Manfred Herzer 1899 - noch ein WhK? Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.
Als der niederländische Historiker Harry Oosterhuis den schriftlichen Nachlass des Psychiaters und Pioniers der Sexologie Richard Freiherr von Krafft-Ebing in Graz[1] entdeckte, fand sich unter den Papieren auch das hier reproduzierte Flugblatt, das Krafft-Ebing vermutlich aus Berlin zugesandt worden ist. Das Flugblatt hat ungefähr DIN A4-Format und ist beidseitig bedruckt. Oosterhuis‘ Fund gelang 1995. Seitdem war es nicht möglich, mehr über Entstehung, Vorgeschichte und Nachwirkung jenes „Comités“ zu ermitteln, als der Flugblatttext selbst mitteilt. Es könnte sein, dass es außerhalb des Flugblatts überhaupt nicht existiert hat.
Reinhold Gerlings Magnetische Gesellschaft Die namentlich genannten Comité-Mitglieder F. Henze, Max Nagler, W. Hübner, Adolf Muxfeldt, A. Milke und Dr. Winther wurden in den damals, am Beginn der Schwulenbewegung, in zunehmender Zahl erscheinenden Emanzipationstraktaten nicht mehr erwähnt. Einzig Max Nagler, dem „1. Vorsitzenden der Magnetischen Gesellschaft-Berlin N.O.“ begegnen wir im gleichen Jahr im quasi-schwulen Kontext der Zeitschrift „Die Neue Heilkunst“. Diese Zeitschrift war damals ein wichtiges Organ der aufblühenden Naturheilkundebewegung und nannte sich zeitweise im Untertitel: „Volkstümliche Halbmonatsschrift für naturgemässe Gesundheitspflege, soziale Hygiene, Magnetismus, Suggestion, Hypnotismus und Seelenkunde“ (1900). „Schriftleiter“ und Gründer dieser Zeitschrift war Reinhold Gerling, der in einer neueren Veröffentlichung „der Führer der deutschen Naturheilkundebewegung“ genannt wird.[2] Gerling hatte 1893 in Berlin eine „Magnetische Gesellschaft“ gegründet, die ebenfalls naturgemäße Gesundheitspflege erstrebte und so erfolgreich war, dass es in Berlin nach kurzer Zeit vier Regionalgruppen gab: die Gruppe Nordost mit Ernst Nagler als Vorsitzenden, die Centralstelle in der Beuthstraße, die Gruppe Rixdorf in der Hermannstr. 214 und eine Gruppe Spandau ohne eigenen Versammlungsort. Haupttätigkeit der Magnetischen Gesellschaft scheint die Veranstaltung belehrender Vorträge zur Gesundheitspflege gewesen zu sein und der häufigste Redner war ihr Gründer Reinhold Gerling. Auch Magnus Hirschfeld redete öfter, so am 8.1.1899 in der Centralstelle über „Die Krankheiten der Atmungsorgane, ihre Entstehung, Behandlung und Heilung“. Gerling sprach am 8. Dezember in der Centralstelle über „Die verkehrte Geschlechtsempfindung und geschlechtliche Zwischenstufen“. Ein „Herrenvortrag“ Naglers im Sitzungslokal der Gruppe Nordost, Landsbergerstr. 37 über „Conträre Sexualempfindung (Verkehrte Geschlechtsempfindung)“ wird für den 28. August angekündigt. Obwohl es im „Aufruf“ von ihm heißt, er habe bereits in mehreren öffentlichen Vorträgen eine Lanze für die Enterbten des Liebesglückes gebrochen, wird im ganzen Jahrgang 1899 der Neuen Heilkunst nur dieser eine Vortrag zum Thema angekündigt. Und das blieb auch so in den folgenden Jahren. Konkurrenz zum WhK? Besonders rätselhaft an diesem Comité ist die Datierung des Flugblattes und des ersten öffentlichen Auftritts, „Berlin, October 1899“. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) in Charlottenburg und Leipzig seit mehr als zwei Jahren nicht nur etabliert, es hatte bereits seine ersten spektakulären Aktionen in der Öffentlichkeit begonnen: Im Dezember 1897 hat es seine Petition gegen den § 175 RStGB mit einigen Hundert Unterschriften an die Mitglieder des Reichstags und des Bundesrats eingereicht und damit die Reichstagsdebatte zum Thema im Januar 1898 veranlasst; Magnus Hirschfeld, die Mutter des WhK, hatte im Herbst 1898 eine Broschüre vorgelegt, in der er die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Petition dokumentiert[3]; ein Jahr später erschien der erste Jahrgang des WhK-Fachorgans „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“, dem 22 weitere Jahrgänge folgen sollten. Es ist also kaum vorstellbar, dass die Initiatoren des Comités vom Oktober 99 nichts von dem WhK gewusst haben und sozusagen naiv eine Idee zu verwirklichen trachteten, die damals irgendwie in der Luft lag.[4] Das ganze kleine Unternehmen kkönnte eine frühe Abspaltung oder Sezession vom frisch etablierten WhK gewesen sein. Aber worin hätte der Dissenz liegen können? Als der Zoologe Benedict Friedlaender 1907 aus dem WhK austrat und seinen „Bund für männliche Kultur“ gründete, nannte er öffentlich und klar seine Motive: der zu große Einfluß der effeminierten Schwulen auf die WhK-Politik, die zu milde Haltung des WhK gegenüber dem von den christlichen Kirchen betriebenen Schwulenhass und den ausbleibenden Kampf gegen die „Weiberherrschaft“, die er hauptsächlich für die seit der Spätantike in Europa vorhandene Schwulenunterdrückung verantwortlich machte. In dem „Aufruf“ von 1899 sind solche oder andere Begründungen nicht vorhanden. Im Gegenteil. Viele Behauptungen und Ankündigungen im Flugblatt lesen sich wie parodistische Nachahmungen der WhK-Strategie. Zwei Unterschiede fallen aber auf: die damals schon altmodisch anmutenden Bezeichnungen für Schwule als „Homosexuale“ und als „Uraniden“, sowie die schwärmerische Verklärung Krafft-Ebings – des Erstunterzeichners der WhK-Petition – zum Entzünder des aufflammenden Kampfes, der aus Wien einen Feuerschein bis ins Deutsche Reich wirft. Einen Hinweis könnte der letzte Satz im Aufruf geben: „Nicht Revolution, sondern edelste Evolution sei unsere Losung!“ War den Nordostlern das WhK zu sozialdemokratisch und roch nach Umsturz und sozialer Revolution? Über die Motive der Aufruf-Verfasser und ihr Verhältnis zum WhK kann man heute nur spekulieren. Eine zweite Spekulation ist womöglich plausibler als die Konkurrenz-Vermutung. Es könnte nämlich auch sein, dass die sechs Berliner Herren im „October 1899“ noch gar nicht mitgekriegt hatten, was seit dem 14. 5. 1897 in der Nachbarstadt Charlottenburg vorging. Damals hatten in Hirschfelds Wohnung vier Herren – der kurz vorher aus Magdeburg zugereiste Dr. med. Hirschfeld, der Leipziger Verleger Max Spohr, der wohlhabende Berliner Kriegsinvalide Franz Josef von Bülow und der westfälische Eisenbahnbeamte Eduard Oberg – das WhK gegründet. Der Gründungsakt bestand darin, dass 500 Mark, „natürlich in soliden Goldstücken“[5], von den Gründern für Druck und Verbreitung der von Hirschfeld formulierten Petition gegen den § 175 gezahlt wurden. Bedenkt man, wie dürftig im Vergleich zu heute, die Massenkommunikationsmittel entwickelt waren, dann wird es vorstellbar, dass die sechs Aufrufunterzeichner von 1899 schlicht noch nichts von den WhK-Aktivitäten mitgekriegt hatten und ihre Idee allein von der Lektüre der Krafft-Ebingschen Psychopathia sexualis inspiriert war. Ein Tertium datur, das eine Verbindung zwischen der Magnetischen Gesellschaft Nordost und dem WhK hätte herstellen können, war jedoch der erwähnte Schriftsteller Reinhold Gerling (1863-1930)[6]. Er war nicht nur mit Hirschfeld persönlich bekannt, gehörte zu den Erstunterzeichnern der WhK-Petition und seine erste Emanzipationsbroschüre „Die verkehrte Geschlechtsempfindung und das dritte Geschlecht“ (Berlin 1900) hat Numa Praetorius im WhK-Jahrbuch sehr positiv besprochen.[7] Gerling spricht dort zwar lobend von Hirschfelds „mustergiltiger Arbeit ,Sappho und Sokrates‘“ und referiert ihre zentrale These korrekt, weiß aber noch nichts vom WhK.[8] Und noch im August 1896 hatte er Hirschfelds soeben erschienene mustergiltige Arbeit enthusiastisch und mit langen Zitaten rezensiert.[9] Demnach kannte Gerling Hirschfelds nicht-pathologische Auffassung der Homosexualität vor der WhK-Gründung. Das WhK erwähnt er aber erst 1904 in der 2. Auflage seiner Emanzipationsbroschüre als „die so bedeutsame und von idealstem Geiste durchwehte Agitation des wissenschaftlich-humanitären Komitees“[10]. Zu der Zeit war das nordöstliche Comité längst wieder verstummt. In der Magnetischen Gesellschaft Nordost trat Gerling oft als Vortragsredner auf, auch zu Themen der Sexualität und Homosexualität, so dass es sein könnte, dass Nagler von ihm über das WhK informiert worden ist und das Interesse an einem eigenen Comité verlor. Alles Hierhingehörende bleibt indes bloße Spekulation. Reinhold Gerlings Weg zur Schwulenemazipation Gerlings Sohn Walter hat 1930 eine biografische Skizze über seinen Vater veröffentlicht. Darin findet man die Geschichte, wie Gerling die Schwulenpolitik für sich entdeckt hat. Das soll am Ende der 1880er Jahre kurz vor seiner Verlobung mit der Tochter des Schneidemühlers Theaterbesitzers Koslowsky gewesen sein. Erstaunlich ähnlich ist diese Geschichte mit der, die Hirschfeld in seiner Broschüre „Sappho und Sokrates“ (1896) erzählt, um zu zeigen, wie ihm diesbezüglich die Augen geöffnet wurden: „Kurz vor seiner Verlobung machte der Verlust eines Freundes auf meinen Vater einen tiefen Eindruck. Zufällig hatte er einmal bemerkt, daß sein bester Freund, Künstler und Literat wie er, ständig ein Glasröhrchen mit Cyankali in seiner Westentasche trug und auf dringendes Bitten gestand, er sei homosexuell. Seine Veranlagung sei derartig, daß er jederzeit befürchten müsse, mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt zu geraten. Rücksichten auf seinen Namen und die gesellschaftliche Stellung seiner Familie würden ihn in solchem Falle veranlassen, seinem Leben ein Ende zu machen. Nun erst wurde mein Vater mit dem Wesen der Homosexualität bekannt und als eines Tages die Katastrophe eintrat, der Freund sich seiner Verhaftung durch Selbstmord entzog, trat mein Vater für eine gerechtere Auffassung der Frage und Abänderung des § 175 ein.“[11] Die Ähnlichkeit geht noch weiter, wenn der Sohn erzählt, Gerling habe daraufhin eine „Kampfschrift“ verfasst, die – hier endet die Parallele – „sehr bald beschlagnahmt wurde und ihm eine Anklage eintrug. Die Strafkammer des Landgerichts unter dem Vorsitz des damals schon geistesgestörten Landgerichtsdirektors Brausewetter verurteilte ihn im Jahre 1889 zu 200.- M. Geldstrafe oder 25 Tagen Gefängnis. In der Begründung des Urteils wird ausdrücklich als Milderungsgrund angeführt, daß der Angeklagte bei Abfassung des Buches von edlen Motiven geleitet worden sei.“[12] Ähnlich wie im Fall Hirschfelds drängt sich hier die leider unbeantwortbare Frage auf, ob diese gewiss wahre Geschichte nicht vielleicht von dem wirklichen Motiv für das politische Engagement, die eigene Homosexualität, ablenken soll. Wie dem auch sei, beide Männer begannen – Gerling einige Jahre früher als Hirschfeld – den politischen Kampf für die „Befreiung der Homosexuellen“. Schließlich hat Gerling auch noch Hirschfeld auf die Schwulenbefreiung aufmerksam gemacht: „Im Jahre 1893 interessierte er bei einem Zusammentreffen in Kassel den ihm befreundeten Arzt Dr. Magnus Hirschfeld für die Frage, der dann später deren wissenschaftliche Erforschung in die Wege leitete.“[13] Diese Angabe könnte stimmen, ist aber leider nicht von Hirschfeld bestätigt worden. Wo sich Hirschfeld aber in den anderthalb Jahren nach seiner Berliner Promotion im Februar 1892 und dem Beginn der Amerikareise im August 1893 aufgehalten hat, wissen wir nicht. Warum nicht auch in Kassel? Der Sohn weist nicht nur darauf hin, dass Gerling, „lange bevor“ es ein WhK gab, „als Erster für die zu Unrecht verfehmten Homosexuellen eingetreten“ sei, er sieht auch in dem Beschluss des Reichstagsstrafrechtsausschusses vom 16. 10.1929 zur Streichung des § 175 eine Folge der Wirkung seines Vaters.[14] Das späteste bekannte Dokument zu Gerlings Engagement in der Schwulenbewegung ist ein Brief an Adolf Brand von 1921. Darin teilt er Brand mit, dass er „in Zürich unter der Führung des Herrn Buck im März eine Sondergruppe [der Gemeinschaft der Eigenen] gründen werde, die nach und nach über die ganze Schweiz sich erstreckt.“[15] Wer Herr Buck ist und ob die Gründung gelang, war bisher nicht zu ermitteln. Nach Gerlings Tod brachte die Berliner Schwulenzeitschrift „Die Freundschaft“ einen redaktionellen Nachruf, in dem der Tote als „Nichthomoerot“ bezeichnet wird: „[…] Was uns Reinhold Gerling aber vor allem lieb und teuer macht, ist sein Kampf für die Befreiung der Homosexuellen von dem schmachvollen Strafgesetz und der gesellschaftlichen Ächtung. War er doch der Erste, der den Mut aufbrachte, in öffentlichen Vorträgen die Beseitigung des § 175 zu fordern und seine Hörer über das Wesen der Homosexualität aufzuklären. Diesen Kampf und diese Aufklärungsarbeit zugunsten der Homosexuellen hat er sein ganzes Leben hindurch fortgesetzt und hat durch dieses sein Wirken, gerade als Nichthomoerot, viel zur Änderung der Volksanschauung über die gleichgeschlechtliche Liebe beigetragen […]“[16]
[1] Harry Oosterhuis: Richard von Krafft-Ebings Stiefkinder der Natur, in: Capri 24 (1997), S. 2 ff. [2] Helmut Obst: Karl August Lingner, ein Volkswohltäter? Göttingen 2005, S. 49. [3] Magnus Hirschfeld: § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs. Die homosexuelle Frage im Urteile der Zeitgenossen. Leipzig 1898. [4] Vgl. dazu: Manfred Herzer: Anfänge einer Schwulenbewegung im Ausland, in: Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Berlin 1997, S. 75 ff. [5] Magnus Hirschfeld: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922. Berlin 1986, S. 54. – Die WhK-Forschung leidet darunter, dass zum Charlottenburger Gründungsakt bisher nur dieser, 25 Jahre später verfasste Bericht Hirschfelds bekannt ist, die subjektive Erinnerung des Hauptbeteiligten. [6] Gerlings Lebenswerk umfasst ca. 200 Buchpublikationen und mehrere Tausend Zeitschriftenartikel. Allein im Bestand der Berliner Staatsbibliothek gibt es 140 Gerling-Titel. Man kann ihn als Autor von Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur sehen. Aufklärungsbroschüren zur Sexualität gehören ebenso in dieses Themenspektrum wie Themen der Psychohygiene, Gesundheitspflege, Hypnose oder Spiritismus. [7] Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 2.1900, S. 376 ff. [8] Reinhold Gerling: Die verkehrte Geschlechts-Empfindung und das dritte Geschlecht. Berlin 1900, S. 53. [9] Reinhold Gerling: Sappho und Sokrates. Von Dr. med. Th. Ramien, in: Die Neue Heilkunst Nr. 16 vom 24.8.1896, S. 124 ff. [10] Reinhold Gerling: Das dritte Geschlecht und die Enterbten des Liebesglücks. 2. veränd. u. vermehrte Aufl. Berlin 1904, S. 46. [11] Walter Gerling: Reinhold Gerling. Aus dem Leben eines Kämpfers. Oranienburg 1930, S. 24 f. [12] Ebd., S. 25. [13] Ebd., S. 25 f. [14] Ebd., S. 36 f. [15] Briefe und Freunde, in: Freundschaft u. Freiheit, Nr. 1 vom 3.2.1921, S. 2. [16] Reinhold Gerling †, in: Die Freundschaft, 1930, Nr. 9, S. 137. |