Manfred Herzer

 

Am Wochenende geht die schwule kleine Familie
in trauter Zweisamkeit in den Zoo

Über Stefan Müllers Buch
Ach, nur’n bisschen Liebe. Männliche Homosexualität in den Romanen
deutschsprachiger Autoren in der Zwischenkriegszeit 1919 bis 1939
.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2011


Ursprünglich erschienen in: CAPRI 46 (Mai 2012).
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

 


Verf. hat in 71 Romanen seines Berichtszeit­raums schwule/ homosexuelle/homo­eroti­sche/ ho­­­­mo­phile – die Termino­logie bleibt anschei­nend absichtlich vielfältig und zufällig – Männer gefunden, die er in seiner Magdebur­ger Dis­ser­ta­tion unter ver­schie­denen Ge­sichtspunkten und Perspek­tiven sortiert und betrachtet. Unbe­rück­­­sich­tigt bleiben »Publi­kationen kleiner schwu­ler Verlage«, allein Romane aus dem »so­ge­nannten Mainstream­bereich« (16) werden ana­­ly­siert. Die Unter­suchungs­me­tho­de soll ein »Close Reading und Wide Reading« (24) sein unter Berück­sich­tigung von Dis­kursanalyse à la Foucault, Queer Theory à la Butler und In­ter­tex­tualitäts­fragen. Prak­tisch läuft das auf ein nach­er­zäh­len­­des Referat der schwulen Stellen und schwu­len­bezoge­nen Handlungs­stränge der Romane mit abschließendem »Fazit« hinaus, ver­bunden mit der steten Suche nach Inter­textualitäten zwischen Roman und Ver­laut­­ba­run­gen der damaligen Sexologie und Schwu­lenbewegung, was »Homo­sexualitätsdiskurs« ge­­­nannt wird. Diesem Inter­preta­ti­ons­teil ist ein Kapitel mit sozial­geschicht­lichen Infos zur »Ho­mosexua­lität in der Zwischen­kriegs­zeit« (44 ff.) vorge­schal­tet. In der »Einleitung« wird re­sü­­miert:

»Die Schicksale der literarischen Figu­ren haben alle­samt eines ge­meinsam, ihre un­aufhörliche Su­che nach dem Glück und der Liebe. Jene, die beides finden, sind sich der Vergäng­lichkeit die­ses leben­spendenden Au­gen­blicks bewusst, die meisten anderen bege­ben sich jedoch er­folglos auf die Suche […] Dau­­er­haft glück­­liche Homosexuelle sind in den hier un­tersuchten Ro­ma­nen nicht zu finden.« (15) In der »Schluss­betrach­tung« wird gerade­heraus und irgendwie anrührend er­klärt, was Verf. vermisst: »Die Zeit [1919-39] war of­fen­bar noch nicht reif für ein schwules Paar, das am Wochenende in den Zoo geht, nicht reif für traute Zwei­sam­keit im Thea­ter­foyer oder für einen unkom­plizierten Um­gang mit Homo­sexu­el­len, die miteinan­der als kleine Familie in Erscheinung treten.« (505)

Den Hauptteil des Buchs, die Untersuchung der Homose­xu­alität in den Ro­manen, beginnt Verf. mit irrigen Behaup­tun­gen zum einschlä­gi­gen Straf­recht. Er glaubt, dass es »keine homosexu­el­len Jugendli­chen« in der Gesetz­gebung der Zwi­schenkriegszeit gegeben habe (73). Seit Ein­führung des Strafgesetz­buches 1871 begann jedoch die Strafmündigkeit nach dem 12. Lebensjahr und erst das Jugendge­richts­ge­setz von 1923 er­­­höht diese heute noch geltende Gren­ze auf die Vollendung des 14. Lebens­jahrs. Wider­na­tür­liche Unzucht unter Min­der­jährigen war also, an­ders als Verf. glaubt,  ge­nau so strafbar wie un­­ter Er­wach­senen. Wurden die jugend­lichen Straftäter zu Freiheitsstrafen verurteilt, dann war diese gemäß § 55 StGB in besonderen An­stal­­ten zu vollzie­hen, die seit 1923 Fürsor­ge­heime genannt wurden. Fragen nach der Straf­barkeit von Teenagersex entstehen, wenn Ro­ma­ne be­trachtet werden, die von mehr oder weniger sexuell getönten Jungenfreundschaften, vor­pu­ber­­täre wie puber­tä­re, handeln und die seit der berühmten Szene in Wedekinds Früh­lings­erwa­chen bis hin zu Erich Kästners Kin­der­roma­nen sehr populär waren. Für Verf. hört der Spaß aber dann auf, wenn in den Romanen Sex zwi­schen Erwachsenen und Jugendlichen dar­ge­stellt wird. Herr Burgkheim, der bei Bruno Vogel die beiden ver­liebten Jungs Felix und Alf über Sex aufklärt, ist eine »meiner Meinung nach zwie­lichtige[] und kontra­pro­duktive[] Ge­stalt«, weil er »mit einem Min­der­­jährigen ge­mein­­­sam in der Wohnung« lebt (391); ein Mensch namens Kalmück, der in Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 »zahl­reiche Jungen« zum Sex verführt, wird als »frag­wür­dige Figur« eti­ket­tiert (88); der schwule Prota­gonist in Joseph Breitbachs Roman Die Wandlung der Susan­ne Dasseldorf ist für Verf. »im Sinne des positi­ven Homo­se­xu­alitätsdiskurses kon­traproduktiv« und ohne »Glaubwür­dig­keit«, weil er sich von sei­nem Ge­liebten, der im Laufe der Jahre zu alt ge­­worden ist, ab­wendet (416). Und Mackays Roman Der Puppen­junge wird vollends aus der Unter­su­chung ausge­schlossen, weil Verf. Mackay »als Pädophilen« identi­fiziert hat (ebd.); dabei ist Günther, von dessen Stri­cher­karriere in der Fried­richstraße der Roman er­zählt, »fünf­zehn oder sechzehn Jahre« alt, als er in Ber­lin ein­trifft (Mackay, Der Puppen­junge, 1926, Seite 7).

Die Moraldoktrin, die Verf. hier und an zahl­reichen anderen Stellen seiner Untersuchung vertritt, ist eigent­lich nicht mit dem Anspruch auf Wissenschaft­lichkeit zu ver­einbaren. Die moralisierende Partei­lichkeit, die er an den Tag legt, gilt nicht den Un­ter­drückten, sondern einem inhumanen starren Ideal kor­rekter schwu­ler Lie­bes­beziehungen. So heißt es ver­quer und verdruckst zu Breit­bachs Roman: »Gegen die Älterer-Jüngerer-Konstellation wäre an sich nichts ein­zu­­wen­den, wenn sie nicht an manchen Stellen mit latenter Ver­werf­lichkeit behaf­tet wäre. Oftmals sind die Jüngeren min­derjährig oder befinden sich in ei­nem Abhän­gigkeits­ver­hältnis. Problematisch wird es besonders, wenn die sexuelle Kom­po­­nente an Wesentlichkeit in der Beziehung ge­winnt.« (406) In seiner Sorge um Verführung der männlichen Jugend sucht Verf. Unter­stüt­zung bei Kurt Hiller, der 1922 eine Schutz­al­ters­grenze von 16. Jahren für beide Ge­schlech­ter für vielleicht ganz ange­messen hielt (414); er übernahm damit die Forderung der alten WhK-Petition. Völliger Un­sinn ist aber die Be­hauptung zum Schwulenstrafrecht der Zeit, in der Kracauers Roman Georg spielt, »das Schutz­­alter betrug mindestens sechzehn Jahre« (142). Tatsächlich führten die Nazis 1935 mit ihrem § 175a eine Art strafver­schär­fende Al­ters­grenze ein: wenn einer der Be­tei­ligten noch nicht 21 Jahre alt war, konnte der ältere zu ma­ximal zehn Jahre Zuchthaus verurteilt werden.

Im Kapitel »Die Inszenierung des schwulen Nazis« geht es um Aus­ein­an­der­setzung mit der von Meve 1990 und Zinn 1997 vertretenen These, nach der die emi­grier­­ten Schrift­steller in ihren Dichtungen und in ihrer Presse ein realitäts­fernes Stere­otyp geschaffen hätten, das schwulen Sex und Nazismus in einem antifaschis­ti­schen »Feind­bild« (264) verquickt und mit der Lebens­wirk­lichkeit im Nazi-Reich nur wenig zu tun hat. Es lässt sich leicht zeigen, wie Verf. zutref­fend bemerkt, dass diese The­­­se zu undif­fe­renziert ist und allen­falls bei den Autoren Renn, Zech und Baum ei­ne ein­ge­schränkte Be­rech­tigung hat. Zudem ist das vermeintliche Stereotyp keine Er­­fin­dung der Emi­granten und wird von Verf. schon in Joseph Roths Roman Das Spin­nen­netz von 1923 als »Prototypen« für den später von der Linken propa­gier­ten ›schwulen Nazi‹« identifiziert (266). Da aber bei dem Nazi-Romancier Ewers, bei dem politisch wirren Lampel und beim liberalen Siemsen sym­pa­thi­sche schwule Nazis und verständnis­volle nicht-schwule Nazis auftreten, will Verf. das Antifa-Feind­bild präziser beschreiben, in­dem er es auf einen als »pro­misk-ausbeu­te­ri­schen« (308) Typ mit Neigung zur »Verge­wal­ti­gung von Knaben« (302) ein­grenzt.  Zu­stimmung erfährt Meve, der das nega­tive Ste­re­­o­typ fol­gender­maßen aus­ge­stat­tet sieht: »›Pro­mis­ku­i­tät, Knaben­schän­dung, Untreue, Cliquen­­unwe­sen‹« (310), wobei die geschän­de­ten Knaben keine Kinder, sondern ältere Teen­ager aus der HJ sind.

Dem üblichen Lamento über Homophobie der ant­i­faschis­tischen Emi­granten kann Verf. keine neuen Gesichtspunkte hinzufügen. Die Irrtümer seiner Vor­läufer re­pro­­du­ziert er kritiklos, indem auch er zwei ent­scheidende Gesichtspunkte übersieht: 1) war es allein die Linke und in be­son­derem Maße die KPD, die die eman­zi­pa­to­ri­schen Forderungen der damaligen Schwulen­bewe­gung unterstützte, 2)  konnte diese Linke auf das Vorhanden­sein be­kann­ter­maßen schwu­ler Spitzen­funktionäre in der Nazipartei nicht einfach mit rück­sichts­voller Diskretion reagieren, denn die Nazis hat­ten in ihrer Presse die Ein­führung der Todesstrafe für wider­natürliche Unzucht an­­­ge­kündigt, sobald sie die Macht ero­bert hätten. Ohne den his­to­ri­schen Kontext zu begreifen, zitiert Verf. die Münchner Post, die von der »›widerlichen Heu­che­lei‹« (297) in der Nazi­partei spricht und damit genau auf das Para­dox hinweist, dass eine schwu­­­len­hasserische Terrororganisation von einem notorisch schwulen Haupt­mann Röhm angeführt wird. Vollends abwegig behauptet Verf. auch noch, die SPD habe geschwankt »zwischen Ver­schärfung und Liberalisierung der Richtlinien des § 175« (ebd.) Zu keinem Zeitpunkt hat die SPD eine Verschärfung des § 175 gefordert, nicht zur Zeit der Eulenburg-Affäre, nicht wäh­rend der Röhm-Affäre. (Unter der Überschrift »Kommunisten, Sozial­de­mokraten und die Schwulen­bewegung in der Weimarer Repu­blik« habe ich in CAPRI 4/91 vom Juni 1992 diese Zusam­menhänge darge­stellt und die Un­halt­barkeit einer ahistorischen Kritik am damaligen Kampf gegen schwule und nicht-schwule Nazis nachzuweisen versucht.)

Einen Vorwurf kann man den Dichtern Renn, Zech und Baum jedoch machen: sie sind derart miserable Roman­autoren, dass bei ihren Ver­suchen, Schwule realistisch zu zeichnen, ledig­lich tote Klischees, Stereotype und Karikatu­ren herausgekommen sind. Eine Analyse der Roma­ne in lite­ra­turästhetischer und poetolo­gischer Per­spek­tive vermeidet Verf. stets und begnügt sich mit der bloßen Nach­erzählung der schwu­len Stellen unter besonderer Be­rück­sichtigung des mehr oder weniger un­glück­­lichen Liebes­le­bens der Protagonisten; manchmal wird aus zeit­­­ge­nös­si­schen Rezen­si­o­nen zitiert und in Vogels Alf entdeckt Verf. nicht näher be­nannte »zum Teil schwülstig-kitschig gefüll­te[] Ro­man­­passagen« (391). Fragen des Realis­mus bleiben unerörtert, so dass die Einordnung des Romans Am Rande der Nacht von Lampe als »Magischen Realis­mus« (430) ohne Dis­kus­sion aus der Sekun­därliteratur übernommen werden kann.

Die langatmige Um­ständlich­keit der Darstel­lung, die zahl­losen Wie­der­­holungen und die betuliche Schwerfällig­keit der Argumentation, die das ganze 500 Seiten dicke Buch kenn­zeichnen, bereiten dem Leser leider weit mehr Anstren­­gung als Genuss und ein Erkenntnisge­winn ist am Ende so gut wie gar nicht auszumachen.

Bis zur Seite 399 vermisst man jegliche An­deutungen oder gar eigene Ge­danken zu einer Theorie des schwu­len Romans – dann plötz­lich eine steile These: »Dabei ist be­­deutsam, dass es sich auch bei Die Wandlung der Susanne Dasseldorf trotz des homo­sexu­­el­len Autors nicht um einen ›schwulen Roman‹ im engeren oder weitesten Sinne handelt.« Die »Ein­­leitung dieser Arbeit« soll die Definition des schwulen Romans enthalten, nennt aber bloß das Kri­te­ri­um, nach dem die 71 Romane der Unter­suchung ausge­wählt wur­den. Es kamen, wie erwähnt, nur Ro­ma­ne infrage, »die außerhalb des Milieus und nicht in erster Linie für selbiges entstanden sind« (17). Sachen, die »ausschließlich von ho­mo­sexuellen Kundin­nen und Kunden – teilweise durch di­rekte Bestel­lung und den anschlie­ßenden Ver­sand – gekauft wurde« (16), bleiben unberücksich­tigt. Verlagsmarketing zum Unter­schei­­­dungs­merk­mal von schwulen und nicht-schwulen Ro­manen zu machen, ist indes hin­reichend schlicht und öko­nomistisch, um sich litera­tur­wissen­schaft­liche Reflexionen über die »Roman-Ho­mo­sexu­ellen der 1920er und 1930er Jahre« zu ersparen. Wenn Verf. in Jahnns Perrudja ent­deckt, »dass es sich hier nicht allein um Freundschaft, sondern um schwulen Sex, viel­leicht sogar auch um schwule Liebe dreht« (493), dann müsste er eigentlich seine anfäng­liche Behauptung (»Dauerhaft glückliche Homo­sexu­elle sind in den hier untersuchten Romanen nicht zu finden.« 15) modifizieren. Er un­terlässt das – vielleicht weil er auch bei Jahnn den Zoobesuch der kleinen schwulen Familie in trauter Zweisamkeit vermissen musste.

Manfred Herzer