Manfred Herzer Sexuelle Zwischenstufen. Vereinzelter Einzelner. Ein spätmarxistischer Versuch
Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entscheiden, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird: (Friedrich Engels, MEW 21:84) Habe ich Dir das Wort ›Individuum est ineffabile‹, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben? (Goethe an Lavater am 20. September 1780) Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das Kompromiß darstellt. (Bertolt Brecht, Ges. Werke Bd. 20, 1967:62)
1.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Marx‘ Konzept des Individuums in der
bürgerlichen Gesellschaft als isoliertes »atomisiertes« warenbesitzendes,
das mit den anderen Einzelnen am Markt konkurriert, und Hirschfelds Lehre
von den sexuellen Zwischenstufen, die jedem Menschen, sozusagen unterhalb
der Abstraktionsebene der binären Geschlechterzuweisung Mann/Frau, ein
einzigartiges unwiederholbares Geschlecht, eine individuelle Mischung
aus Männlichkeit und Weiblichkeit zuschreibt. Diesen Zusammenhang kann
man sich grob so vorstellen, als ob die geschlechtliche Einzigartigkeit
eines jeden eine Konkretisierung des Sexus-Aspekts in jeder atomistischen
Privatperson ist; über die Kommunikations- und Interaktionsmedien Geld,
Gefühl und Produktion werden nicht nur diese Privaten konstituiert, auch die
Herstellung des inneren Bandes zwischen ihnen, die Herstellung der bürgerlichen
Gesellschaft, geschieht auf diese Weise. Bekanntlich begründet die Marxsche
Theorie die Hoffnung auf eine Transformation der bürgerlich-kapitalistischen
Gesellschaft in eine »höhere Gesellschaftsform, […] deren Grundprinzip
die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist« (Kommunismus), auf
dem Wege der »Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmassen«
(MEW 23:618 & 791).[1]
Und Hirschfeld formuliert ebenfalls ein rechtssozialdemokratisches Emanzipationsziel,
das sich im Revolutionsjahr 1919 so anhört: »Durch die Wahlbeteiligung
aller muß ganz naturgemäß die große Mehrzahl der Arbeitenden das Übergewicht
erlangen über die Minderheit der Arbeitgeber. Das ist die natürliche Auswirkung
der wahren Demokratie. Dies und nichts anderes hat Karl Marx gemeint, wenn er
von der Diktatur des Proletariats spricht in der ganz richtigen Vorstellung,
daß die Mehrheit der Besitzlosen oder der weniger Besitzenden die Oberhand
und damit die Entscheidung über das Ganze bekommen muß.« (Hirschfeld 1919:
13) Abgesehen von der kurzen Phase unmittelbar nach dem Weltkrieg fand Hirschfelds
messianischer[2]
Kampf für Gerechtigkeit durch Wissenschaft allein auf sexualpolitischem
und sexualreformatorischem Terrain statt; Anfang 1931, kurz bevor er das
zunehmend vom Naziterror zerrüttete Deutschland verließ, konstatierte
er das Scheitern dieses Kampfes: »Ich muß auf Grund meiner Erfahrung
feststellen, daß ich mit meinen Bemühungen, die Gesetzgebung des bürgerlichen
Deutschlands in der Frage des Sexualstrafrechts im Sinne einer Beseitigung
des sexuellen Bevormundungsrechts zu beeinflussen, gescheitert bin.«
(Hirschfeld 1931:XII) Dennoch hat der Sozialdemokrat Hirschfeld bis zum
Schluss auch im Exil den Kampf nicht aufgegeben und war sich mit seinen kommunistischen
Freunden vermutlich darin einig, dass es um eine Gesellschaftsform geht, in der
die volle und freie Entwicklung jedes Individuums gewährleistet ist. 2. Eine Klarstellung ist der folgenden Skizze vorauszuschicken: Der Untersuchungsgegenstand im Kapital und den dazugehörigen Schriften ist nicht die Genese und Entwicklung des bürgerlichen Individuums, vielmehr geht es um die Kritik der politischen Ökonomie, der »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« (MEW 13:8), um die kritische Darstellung ihrer Genese, Entwicklung und der Bedingungen der Möglichkeit ihrer Transition. Die Individuen kommen in diesen Texten nur als Träger von Beziehungen untereinander vor, soweit sie im Zeichen der Verdinglichung als Beziehungen von Sachen erscheinen. Für die kapitalistische Gesellschaftsformation gilt, sofern es um ihren allgemeinen Begriff geht, wie für alle anderen auch: »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn.« (GR:176) Sozusagen quer zu ihrer Klassenstruktur, aber mit dem warenproduzierenden Lohnarbeiter als Ursprung, produziert diese bürgerliche Gesellschaft einen charakteristischen Menschen-Typus, den »vereinzelten Einzelnen«, dessen Arbeit »sich im Tauschwert darstellt«; das geschieht »durch die Gewohnheit des täglichen Lebens, die es als trivial, als selbstverständlich erscheinen läßt, daß ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis die Form eines Gegenstandes annimmt, so daß das Verhältnis der Person in ihrer Arbeit sich vielmehr als ein Verhältnis darstellt, worin Dinge sich zueinander und zu den Personen verhalten«. (MEW 13:21) Einmal datiert Marx den Beginn dieser Entwicklung auf das 18. Jahrhundert, wo dieser Standpunkt »des vereinzelten Einzelnen« erzeugt wird. Er nennt diese Epoche »die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse« (GR:6), meint damit also seinen damaligen und wie ich meine auch unsern heutigen Kapitalismus. Er ist unter anderm charakterisiert durch das bürgerliche Bewusstsein der Warenproduzenten, »die keine andre Autorität anerkennen als die der Konkurrenz, den Zwang, den der Druck ihrer wechselseitigen Interessen auf sie ausübt, wie auch im Tierreich das bellum omnium contra omnes die Existenzbedingungen aller Arten mehr oder minder erhält« (MEW 23:377). Schon seit dem 17. Jahrhundert begann die Produktion des doppelt freien Lohnarbeiters in England, indem »das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert« wurde: »die sogenannte ursprüngliche Akkumulation« (MEW 23:765). Der einzelne Lohnarbeiter, der auf dem Arbeitsmarkt seine Arbeitskraft, die ihm gehörende Ware, verkauft, steht dort in Konkurrenz zu seinen Klassenschwestern und -brüdern, was das Empfinden, ein vereinzelter Einzelkämpfer um den besten Preis zu sein, die Selbstwahrnehmung als freies und gleiches, womöglich noch autonomes Individuum begünstigt. Die Zufriedenheit mit dem gerechten Tausch Arbeitskraft gegen Arbeitslohn verwandelt sich aber, wenn Verkäufer und Käufer, Lohnarbeiter und Kapitalist, auf dem Weg in die Produktionssphäre den Markt verlassen: »Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen hat und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.« (MEW 23: 191) Die Gerberei aber, wo dem Auszubeutenden das Fell über die Ohren gezogen wird, ist die Sphäre, der Marx den Namen »Maschinerie und große Industrie« gab, und die sich als eine Welt der Verwirrung der Gefühle für das Individuum erweist. Denn es lernt nicht nur, dass es nicht allein arbeitet, sondern erlebt den »kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses« als »technische Notwendigkeit« (MEW 23: 407). Als Moment in diesem Arbeitsprozess haben die Produzenten aber »aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital einverleibt. Als Kooperierende, als Glieder eines werktätigen Organismus, sind sie selbst nur eine besondre Existenzweise des Kapitals« (MEW 23:352), Arbeitsbedingungen und Arbeitsprodukt erhalten gegenüber den Produzenten eine »entfremdete Gestalt« (MEW 23:455). Das arbeitskraftbesitzende Individuum unterliegt zudem einer »geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« zum Anwachsen der »Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse« (MEW 23:791). Die Erfahrung der kollektiven Empörung, sowie in gewissem Gegensatz dazu die Wirkung von »Erziehung, Tradition, Gewohnheit«, welche die Arbeiterklasse dazu bringt, »die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze« anzuerkennen (MEW 23:765), ist schwer vereinbar mit der entgegengesetzten Erfahrung doppelter Freiheit der »atomistischen Privatpersonen« (GR:928) auf dem Arbeitsmarkt mit seinem trotz aller Regulierung dschungelmäßigen Konkurrenzregime, dem von Marx öfter erwähnten Hobbesschen bellum. Weiter verkompliziert wird die Situation durch die Erfahrungen außerhalb von Zirkulation und Produktion in der Sphäre der individuellen Konsumtion (Freizeit), wo die »Fortvegetation […] von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen« (MEW 23:15) in Hobby- und Vereinswesen, Drogensubkulturen, ›Spiritualität‹ (Religion, Astrologie, Psychotherapie), sexualmoralischen Traditionen und dergl. wegen der relativen Ferne zur Produktionssphäre besonders veränderungsresistent fortlebt. Wie diese drei Gesellschaftssphären – Zirkulation, Produktion, individuelle Konsumtion – zur Erzeugung und Entwicklung einer für die kapitalistische Gesellschaftsformation charakteristischen Individualität beitragen, gehört ebenso wenig zum Gegenstand der vorliegenden Erörterung wie sozialpsychologische und regionalhistorische Aspekte der Herausbildung des bürgerlichen Typs. Es geht hier lediglich um die Darstellung dieser Entwicklung als Moment der Kritik der politischen Ökonomie und des Kapitalismus. Auf einer fortgeschritteneren Stufe dieser Entwicklung war so die Formulierung der sexualwissenschaftlichen Lehre von den sexuellen Zwischenstufen durch Hirschfeld als ein epochal neues Bild vom Menschen möglich geworden. Meine
These ist demnach, dass die Entwicklung des vereinzelten Einzelnen am Ende
des 19. Jahrhunderts weit genug fortgeschritten war, um eine zunehmend
differenzierte und zunehmend verwissenschaftlichte Sicht auf die Individuen
und der Individuen auf sich selbst zu ermöglichen, womit sich vor allem im
deutschen Sprachraum, aber auch in England, Frankreich und Italien, bald auch
in den USA die neue Wissenschaft vom menschlichen Geschlechtsleben, die Sexualwissenschaft
entwickeln konnte. Maßgeblich beteiligt an der Entstehung der neuen
Wissenschaft war der sozialdemokratische Arzt und Schriftsteller Magnus
Hirschfeld (1868-1935), der, inspiriert von Darwins Evolutionslehre, die von
dem Zoologen Ernst Haeckel in Deutschland popularisiert wurde, sowie von August
Bebels Die Frau und der Sozialismus (1. Aufl. 1883) und Richard von
Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1. Aufl. 1886) mit Sappho und
Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des
eigenen Geschlechts? die erste Fassung der Lehre von den sexuellen Zwischenstufen
als Versuch der Auflösung der Geschlechtsbinarität vorlegte (vgl. Herzer 2001:104
ff.) 3. Ein grundlegender Gedanke der Marxschen Kritik betrifft den Nachweis der historischen Gewordenheit wie der Vergänglichkeit oder Überwindbarkeit der kapitalistischen Produktionsweise gegen die Grunddoktrin der damaligen »modernen Ökonomen, die die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozialen Verhältnisse beweisen« (GR:7). Auch Marx sieht zwar, dass es abstrakte Momente in jedem Arbeitsprozess gibt, »ewige Naturbedingungen des menschlichen Lebens […] allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam« (MEW 23:198), es geht ihm aber gerade um die Bestimmung derjenigen Momente, die die kapitalistische Produktionsweise von allen bisher dagewesenen Formationen unterscheiden. Und hier steht ein Begriff im Mittelpunkt, der den Kapitalismus im historischen Prozess verortet: transitorische Notwendigkeit. »Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht, das, wie der geistreiche Lichnowski sagt, keinen Datum nicht hat. Nur soweit steckt seine eigne transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Aber soweit sind auch nicht Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Motiv. Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.« (MEW 23:618) Dies bedeutet zugleich, dass die Individuen unter dem Regime dieser Produktionsweise mit ihrem Gepräge der »vereinzelten Einzelnen« ebenfalls notwendige Vorstufen jener im Postkapitalismus frei sich entwickelnden Individuen sind. Die kapitalistische Tendenz zur Reduktion der Individuen auf Waren- und Geldbesitzer, deren gesellschaftlich relevanteste Eigenschaft die Wertgröße ist, impliziert eine weitere Tendenz: die Abstraktion von allen anderen traditionell bedeutsamen Eigenschaften, wie zum Beispiel das Geschlecht. Man könnte die Rede der Grundrisse von der völligen Entleerung der Individuen im Kapitalismus in diesem Sinne interpretieren: »In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht, – erscheint diese Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck.« (GR: 387) Die Sexuiertheit der Menschen als Mann oder Frau ist eine der traditionellen Eigenschaften, die unter dem Regime der Verwertung des Werts tendenziell bedeutungslos werden. Das Geschlecht des Bankdirektors, des Verteidigungsministers, des Premierministers, des Gewerkschaftsvorsitzenden, des Gefängnisdirektors usw. verliert in der »moderne[n] Welt, wo die Produktion als Zweck des Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion erscheint« (ebd.), zunehmend an Bedeutung. Parallel dazu wird im wissenschaftlichen Bewusstsein die Relativität der binären Geschlechterzuweisung zur Sprache gebracht bis hin zu Magnus Hirschfelds Vorstellung: »Alle Menschen sind intersexuelle Varianten« (Hirschfeld 1986:49).[3] An
den beiden Stellen, wo in den Grundrissen von der völligen Entleerung
der Individuen im Kapitalismus die Rede ist, betont Marx das Transitorische
dieses Zustands: »In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift
wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte
Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkraft etc.
der Individuen?« (GR:387); und: »Die universal entwickelten Individuen,
deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen
Beziehungen auch ihrer eignen, gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind,
sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte.« (GR:79) 4. In der Kritik der politischen Ökonomie spielt die binäre Geschlechterordnung keine Rolle und wird lediglich in den illustrierenden historischen Einschüben erwähnt, die die logische Entfaltung des Kapitalbegriffs unterbrechen und zum Beispiel beschreiben, wie »die Herren Fabrikanten« mit »zynischer Rücksichtslosigkeit, mit terroristischer Energie« den Normalarbeitstag für Frauen und für 8-jährige Kinder auf zehn Stunden begrenzen (MEW 23: 302). Marx und Engels wussten von der »weltgeschichtliche[n] Niederlage des weiblichen Geschlechts«, für die auch im 19. Jahrhundert galt: »beseitigt ist sie keineswegs« (MEW 21:61). Sie wussten aber auch, dass »die kapitalistische Exploitationsweise« mit ihrer furchtbaren und ekelhaften Auflösung des alten Familienwesens zugleich »mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen zuweist […] die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter« schafft (MEW 23: 514). Diese höhere Form hat zur Voraussetzung, dass die beiden Geschlechter auch außerhalb des Vollzugs der »individuellen Geschlechtsliebe« (MEW 21:78 ff.) sich wechselseitig als Individuen und nicht bloß als Repräsentanten eines Geschlechts erkennen. Sie erkennen dann, dass ein jedes auf einzigartige Weise das irgendwie idealtypisch vorgestellte Geschlecht verkörpert. Soweit ich sehe, hat Schopenhauer in der dritten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung (1854) diesen Sachverhalt zuerst formuliert und mit einem dem Zeitgeschmack entsprechenden Werturteil versehen: »Die Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospadiäus sinkt, diese bis zur anmutigen Androgyne steigt.« (Schopenhauer 1987: 709; vgl. Herzer 1998) Dieses Wissen der Physiologen von Anmut und Widerlichkeit, das der Philosoph in seiner »Metaphysik der Geschlechtsliebe« mitteilt, kam bei Marx und Engels naturgemäß nur am Rande aber mit ähnlicher Bewertung zur Sprache, etwa wenn Engels »die Widerwärtigkeit der Knabenliebe« als »Entwürdigung« verurteilt (MEW 21:67) oder wenn Marx für seinen offensichtlich schwulen Freund Wilhelm Strohn ein »Päderastenbuch« von Engels zurückerbittet (MEW 32:421). Die Grenzen, Überschneidungen und Vermischungen von »Mannheit und Weiblichkeit« hatten aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehreren Autoren[4] thematisiert und konnten so eine Voraussetzung für Hirschfelds Entwurf der Lehre von den sexuellen Zwischenstufen werden, die hier als eine Konkretisierung des Marxschen Konzepts des Individuums in der kapitalistischen Gesellschaft interpretiert werden soll. In der frühen sexualwissenschaftlichen Abhandlung Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? skizziert Hirschfeld seinen Ausgangspunkt und behauptet: »In der Uranlage sind alle Menschen körperlich und seelisch Zwitter«; er geht dabei von einer Beobachtung der Physiologen aus, dass die menschliche Frucht im Mutterleib bis zum Ende des dritten Monats »vollkommen ungeschlechtlich (oder besser zweigeschlechtlich)« ist (Hirschfeld 1896:9 f.) In Sappho und Sokrates spricht er zwar nur von der embryonalen Entwicklung, die alle Menschen als Zwitter erscheinen lässt, darüberhinaus findet man aber schon die Behauptung, dass alle scheinbar qualitativen Unterschiede zwischen den Geschlechtern »lediglich quantitativer Natur« sind (ebd.:13). Den Kerngedanken seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen hat Hirschfeld 1899 erstmals formuliert: »So sehen wir, dass die Behauptung, sämtliche Geschlechtsunterschiede seien nur Gradunterschiede ›bis aufs Haar‹ stimmt. In einigen Stücken hat das Weib, in anderen der Mann eine höhere Stufe der Entwicklung erklommen; allein, alles, was das Weib besitzt, hat, wenn auch in noch so kleinen Resten der Mann ebenfalls und ebenso sind bei jedem Weibe Spuren aller männlicher Eigentümlichkeiten nachzuweisen.« (Hirschfeld 1899:15) Dieser Gedanke wird in den folgenden Jahren weiter radikalisiert bis zu der Behauptung, dass jeder Mensch »ein Geschlecht für sich bildet« (Hirschfeld 1903:127) und schließlich heißt es in der erweiterten Fassung des Vortrags vor der 76. Naturforscherversammlung in Breslau im September 1904: »Sehr streng wissenschaftlich genommen, dürfte man in diesem Sinne gar nicht von Mann und Weib sprechen, sondern nur von Menschen, die größtenteils männlich oder größtenteils weiblich sind.« (Hirschfeld 1905:4) In
jüngerer Zeit gab es eine Kontroverse über die Frage, ob Hirschfeld mit dieser
»sehr streng« wissenschaftlichen Sicht auf die Geschlechter eine »Dekonstruktion«
oder »Auflösung« des Sexualbinomiums Mann/Frau vollzieht, das er als bloße
»Fiktion« erkennt (Bauer 2007:109) oder ob seine neue Auffassung der unendlich
vielen Geschlechter zur althergebrachten Binarität in einem Verhältnis
der Komplementarität zu sehen sei. Letzteres würde bedeuten, dass die alten
starren Grenzen zwischen Adam & Eva, – die neben sich nur etliche Verschnittene,
»die sind aus Mutterleibe also geboren« (Matt.19,12) dulden − zwar
nicht wegfallen, aber doch gewissermaßen verflüssigt werden. Wenn Hirschfeld
die Fiktion der zwei Geschlechter »unentbehrlich« nennt (Hirschfeld 1923:23)
und wenn er zudem ein überschwängliches Loblied auf das »mütterliche Weib«
singt[5],
dann wird meiner Ansicht nach klar: die Zwischenstufenlehre ist nicht als
substituierendes, sondern als ergänzendes Einteilungsschema zu verstehen. 5. Man könnte sagen, dass die Bestimmungen Mann/ Frau zur Bestimmung Zwischenstufe in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehen. »In gewisser Art geht’s dem Menschen wie der Ware.« (MEW 23:67) Diese witzige Bemerkung betrifft zwar den Sachverhalt, dass die Menschen sich selbst nur als Menschen wahrnehmen und sich wechselseitig als »Erscheinungsform des Genus Mensch« gelten lassen können, indem sie sich wechselseitig aufeinander beziehen; in gleicher Weise kann man die konkrete Bestimmung des Menschen als Mann oder Frau mit dem konkreten Gebrauchswert der Ware vergleichen und die abstrakte Bestimmung als einzigartige Zwischenstufe mit dem abstrakten Warentauschwert. Man muss vielleicht gar nicht die Dialektik bemühen, um die Vereinbarkeit mehrer widersprüchlicher Bestimmung des Menschen denken zu können. In dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, dessen ersten Teil der österreichische Dichter und entschiedene Antidialektiker Robert Musil 1931 vorlegte, findet sich ein Gedanke, der die widersprüchlichen Bestimmungen oder vielfältigen Charaktere der Menschen oder Erdbewohner sehr poetisch und ziemlich treffend ausdrückt: »Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.« (Musil 1970:34)[6]. Selbst wenn man − ähnlich wie Bauer die Zwischenstufenlehre als »eine Art fundamentum inconcussum in sexualibus« (Bauer 1998:30) – im zehnten Charakter (den Musil ironischerweise die passive Phantasie unausgefüllter Räume nennt) die Basis für die restlichen Charaktere sieht, heißt das nicht, dass der zehnte weniger real oder »fiktional« ist als die andern. Der zehnte grundlegende Charakter färbt oder überformt vielleicht die anderen Charaktere, ähnlich wie man sich den Zwischenstufencharakter bei Hirschfeld, die individuelle Mischung aus Weiblichkeit und Männlichkeit, als Überformung oder Färbung aller andern Charaktere des Menschen vorstellen kann. 1933, als die Nazis in Deutschland die Macht übernommen hatten, notierte der exilierte Hirschfeld in seinem Tagebuch folgenden Gedanken: »Die Frage: Wohin gehörst Du – was bist du eigentlich? lässt mir keine Ruhe. Formuliere ich die Frage: ›Bist Du ein Deutscher – Jude – oder Weltbürger?‹ so lautet meine Antwort jedenfalls ›Weltbürger‹ oder ›alles drei‹.« (nach Dose 2005:44). Zwar ließ ihm die Frage keine Ruhe, dass aber alle drei Bestimmungen zutreffen und in ein und derselben Person unterkommen könnten, war für ihn vorstellbar, so wie er sich eine sexuelle Zwischenstufe vorstellen konnte, die zugleich eine Frau, eine Weltbürgerin und vieles andere mehr ist.[7] Judith
Butler stößt, sozusagen aus der entgegengesetzten Richtung wie Bauer argumentierend,
in ihrer Kritik an der französischen Kämpferin für Lesbenemanzipation
Monique Wittig auf das auch für sie unlösbare Problem, Zweigeschlechtlichkeit
und unendliche Geschlechtervielfalt gleichzeitig zu denken. Nachdem sie
Wittigs Position, »daß die binäre Formulierung des Geschlechts fragmentiert
und vervielfältigt werden muß, bis sie den Punkt erreicht, an dem sich diese
Binarität selbst als kontingent offenbart«, korrekt referiert hat, wendet
sie dagegen ein: »Die schrankenlose Vervielfältigung der Geschlechter führt
mit logischer Notwendigkeit zur Negierung des Geschlechts als solchem. Wenn
die Anzahl der Geschlechter der Zahl der Individuen entspricht, läßt sich die
Kategorie ›Geschlecht‹ nicht mehr als allgemeiner Terminus anwenden: Das Geschlecht
eines Individuums wäre eine radikal einzigartige Eigenschaft, die nicht
mehr als sinnvolle, deskriptive Verallgemeinerung fungieren könnte.«
(Butler 1991: 176) Butler zeigt hier keineswegs, wie sie glaubt, eine logische
Notwendigkeit auf, vielmehr erkennt sie nicht, dass die Kategorie Geschlecht
durchaus auf unterschiedlichen logischen Ebenen unter Betonung unterschiedlicher
Aspekte der »Kategorie« verwendet werden kann. Beispielsweise wenn man wie
Hirschfeld argumentiert, der, nachdem er ausgeführt hat, dass man nicht von
Mann und Weib, sondern nur von Menschen sprechen sollte, die größtenteils
männlich oder größtenteils weiblich sind, schreibt: »Bezeichnet man aber
diejenigen, die vorwiegend männliche Qualitäten besitzen, kurzweg als
genus masculinum, und alle, die vorwiegend weibliche Eigenschaften haben,
einfach als genus femininum, so wäre man wohl berechtigt, diejenigen, bei
denen die Summe des männlichen und weiblichen Anteils zwischen 33 ⅓ und 66⅔ liegt, als eine Art
genus tertium aufzufassen.« (Hirschfeld 1905:4) Anders als Bauer, Butler oder
Wittig geht es Hirschfeld um die Verdeutlichung des Gedankens, dass ein
Mensch sowohl ein Mann oder eine Frau als auch eine sexuelle Zwischenstufe
sein kann, ähnlich wie Hirschfeld für sich selbst beanspruchte, Deutscher und
Jude und Weltbürger zugleich zu sein. Dieser Gedanke Hirschfelds, der ihn
später veranlasste, eine »Typologie« der Geschlechter zu postulieren (GK 1:540),
könnte auch so formuliert werden: Das Begriffspaar Mann/Frau ist im Begriff
der sexuellen Zwischenstufen aufgehoben – zerstört und weiterentwickelt
zugleich − , und wenn man künftig von Männern und Frauen spricht, dann in
dem Sinne, dass Männer sowohl Männer wie Frauen sind, und Frauen ebenfalls
sowohl Männer wie Frauen; ähnlich sind im Begriff Mensch aufgehoben: das Kind
und der Greis, die Frau, der Zwitter, der Mann, der Jude, der Deutsche, die
Mutter etc. 6. In den Transvestiten erörtert Hirschfeld eingehender die Frage, was man sich unter Männlichkeit und Weiblichkeit vorstellen könnte. Gleich zu Anfang stellt er fest: »Die Trennung der Menschheit in eine männliche und weibliche Hälfte gehört zu den Lehr- und Leitsätzen, die jedermann in Fleisch und Blut übergegangen sind.« (Hirschfeld 1910:3). Zwar unterliege die Realität dieser Zweiheit »keinem Zweifel«, es wäre aber verfehlt, »stellt man sich beide als zwei völlig von einander gesonderte Einheiten vor; im Gegenteil, die stets vorhandene Verschmelzung beider in einem, ihr unendlich variables Mischungsverhältnis, das damit beginnt, dass bereits der männliche Same und das weibliche Ei jedes für sich mann-weibliche, hermaphroditische Gebilde sind, dieser Monismus der Geschlechter ist der Kernpunkt für Entstehung und Wesen der Persönlichkeit.« (ebd.:4). Später erörtert er »die Hauptschwierigkeit und Strittigkeit« der Erklärung dessen, was männlich und weiblich eigentlich sei (ebd.:275 ff.) und kann dabei, indem er sich der Mehrheitsmeinung der Physiologen seiner Zeit sowie der avanciertesten Frauenrechtlerinnen anschließt, jener Hauptschwierigkeit nicht entgehen. Mit Wilhelm Ostwald und anderen glaubt er, »der Mangel an genialischen Leistungen und epochalen Schöpfungen« könnte durch »die natürliche Beschaffenheit der Frauen an und für sich« zu erklären sein (ebd. S. 277 f.); immerhin fügt er sogleich abschwächend hinzu, »dass wir das Mass geistiger Leistungsfähigkeit beim Weibe nach Quantität und Qualität exakt abzuschätzen bisher noch nicht recht in der Lage sind, dass es sicherlich durch Uebung noch wesentlich gehoben werden kann, und dass es völlig unrichtig ist, wenn Weininger und andere ›Antifeministen‹ sich dahin äussern, ›dass niemals ein wirkliches Weib die Forderungen der Frauenemanzipation erhebe, sondern dass dies durchweg nur männlichere Frauen tun, die ihre eigene Natur missdeuten und die Motive ihres Handelns nicht einsehen, wenn sie im Namen des Weibes zu sprechen glauben‹. (Weininger: Geschlecht und Charakter, Seite 89.)« (ebd.:278). Schließlich gilt für die Intelligenz eines Menschen, dass sie wie »auch der kleinste Teil in Körper, Seele und Geschlecht des Menschen männlich oder weiblich betont ist«, aber: »Im Grunde genommen ist jedes Individuum ein Typus für sich« (GK 1:539 f.) Meinen
früheren Einwand gegen die Zwischenstufenlehre, Hirschfeld habe die menschlichen
Eigenschaften einem dem tradierten Alltagsverständnis von Männlichkeit/Weiblichkeit
entnommenen und es unhistorisch der Biologie zugeschlagen (Herzer 2001: 106),
bedarf im vorliegenden Zusammenhang einer Revision. Mit J. Edgar Bauer, dem
in diesem Punkt uneingeschränkt zuzustimmen ist, wäre hier auf den »deskriptiven,
d.h. nicht-ätiologischen Status der Zwischenstufenlehre« hinzuweisen;
ferner ist zu betonen: »Da die Zwischenstufenlehre […] kein Erklärungsmodell
liefert, sondern ein offenes sexualdistributives Schema von potentiell
unendlichen Sexualkonstitutionen aufstellt, führt Hirschfelds Einbezug
der biologischen Gegebenheiten zu keiner Fixierung des Begehrens oder der
Sexualorientierung nach dimorphistischen Kriterien, sondern zu einer
radikalen Entgrenzung der Sexualkombinatorik zwischen Individuen, die
ausnahmslos sexuelle Zwischenstufen darstellen.« (Bauer 2005:13) Wenn Hirschfeld
sowohl biologische Gegebenheiten als auch Psychisches als männlich oder
weiblich klassifiziert und damit an die Vorstellungen des zeitgenössischen Alltagsbewusstseins
anknüpft, dann könnte auch dies aus heutiger Sicht als Moment in dem Prozess
der Transition der Individuen der bürgerlichen Gesellschaft hin zum universal
entwickelten Individuum des Kommunismus interpretiert werden. Sie sind,
wie erwähnt »kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte« (GR:79). 7.
Der für Hirschfelds Zwischenstufenlehre grundlegende Satz Tout va par degrés
dans la nature et rien par sauts[8]
verliert dann seinen Wahrheitsgehalt, wenn man ihn verabsolutiert. Bedenkt
man nicht, dass das Gegenteil dieses Satzes, nämlich: Der qualitative Sprung
gehört zum Naturgeschehen ebenfalls einen zu jenem konträren Wahrheitsgehalt
besitzt, dann sieht man die Welt als unendliches amorphes Kontinuum und ewig
gleich fließenden heraklitischen Fluss, wo die Unterscheidungen, Regelhaftigkeiten
und Ordnungen von außen und willkürlich an die Naturphänomene herangetragen
wurden. Vergisst oder verleugnet man eine Dialektik von Kontinuität/Diskontinuität,
von Evolution/Revolution, Quantität/Qualität, Individuierung/Vergesellschaftung,
dann »wird […] die Unterscheidung zwischen Realitätsebenen, zwischen
Fiktionen und Wirklichkeit, zwischen Alltagspraxis und außeralltäglicher
Erfahrung, zwischen entsprechenden Textsorten und Gattungen unmöglich, ja
sinnlos.« (Habermas 1992:247)[9]
Anders als Bauer, der die Zwischenstufenlehre »als eine entscheidende
Ergänzung von Max Stirners Kritik der anthropo-theologischen Grundvoraussetzungen
des Abendlandes« deutet und so der poststrukturalistischen Verdrängung
der Wissenschaft durch Foucaultsche Genealogie einen neuen Akzent hinzufügt,
entgeht Hirschfeld der irrationalistischen Versuchung, bei der Auflösung
der Geschlechterbinarität in unendlich viele Geschlechter stehen zu bleiben.
Vielmehr sieht er in der gesellschaftlichen Realität der »Sexualtypen Mann
und Weib«, deren Gegensätzlichkeit »bei weitem nicht so scharf umrissen«
ist, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat, den prominenten
Forschungsgegenstand der Sexualwissenschaft (GK 1:5). Mit der Soziologin
Mathilde Vaerting verlangt er, »das Ideal der Gleichberechtigung der
Geschlechter dauernd zu verwirklichen und jede eingeschlechtliche Vorherrschaft
[…] fernzuhalten.« (GK 1:490). Frauen und Männer hält Hirschfeld zwar für »gleichwertig
und gleichberechtigt«, sieht sie aber nicht »körperseelisch von gleicher
Beschaffenheit« (ebd.) Und diese Beschaffenheit, die die »Teilung der Arbeit
zwischen den Geschlechtern« bei der Fortpflanzung einschließt (GK 1:490 ff.),
scheint mir Hirschfelds stärkstes Argument gegen eine Verabsolutierung des
Zwischenstufenkonzepts und einer endgültigen Verabschiedung der binären
Geschlechterordnung zu sein. 8. Volkmar Sigusch beschwört als alttestamentlicher Prophet immer wieder die Gefahren, die von Hirschfelds Lehre für eine »kritische Sexualwissenschaft« ausgehen: »1995 prophezeite ich, die wirkliche Hirschfeld-Renaissance werde erst noch kommen, weil er im Grunde ›postmoderne‹ Topoi versammele« wie z.B. »sexogenetische Buntscheckigkeit als Widerpart des kulturellen Bigenus, Auflösung der alten Geschlechts- und Sexualformen durch so viele ›Zwischenstufen‹ wie es Menschen gibt« usw; zu Hirschfelds postmodernen Spätfolgen zählt Sigusch auch: »die Hormone und die Gene, die Kastrationen, Geschlechtsumwandlungen, Penisprothesen, stereotaktische Hirneingriffe, extrakorporalen Züchtungen, das H-Y-Antigen, das Xq 28 und die Genchirurgie« (Sigusch 2008:210). Die Zwischenstufenlehre wurde demnach nicht einfach von einem »wissenschaftlich konfuse[n]« (ebd.: 223) und »roh[en]« (ebd.:383), von naiver »Wissenschafts- und Aufklärungsgläubigkeit« (ebd.: 449 u.ö.) gezeichneten »Kompilator und Kolporteur« fabriziert, sie ist darüberhinaus auch bedrohlich, wenn auch nicht wirklich kryptofaschistisch, weil sie »die Verbesserung des Menschengeschlechts mittels Zwangskastration und Zwangssterilisierung« propagiert (ebd.:383). Die Gefahr wird von Sigusch jedoch als nicht sehr groß eingeschätzt, da Hirschfeld wie erwähnt ein bloßer Kompilator und Kolporteur und »als Theoretiker viel zu unbedeutend war«, um für die Nazis vonnutzen sein zu können (ebd.:386). Abgesehen davon, dass Sigusch dem Werk Hirschfelds den wissenschaftlichen Charakter und Wert generell abspricht, leidet seine Hirschfeld-Kritik unter der fehlenden Reflexion der eigenen Rolle als nachgeborener Kritiker: Sigusch begnügt sich mit einer mokant retrospektiv wertenden Geschichtsschreibung. Dass wir Heutigen aufgrund der historischen Erfahrung (und des wissenschaftlichen Fortschritts) besser wissen, was es mit der Eugenik auf sich hat, scheint er für sein persönliches Verdienst zu halten, mit dem er seine Überlegenheit über den rohen Hirschfeld begründet. Dass Hirschfeld, dem die Gnade der späten Geburt nicht zuteil wurde, über dieses bessere Wissen noch nicht verfügte, macht Sigusch ihm zum Vorwurf.[10] Wie schon öfter zitiert Sigusch auch in seiner Geschichte der Sexualwissenschaft das für heutige Leser wirklich entsetzliche Wort von der »Ausjätung schlechter Menschenkeime« (ebd.:379), mit dem Hirschfeld die Zwangssterilisierung »in ganz besonders schweren Fällen« (GK 3:47) billigte. In diesem Punkt muss man dem Hirschfeld-Kritiker beipflichten, obwohl er nicht sieht, wie wohlfeil diese verspätete Kritik zu haben ist. Vollends fragwürdig wird diese Kritik angesichts des Schweigens, das Siguschs zu vergleichbaren Praktiken in der Gegenwart für angebracht hält: Im letzten Kapitel seines Geschichtswerks, das für die kritische Sexualwissenschaft »eine Standortbestimmung am Ende des 20. Jahrhunderts« ankündigt (Sigusch 2008: 510), wird das heute übliche Verfahren zur Ausjätung schlechter Menschenkeime, die zeitgemäß Präimplantationsdiagnostik (PID) heißt, und deren Vorgängerpraxis, der Schwangerschaftsabbruch in Fällen, wo pränatale Diagnostik eine Schädigung des Fötus feststellt, schlichtweg tabuisiert; die heutigen Formen der Vernichtung lebensunwerten Lebens sind kein Thema für den kritischen Sexualwissenschaftler. Nach dem Muster Sind-wir-nicht-alle-ein-bisschen-Hirschfeld? schreibt Sigusch schließlich, irgendwie versöhnlich und wohl auch als vorsorgliche Abwehr gegen den Vorwurf, er habe mit seiner radikalen Hirschfeld-Kritik, dieser sei mit seiner Teilhabe am »biologistisch-somatologisch-eugenischen Diskurs«, den die Nazis nach ihrer eigenen Opportunität genutzt hätten, Hirschfeld eine Mitschuld an deren 1933er Sieg zugeschoben: »Da es wirklich ein Diskurs und nicht irgendeine Diskussion ist, plappern wir alle mehr oder weniger mit.« (ebd.:386) Im letzten Kapitel seiner Geschichte der Sexualwissenschaft sucht Sigusch den Anschluss an die »Queer Theory« und übt sich im Nachplappern Hirschfeldscher Kolportagen, wenn er unter den bereits seit Jahren von seiner kritischen Sexualwissenschaft geteilten Einsichten aufzählt, »dass die kulturelle binäre Geschlechtsidentität allein schon klinisch eine Schimäre ist« (ebd.:537). Ein Unterschied zwischen Siguschs klinischer Schimäre und Hirschfelds »Fiktionen« (Hirschfeld 1923:24) ist auch deshalb nur schwer zu erkennen, weil Sigusch die klinische Schimäre an keiner Stelle seines voluminösen Geschichtswerks expliziert. Einmal wird versichert, »in der Geschlechterdifferenz selber steckt« eine Dialektik, »weil sie […] ein durch und durch Vermitteltes ist, […] weil sie nicht nur ein Niederschlag im Unbewussten und eine Tatsache des Bewusstseins ist, sondern beides selbst produziert. Daraus ergibt sich, dass das Geschlechtliche und das Sexuelle nicht nur dissoziiert sind, sondern ineinander liegen.« (Sigusch 2008:534). Um diese Vermittlung nicht nur in abstrakten Redensarten anzudeuten, hätte sich Sigusch aber viel zu weit auf gefährliches hirschfeldistisches Terrain wagen müssen. Das was er mehrmals orakelmäßig als »festen Kern« der Geschlechterdifferenz bezeichnet (ebd.:529, 535 u.ö.) und einmal als »biotisch-körperliches Fundament« (ebd.) wäre in einer wahrhaft kritischen Sexualwissenschaft das Fundament einer Dialektik der Geschlechterdifferenz; bei Sigusch wird dieses Fundament sozusagen ausgeklammert, und schließlich wird auch noch mit der unablässig wiederholten Warnung vor der »Wissenschaftsgläubigkeit« ernst gemacht und die komplette Sexualwissenschaft für irrsinnig erklärt: »Fielen Begehren und Lieben nicht auseinander, kämen Dauer und Intensität, Harmonie und Erregung zusammen, wüssten wir, was ein sexueller Rausch ist und könnten uns in ihn versetzen, scherten wir uns doch um wissenschaftliche Erörterungen überhaupt nicht, hielten wir doch Sexual-Wissenschaft für so irrsinnig wie sie tatsächlich ist« (ebd.:538 f., Herv. von mir, MH) – eine irrationalistische Dialektik der Gegenaufklärung, die sich nach einer »Metaphysik« oder »Meta-Physik« sehnt, die der unkritischen Sexualwissenschaft die Augen öffnen soll (ebd.:384 & 521). Beim
Werben um Annäherung zwischen kritischer Sexualwissenschaft und Queer
Theory gibt Sigusch einmal zu bedenken, dass der »neoliberale Turbokapitalismus«
letztere missbrauchen könnte, weil beide, Turbokapitalismus und Queer
Theory, die Menschen, die »euphemistisch immer noch Subjekte genannt«
werden, zurichtet mittels »Verflüssigung ihrer alten Identitäten, Bindungen,
Sicherheiten und Rechte«, der Kapitalismus praktisch und die Theory theoretisch
(ebd.: 537 f.) Siguschs kapitalismuskritische Einstellung ist bei der
Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie immerhin bis zur Analyse des Fetischcharakters
der Ware vorgedrungen[11].
Marx‘ Konzept der historischen transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen
Produktionsweise (vgl. MEW 25: 635 u.ö.) hat er nicht mehr rezipiert, so dass
er die Verflüssigung der alten Identitäten, Bindungen, Sicherheiten und
Rechte der Menschen nur als turbokapitalistischen Verfall und Niedergang,
nicht aber in ihrem Doppelcharakter registrieren konnte. Lenin hätte hier
sicherlich imperialistische Stagnation & Fäulnis diagnostiziert. 9.
»Die Frage nach der Auflösung der binären Sexualität« – , zu der Sigusch wie
gezeigt nur verschwommen und aus Sorge vor zu großer Nähe zu einem biologistischen
Diskurs widersprüchlich Stellung nimmt – , wird nach Bauer »heute nicht nur
von Vertretern der gender und queer studies, sondern auch innerhalb der
Biologie und verwandten Disziplinen gestellt« (Bauer 2005:13). Neuerdings
versucht Heinz-Jürgen Voß, den heutigen Forschungsstand der Biowissenschaften
im Lichte einer Queer Theory darzustellen, kann aber seinen Anspruch nicht
einlösen, »Alternativen zu binär-geschlechtlichen Deutungen« aufzuzeigen (Voß
2010:386). Nach einer Übersicht zur medizinischen Geschlechterforschung in
Europa seit dem 17. Jahrhundert fasst er den derzeitigen Forschungsstand
dahingehend zusammen, dass die Gene nicht von sich aus, sondern in einem
System von Wechselwirkungen mit der sie einhüllenden Zelle und mit dem
gesamten Organismus, in den die Zelle eingebettet ist, ein Geschlecht des
Embryos produzieren, das »individuell spezifisch« resp. »individuell und
vielfältig ausgeprägt« sein soll (ebd.:394 f.) Daraus folgert Voß, »dass
sich als geschlechtlich betrachtete Merkmale – Genitalien – individuell
unterschiedlich ausprägen, dass zahlreiche Kombinationen auch zwischen
heute als ›weiblich‹ und heute als ›männlich‹ betrachteten Merkmalen auftreten«
(ebd.:395). Merkwürdigerweise bricht er an dieser Stelle seine Argumentation
unvermittelt ab und versichert, dass es keine »natürlichen«, sondern nur
gesellschaftlich und, wie er einmal andeutet, zum Zweck der »Ungleichbehandlung
von Menschen« (ebd.:386) produzierte Anschauungen über die Zweigeschlechtlichkeit
des Menschen gebe. Voß scheint sich immerhin darüber im Klaren zu sein, dass
seine eigene Interpretation neuerer genetischer Forschungen nicht allein in
seinem Kopf spuken, sondern ähnlich gesellschaftlich produziert wurden wie
die überkommene Vorstellung von der menschlichen Zweigeschlechtlichkeit. Von
Hirschfelds Zwischenstufenlehre weiß er nichts, lediglich die
Schmetterlingsforschungen des Biologen Goldschmidt in den 1920er Jahren, die
ihn zur Konstruktion einer lückenlosen Reihe von Zwischenstufen zwischen
den Polen »typisch weiblicher« und »typisch männlicher« Insekten, Wirbeltiere
incl. Menschen veranlasste, erwähnt Voß kurz (vgl. ebd.:391; zu Goldschmidt
vgl. Satzinger 2004). Voß kritisiert Judith Butlers Annahme, »dass ›Frau‹ und ›Mann‹
mit je spezifischen Merkmalszuweisungen existieren«, wobei Butler sich auf
die nur »vermeintlich sichere körperliche Grundlage« bezieht, die »wir mit
Begriffen wie ›Hoden‹, ›Hodensack‹, ›Penis‹, ›Gebärmutter‹, ›Klitoris‹,
›Eierstock‹ belegen« (ebd.:386). Er sieht zwar mit Butler, dass »Körperlichkeit
in Gesellschaft bezeichnet wird«, kann aber offensichtlich nicht angeben, wie
solche Bezeichnungen oder »Deutungen« gesellschaftlich produziert werden und
dass allem Bezeichnen ein Bezeichnetes zugrunde liegt. Es geht ihm wie Feuerbach:
»er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit«,
als ob die genannten Begriffe zur Bezeichnung der körperlichen Grundlage
beliebig und willkürlich erfunden wurden und nicht vielmehr der Alltagserfahrung
entsprechen, dass manche Menschen einen Penis haben, andere eine Klitoris und
dass dieser Unterschied eine Rolle bei der sexuellen Partnerwahl spielt, diese
Erfahrung also dem gesellschaftlichen Leben entspringt, das »wesentlich praktisch«
ist.[12]
Voß geht mit seiner idealistischen Semantik nicht so weit wie Bauer, der nachweisen
will, dass Männer und Frauen bloße Fiktionen sind. (Bauer 2007:109) Bei Voß sollen
Alternativen zu binär-geschlechtlichen Deutungen nur »vorgestellt« werden,
ohne diese zu ersetzen. Seltsamerweise scheint Voss am Ende seines Aufsatzes
die Ankündigung vom Anfang irgendwie vergessen zu haben: die Vorstellung
der Alternativen fehlt. Voss schließt mit der wenig erhellenden Bemerkung,
dass Frau und Mann nach neuer biologischer Forschung nicht mehr als natürlich
different gesehen werden können. Die Ausdrücke Frau, Mann und natürlich setzt
er dabei in Anführungszeichen, ohne zu erläutern, was er sich dabei gedacht hat
(Voß 2010:395).
10. Soweit ich sehe, hat J. Edgar Bauer als erster auf Hirschfelds Bemühung hingewiesen, die Zwischenstufenlehre analog zur Geschlechtervielfalt für die Abwehr von Rassentheorien einzusetzen, die nach dem Sieg der Nazis in Deutschland zunehmend politisch-terroristischen Einfluss gewannen: »Der sexualwissenschaftlichen Aussage, daß alle Menschen sexuelle Zwischenstufen sind, entspricht die bio-anthropologische Feststellung, daß ›alle Menschen Bastarde‹ sind […] Die begründete Einsicht in die unendliche Fülle der Natur führt so zur Aufhebung sowohl der sexualdimorphistischen Kategorialität als auch der Einteilung der menschlichen Gattung in Rassen.« (Bauer 2002:89 f.) Bauer irrt jedoch, wenn er Hirschfelds kritische Revision der Rassentheorien auf die Zeit des Exils und die Arbeit Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr von 1935 datiert. Den Satz Hirschfelds: »Biologisch genau genommen sind alle Menschen Bastarde«, den Bauer aus der 1935er Arbeit als zentral hervorhebt, findet man bereits im zweiten Band der Geschlechtskunde von 1928, und zwar im Kontext der Darlegung seiner Sicht einer – wie man es nennen könnte – liberalen Eugenik[13] (GK 2:585). Er referiert dort die vielfältigen Ansichten zu den Menschenrassen, die seit dem 18. Jahrhundert in den Humanwissenschaften propagiert werden, weist die Unhaltbarkeit der damals immer bedrohlicheren Einfluss gewinnenden Ansicht von der Überlegenheit und Höherwertigkeit einer arischen Rasse nach und zeigt schließlich die Beliebigkeit und Willkür der Einteilung der Menschen in Rassen: »Schon Lamarck hat darauf hingewiesen, daß dieser Fülle der Erscheinungen gegenüber alle Einteilungen der Geschöpfe im letzten Grunde nur ›künstliche Hilfsmittel‹ sind; die Natur selbst, sagt er einmal, kennt weder Klassen noch Arten.« (GK 2:654) Andrerseits
kennt auch Hirschfeld die zeitgenössische Realität von Rassenhass und staatlich
sanktioniertem Rassismus, die gesellschaftlich wirkliche Existenz der
Menschenrassen; so notiert er etwa 1933 in seinem Exiltagebuch: »Der Tag des
Judenboykott – 1.IV.33 – wird nicht nur in der Geschichte der Judenheit fortleben!
Seither macht die Erniedrigung und Entwürdigung der Juden von Tag zu Tag
grössere Fortschritte und ist heute fast schon stärker wie die der Neger in
Amerika.« (nach Dose 2005:44) Der Vergleich der rassistischen Politik in den
USA und in Nazi-Deutschland in den 1930er Jahren funktioniert nur, wenn man
den Nazi-Begriff der jüdischen Rasse mit dem USA-offiziellen Begriff der
Neger-Rasse gleichsetzt. Dass hegemoniale politische Kräfte an die Existenz
von Menschenrassen und an die Verwerflichkeit von Rassenmischungen glauben,
bedeutet: Die Rassen gibt es in den genannten Gesellschaften tatsächlich,
weil es für die Landesbewohner so spontan und unmittelbar evident ist, ob
sein Gegenüber ein Neger ist oder nicht, wie er sich unbezweifelbar sicher
ist, ob er es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Damenimitatoren im
Tingeltangel und schwarz geschminkte hellhäutige Othello-Darsteller im
Theater bekräftigen diese Evidenz bloß. Die Rassen wie die Geschlechter besitzen
eine gesellschaftliche Realität, weil Menschen an sie glauben und
entsprechend handeln; und wenn einflusslose Wissenschaftler die Menschenrassen
und die Zweigeschlechtlichkeit als willkürliche Konstruktionen und als
»Phantom« nachgewiesen haben, dann kann dies die Gewissheit allenfalls auf
lange Sicht erschüttern und dies auch nur in dem Maß wie die Entwicklung der
Produktionsverhältnisse und des gesellschaftlichen Reichtums dafür Spielräume
eröffnen. 11. In Sappho und Sokrates von 1896 versucht Hirschfeld eine lamarckistisch-darwinistisch gefärbte Geschichte von den Anfängen der Wahrnehmung der Geschlechterbinarität in der Menschengattung zu erzählen; es begann mit dem Kinderwunsch: »Wenn wir davon ausgehen, […] daß die Anlage jedes Individuums eine zwitterhafte ist und der seelische Drang ursprünglich beide Geschlechter in gleicher Stärke umfaßte, so ist es wohl wahrscheinlich, daß die Absicht sich fortzupflanzen, sich der Kinder zu erfreuen, die Menschen bewogen hat, die Liebe zum andern Geschlecht zu bethätigen […] Nach dem Darwin’schen Grundsatz von dem Siege des Zweckmäßigen – survival of the fittest – erstarkte die fleißig geübte Anlage – Uebung macht den Meister – und verfestigte sich immer tiefer durch tausendjährige Vererbung, während der mit gutem Recht vernachlässigte Trieb zum eigenen Geschlecht verkümmerte, genau so wie die ungeübten Muskeln der Ohrmuschel, mit denen wir das Ohr einst ebenso bedecken und schützen konnten, wie mit den Augenliedern die Augen.« (Hirschfeld 1896:15) Indem Hirschfeld in seiner vorgeschichtlichen Spekulation einen beide Geschlechter in gleicher Stärke umfassenden seelischen Drang der frühen Menschen annimmt, der sich erst allmählich heterosexuell einschränkt, stellt er sich in direkte Opposition zu Engels und Darwin und auch zu Sigmund Freud, der Darwin in dieser Frage folgt. Die drei Genannten gehen übereinstimmend von einer gleichförmigen Heterosexualität von Anfang an aus, also davon, dass die entscheidende Frage der Objektwahl lautete: Mann oder Frau? So beruft sich Engels auf Morgan, der »in Übereinstimmung mit der Mehrzahl seiner Kollegen« einen »Urzustand« annimmt, »wo unbeschränkter Geschlechtsverkehr […] herrschte, so daß jede Frau jedem Mann, und jeder Mann jeder Frau gleichmäßig gehörte« (MEW 21:38 f.). Freud zitiert in Totem und Tabu Darwin zustimmend, welcher zum »sozialen Urzustand des Menschen« annahm, »daß allgemeine Vermischung der Geschlechter im Naturzustand äußerst unwahrscheinlich ist«, vielmehr lebte wahrscheinlich »jeder Mann mit einer Frau oder, hatte er die Macht, mit mehreren, welche er eifersüchtig gegen alle anderen Männer verteidigte« (Freud 1961:152 f.) Die vollkommene Heterosexualität in Morgans »Urzustand« und in Darwins »Urhorde«, die ja die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen bedeutet, schließt die von Hirschfeld vermutete anfängliche Partnerwahl nach geschlechtsindifferentem Muster jedenfalls aus. Entsprechend glaubte Engels, dass Homosexualität bei den Griechen (»die Widerwärtigkeit der Knabenliebe«) eine späte Folge der »Entwürdigung der Frauen« gewesen sei (MEW 21:67). Während sich Darwin dazu überhaupt nicht äußerte, hielt Freud die manifeste Homosexualität für ein Symptom psychischer Erkrankung. Hirschfeld nimmt zwar später die Vorstellung einer urgeschichtlichen Sexualität jenseits der Mann-Frau-Unterscheidung nicht wieder auf, der emanzipatorische Kerngedanke seiner Zwischenstufenlehre zielt aber, wenn schon nicht auf eine Sexualität, so doch auf eine Gesellschaftsordnung der Zukunft, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle gilt, für die augenfälligsten »Sexualtypen Mann und Weib« wie für alle anderen. Die
Lehre von den sexuellen Zwischenstufen kündet von dem Fortschritt, den die
transitorische Arbeit der kapitalistischen Produktionsweise an den Individuen
zur Vorbereitung der Übergangsgesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts
geleistet hatte. Sie ist sozusagen ihre ideologische Widerspiegelung. Die
Materialisierung des Gespenstes des Kommunismus hat die Überwindung des absolutistischen
Glaubens an die Geschlechterbinarität zur Voraussetzung. Literatur Bauer, J. Edgar (1998): Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste: 100 Jahre Schwulenbewegung. Hrsg. von M. Herzer. Berlin: 15 ff. Bauer, J. Edgar (1999): Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 29/30:66 ff. Bauer, J. Edgar (2002): Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 33/34:68 ff. Bauer, J. Edgar (2005): Magnus Hirschfeld: der Sexualdenker und das Zerrbild des Sexualreformers, in: Capri Nr. 37:5 ff. Bauer, J. Edgar (2007): Magnus Hirschfeld: Sexualidentität und Geschichtsbewußtsein. Eine dritte Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 37/38:109 ff. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. 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Herzer, Manfred (1998): Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik, in Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 28:45 ff. Herzer, Manfred (2001): Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. 2., überarb. Aufl. Hamburg. Hirschfeld, Magnus (1896): Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Leipzig. Hirschfeld, Magnus (1899): Die objektive Diagnose der Homosexualität, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 1:4 ff. Hirschfeld, Magnus (1905): Geschlechts-Übergänge. Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere. <Sexuelle Zwischenstufen.> Leipzig. Hirschfeld, Magnus (1910): Die Transvestiten, eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichem casuistischen und historischen Material. Berlin & Leipzig. Hirschfeld, Magnus (1919): Was eint und trennt das Menschengeschlecht? Berlin. 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[1] Der hier vorgelegte Versuch, Hirschfelds theoretisch-emanzipatorische Bemühungen als eine wichtige Ergänzung des historisch-materialistischen Konzepts des Individuums von Marx und Engels zu deuten, soll zugleich ein Gegenentwurf zu J. Edgar Bauers Interpretation des Hirschfeldschen Œuvres als »Ergänzung von Max Stirners Kritik der anthropo-theologischen Grundvoraussetzungen des Abendlandes« (Bauer 1998:26) sein. Vgl. dazu auch Bauer 1999:70 f., wo es heißt: »Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum […] beschreitet denkerisch einen dekonstruktiven Weg der Sprachherrschaft hin zur Dimension des Unaussprechlichen, für die sicherlich der philosophisch und religiös versierte Hirschfeld mehr Verständnis zeigen würde, als seine vorwiegend psycho-soziologisch orientierten Kommentatoren.« Am Schluss meiner Darlegung wird womöglich deutlich, dass Stirners Konstrukt des »Einzigen« als ideologischer Reflext der real unter dem Kapitalismus sich vollziehenden Verwandlung der freien und gleichen Warenbesitzer in »vereinzelte Einzelne« aufgefasst werden kann. Während aber der vereinzelte Einzelne und die universal entwickelten Individuen im Postkapitalismus bei Marx stets sozusagen übergeschlechtlich gefasst sind, stand für Stirner nie außer Frage, dass sein Einziger ein Männchen ist. Das Ich des Einzigen, der sein Sach‘ auf Nichts gestellt hat, widmet das Buch »Meinem Liebchen Marie Dähnhard«; das Liebchen gehört anscheinend zu seinem Eigentum (Stirner 1979:2). [2] »Seine geschichtlich dimensionierte Konzeption des Befreiungskampfes für die Rechte sexueller Minderheiten wendet sich zwar gegen die schöpfungstheologische Fixierung einer binomen Sexualität. Aber seine Leidenschaft für die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Geschichte verrät die messianische Inspiration der Propheten Israels.« (Bauer 1998:25) [3] Eine Vorwegnahme dieses zentralen Gedankens findet sich bereits bei Karl Heinrich Ulrichs, wenn er am 23.12.1862 in einem Privatbrief schreibt: »In gewisser Hinsicht ist also jeder Mensch, Mann sowohl wie Weib, ein Zwitter.« (Ulrichs 1899:66). [4] Hirschfeld (1905:8) zitiert beispielsweise aus Charles Darwins The variation of animals and plants under domestication (London 1868, deutsch 1873): »Wir sehen, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundären Charaktere jedes Geschlechts schlafend oder latent in dem entgegengesetzten Geschlecht ruhen, bereit, sich unter eigentümlichen Zuständen zu entwickeln.« [5] »Nur für eine unter den vielen Geschlechtstypen scheint mir eine Ausnahme am Platz: das ist das mütterliche Weib. Die echte Mutter ist tatsächlich unter allen Menschentypen das vollendetste Geschöpf. Es gibt keinen erhabeneren und ergreifenderen Anblick als den einer Mutter« usw. (GK Bd. 1:541) [6] Beim Lesen des Romans ist mir diese Stelle nicht aufgefallen, erst recht nicht, dass sie sich zur Verdeutlichung des Gehalts der Zwischenstufenlehre eignet. Ich wurde auf sie aufmerksam durch Ralf Dahrendorfs Homo sociologicus, wo sie zur Klärung des Dahrendorfschen Rollenkonzepts dient. Er sieht eine Entsprechung zwischen den zehn Musilschen Charakteren und Kants Unterscheidung des empirischen und des intelligiblen Charakters des Menschen. Kants intelligiblem Charakter und Bauers Ineffabilität des Individuums (vgl. Bauer 1998:23 u.ö.) sind aber ebenso wie Musils zehnter Charakter der Erdbewohner »jenseits von Natur und Geschichte« in einer Art »Weltenthobenheit« zuhause (vgl. Habermas 2005b:195). Man könnte aber die Konstrukte der drei einander nicht sehr ähnlichen Autoren als Hinweis auf die prinzipielle Unabschließbarkeit erfahrungswissenschaftlicher Forschung und Wissensgenerierung in Sachen Individuum verstehen und dann an Friedrich Engels‘ diesbezügliche Feststellung denken: »Die Wahrheit […] lag nun in dem Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann.« (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21:267) [7] Der Dichter Marcel Proust, ein Zeitgenosse Hirschfelds und Musils legte seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit eine ähnliche, nicht sehr dialektische, sondern eher serielle Theorie der vielen Charaktere zugrunde, die bei ihm Ichs (moi) genannt werden, beispielsweise im sechsten Band La Fugitive: »Cela n’est pas vrai seulement pour notre moi permanent qui se prolonge pendant toute la durée de notre vie, mais pour tous nos moi successifs qui, en somme, le composent en partie.« (Proust 1993:286) [8] Hirschfeld zitiert ihn mehrmals aus den Nouveaux essais von Leibniz (1704) und übersetzt: »In der Natur geht alles stufenweise, nichts sprungweise« (GK 1:545). Ähnliche Aussagen, die er als »Naturgesetz« bezeichnet, fand er bei Amos Comenius (1638) und Karl von Linné (1751). [9] Zustimmung zu Habermas‘ Kritik an den poststrukturalistischen Denkern geht einher mit erheblichen Einwänden gegen seine Sicht des Historischen Materialismus, den er unter Absehung von der Marxschen Arbeitswerttheorie mit ihrem veralteten Produktionsparadigma einer angreifbaren Rekonstruktion unterzieht. [10] Der Sigusch-Schüler Günter Grau warnt neuerdings sogar vor den Gefahren, die von Hirschfelds Lehren für die Freiheit des Individuums ausgehen: »Sicherlich war er [=Hirschfeld] kein ›Vordenker der Nazi-Ideologie‹, wie ihm später vereinzelt vorgeworfen wurde, wohl aber verkannte er die Gefahren, die von einer durch rassenhygienische Vorstellungen bestimmte Bevölkerungspolitik für das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit des Individuums ausgehen.« (Grau 2010:9) [11] Gleichbedeutendend »neben« dem Warenfetisch sieht Sigusch im Kapitalismus einen zweiten, den »Fetisch Wissen/ Wissenschaft« am Werk; dieser soll »heute […] alle Fetische übertrumpft« und so in unserem »Turbokapitalismus« die Antiquiertheit der Kritik der politischen Ökonomie erwiesen haben (Sigusch 2008:373), denn Marx konnte noch nichts von Siguschs »Wissensfetisch« ahnen. [12] vgl. dazu die 1. und 8. der Thesen ad Feuerbach (MEW 3:5 ff.) [13] Den Ausdruck »liberale Eugenik« habe ich von Habermas übernommen, der ihn für seine Kritik der neuesten biowissenschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Reproduktion der menschlichen Gattung verwendet: »So nenne ich eine Praxis, die Eingriffe in das Genom der befruchteten Eizelle dem Ermessen der Eltern überlässt. Das bedeutet keine Intervention in Freiheiten, die jeder geborenen Person, ob sie natürlich gezeugt oder genetisch programmiert worden ist, moralisch zustehen; aber sie berührt eine naturale Voraussetzung für das Bewusstsein der betroffenen Person, autonom und verantwortlich handeln zu können.« (Habermas 2005a:132) Sigusch, der eine Kritik der neuen reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten aus seiner »kritischen Sexualwissenschaft« ausklammert, kritisiert um so rigoroser die liberale Eugenik der 1920er Jahre. |