E.J. Haeberle, Rezension von

Christoph. J. Ahlers,

The “Himmel auf Erden & Hölle im Kopf – Was Sexualität für uns bedeutet“,

Goldmann München 2015, 448 S.

 

In diesem Buch hat der Berliner klinische Sexualpsychologe Christoph Joseph Ahlers seine langjährigen Erfahrungen mit der Lösung sexueller Probleme seiner Klienten zusammengefasst. Es ist ein sehr lebendig geschriebenes, gründliches Werk, das wohl alle Probleme abdeckt, die in der sexualtherapeutischen Praxis vorkommen. Nicht nur seine Kollegen werden es mit Gewinn lesen. Auch Studierende in verwandten Fächern, die sich mit sexuellen Fragen befassen, sollten sich mit die Einsichten des Autors zunutze machen. Und das gilt natürlich ebenso für alle anderen Interessierten. Ahlers behandelt auch die schwierigsten Fälle auf eine entkrampfende Art, die sich dann hoffentlich auch seiner Leserschaft mitteilt.

Der gesamte Text wird in Form eines langen Interviews präsentiert mit kurzen, fettgedruckten Fragen und längeren, aber nicht allzu langen Antworten. Dies Format erinnert an die mittelalterliche Tradition des geschriebenen Dialogs mit einem obligaten, unwissenden, aber wissbegierigen Idiota (Studenten), der seinen Lehrmeister (Magister) immer genauer befragt und sich so allmählich von ihm aufklären lässt. Dabei stammen natürlich sowohl die Fragen wie die Antworten immer vom selben Verfasser. Diese alte Darstellungstechnik macht den hier recht umfangreichen Text „flüssiger“ und erweist sich damit auch heute wieder als sehr hilfreich für das Verständnis.

In zwölf Kapiteln - von „Sex als Kommunikation“ über „Sexualpräferenz und Beziehungspräferenz“, Transgender, Intersexualität, Pornographie, unerfülltem Kinderwunsch und “sexuelle Besonderheiten und Absonderlichkeiten“ bis zur Diskussion der Sexualtherapie selbst, ihrer Methoden und Ziele, liefert der Autor ein informatives Kompendium von Fachwissen, das er aber sehr locker und eingängig präsentiert.

Die ungezwungene, ja oft unverblümte Sprache der Antworten, die Ahlers auf seine eigenen, nur scheinbar naiven Fragen gibt, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sehr wichtige Erkenntnisse, ja eigentlich fundamentale Weisheiten übermittelt, von denen jeder Mensch profitieren kann. Manchmal fast aphoristisch zugespitzt, erscheinen sie an entscheidenden Stellen das Textes und können so zu blitzartigen Einsichten führen. Gleich das erste Kapitel zum Beispiel liefert eine erhellende Definition seines Gegenstandes: „Sex ist die intimste Form der Kommunikation, die uns Menschen zur Verfügung steht. ... Es geht um Austausch. Aber eben nicht um den Austausch von Körperflüssigkeiten, sondern um den von Botschaften. Mitzuteilen, dass wir einander annehmbar, richtig und gut und im Idealfall auch ... begehrenswert finden“. (S. 14) Die folgenden Kapitel liefern dann immer neue praktische Illustrationen dieses Grundprinzips.

Ein zweites Prinzip wird ebenso häufig betont: Das Sexuelle ist nicht eine Frage des Entweder-Oder, sondern liegt auf einem Kontinuum: „Wir sind mit unseren Merkmalen, Eigenschaften, Bedürfnissen und Verhaltensweisen nicht in Kategorien eingeteilt, sondern befinden uns in allen Belangen ... zwischen den jeweiligen Polen.“ (S. 37).

Dementsprechend schreibt Ahlers zum Thema „Sexualstörungen“: „(Hier) müssen wir uns einmal mehr von Entweder-oder-Kategorien verabschieden. Denn natürlich ist es nicht so, dass es entweder Menschen mit Funktionsstörungen gibt oder solche ohne. Wir befinden uns auch hier auf einem Kontinuum.“ (S. 143).

Das ganze Buch illustriert die vom Autor vertretene „syndyastische Therapie“, d.h. „eine beziehungs- und kommunikationsfocussierte Sexualtherapie“, die ihren Ausgang von der Tatsache nimmt, „dass wir Menschen in unserer Wesensart dazu neigen, uns in einer Zweierbeziehung zu Paaren zusammenzuschließen (Syn-Dyade)“. (S. 18) Diese Therapie ist ebenso für Paare wie Einzelpersonen geeignet, wie das Buch eindrucksvoll belegt. Auch der einzelne, ja der absichtlich oder unabsichtlich vereinzelte Mensch ist ja auf eine Paarbeziehung angelegt, die möglicherweise nur wegen seiner fehlenden Kommunikationsfähigkeit nicht zustande kommt. Diese Fähigkeit könnte man mithilfe der Therapie entwickeln.

Seine Rolle als Therapeut beschreibt Ahlers so: „Die Vorstellung der Sexualtherapie als Reparaturbetrieb, die Idee, wir optimierten hier die Sexual Performance, lernen meine Patienten rasch zu verwerfen. ... Ich bin kein Performance Coach zur sexuellen Leistungssteigerung, sondern begleite und unterstütze als Sexualtherapeut einen Emanzipationsprozess“ (S. 166) Wenn er gelingt, führt dieser Emanzipationsprozess dann zu einer wirklich befreiten Sexualität. Wie Ahlers feststellt: „Die subversive Kraft der Sexualität liegt in dem Umstand, dass sie das größte Freiheitspotenzial birgt, das wir Menschen erleben können…Unserer Sexualität wohnt eine Kraft inne, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Und diese Kraft besteht eben nicht im vielbeschworenen dumpfen „Trieb“, sondern im Gefühl der Aufgehobenheit ... in der Erlösung durch Überwindung der Vereinzelung. Die Lust ist bloß der Zuckerguss.“ (S. 171).

Das zeigt sich vor allem auch am Beispiel des schnellen Casual Dating im Internet. Wie Ahlers beobachtet: „Für viele ist es eine Zeit lang ein Sexual Lifestyle, jeden Abend oder zumindest jede Woche mit einem oder einer anderen ins Bett zugehen. Ein One-Night-Stand reiht sich an den anderen. Was mit der Zeit auf der Strecke bleibt, ist die emotionale Erfüllung. ... One-Night-Stand-Burn-Out nenne ich diese Syndrom dann gerne, ... um (den Patienten) zu zeigen, dass sie sich sexuell von Junk-Food ernährt haben und sich deswegen jetzt womöglich nach echten Lebensmitteln sehnen.“ (S. 267).

Im Kapitel über Pornographie heißt es dann folgerichtig über den Online-Pornokonsum eines Mannes, der in einer Partnerschaft lebt: “Die verbreitete Pseudodiagnose „Sexsucht“ ist der perfekte Schutzschirm, um sich vor jeglicher Verantwortung zu drücken: „Liebling, ich kann nichts dafür!“. ( S. 299) Das wirkliche Problem ist hier also gar nicht die Pornographie, sondern die „kommunikative Inkompetenz“ eines Paares, die man diesem bewusst machen und dann helfen kann, sie gemeinsam zu beheben. Im Schlusskapitel dann schließt sich der Kreis, so dass alle verstehen, was gemeint ist, wenn es heißt: „Männer lernen … dass für Frauen nicht die Potenz das Kriterium ist, sondern die Kompetenz. Der Wille und der Mut, sich mit Problemen zu befassen, auseinanderzusetzen und Verantwortung zu übernehmen.“ (S. 426).

Das Buch bietet ein nützliches Sachregister, verzichtet aber auf ein Literaturverzeichnis, meiner Ansicht nach zu Recht. Wie an vielen Stellen deutlich wird, ist der Text bei allen geschilderten Problemen auf dem allerneuesten sexualwissenschaftlichen Stand, und eine Liste der entsprechenden Literatur wäre nicht nur sehr lang und mehrsprachig, sondern würde auch zur Aufklärung seiner Leserschaft wenig beitragen. Ja, sie könnte sogar verwirren. Ahlers spricht ja vornehmlich sexualwissenschaftliche „Laien“ an, und die Fachleute kennen die einschlägige Literatur ohnehin.

Ein Vorteil des Buches ist, dass man es nicht „in einem Zug“ durchlesen muss, um seine Botschaften zu verstehen. Im Gegenteil, es ist auf ein langsames, ruhiges Lesen mit vielen Unterbrechungen angelegt. Man kann es immer mal wieder zur Hand nehmen und jedes Mal etwas Neues, Überraschendes und Lehrreiches erfahren. So teilt sich allmählich die Gesamtsicht des Autors mit, der in seiner therapeutischen Praxis selber gelernt hat, den verschiedensten menschlichen sexuellen Wirklichkeiten unerschrocken ins Auge zu sehen. Alles in allem: Eine gelungene, hilfreiche Publikation.