Manfred Herzer
Am Wochenende geht die schwule kleine Familie Über
Stefan Müllers Buch
Verf. hat in 71 Romanen seines Berichtszeitraums schwule/ homosexuelle/homoerotische/ homophile – die Terminologie bleibt anscheinend absichtlich vielfältig und zufällig – Männer gefunden, die er in seiner Magdeburger Dissertation unter verschiedenen Gesichtspunkten und Perspektiven sortiert und betrachtet. Unberücksichtigt bleiben »Publikationen kleiner schwuler Verlage«, allein Romane aus dem »sogenannten Mainstreambereich« (16) werden analysiert. Die Untersuchungsmethode soll ein »Close Reading und Wide Reading« (24) sein unter Berücksichtigung von Diskursanalyse à la Foucault, Queer Theory à la Butler und Intertextualitätsfragen. Praktisch läuft das auf ein nacherzählendes Referat der schwulen Stellen und schwulenbezogenen Handlungsstränge der Romane mit abschließendem »Fazit« hinaus, verbunden mit der steten Suche nach Intertextualitäten zwischen Roman und Verlautbarungen der damaligen Sexologie und Schwulenbewegung, was »Homosexualitätsdiskurs« genannt wird. Diesem Interpretationsteil ist ein Kapitel mit sozialgeschichtlichen Infos zur »Homosexualität in der Zwischenkriegszeit« (44 ff.) vorgeschaltet. In der »Einleitung« wird resümiert: »Die Schicksale der literarischen Figuren haben allesamt eines gemeinsam, ihre unaufhörliche Suche nach dem Glück und der Liebe. Jene, die beides finden, sind sich der Vergänglichkeit dieses lebenspendenden Augenblicks bewusst, die meisten anderen begeben sich jedoch erfolglos auf die Suche […] Dauerhaft glückliche Homosexuelle sind in den hier untersuchten Romanen nicht zu finden.« (15) In der »Schlussbetrachtung« wird geradeheraus und irgendwie anrührend erklärt, was Verf. vermisst: »Die Zeit [1919-39] war offenbar noch nicht reif für ein schwules Paar, das am Wochenende in den Zoo geht, nicht reif für traute Zweisamkeit im Theaterfoyer oder für einen unkomplizierten Umgang mit Homosexuellen, die miteinander als kleine Familie in Erscheinung treten.« (505) Den Hauptteil des Buchs, die Untersuchung der Homosexualität in den Romanen, beginnt Verf. mit irrigen Behauptungen zum einschlägigen Strafrecht. Er glaubt, dass es »keine homosexuellen Jugendlichen« in der Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit gegeben habe (73). Seit Einführung des Strafgesetzbuches 1871 begann jedoch die Strafmündigkeit nach dem 12. Lebensjahr und erst das Jugendgerichtsgesetz von 1923 erhöht diese heute noch geltende Grenze auf die Vollendung des 14. Lebensjahrs. Widernatürliche Unzucht unter Minderjährigen war also, anders als Verf. glaubt, genau so strafbar wie unter Erwachsenen. Wurden die jugendlichen Straftäter zu Freiheitsstrafen verurteilt, dann war diese gemäß § 55 StGB in besonderen Anstalten zu vollziehen, die seit 1923 Fürsorgeheime genannt wurden. Fragen nach der Strafbarkeit von Teenagersex entstehen, wenn Romane betrachtet werden, die von mehr oder weniger sexuell getönten Jungenfreundschaften, vorpubertäre wie pubertäre, handeln und die seit der berühmten Szene in Wedekinds Frühlingserwachen bis hin zu Erich Kästners Kinderromanen sehr populär waren. Für Verf. hört der Spaß aber dann auf, wenn in den Romanen Sex zwischen Erwachsenen und Jugendlichen dargestellt wird. Herr Burgkheim, der bei Bruno Vogel die beiden verliebten Jungs Felix und Alf über Sex aufklärt, ist eine »meiner Meinung nach zwielichtige[] und kontraproduktive[] Gestalt«, weil er »mit einem Minderjährigen gemeinsam in der Wohnung« lebt (391); ein Mensch namens Kalmück, der in Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 »zahlreiche Jungen« zum Sex verführt, wird als »fragwürdige Figur« etikettiert (88); der schwule Protagonist in Joseph Breitbachs Roman Die Wandlung der Susanne Dasseldorf ist für Verf. »im Sinne des positiven Homosexualitätsdiskurses kontraproduktiv« und ohne »Glaubwürdigkeit«, weil er sich von seinem Geliebten, der im Laufe der Jahre zu alt geworden ist, abwendet (416). Und Mackays Roman Der Puppenjunge wird vollends aus der Untersuchung ausgeschlossen, weil Verf. Mackay »als Pädophilen« identifiziert hat (ebd.); dabei ist Günther, von dessen Stricherkarriere in der Friedrichstraße der Roman erzählt, »fünfzehn oder sechzehn Jahre« alt, als er in Berlin eintrifft (Mackay, Der Puppenjunge, 1926, Seite 7). Die Moraldoktrin, die Verf. hier und an zahlreichen anderen Stellen seiner Untersuchung vertritt, ist eigentlich nicht mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu vereinbaren. Die moralisierende Parteilichkeit, die er an den Tag legt, gilt nicht den Unterdrückten, sondern einem inhumanen starren Ideal korrekter schwuler Liebesbeziehungen. So heißt es verquer und verdruckst zu Breitbachs Roman: »Gegen die Älterer-Jüngerer-Konstellation wäre an sich nichts einzuwenden, wenn sie nicht an manchen Stellen mit latenter Verwerflichkeit behaftet wäre. Oftmals sind die Jüngeren minderjährig oder befinden sich in einem Abhängigkeitsverhältnis. Problematisch wird es besonders, wenn die sexuelle Komponente an Wesentlichkeit in der Beziehung gewinnt.« (406) In seiner Sorge um Verführung der männlichen Jugend sucht Verf. Unterstützung bei Kurt Hiller, der 1922 eine Schutzaltersgrenze von 16. Jahren für beide Geschlechter für vielleicht ganz angemessen hielt (414); er übernahm damit die Forderung der alten WhK-Petition. Völliger Unsinn ist aber die Behauptung zum Schwulenstrafrecht der Zeit, in der Kracauers Roman Georg spielt, »das Schutzalter betrug mindestens sechzehn Jahre« (142). Tatsächlich führten die Nazis 1935 mit ihrem § 175a eine Art strafverschärfende Altersgrenze ein: wenn einer der Beteiligten noch nicht 21 Jahre alt war, konnte der ältere zu maximal zehn Jahre Zuchthaus verurteilt werden. Im Kapitel »Die Inszenierung des schwulen Nazis« geht es um Auseinandersetzung mit der von Meve 1990 und Zinn 1997 vertretenen These, nach der die emigrierten Schriftsteller in ihren Dichtungen und in ihrer Presse ein realitätsfernes Stereotyp geschaffen hätten, das schwulen Sex und Nazismus in einem antifaschistischen »Feindbild« (264) verquickt und mit der Lebenswirklichkeit im Nazi-Reich nur wenig zu tun hat. Es lässt sich leicht zeigen, wie Verf. zutreffend bemerkt, dass diese These zu undifferenziert ist und allenfalls bei den Autoren Renn, Zech und Baum eine eingeschränkte Berechtigung hat. Zudem ist das vermeintliche Stereotyp keine Erfindung der Emigranten und wird von Verf. schon in Joseph Roths Roman Das Spinnennetz von 1923 als »Prototypen« für den später von der Linken propagierten ›schwulen Nazi‹« identifiziert (266). Da aber bei dem Nazi-Romancier Ewers, bei dem politisch wirren Lampel und beim liberalen Siemsen sympathische schwule Nazis und verständnisvolle nicht-schwule Nazis auftreten, will Verf. das Antifa-Feindbild präziser beschreiben, indem er es auf einen als »promisk-ausbeuterischen« (308) Typ mit Neigung zur »Vergewaltigung von Knaben« (302) eingrenzt. Zustimmung erfährt Meve, der das negative Stereotyp folgendermaßen ausgestattet sieht: »›Promiskuität, Knabenschändung, Untreue, Cliquenunwesen‹« (310), wobei die geschändeten Knaben keine Kinder, sondern ältere Teenager aus der HJ sind. Dem üblichen Lamento über Homophobie der antifaschistischen Emigranten kann Verf. keine neuen Gesichtspunkte hinzufügen. Die Irrtümer seiner Vorläufer reproduziert er kritiklos, indem auch er zwei entscheidende Gesichtspunkte übersieht: 1) war es allein die Linke und in besonderem Maße die KPD, die die emanzipatorischen Forderungen der damaligen Schwulenbewegung unterstützte, 2) konnte diese Linke auf das Vorhandensein bekanntermaßen schwuler Spitzenfunktionäre in der Nazipartei nicht einfach mit rücksichtsvoller Diskretion reagieren, denn die Nazis hatten in ihrer Presse die Einführung der Todesstrafe für widernatürliche Unzucht angekündigt, sobald sie die Macht erobert hätten. Ohne den historischen Kontext zu begreifen, zitiert Verf. die Münchner Post, die von der »›widerlichen Heuchelei‹« (297) in der Nazipartei spricht und damit genau auf das Paradox hinweist, dass eine schwulenhasserische Terrororganisation von einem notorisch schwulen Hauptmann Röhm angeführt wird. Vollends abwegig behauptet Verf. auch noch, die SPD habe geschwankt »zwischen Verschärfung und Liberalisierung der Richtlinien des § 175« (ebd.) Zu keinem Zeitpunkt hat die SPD eine Verschärfung des § 175 gefordert, nicht zur Zeit der Eulenburg-Affäre, nicht während der Röhm-Affäre. (Unter der Überschrift »Kommunisten, Sozialdemokraten und die Schwulenbewegung in der Weimarer Republik« habe ich in CAPRI 4/91 vom Juni 1992 diese Zusammenhänge dargestellt und die Unhaltbarkeit einer ahistorischen Kritik am damaligen Kampf gegen schwule und nicht-schwule Nazis nachzuweisen versucht.) Einen Vorwurf kann man den Dichtern Renn, Zech und Baum jedoch machen: sie sind derart miserable Romanautoren, dass bei ihren Versuchen, Schwule realistisch zu zeichnen, lediglich tote Klischees, Stereotype und Karikaturen herausgekommen sind. Eine Analyse der Romane in literaturästhetischer und poetologischer Perspektive vermeidet Verf. stets und begnügt sich mit der bloßen Nacherzählung der schwulen Stellen unter besonderer Berücksichtigung des mehr oder weniger unglücklichen Liebeslebens der Protagonisten; manchmal wird aus zeitgenössischen Rezensionen zitiert und in Vogels Alf entdeckt Verf. nicht näher benannte »zum Teil schwülstig-kitschig gefüllte[] Romanpassagen« (391). Fragen des Realismus bleiben unerörtert, so dass die Einordnung des Romans Am Rande der Nacht von Lampe als »Magischen Realismus« (430) ohne Diskussion aus der Sekundärliteratur übernommen werden kann. Die langatmige Umständlichkeit der Darstellung, die zahllosen Wiederholungen und die betuliche Schwerfälligkeit der Argumentation, die das ganze 500 Seiten dicke Buch kennzeichnen, bereiten dem Leser leider weit mehr Anstrengung als Genuss und ein Erkenntnisgewinn ist am Ende so gut wie gar nicht auszumachen. Bis zur Seite 399 vermisst man jegliche Andeutungen oder gar eigene Gedanken zu einer Theorie des schwulen Romans – dann plötzlich eine steile These: »Dabei ist bedeutsam, dass es sich auch bei Die Wandlung der Susanne Dasseldorf trotz des homosexuellen Autors nicht um einen ›schwulen Roman‹ im engeren oder weitesten Sinne handelt.« Die »Einleitung dieser Arbeit« soll die Definition des schwulen Romans enthalten, nennt aber bloß das Kriterium, nach dem die 71 Romane der Untersuchung ausgewählt wurden. Es kamen, wie erwähnt, nur Romane infrage, »die außerhalb des Milieus und nicht in erster Linie für selbiges entstanden sind« (17). Sachen, die »ausschließlich von homosexuellen Kundinnen und Kunden – teilweise durch direkte Bestellung und den anschließenden Versand – gekauft wurde« (16), bleiben unberücksichtigt. Verlagsmarketing zum Unterscheidungsmerkmal von schwulen und nicht-schwulen Romanen zu machen, ist indes hinreichend schlicht und ökonomistisch, um sich literaturwissenschaftliche Reflexionen über die »Roman-Homosexuellen der 1920er und 1930er Jahre« zu ersparen. Wenn Verf. in Jahnns Perrudja entdeckt, »dass es sich hier nicht allein um Freundschaft, sondern um schwulen Sex, vielleicht sogar auch um schwule Liebe dreht« (493), dann müsste er eigentlich seine anfängliche Behauptung (»Dauerhaft glückliche Homosexuelle sind in den hier untersuchten Romanen nicht zu finden.« 15) modifizieren. Er unterlässt das – vielleicht weil er auch bei Jahnn den Zoobesuch der kleinen schwulen Familie in trauter Zweisamkeit vermissen musste. Manfred Herzer
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