt, wie etwa links­händig, zu einer Minderheit zu gehören, doch unabhängig von den Gründen für das Schwulsein berechtigt zu sein, an den Privilegien der Mehrheit in gleichem Maße teil­zuhaben.

 

Der Transvestit


 

«Transvest», das aus dem Lateinischen stammende Verb mit der Bedeutung, die Kleider zu wechseln, existierte nach dem «Oxford English Dictionary» bereits 1652 und bezog sich im Bereich des Theaters darauf, die Kleider einer anderen Person anzuziehen oder sich mit ihnen zu maskieren, z. B. auch die des anderen Geschlechts. Die Substantive Transvestit und Transvestismus finden sich im «Oxford English Dictionary» nicht. Nach Havelock Ellis (Neuaufl. 1936) wurden sie als sexologische Begriffe von Magnus Hirschfeld geprägt, der sie 1910 in seinem Buch «Die Transvestiten» benutzte. Hirsch­feld grenzte den Transvestismus von der sexuellen Inversion (zu dieser Zeit bereits in Homosexualität umbenannt) ab, worunter er früher subsumiert worden war. Nach dem Kriterium, ob ein Transvestit sich erotisch von einem männlichen oder weiblichen Part­ner angezogen fühlte, unterschied Hirschfeld vier Untergruppen: den heterosexuellen, bisexuellen, homosexuellen und asexuellen Transvestiten. Diesen fügte er einen fünften Typus hinzu, den narzißtischen, bei dem die Weiblichkeit die Männlichkeit eines Man­nes steigert und vice versa.

 

Eonismus

 

Wie Hirschfeld erkannte auch Havelock Ellis (Neuaufl. 1936) die Herausforderung, der vielfältigen Natur des Transvestismus gerecht zu werden und eine Klassifikation meh­rerer Untergruppen aufzustellen - wobei er z. B. den Kleidungsfetischismus berücksich­tigte oder die ästhetische Idealisierung von Weiblichkeit oder Männlichkeit. Ellis folgte dabei in der Ableitung der Nomenklatur dem Sadismus von de Sade (1740-1814) und dem Masochismus von Sacher-Masoch (1836-1895) als Eponymen und schlug den Begriff Eonismus, abgeleitet vom Chevalier d'Eon (1728-1810), vor. D'Eon wurde in der französischen und englischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts als Meister der Fechtkunst gefeiert der Frauenkleider trug. Ellis schlug Eonismus 1913 noch etwas zögerlich vor, dann noch einmal nachdrücklicher 1920.

Trotz des Vorteils, von der Idee her umfassender zu sein als Hirschfelds «Transvestis­mus», konnte sich «Eonismus» gegen seinen Rivalen nicht durchsetzen, der sich ihm gegenüber als Erstgeburt behauptete. Der Nachteil von «Transvestismus» liegt darin, daß er sowohl den an sich bedeutungslosen, zeitlich begrenzten sozialen Akt, Klei­dungsstücke des anderen Geschlechts - z. B. als Party-Gag - zu tragen, bezeichnet, wie auch ein dauerhaftes sexologisches Syndrom, von dem der Kleidertausch nur ein Bestandteil ist.

 

Transsexualismus und Gender Dysphoria

 

(engl. gender: Geschlecht - engl. dysphoria: Verstimmung, Gereiztheit) Havelock Ellis' «Eonismus» war konzeptionell breit genug angelegt, um eine ganze Spannbreite von Phänomenen zu umfassen (einschließlich kulturübergreifenden), deren gemeinsamer Faktor im Kleiderwechsel zwischen den Geschlechtern besteht. Besonders umfaßt Eonismus auch das Phänomen, bei dem der Kleidertausch nur die oberflächli­che Erscheinungsweise eines vollständigen Übergangs des ganzen Körpers auf die andere Seite ist, vom männlichen zum weiblichen oder vice versa.

Die Geschlechtsumwandlung wurde literarisch erstmals im griechischen Mythos über Tiresias erwähnt. Menschen, die die Kleider des anderen Geschlechts trugen und als des­sen Vertreter lebten, wurden in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts beschrieben, bevor sie in klinischen Fallberichten in der sexologischen Literatur gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Diagnostisch schritt die Terminologie von konträrem oder antipathischem Sexualinstinkt über sexuelle Inversion zu Transvestismus voran. Der Begriff «Transexualismus» erschien erstmals 1949 in einem kurzen Artikel mit dem Titel «Psychopathia transexualis» von D. O. Cauldwell in der Zeitschrift «Sexology» (Vol. 16, S. 274-280), die ihr Erscheinen eingestellt hat. Das Magazin sollte einer brei­ten Öffentlichkeit sexuelle Informationen bieten und wurde von dem aufgeklärten Ver­leger Hugo Gernsbach subventioniert (der sich übrigens seit den frühen Zwanzigern als Autor, Förderer und Verleger der neuen Literaturgattung Science Fiction etabliert hatte und nach dem die noch heute alljährlich verliehenen «Hugos» für die besten SF-Pro- duktionen benannt wurden. Anm. des Herausgebers Rolf Gindorf). Später beschäftigte sich Harry Benjamin mit der Schreibweise - «transsexuell» mit zwei S (Money 1981 S. 104). Sein Buch «The Transsexual Phenomenon» (1966) etablierte den Begriff «Trans­sexualismus» (oder «Transexualismus») in der medizinischen Krankheitslehre als Name für das Syndrom des Geschlechtswechsels, d. h. für den Wechsel des angeborenen Geschlechts zum anderen. Außer diesem Syndrom bezeichnet Transsexualismus auch das Verfahren der Geschlechtsumwandlung durch chirurgische und hormonelle Mittel und die soziale Geschlechtsumwandlung.

Das Unbefriedigende daran, ein Syndrom auf der Basis seiner Manifestationen in Ver­haltensweisen und seiner Behandlung zu benennen, veranlaßte schließlich Fisk (1974), den Begriff «Gender Dysphoria» als Bezeichnung der zugrundeliegenden Psychopatho­logie einzuführen. «Gender Dysphoria» bezeichnet den allgemeinen Zustand, der ver­schiedene Ausdrucksformen hat, von denen einige in der Geschlechtsumwandlung kul­minieren. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch ist «Gender Dysphoria» im Grunde genommen zum Synonym für Transsexualismus geworden. Dies ist von den Transsexu­ellen selbst kritisiert worden, die daran festhalten, daß ihre «Dysphoria» zu ihrem geni­talen Geschlecht gehört, nicht zu ihrer Geschlechtsidentität.

 

Mimesis: Gynämimesis und Andromimesis

 

Männliche Dominanz und weibliche Unterwerfung sind in Beziehungen, die der Fort­pflanzung dienen, in allen indo-europäischen und den maßgeblich von ihnen beeinfluß­ten Kulturen endemisch. Die gleiche Unausgewogenheit ist für lange Zeit ein Stereotyp gleichgeschlechtlicher Beziehungen gewesen. Der Katamit wurde als der weibliche Part­ner des Päderasten klassifiziert und ähnlich der Berdache als der des «Bugger». Ulrichs unterteilte die «Urninge» in «Weiblinge» und «Mannlinge». Nachdem der Begriff Homosexualität etabliert worden war, wurden Homosexuelle in passive und aktive, bzw. in effeminierte und nicht-effiminierte unterteilt. Beim Transvestismus versagt die­ser simple Dualismus, weil derjenige, der den Preis für die vollkommenste weibliche Erscheinung gewinnt, in seinem Koitusverhalten heterosexuell sein kann. Ähnlich ist es beim Transsexualismus, denn die meisten, die sich einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen haben, leben später in einer lesbischen Beziehung mit einer anderen Frau.


Diese offensichtlichen Diskrepanzen werden lösbar, wenn das Konzept des simplen männlich-weiblich-Dualismus durch einen multiachsialen Dualismus ersetzt wird. Die Mittelachse wird dann von vielen verschiedenen Meßlatten geschnitten, die zwischen den beiden Polen weiblich und männlich graduell differenziert sind - eine für genital- erotische Orientierung, andere für Berufstätigkeit, Erziehung und Freizeitverhalten und noch andere für Modevorlieben bei Kleidern und Schmuck, Rechtsfähigkeit usw. Auf der Basis dieses multiachsialen Dualismus ergeben sich verschiedene Permutationen und Kombinationen von Gynämimesis (Frauennachahmung) bei Männern und Andromimesis (Männernachahmung) bei Frauen (Money & Lamacz 1984). Z. B. findet sich bei den Gynämimetikern eine Kombination, bei der die Männer konsequent und dauer­haft als Frauen leben und weibliche Hormone nehmen, um ihren Körper zu feminisieren, sich jedoch keinem geschlechtsumwandelnden chirurgischen Eingriff unterziehen. Sie leben als Frauen mit einem Penis. Ihr Gegenstück sind Männer mit einer Vulva. Der klassifikatorische Wert von Gynämimesis und Andromimesis reicht weit über die Grenzen der westlichen Sexologie hinaus bis in entlegene Bereiche ethnographischer Sexualwissenschaft und zu Untersuchungen ethnischer sexologischer Phänomene, die mit unseren eigenen zusammenhängen, jedoch nicht mit ihnen identisch sind. Ein Bei­spiel dafür ist die Gynämimesis bei den Hijra in Indien (Nanda 1990), die dem Trans­vestismus und dem Transsexualismus in unserer eigenen Kultur ähnelt, aber weder mit dem einen noch mit dem anderen identisch ist.

Gynämimesis und Andromimesis sind Begriffe, die es uns erlauben, Ähnlichkeiten im Verschiedenen zu sehen. Sie sind phänomenologische und deskriptive Begriffe. Sie impli­zieren nichts im Hinblick auf die Ursprünge und Ursachen der Phänomene, die sie bezeichnen. Kausale Erklärungen dieser Phänomene sind abhängig von wissenschaftli­chen Entdeckungen, die neuer Untersuchungsmethoden bedürfen, besonders in der sexologischen Neurologie.

 

Schluß

 

Während männlich-männliche und weiblich-weibliche sexuelle erotische Beziehungen seit der Antike bis zur Gegenwart ihre Bezeichnungen geändert haben, haben doch zwei Konstanten diese Namenswechsel überlebt. Eine Konstante besteht in dem Kriterium der Verweiblichung beim Mann oder wenigstens bei einem der Männer bei einem männlich­männlichen Paar und umgekehrt der Männlichkeit der Frau oder wenigstens bei einer Frau bei einem weiblich-weiblichen Paar. Für weibliche Männer - mehr als für männ­liche Frauen - sind viele Namen erfunden worden, während es keine besonderen Bezeichnungen für nicht-verweiblichte Männer oder nicht-vermännlichte Frauen gibt, außer vielleicht in lokal begrenzten Dialekten oder Umgangssprachen.

Die zweite Konstante bezieht sich auf soziale Toleranz und Intoleranz. Nach dem Ende jener Periode, in der Päderastie (nicht Pädophilie, sondern Ephobophilie, d. h. eine sexu­elle erotische Beziehung zwischen einem männlichen Jugendlichen und seinem Mentor) eine anerkannte gesellschaftliche Norm war, haftete an allen Begriffen für männlich­männliche und weiblich-weibliche Beziehungen das Stigma sozialer, religiöser und gesetzlicher Mißbilligung oder Bestrafung. Eine Ausnahme bildet im 20. Jahrhundert der Begriff «gay» (schwul) bei schwulen Männern und sein kürzlich anerkanntes Gegen­stück «lesbisch» als politisch richtiges Analogon.

Kausale Erklärungen der Homosexualität (ein anderer Begriff des 20. Jahrhunderts) beziehen sich auf die klassische Mythologie, dämonisches Besessensein und Sünde im christlichen Dogma, Kriminologie und weltliche Gesetze, Biomedizin oder Psychiatrie in der Wissenschaft und persönliche Präferenz oder moralische Entscheidungen im gegenwärtigen


schwulen oder lesbischen politischen Dogmas. Kausale Erklärungen hatten im Verlauf der Geschichte keinerlei Einfluß auf die soziale, politische und juristische Tole­ranz oder Intoleranz gegenüber der Homosexualität. Die Tyrannei der Macht ist der bestimmende Faktor für Intoleranz, die die Oberhand über die Toleranz gewonnen hat. Die Intoleranz wird nur durch das politische Selbstvertrauen und die Macht der moder­nen Schwulen- und Lesbenbewegung in ihre Schranken gewiesen.

 

Teil II: Ulrichs als Entdecker des sexologischen Konzepts der Bipotentialität

 

Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), ein ausgebildeter Jurist, ist posthum als Kämpfer für die Reform des Sexualstrafrechts in der christlichen Welt anerkannt worden. Es wurde bisher jedoch nicht gewürdigt, daß er auch ein Pionier der modernen sexologi­schen Biologie war, insofern er - vergeblich - glaubte, eine rationale embryologische Erklärung des Ursprungs sexueller Liebe zwischen Männern, die er Urninge nannte, würde vernünftigerweise zu einer größeren sozialen Toleranz und zur Reform des Sexualstrafrechts führen. Seine wissenschaftliche Erklärung basierte auf seiner Kenntnis der damals neuen (1852) Entdeckung eines ursprünglichen Hermaphroditismus oder einer sexuellen Bipotentialität des Säugetierembryos bei der Differenzierung seiner inne­ren Genitalien (Adelmann 1966). In seiner ersten Veröffentlichung «Inclusa» (1864) schrieb Ulrichs über die Seele einer Frau, der im Körper eines Mannes eingeschlossen oder gefangen ist («anima muliebris corpore virili inclusa»).

«Vielleicht», vermutete Ulrichs, «ist der Ort, an dem die sexuelle Liebe gefunden wer­den könnte, ganz woanders als in den Hoden, Eierstöcken oder anderen sexuellen Orga­nen, vornehmlich im Gehirn».


Ulrichs entwickelte keine Spekulationen darüber, wie das «weibliche generative Prin­zip», das für «einen weiblichen Sinn der sexuellen Liebe» verantwortlich ist, in ein männliches Gehirn gelangen könnte. Für die nächste Hälfte des Jahrhunderts wurden die Antworten von den psychiatrischen Doktrinen des Tages bereitgestellt, die alle den gemeinsamen Nenner hatten, alle Formen des Irrsinns, der Kriminalität und der Per­version, sexuelle und andere, der Degeneration zuzuschreiben: daher der herabsetzende zeitgenössische Begriff «sexuell Degenerierter». Die Degenerationstheorie war von Simon Andre Tissot in seiner Abhandlung über Onanismus (1758; Tissot 1974) mit dem Siegel medizinischer Wertschätzung versehen worden, in der er diffus nach den Ursa­chen und Heilmitteln einer «sozialen Krankheit» suchte, ein Begriff, der nicht zwischen Syphylis und Gonorrhoe unterschied. Die durch den Verlust von Samen verursachte Degeneration hat im Grundsatz der Erhaltung des Samens einen sehr alten Ursprung (Money 1985). Dieser Grundsatz, der sich im frühsten Sanskrit und alten chinesischen medizinischen Schriften ebenso findet wie in der vorliterarischen Volksmedizin, erhebt den Samen zur kostbarsten aller Lebensflüssigkeiten, zum edelsten aller Körpersäfte und zur Quelle aller Kraft und Gesundheit. Die Degeneration durch Masturbation wird als schlimmer betrachtet als die durch Kopulation, weil bei ersterer kein Austausch von Lebensenergie zwischen dem kopulierenden Paar stattfindet. Dennoch sollte der Akt der Kopulation so selten wie möglich stattfinden und dem Zwecke der Fortpflanzung, nicht dem Vergnügen, dienen. Die Möglichkeit des Austausches von Vitalität zwischen den Partnern des gleichen Geschlechts wird von Tissot und seinen Nachfolgern im 19.  Jahrhundert nicht in Betracht gezogen. Sie beziehen sich bei der Homosexualität meistens auf zwei masturbierende Männer, besonders auf die Situation, in der ein älterer Mann einen jüngeren zur Masturbation anleitet.

In der Sexualwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts expandierte die Degenerations­theorie. Zum Verlust des Samens kam noch die Erblichkeit als weitere Quelle der Dege­neration, die potentiell alles umfassen konnte, da es keine Grenzen im Hinblick darauf gab, worin eine Abstammungslinie, Generation auf Generation, degenerieren konnte, denn Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener Charaktereigenschaften war weithin akzeptiert. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie erschien auch ein neues Prinzip der Degeneration, das als evolutionärer Atavismus oder negativer Darwinismus bezeich­net wurde. Nach dieser Theorie stellte die Homosexualität eine Umkehrung oder Rückentwicklung zum primitiven Evolutionsstadium des Hermaphroditen oder Androgynen dar.

Solange die Degenerationstheorie herrschte, wurde Ulrichs' zentrales Konzept der sexu­ellen Bipotentialität vernachlässigt oder mißbraucht. Ulrichs selbst benutzte die Begriffe bisexuell, homosexuell oder heterosexuell nicht. Obwohl, wie bereits in Teil I erwähnt, der Begriff «homosexuell» 1869 von Kertbeny, einem Mitstreiter Ulrichs' bei der Reform des Sexualstrafrechts, geprägt worden war, konnte der Begriff sich nicht durch­setzen, bis Magnus Hirschfeld Kertbenys Originalartikel 1905 im 5. Band des «Jahr­buchs für Sexuelle Zwischenstufen» wiederveröffentlichte. «Homosexuell» ersetzte dann sehr schnell den Begriff «sexuelle Inversion» in allen europäischen Sprachen.

Eingebettet in eine Theorie, die die Homosexualität erklären sollte, wurde das Konzept der Bipotentialität von Wilhelm Fließ als das psychologische Konzept der Bisexualität wiederbelebt. Sigmund Freud übernahm von Fließ die libidinöse Bisexualität, sie so am Ende des Jahrhunderts ein grundlegendes Prinzip der Psychoanalyse wurde.

1912 hatte Eugen Steinach experimentell das Paarungsverhalten weiblicher Meer­schweinchen maskulinisiert und umgekehrt das der männlichen feminisiert, indem er sie als Neugeborene kastrierte und ihnen heterotypisches Keimdrüsengewebe transplantierte (Steinach 1940, S. 239f.). Steinach hatte damit tatsächlich zum ersten Mal die prä­natale hormonelle Kontrolle des Erwachsenenverhaltens pränataler männlich/weiblicher Bipotentialität nachgewiesen. Seit Steinach ist die Bedeutung pränataler Sexualhormone für das Ergebnis männlich/weiblicher Bipotentialität eindeutig bestätigt worden, obwohl es meistens als unipolar (hetero- oder homosexuell), selten als gemischt oder bisexuell dargestellt wird. Im Gegenteil wird der Versuch, die Kontinuität sexuellhormoneller Bipotentialität bis in die Erwachsenenzeit und die sexuelle Reife hinein zu beweisen, um damit Homosexualität durch die Behandlung mit Sexualhormonen zu «heilen», all­gemein als gescheitert betrachtet.

Pränatale Sexualhormone beeinflussen das langfristige Ergebnis der pränatalen Bipoten­tialität von Männern und Frauen, sie bestimmen es jedoch nicht vollständig vorher. In erster Linie beeinflussen sie das Gehirn, das seinerseits auf den Sexualerotizismus ent­weder im Sinne einer bisexuellen oder einer monosexuell hetero- oder homosexuellen Prägung einwirkt (Money 1988). Die experimentelle Analyse der neuroanatomischen Bipotentialität ist kaum 20 Jahre alt. So verging ein Jahrhundert, bevor Ulrichs' Vor­hersage sich bestätigte.

Die männlich-weibliche Bipotentialität des Gehirns ist nicht mit der Geburt beendet, sondern ist kontinuierlich in heterosexueller, homosexueller und bisexueller Auflösung begriffen, besonders während der Zeit kognitiver Assimilation und des Lernens in der der frühen Kindheit und im Verlauf des jugendlichen Ausprobierens sexueller Verhal­tensweisen. Insofern gibt es keine unversöhnliche Feindschaft zwischen denen, die nach der heutigen sexualwissenschaftlichen Sprachmode als Essentialisten und soziale


struktionisten bezeichnet werden. Sie gegeneinander auszuspielen, ist genauso sinnlos wie Ulrichs, den biologisch ausgerichteten Sexualwissenschaftler, gegen Ulrichs, den Sexualstrafrechtsreformer, in den Krieg zu schicken. Beide sind eine Einheit für diejeni­gen, die Augen haben zu sehen.

Ulrichs glaubte daran, daß eine biologische Erklärung für Männer wie er selbst, die er Urninge nannte, ihnen zu größerer juristischer Toleranz verhelfen würde, doch dies erwies sich als Irrglaube. Es kam dabei nur heraus, daß weder Toleranz noch Intoleranz in der Wissenschaft oder der Vernunft gründen, sondern daß sie selber Glaubensakte sind, die auf sozialen Übereinkünften und der Politik des Vorteils und der Macht basie­ren. Deshalb ist in der Politik der gegenwärtigen Schwulen-Bewegung, in der Ulrichs selbst als der erste politische Schwulen-Aktivist gefeiert wird, seine Theorie, die biome­dizinisch begründet ist, eine Ketzerei, die viele als politisch falsch weit von sich weisen. Die gegenwärtige «politisch korrekte» Erklärung der erotischen Orientierung ist die, daß sie ein Bürgerrecht ist, das nicht auf Biologie basiert, sondern auf persönlicher Vorliebe und moralischer Wahl. Die moralische Wahl bietet jedoch erotischen Minderheiten nicht mehr Schutz vor der Verfolgung durch ihre Feinde als die erklärende Biologie.

 

Deutsch von Sabrina Hausdörfer

 

Literatur

 

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