Manfred Herzer

Sexuelle Zwischenstufen. Vereinzelter Einzelner.
Transitorische Notwendigkeit

Ein spätmarxistischer Versuch


Ursprünglich erschienen in: CAPRI 46 (Mai 2012).
Eine gekürzte Fassung dieses Aufsatzes erschien 2011 in der Zeitschrift Das Argument Nr. 293:566 ff.
unter dem Titel »Magnus Hirschfelds Lehre von den sexuellen Zwischenstufen und der Historische Materialismus«.
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

 

Was aber wird hinzukommen? Das wird sich entschei­den, wenn ein neues Geschlecht herangewachsen sein wird:

(Friedrich Engels, MEW 21:84)

Habe ich Dir das Wort ›Individuum est ineffabile‹, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?

(Goethe an Lavater am 20. September 1780)

Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein wi­der­­spruchs­­voller Komplex in ste­ti­­­ger Entwicklung, ähn­lich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftre­ten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Viel­heit, in der die verschie­densten Tendenzen die Oberhand ge­winnen, so daß die jewei­lige Handlung nur das Kompro­miß darstellt.

(Bertolt Brecht, Ges. Werke Bd. 20, 1967:62)

 

 


1. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Marx‘ Kon­zept des Individuums in der bürger­lichen Ge­sellschaft als isoliertes »atomisier­tes« warenbesit­zen­des, das mit den anderen Einzelnen am Markt kon­kur­riert, und Hirsch­felds Lehre von den sexu­ellen Zwi­schen­stufen, die jedem Menschen, sozu­sagen un­ter­halb der Abstrak­­tionsebene der bi­nären Geschlech­ter­zu­wei­sung Mann/Frau, ein ein­zig­ar­tiges un­wieder­hol­bares Ge­schlecht, eine individuelle Mischung aus Männlich­keit und Weiblichkeit zu­schreibt. Diesen Zu­sam­men­­hang kann man sich grob so vorstellen, als ob die ge­schlecht­liche Ein­zigartig­keit eines jeden ei­ne Konkre­tisie­rung des Sexus-Aspekts in jeder ato­mis­­ti­­schen Privat­person ist; über die Kommu­ni­ka­tions- und In­terak­ti­onsmedien Geld, Gefühl und Pro­duktion wer­den nicht nur diese Pri­vaten konstituiert, auch die Her­stellung des inneren Bandes zwischen ihnen, die Herstel­lung der bür­ger­lichen Gesell­schaft, geschieht auf diese Weise. Be­kanntlich begründet die Marxsche Theorie die Hoff­­nung auf eine Trans­for­ma­tion der bürgerlich-kapita­lis­ti­schen Gesellschaft in eine »höhe­re Gesell­schafts­­form, […] deren Grund­prin­zip die vol­le und freie Ent­wick­lung jedes Individuums ist« (Kom­mu­nis­mus), auf dem Wege der »Ex­pro­pri­ation weniger Usurpatoren durch die Volks­mas­sen« (MEW 23:618 & 791).[1] Und Hirschfeld formuliert ebenfalls ein rechtsso­zi­al­demokra­tisches Eman­zi­pa­­ti­onsziel, das sich im Re­vo­lu­tionsjahr 1919 so anhört: »Durch die Wahl­be­tei­li­gung aller muß ganz na­tur­ge­mäß die große Mehrzahl der Arbei­tenden das Über­ge­wicht erlan­gen über die Min­der­heit der Arbeitgeber. Das ist die na­türliche Aus­­­wir­kung der wahren Demo­kra­tie. Dies und nichts anderes hat Karl Marx gemeint, wenn er von der Dik­tatur des Pro­le­tariats spricht in der ganz richtigen Vor­stellung, daß die Mehrheit der Be­sitz­losen oder der weniger Besit­zenden die Ober­hand und damit die Ent­scheidung über das Ganze be­kom­men muß.« (Hirsch­­feld 1919: 13) Abge­se­hen von der kurzen Phase unmittelbar nach dem Weltkrieg fand Hirsch­­felds messi­a­ni­scher[2] Kampf für Ge­rech­tig­keit durch Wissenschaft allein auf sexu­al­politi­schem und sexualreformato­ri­schem Terrain statt; An­fang 1931, kurz bevor er das zuneh­mend vom Na­zi­ter­ror zer­rüt­tete Deutschland verließ, kons­ta­tier­te er das Schei­tern dieses Kampfes: »Ich muß auf Grund meiner Erfah­rung feststellen, daß ich mit mei­­nen Be­mü­hun­­gen, die Ge­setz­gebung des bürger­lichen Deutsch­­lands in der Frage des Sexual­straf­­rechts im Sinne einer Besei­ti­gung des sexuel­len Bevor­mun­dungsrechts zu beeinflus­sen, gescheitert bin.« (Hirsch­feld 1931:XII) Dennoch hat der Sozi­al­de­mo­krat Hirsch­feld bis zum Schluss auch im Exil den Kampf nicht aufgegeben und war sich mit seinen kom­­mu­nis­tischen Freunden ver­mutlich darin einig, dass es um eine Gesellschafts­form geht, in der die vol­le und freie Entwicklung jedes Individuums gewähr­leistet ist.

2. Eine Klarstellung ist der folgenden Skizze vorauszu­schicken: Der Un­tersuchungsgegen­stand im Kapital und den dazu­ge­hörigen Schriften ist nicht die Ge­nese und Ent­wick­lung des bürger­li­chen Individuums, vielmehr geht es um die Kritik der po­litischen Öko­no­­mie, der »Ana­­to­mie der bürger­lichen Gesell­schaft« (MEW 13:8), um die kri­tische Dar­­stel­lung ihrer Gene­se, Ent­wicklung und der Bedin­gun­gen der Möglichkeit ihrer Transi­ti­on. Die Individuen kommen in diesen Texten nur als Träger von Be­ziehungen untereinan­der vor, soweit sie im Zeichen der Ver­dinglichung als Beziehun­gen von Sachen erscheinen. Für die ka­pita­lis­­tische Gesell­schaftsfor­mation gilt, sofern es um ihren allgemei­nen Begriff geht, wie für alle anderen auch: »Die Gesell­schaft besteht nicht aus Individuen, son­dern drückt die Summe der Beziehungen, Verhält­nisse aus, worin diese Individu­en zueinander stehn.« (GR:176)  

Sozusagen quer zu ihrer Klassenstruktur, aber mit dem warenproduzierenden Lohn­arbeiter als Ursprung, produ­ziert diese bürgerliche Gesell­schaft ei­nen charakte­ris­tischen Men­schen-Typus, den »ver­einzelten Einzelnen«, des­sen Arbeit »sich im Tausch­wert darstellt«; das ge­schieht »durch die Gewohn­heit des täg­li­chen Lebens, die es als trivial, als selbst­ver­ständlich erscheinen läßt, daß ein ge­sell­schaftliches Pro­duk­tions­verhältnis die Form eines Gegen­stan­­des annimmt, so daß das Ver­hältnis der Person in ihrer Arbeit sich viel­mehr als ein Ver­hältnis darstellt, worin Dinge sich zueinander und zu den Per­so­nen ver­hal­ten«. (MEW 13:21) Einmal datiert Marx den Beginn dieser Entwicklung auf das 18. Jahr­hun­dert, wo dieser Standpunkt »des ver­ein­­zel­ten Einzelnen« erzeugt wird. Er nennt diese Epo­che »die der bisher ent­wi­ckelt­sten gesell­schaft­li­chen (allgemeinen von die­sem Stand­punkt aus) Ver­hält­nisse« (GR:6), meint damit also seinen dama­ligen und wie ich mei­ne auch unsern heu­ti­­gen Kapi­ta­lis­mus. Er ist unter anderm charak­te­risiert durch das bürger­liche Be­wusst­­sein der Waren­pro­duzenten, »die keine andre Au­torität ane­r­ken­nen als die der Konkurrenz, den Zwang, den der Druck ihrer wech­sel­­seitigen Interes­sen auf sie aus­übt, wie auch im Tier­reich das bellum omnium contra omnes die Existenz­bedin­gun­gen aller Arten mehr oder min­der erhält« (MEW 23:377).  Schon seit dem 17. Jahr­hundert begann die Pro­duk­tion des doppelt freien Lohnarbeiters in England, indem »das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Va­­ga­­bun­den ge­machte Landvolk durch gro­tesk-terro­ris­ti­sche Gesetze in eine dem System der Lohn­arbeit not­wendige Disziplin hineinge­peitscht, -ge­brandmarkt, -ge­foltert« wurde: »die sogenannte ursprüngliche Ak­ku­mulation« (MEW 23:765). Der einzelne Lohn­arbei­ter, der auf dem Arbeits­markt seine Arbeits­kraft, die ihm gehö­ren­de Ware, verkauft, steht dort in Kon­kur­renz zu seinen Klas­sen­schwes­tern und -brüdern, was das Emp­finden, ein verein­zelter Ein­zel­kämpfer um den besten Preis zu sein, die Selbstwahr­neh­mung als freies und glei­ches, womög­lich noch autonomes In­di­­viduum be­günstigt. Die Zu­friedenheit mit dem gerech­ten Tausch Arbeitskraft gegen Arbeitslohn ver­wan­delt sich aber, wenn Ver­käu­fer und Käufer, Lohn­ar­bei­ter und Kapitalist, auf dem Weg in die Produk­ti­ons­­sphä­re den Markt ver­lassen: »Der ehe­ma­lige Geld­be­sitzer schreitet voran als Kapitalist, der Ar­beits­­­kraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeu­tungs­voll schmun­zelnd und geschäfts­eifrig, der andre scheu, wider­streb­sam, wie jemand, der seine ei­gne Haut zu Markt getra­gen hat und nun nichts an­dres zu erwarten hat als die – Gerberei.« (MEW 23: 191) Die Ger­be­rei aber, wo dem Aus­zu­beu­tenden das Fell über die Ohren gezogen wird, ist die Sphäre, der Marx den Na­men »Maschinerie und gro­ße Industrie« gab, und die sich als eine Welt der Ver­wir­rung der Ge­fühle für das In­di­vi­du­um erweist. Denn es lernt nicht nur, dass es nicht allein arbeitet, sondern erlebt den »koopera­tiven Cha­rakter des Ar­beits­pro­zesses« als »tech­ni­sche Notwen­dig­keit« (MEW 23: 407). Als Mo­ment in diesem Ar­beitsprozess haben die Produ­zen­ten aber »aufgehört, sich selbst zu gehören. Mit dem Eintritt in denselben sind sie dem Kapital ein­verleibt. Als Ko­operieren­de, als Glieder ei­nes werk­­tätigen Or­ganismus, sind sie selbst nur eine beson­dre Existenz­weise des Kapi­tals« (MEW 23:352), Arbeits­bedin­gun­gen und Arbeits­­pro­dukt er­halten ge­gen­über den Pro­duzenten eine »ent­frem­dete Ge­stalt« (MEW 23:455). Das arbeitskraft­besit­zende Individu­um unterliegt zu­dem einer »ge­schichtlichen Tendenz der kapitalisti­schen Ak­ku­­mu­lation« zum An­wachsen der »Empö­rung der stets an­schwellenden und durch den Me­cha­nismus des kapi­ta­listi­schen Pro­dukti­ons­prozesses selbst ge­schulten, vereinten und organi­sierten Arbeiter­klasse« (MEW 23:791).

Die Erfahrung der kollektiven Empörung, sowie in ge­wissem Gegensatz dazu die Wir­kung von »Erzie­hung, Tradition, Gewohnheit«, welche die Arbeiter­klasse da­zu bringt, »die Anforderungen jener Pro­duk­ti­ons­­wei­se als selbst­ver­ständliche Naturgesetze« an­zu­er­ken­nen (MEW 23:765), ist schwer ver­ein­bar mit der ent­gegengesetzten Erfahrung doppel­ter Frei­heit der »ato­­­mis­tischen Privat­personen« (GR:928) auf dem Arbeitsmarkt mit seinem trotz aller Re­gulierung dschungelmäßigen Konkurrenz­regime, dem von Marx öfter erwähnten Hobbes­schen bellum.

Weiter verkompliziert wird die Situation durch die Erfahrungen außerhalb von Zirku­lati­on und Produk­tion in der Sphäre der indi­viduellen Konsumtion (Frei­zeit), wo die »Fort­vegetation […] von zeitwi­drigen gesell­schaft­lichen und politischen Verhältnis­sen« (MEW 23:15) in Hobby- und Vereins­wesen, Dro­gen­subkul­turen, ›Spiritualität‹ (Religion, Astro­lo­gie, Psychotherapie), sexu­al­moralischen Tradi­tio­nen und dergl. wegen der relativen Ferne zur Produk­tions­sphäre besonders veränderungsresistent fortlebt.

Wie diese drei Gesellschaftssphären – Zirkulation, Pro­duktion, individuelle Kon­sum­tion – zur Erzeu­gung und Entwicklung einer für die kapitalistische Ge­sell­schafts­for­mation charakteristischen Indivi­du­alität bei­tra­­gen, ge­hört ebenso wenig zum Gegen­stand der vor­liegenden Erörterung wie sozialpsychologi­sche und regi­o­nal­his­torische Aspekte der Herausbildung des bürgerlichen Typs. Es geht hier lediglich um die Dar­stellung dieser Ent­wicklung als Moment der Kri­tik der politi­schen Öko­no­mie und des Kapita­lismus.

Auf einer fortgeschritteneren Stufe dieser Ent­wick­lung war so die Formu­lie­rung der sexual­wis­sen­schaftlichen Lehre von den sexuellen Zwischenstufen durch Hirsch­feld als ein epochal neues Bild vom Menschen möglich geworden.

Meine These ist demnach, dass die Entwick­lung des ver­einzelten Einzelnen am Ende des 19. Jahrhun­derts weit genug fortgeschritten war, um eine zu­nehmend differen­zier­te und zunehmend verwissen­schaftlichte Sicht auf die Individuen und der Indi­vi­duen auf sich selbst zu ermög­lichen, womit sich vor allem im deut­schen Sprach­raum, aber auch in England, Frankreich und Italien, bald auch in den USA die neue Wissen­­schaft vom menschlichen Ge­schlechtsleben, die Sexu­al­wissenschaft ent­wi­ckeln konnte. Maßgeblich be­tei­ligt an der Ent­ste­hung der neuen Wissenschaft war der sozialdemokra­tische Arzt und Schriftsteller Mag­nus Hirschfeld (1868-1935), der, inspi­riert von Dar­wins Evolutionslehre, die von dem Zoologen Ernst Haeckel in Deutschland popularisiert wurde, sowie von Au­gust Bebels Die Frau und der So­zi­alismus (1. Aufl. 1883) und Richard von Krafft-Ebings Psy­cho­pathia sexualis (1. Aufl. 1886) mit Sappho und Sokra­tes oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Ge­schlechts? die erste Fassung der Lehre von den sexuel­len Zwi­schen­stufen als Versuch der Auflösung der Ge­schlechtsbinarität vorlegte (vgl. Herzer 2001:104 ff.)

3. Ein grundlegender Gedanke der Marxschen Kritik betrifft den Nachweis der his­torischen Gewordenheit wie der Ver­gäng­lichkeit oder Überwindbarkeit der kapi­ta­lis­ti­schen Produk­tionsweise gegen die Grund­dok­trin der dama­ligen »modernen Öko­no­men, die die Ewigkeit und Harmonie der bestehenden sozi­alen Ver­hält­nisse bewei­sen« (GR:7). Auch Marx sieht zwar, dass es abstrakte Momente in jedem Ar­beitsprozess gibt, »ewige Natur­bedingungen des menschlichen Le­bens […] allen seinen Gesell­schafts­­­formen gleich ge­mein­sam« (MEW 23:198), es geht ihm aber gerade um die Be­stimmung derjenigen Momente, die die kapi­talis­tische Pro­­­duktionsweise von allen bisher dage­wesenen Forma­tionen unterschei­den. Und hier steht ein Begriff im Mittelpunkt, der den Kapi­ta­lismus im historischen Prozess ver­ortet: transi­torische Not­wen­digkeit. »Nur soweit der Kapitalist personifi­zier­tes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Exis­tenzrecht, das, wie der geist­rei­che Lichnowski sagt, keinen Datum nicht hat. Nur so­weit steckt sei­ne eigne transitori­sche Notwen­dig­keit in der tran­si­torischen Notwen­digkeit der kapita­lis­ti­schen Pro­duk­­tions­weise. Aber soweit sind auch nicht Ge­brauchs­wert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Mo­tiv. Als Fana­tiker der Verwertung des Werts zwingt er rück­sichts­los die Menschheit zur Produktion um der Pro­duktion willen, daher zu einer Entwick­lung der ge­sell­schaft­lichen Pro­duktiv­kräfte und zur Schöp­fung von mate­ri­el­len Pro­duk­tionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesell­schafts­form bil­den können, deren Grund­prinzip die volle und freie Entwick­lung jedes Individu­ums ist.« (MEW 23:618) Dies be­deu­tet zugleich, dass die Individuen unter dem Regime die­ser Produktions­­weise mit ihrem Gepräge der »ver­ein­zel­ten Einzel­nen« eben­falls notwen­dige Vorstufen jener im Post­kapitalismus frei sich entwickelnden Individuen sind.

Die kapitalistische Tendenz zur Reduktion der In­di­vidu­en auf Waren- und Geld­be­sitzer, deren gesell­schaft­lich relevanteste Eigenschaft die Wert­größe ist, impliziert eine weitere Tendenz: die Abstraktion von allen anderen traditionell bedeutsamen Eigen­schaf­ten, wie zum Bei­spiel das Geschlecht. Man könnte die Rede der Grund­risse von der völligen Entlee­rung der Individuen im Kapitalismus in die­sem Sinne interpre­tieren: »In der bürgerlichen Öko­no­mie – und der Pro­duktionsepoche, der sie ent­spricht, – erscheint diese Heraus­arbei­tung des mensch­lichen Innern als völlige Ent­leerung, diese univer­selle Vergegenständli­chung als totale Ent­frem­dung, und die Nieder­reißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbst­zwecks unter einen ganz äußren Zweck.« (GR: 387) Die Sexuier­theit der Men­schen als Mann oder Frau ist eine der traditionellen Eigenschaften, die unter dem Regime der Verwertung des Werts ten­den­ziell bedeutungslos werden. Das Ge­schlecht des Bank­direktors, des Verteidi­gungs­ministers, des Pre­mier­mi­nis­ters, des Gewerkschaftsvorsitzenden, des Ge­fäng­nis­direktors usw. verliert in der »mo­der­ne[n] Welt, wo die Produktion als Zweck des Men­schen und der Reichtum als Zweck der Produk­tion erscheint« (ebd.), zuneh­mend an Bedeu­tung. Parallel dazu wird im wissen­schaftlichen Bewusstsein die Relativität der binären Geschlechterzuweisung zur Sprache gebracht bis hin zu Magnus Hirschfelds Vorstellung: »Alle Men­schen sind intersexuelle Varianten« (Hirschfeld 1986:49).[3]

An den beiden Stellen, wo in den Grundrissen von der völligen Entleerung der In­dividuen im Kapita­lismus die Rede ist, betont Marx das Transitorische dieses Zu­stands: »In fact aber, wenn die bornierte bürger­li­che Form abge­streift wird, was ist der Reichtum anders, als die im uni­ver­sellen Austausch erzeugte Uni­ver­salität der Be­dürf­nis­se, Fähigkeiten, Genüs­se, Produktivkraft etc. der Indivi­duen?« (GR:387); und: »Die universal entwickelten Indi­vi­du­en, deren gesell­schaftliche Verhält­nisse als ihre eig­nen, gemein­schaft­lichen Beziehungen auch ihrer eignen, gemeinschaft­lichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte.« (GR:79)

4. In der Kritik der politischen Ökonomie spielt die bi­nä­re Geschlech­ter­ordnung keine Rolle und wird ledig­lich in den illustrierenden historischen Ein­schü­ben er­wähnt, die die logi­sche Entfaltung des Ka­pi­tal­be­griffs unterbre­chen und zum Beispiel be­schrei­ben, wie »die Herren Fabrikan­ten« mit »zyni­scher Rück­sichts­losig­keit, mit terroristi­scher Ener­gie« den Nor­malarbeitstag für Frauen und für 8-jährige Kinder auf zehn Stunden begrenzen (MEW 23: 302). Marx und Engels wussten von der »welt­ge­schicht­liche[n] Nie­der­lage des weiblichen Geschlechts«, für die auch im 19. Jahrhundert galt: »beseitigt ist sie keines­wegs« (MEW 21:61). Sie wussten aber auch, dass »die kapi­talistische Exploi­tationsweise« mit ihrer furchtbaren und ekel­haften Auf­lö­sung des alten Familienwesens zugleich »mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jun­gen Personen und Kindern beiderlei Ge­schlechts in gesell­schaftlich organisierten Produk­ti­ons­pro­zes­sen zuweist […] die neue ökono­mische Grund­lage für eine höhere Form der Familie und des Verhält­nisses beider Geschlechter« schafft (MEW 23: 514).

Diese höhere Form hat zur Voraussetzung, dass die beiden Geschlechter auch außerhalb des Vollzugs der »individuellen Geschlechtslie­be« (MEW 21:78 ff.) sich wechselseitig als Individuen und nicht bloß als Reprä­sentanten eines Geschlechts erkennen. Sie erkennen dann, dass ein jedes auf einzigartige Weise das ir­gend­­­wie idealtypisch vorgestellte Ge­schlecht verkör­pert. Soweit ich sehe, hat Schopen­hauer in der dritten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung (1854) diesen Sach­verhalt zuerst formuliert und mit einem dem Zeit­geschmack entsprechenden Werturteil ver­sehen: »Die Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblich­keit unzählige Grade zulas­sen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynan­der und Hypospadiä­us sinkt, diese bis zur anmu­ti­gen Androgyne steigt.« (Scho­pen­hauer 1987: 709; vgl. Herzer 1998) Dieses Wissen der Physio­logen von Anmut und Widerlich­keit, das der Phi­lo­soph in seiner »Metaphysik der Geschlechts­lie­be« mitteilt, kam bei Marx und Engels naturgemäß nur am Rande aber mit ähnlicher Be­wer­tung zur Sprache, etwa wenn Engels »die Widerwär­tigkeit der Knabenliebe« als »Entwürdigung« verur­teilt (MEW 21:67) oder wenn Marx für seinen offen­sichtlich schwulen Freund Wilhelm Strohn ein »Pä­de­rasten­buch« von Engels zurückerbittet (MEW 32:421).

Die Grenzen, Überschneidungen und Vermi­schun­gen von »Mannheit und Weib­lichkeit« hatten aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts mehreren Au­to­ren[4] thema­tisiert und konnten so eine Voraussetzung für Hirsch­felds Entwurf der Lehre von den sexuellen Zwi­schen­stufen werden, die hier als eine Konkreti­sie­rung des Marxschen Konzepts des Individuums in der ka­pi­talistischen Gesellschaft interpretiert werden soll.

In der frühen sexualwissenschaftlichen Abhandlung Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Ge­schlechts? skizziert Hirschfeld seinen Ausgangs­punkt und behaup­tet: »In der Uranlage sind alle Men­schen körperlich und seelisch Zwitter«; er geht dabei von einer Beobachtung der Physiologen aus, dass die mensch­liche Frucht im Mutter­leib bis zum Ende des dritten Monats »vollkommen unge­schlecht­lich (oder besser zwei­geschlecht­­lich)« ist (Hirsch­feld 1896:9 f.) In Sappho und Sokrates spricht er zwar nur von der embry­o­nalen Ent­wick­lung, die alle Menschen als Zwit­ter erscheinen lässt, darüberhinaus findet man aber schon die Behaup­tung, dass alle schein­bar qua­litativen Unterschiede zwischen den Geschlech­tern »lediglich quantitativer Natur« sind (ebd.:13).   

Den Kerngedanken seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen hat Hirschfeld 1899 erstmals formu­liert:

»So sehen wir, dass die Behauptung, sämtliche Ge­schlechtsunterschiede seien nur Gradunter­schiede ›bis aufs Haar‹ stimmt. In einigen Stücken hat das Weib, in anderen der Mann eine höhere Stufe der Ent­wicklung erklom­men; allein, alles, was das Weib be­sitzt, hat, wenn auch in noch so kleinen Resten der Mann ebenfalls und ebenso sind bei jedem Weibe Spu­ren aller männlicher Eigentümlich­kei­ten nachzu­weisen.« (Hirschfeld 1899:15) Dieser Gedanke wird in den folgenden Jahren weiter radikalisiert bis zu der Behauptung, dass jeder Mensch »ein Geschlecht für sich bildet« (Hirschfeld 1903:127) und schließ­lich heißt es in der erwei­ter­ten Fassung des Vor­trags vor der 76. Naturforscherversammlung in Breslau im Sep­tember 1904: »Sehr streng wissen­schaftlich ge­nom­men, dürfte man in diesem Sinne gar nicht von Mann und Weib sprechen, son­dern nur von Men­schen, die größtenteils männlich oder größtenteils weiblich sind.« (Hirschfeld 1905:4)

In jüngerer Zeit gab es eine Kontroverse über die Fra­ge, ob Hirschfeld mit dieser »sehr streng« wis­sen­schaft­lichen Sicht auf die Ge­schlechter eine »De­kons­truktion« oder »Auf­lösung« des Sexualbino­mi­ums Mann/Frau vollzieht, das er als bloße »Fiktion« er­kennt (Bauer 2007:109) oder ob seine neue Auf­fas­sung der unend­lich vielen Ge­schlech­ter zur alther­ge­brachten Bina­ri­tät in einem Ver­hält­nis der Komple­mentarität zu sehen sei. Letzteres würde bedeuten, dass die alten starren Gren­zen zwischen Adam & Eva, – die neben sich nur etliche Ver­schnit­tene, »die sind aus Mut­ter­leibe also geboren« (Matt.19,12) dulden − zwar nicht wegfallen, aber doch gewisserma­ßen ver­flüssigt werden. Wenn Hirschfeld die Fiktion der zwei Geschlechter »un­ent­­behrlich« nennt (Hirschfeld 1923:23) und wenn er zudem ein über­schwängliches Loblied auf das »mütterliche Weib« singt[5], dann wird meiner An­sicht nach klar: die Zwischenstufenlehre ist nicht als substitu­ie­rendes, sondern als ergänzendes Einteilungsschema zu verstehen.

5. Man könnte sagen, dass die Bestimmungen Mann/ Frau zur Bestimmung Zwischenstufe in einem dialek­ti­schen Spannungsverhältnis stehen. »In gewis­ser Art geht’s dem Menschen wie der Ware.« (MEW 23:67) Diese wit­zige Bemerkung betrifft zwar den Sach­ver­halt, dass die Menschen sich selbst nur als Men­schen wahr­nehmen und sich wechsel­seitig als »Er­schei­nungsform des Genus Mensch«  gelten lassen können, indem sie sich wechselseitig auf­ein­ander beziehen; in gleicher Weise kann man die konkrete Bestimmung des Menschen als Mann oder Frau mit dem konkreten Gebrauchswert der Ware vergleichen und die ab­strak­te Bestimmung als einzigartige Zwi­schenstufe mit dem abstrakten Waren­tausch­wert. Man muss viel­leicht gar nicht die Dialek­tik bemühen, um die Ver­ein­barkeit mehrer wi­dersprüch­licher Bestimmung des Menschen den­ken zu können. In dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, dessen ersten Teil der ös­ter­reichische Dich­ter und entschiedene Anti­dia­lek­ti­ker Robert Musil 1931 vorlegte, findet sich ein Gedan­ke, der die wi­der­­sprüchlichen Bestimmungen oder viel­fältigen Charaktere der Menschen oder Erdbe­woh­­­ner sehr poe­tisch und ziemlich treffend aus­drückt: »Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Cha­rak­tere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geogra­phischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er ver­einigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist ei­gent­lich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinn­salen aus­ge­wa­sche­ne Mulde, in die sie hinein­sickern und aus der sie wieder austreten, um mit an­dern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Des­halb hat jeder Erdbe­woh­ner auch noch einen zehnten Cha­rak­ter, und dieser ist nichts als die passive Phan­ta­sie un­aus­ge­füllter Räume; er gestattet dem Men­schen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was sei­ne min­des­tens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Wor­ten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.« (Musil 1970:34)[6]. Selbst wenn man − ähnlich wie Bauer die Zwischen­stufenlehre als »eine Art fundamentum inconcussum in sexualibus« (Bauer 1998:30) – im zehnten Cha­rak­ter (den Musil iro­nischer­weise die passive Phantasie unausgefüllter Räume nennt) die Basis für die restli­chen Cha­raktere sieht, heißt das nicht, dass der zehn­te weniger real oder »fiktional« ist als die andern. Der zehnte grund­legende Charakter färbt oder überformt vielleicht die anderen Charaktere, ähnlich wie man sich den Zwi­schen­stu­fen­chara­k­ter bei Hirsch­feld, die indi­viduelle Mischung aus Weib­­lich­keit und Männ­lich­keit, als Überformung oder Fär­bung aller andern Cha­raktere des Menschen vor­stel­len kann.

1933, als die Nazis in Deutschland die Macht über­nom­men hatten, notierte der exilierte Hirschfeld in seinem Tagebuch folgenden Gedan­ken: »Die Frage: Wohin gehörst Du – was bist du eigent­lich? lässt mir keine Ruhe. Formu­lie­re ich die Frage: ›Bist Du ein Deutscher – Jude – oder Welt­bürger?‹ so lautet meine Antwort jedenfalls ›Welt­bürger‹ oder ›alles drei‹.« (nach Dose 2005:44). Zwar ließ ihm die Frage keine Ruhe, dass aber alle drei Bestimmungen zutreffen und in ein und dersel­ben Person unter­kom­men könnten, war für ihn vor­stell­bar, so wie er sich eine sexuelle Zwi­schenstufe vorstellen konnte, die zugleich eine Frau, eine Welt­bürgerin und vieles andere mehr ist.[7]

Judith Butler stößt, sozusagen aus der ent­gegen­ge­setzten Richtung wie Bauer argumen­tierend, in ihrer Kritik an der französischen Kämpferin für Les­ben­emanzi­pation Monique Wittig auf das auch für sie unlösbare Problem, Zweigeschlechtlichkeit und un­endliche Geschlechterviel­falt gleichzeitig zu denken. Nachdem sie Wittigs Posi­ti­on, »daß die binäre Formu­lierung des Geschlechts frag­mentiert und verviel­fäl­tigt werden muß, bis sie den Punkt erreicht, an dem sich diese Binarität selbst als kon­tingent of­fen­bart«, korrekt referiert hat, wendet sie dagegen ein: »Die schrankenlose Vervielfälti­gung der Ge­schlech­ter führt mit logischer Notwen­digkeit zur Ne­gierung des Ge­schlechts als solchem. Wenn die Anzahl der Ge­schlech­­ter der Zahl der Indivi­duen entspricht, läßt sich die Katego­rie ›Ge­schlecht‹ nicht mehr als allge­meiner Terminus anwenden: Das Ge­schlecht ei­nes In­dividuums wäre eine radikal einzig­artige Eigen­schaft, die nicht mehr als sinn­volle, deskrip­tive Verall­gemei­nerung fungieren könn­te.« (Butler 1991: 176) Butler zeigt hier keineswegs, wie sie glaubt, eine logische Notwendigkeit auf, viel­mehr erkennt sie nicht, dass die Kategorie Geschlecht durchaus auf unter­schied­lichen logischen Ebenen unter Betonung unter­schied­li­cher Aspekte der »Kategorie« verwen­det werden kann. Beispiels­weise wenn man wie Hirsch­feld argu­mentiert, der, nachdem er ausgeführt hat, dass man nicht von Mann und Weib, sondern nur von Menschen spre­chen sollte, die größtenteils männlich oder größ­ten­teils weiblich sind, schreibt: »Bezeichnet man aber diejenigen, die vorwiegend männliche Qua­li­­täten be­sit­zen, kurzweg als genus mascu­li­num, und alle, die vor­wiegend weibliche Eigen­schaften haben, ein­fach als genus femi­ninum, so wäre man wohl be­rech­tigt, dieje­ni­gen, bei denen die Summe des männ­lichen und weibli­chen Anteils zwischen 33 und 66  liegt, als eine Art genus tertium aufzufassen.« (Hirsch­feld 1905:4) Anders als Bauer, Butler oder Wittig geht es Hirschfeld um die Verdeut­li­chung des Gedankens, dass ein Mensch sowohl ein Mann oder eine Frau als auch eine sexuelle Zwi­schenstufe sein kann, ähnlich wie Hirsch­feld für sich selbst beanspruchte, Deut­scher und Jude und Welt­bürger zugleich zu sein. Die­ser Ge­danke Hirsch­felds, der ihn spä­ter veranlass­te, eine »Typologie« der Ge­schlech­ter zu postulieren (GK 1:540), könnte auch so formuliert werden: Das Be­griffspaar Mann/Frau ist im Begriff der sexuellen Zwi­schen­stufen aufgehoben – zerstört und weiter­ent­wi­ckelt zugleich − , und wenn man künftig von Männern und Frauen spricht, dann in dem Sinne, dass Männer sowohl Männer wie Frau­en sind, und Frauen ebenfalls sowohl Männer wie Frauen; ähnlich sind im Begriff Mensch aufgehoben: das Kind und der Greis, die Frau, der Zwitter, der Mann, der Jude, der Deutsche, die Mutter etc.

6. In den Transvestiten erörtert Hirschfeld ein­ge­hen­der die Frage, was man sich unter Männ­lichkeit und Weib­lichkeit vorstellen könnte. Gleich zu Anfang stellt er fest: »Die Trennung der Menschheit in eine männ­liche und weib­liche Hälfte ge­hört zu den Lehr- und Leitsät­zen, die jedermann in Fleisch und Blut über­gegan­gen sind.« (Hirschfeld 1910:3). Zwar unter­liege die Realität dieser Zweiheit »kei­nem Zweifel«, es wäre aber verfehlt, »stellt man sich beide als zwei völlig von einander gesonderte Einheiten vor; im Ge­gen­teil, die stets vorhandene Verschmel­zung beider in einem, ihr unendlich variables Mischungs­­verhältnis, das da­mit beginnt, dass bereits der männ­liche Same und das weibliche Ei jedes für sich mann-weibliche, herm­aph­ro­di­ti­sche Ge­bilde sind, dieser Monis­mus der Ge­schlechter ist der Kernpunkt für Entste­hung und We­sen der Per­sönlichkeit.« (ebd.:4). Später erörtert er »die Hauptschwie­rigkeit und Strittigkeit« der Er­klä­rung dessen, was männlich und weib­lich eigentlich sei (ebd.:275 ff.) und kann dabei, indem er sich der Mehr­heits­meinung der Physio­lo­gen seiner Zeit sowie der avan­ciertesten Frauenrechtlerinnen an­schließt,  jener Hauptschwierigkeit nicht entgehen. Mit Wilhelm Ost­wald und anderen glaubt er, »der Mangel an geni­a­li­schen Leistungen und epo­cha­len Schöpfungen« könn­te durch »die natürli­che Beschaf­fen­heit der Frauen an und für sich« zu erklären sein (ebd. S. 277 f.); im­mer­hin fügt er sogleich abschwä­chend hinzu, »dass wir das Mass geis­tiger Leistungs­fähig­keit beim Weibe nach Quan­tität und Qua­lität exakt abzu­schät­zen bis­her noch nicht recht in der Lage sind, dass es sicher­lich durch Uebung noch we­sent­lich geho­ben werden kann, und dass es völlig un­richtig ist, wenn Weininger und andere ›Antifeminis­ten‹ sich dahin äussern, ›dass niemals ein wirk­liches Weib die For­de­run­gen der Frau­enemanzipation erhe­be, son­dern dass dies durch­weg nur männlichere Frauen tun, die ihre ei­ge­ne Natur miss­deuten und die Motive ihres Han­delns nicht einsehen, wenn sie im Namen des Wei­bes zu spre­chen glauben‹. (Weininger: Geschlecht und Cha­rak­ter, Seite 89.)« (ebd.:278). Schließlich gilt für die Intelligenz eines Menschen, dass sie wie »auch der kleinste Teil in Körper, Seele und Geschlecht des Men­schen männlich oder weib­lich betont ist«, aber: »Im Grunde genommen ist jedes Individuum ein Typus für sich« (GK 1:539 f.)

Meinen früheren Einwand gegen die Zwi­schen­stu­fen­lehre, Hirschfeld habe die mensch­lichen Ei­gen­schaf­ten einem dem tradierten Alltags­verständnis von Männ­lich­keit/Weib­lichkeit entnommenen und es un­his­torisch der Biologie zu­geschlagen (Her­zer 2001: 106), bedarf im vorlie­genden Zusammen­hang einer Re­vision. Mit J. Edgar Bauer, dem in diesem Punkt uneingeschränkt zuzu­stimmen ist, wäre hier auf den »deskriptiven, d.h. nicht-ätiolo­gi­schen Status der Zwi­schenstufen­lehre« hin­zu­wei­sen; ferner ist zu betonen: »Da die Zwi­schen­stu­fen­lehre […] kein Erklärungs­mo­dell liefert, sondern ein offe­nes sexualdis­tri­bu­tives Schema von poten­tiell unend­lichen Se­xu­al­konstitu­ti­o­nen auf­stellt, führt Hirsch­felds Einbezug der bio­lo­gi­schen Gegeben­hei­ten zu keiner Fixierung des Be­geh­rens oder der Sexualorien­tie­rung nach dimor­phis­­ti­schen Kriterien, son­dern zu einer radika­len Ent­gren­zung der Sexu­al­kombi­na­to­rik zwischen Indi­vi­duen, die aus­nahmslos sexuelle Zwischen­stufen dar­stellen.« (Bauer 2005:13) Wenn Hirschfeld sowohl bio­lo­gische Gege­ben­heiten als auch Psychi­sches als männlich oder weiblich klassifiziert und damit an die Vor­stel­lun­gen des zeitgenössi­schen Alltags­bewusst­seins an­knüpft, dann könnte auch dies aus heutiger Sicht als Moment in dem Prozess der Tran­sition der Indi­vi­du­en der bürger­lichen Ge­sellschaft hin zum uni­versal entwickelten Indi­vi­du­um des Kommu­nis­mus inter­pre­tiert werden. Sie sind, wie erwähnt »kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte« (GR:79).

7. Der für Hirschfelds Zwischenstufenlehre grund­le­gen­de Satz Tout va par degrés dans la nature et rien par sauts[8] verliert dann seinen Wahrheitsgehalt, wenn man ihn ver­absolu­tiert. Be­denkt man nicht, dass das Gegenteil dieses Satzes, nämlich: Der qualitative Sprung gehört zum Na­tur­ge­schehen ebenfalls einen zu jenem konträren Wahr­heitsgehalt besitzt, dann sieht man die Welt als un­end­liches amor­phes Kontinuum und ewig gleich flie­ßen­den heraklitischen Fluss, wo die Unterschei­dun­gen, Regel­­haf­tig­kei­ten und Ordnun­gen von au­ßen und will­kürlich an die Naturphäno­me­ne heran­ge­­tragen wurden. Vergisst oder verleug­net man eine Dialektik von Kontinuität/Dis­kon­tinuität, von Evo­lution/Re­vo­lution, Quantität/Qua­li­tät, Indi­viduie­rung/Ver­gesell­schaftung, dann »wird […] die Un­terscheidung zwischen Realitäts­ebenen, zwischen Fiktionen und Wirklichkeit, zwischen Alltags­praxis und außerall­täglicher Erfahrung, zwischen ent­spre­chenden Text­sorten und Gattungen unmög­lich, ja sinn­­los.« (Haber­­mas 1992:247)[9] Anders als Bauer, der die Zwi­schen­stufenlehre »als eine ent­scheidende Ergänzung von Max Stirners Kritik der anthropo-theo­­lo­gischen Grund­voraussetzungen des Abendlan­des« deutet und so der post­strukturalis­ti­schen Ver­drän­­gung der Wis­senschaft durch Fou­cault­sche Gene­a­lo­gie einen neuen Akzent hin­zu­fügt, entgeht Hirsch­feld der irratio­na­lis­tischen Versu­chung, bei der Auflö­sung der Geschlech­terbinarität in unendlich viele Ge­schlechter stehen zu bleiben. Vielmehr sieht er in der gesellschaftlichen Re­alität der »Sexu­al­typen Mann und Weib«, deren Ge­gen­sätzlichkeit »bei weitem nicht so scharf um­rissen« ist, wie es bei ober­flächlicher Betrachtung den An­schein hat, den pro­mi­nen­ten For­schungs­ge­gen­stand der Sexualwissenschaft (GK 1:5). Mit der Sozio­­login Mathilde Vaerting verlangt er, »das Ideal der Gleich­be­rechtigung der Geschlechter dau­ernd zu ver­wirk­lichen und jede einge­schlechtliche Vor­herr­schaft […] fernzuhalten.« (GK 1:490). Frauen und Männer hält Hirsch­feld zwar für »gleich­wertig und gleich­be­rech­tigt«, sieht sie aber nicht »körper­seelisch von glei­cher Beschaffenheit« (ebd.) Und diese Beschaf­fenheit, die die »Teilung der Arbeit zwischen den Ge­schlechtern« bei der Fort­pflanzung einschließt (GK 1:490 ff.), scheint mir Hirsch­felds stärkstes Ar­gu­ment gegen eine Verabsolutie­rung des Zwischenstu­fen­kon­zepts und einer end­gültigen Verabschie­dung der binären Geschlechter­ordnung zu sein.

8. Volkmar Sigusch beschwört als alttesta­ment­licher Prophet immer wieder die Ge­fah­ren, die von Hirsch­felds Lehre für eine »kriti­sche Sexualwissenschaft« aus­gehen: »1995 pro­phezeite ich, die wirkliche Hirsch­feld-Renais­sance wer­­de erst noch kommen, weil er im Grunde ›post­mo­derne‹ Topoi versammele« wie z.B. »sexo­ge­ne­ti­sche Buntscheckigkeit als Wider­part des kul­turellen Bi­genus, Auflösung der alten Geschlechts- und Sexu­al­for­men durch so viele ›Zwi­schenstufen‹ wie es Men­schen gibt« usw; zu Hirsch­felds postmo­dernen Spät­folgen zählt Sigusch auch: »die Hormo­ne und die Ge­ne, die Kastra­tionen, Ge­schlechts­um­wand­lungen, Pe­nisprothesen, stereotakti­sche Hirn­eingriffe, extra­kor­po­ralen Züch­tun­gen, das H-Y-Antigen, das Xq 28 und die Genchirurgie« (Sigusch 2008:210). Die Zwi­schen­stufenlehre wur­de dem­­nach nicht ein­fach von einem »wissenschaft­lich konfuse[n]« (ebd.: 223) und »roh[en]« (ebd.:383), von naiver »Wis­senschafts- und Aufklä­rungsgläu­bigkeit« (ebd.: 449 u.ö.) gezeichne­ten »Kom­pilator und Kol­por­teur« fabri­ziert, sie ist da­rüberhinaus auch be­droh­lich, wenn auch nicht wirk­lich kryptofaschis­tisch, weil sie »die Ver­bes­serung des Menschengeschlechts mittels Zwangs­kastration und Zwangssterilisie­rung« propa­giert (ebd.:383). Die Ge­fahr wird von Sigusch jedoch als nicht sehr groß ein­ge­schätzt, da Hirschfeld wie erwähnt ein blo­ßer Kom­pi­lator und Kolporteur und »als Theo­retiker viel zu unbedeutend war«, um für die Nazis vonnutzen sein zu können (ebd.:386).

Abgesehen davon, dass Sigusch dem Werk Hirsch­felds den wissenschaftlichen Charakter und Wert generell ab­spricht, leidet seine Hirsch­feld-Kritik unter der feh­lenden Reflexi­on der eigenen Rolle als nachge­bore­ner Kri­tiker: Sigusch begnügt sich mit einer mo­kant retro­spektiv wer­tenden Ge­schichtsschrei­bung. Dass wir Heutigen auf­grund der historischen Erfah­rung (und des wissenschaft­li­chen Fort­schritts) besser wis­sen, was es mit der Euge­nik auf sich hat, scheint er für sein persönli­ches Verdienst zu halten, mit dem er seine Überlegenheit über den rohen Hirsch­feld be­grün­det. Dass Hirsch­feld, dem die Gnade der späten Ge­burt nicht zuteil wurde, über dieses bessere Wissen noch nicht verfügte, macht Sigusch ihm zum Vor­­wurf.[10] Wie schon öfter zitiert Sigusch auch in seiner Ge­schich­te der Sexu­alwissen­schaft das für heutige Leser wirklich ent­setzliche Wort von der »Ausjätung schlech­ter Men­schenkeime« (ebd.:379), mit dem Hirsch­feld die Zwangs­steri­li­sie­rung »in ganz beson­ders schweren Fällen« (GK 3:47) billigte. In diesem Punkt muss man dem Hirschfeld-Kritiker bei­pflichten, obwohl er nicht sieht, wie wohl­feil diese verspätete Kritik zu haben ist. Vollends frag­würdig wird diese Kritik angesichts des Schwei­gens, das Siguschs zu ver­gleichbaren Prak­ti­ken in der Ge­gen­wart für ange­bracht hält: Im letzten Kapitel sei­nes Geschichts­werks, das für die kritische Sexu­al­wis­sen­schaft »eine Standort­bestimmung am Ende des 20. Jahr­hunderts« ankündigt (Sigusch 2008: 510), wird das heute üb­liche Verfahren zur Ausjä­tung schlechter Men­schen­keime, die zeit­ge­mäß Präim­plan­ta­­tions­di­agnostik (PID) heißt, und deren Vor­gän­ger­praxis, der Schwan­ger­schafts­abbruch in Fällen, wo pränatale Di­agnostik ei­ne Schädi­gung des Fötus fest­stellt, schlicht­weg tabui­siert; die heutigen Formen der Vernichtung lebensun­wer­ten Lebens sind kein Thema für den kri­ti­schen Sexualwissenschaftler.

Nach dem Muster Sind-wir-nicht-alle-ein-bisschen-Hirschfeld? schreibt Sigusch schließ­lich, irgendwie ver­­söhnlich und wohl auch als vorsorgliche Abwehr gegen den Vorwurf, er habe mit seiner radikalen Hirsch­feld-Kritik, dieser sei mit seiner Teilhabe am »biologis­tisch-somatologisch-eugenischen Diskurs«, den die Nazis nach ihrer eigenen Opportunität ge­nutzt hätten, Hirschfeld eine Mitschuld an deren 1933er Sieg zuge­schoben: »Da es wirk­lich ein Diskurs und nicht irgendeine Diskus­sion ist, plappern wir alle mehr oder weniger mit.« (ebd.:386) Im letzten Kapitel seiner Ge­schichte der Sexualwissenschaft sucht Sigusch den Anschluss an die »Queer Theory« und übt sich im Nachplappern Hirsch­feldscher Kolpor­tagen, wenn er unter den bereits seit Jahren von seiner kriti­schen Se­xualwissenschaft ge­teilten Einsichten aufzählt, »dass die kulturelle binäre Geschlechts­identität allein schon kli­nisch eine Schimäre ist« (ebd.:537). Ein Unter­schied zwischen Siguschs klinischer Schimäre und Hirschfelds »Fiktionen« (Hirschfeld 1923:24) ist auch des­halb nur schwer zu er­kennen, weil Sigusch die kli­nische Schimäre an keiner Stelle seines volu­mi­nösen Geschichts­werks expliziert. Einmal wird versichert, »in der Ge­schlechterdifferenz selber steckt« eine Dialektik, »weil sie […] ein durch und durch Ver­mit­teltes ist, […] weil sie nicht nur ein Nie­der­schlag im Unbe­wussten und eine Tatsache des Bewusstseins ist, sondern beides selbst produ­ziert. Daraus ergibt sich, dass das Ge­schlecht­liche und das Sexuelle nicht nur disso­ziiert sind, sondern inein­ander liegen.« (Si­gusch 2008:534). Um diese Vermitt­lung nicht nur in  ab­strak­ten Redensarten anzu­deuten, hätte sich Sigusch aber viel zu weit auf ge­fährliches hirschfeldis­tisches Terrain wagen müssen. Das was er mehrmals orakel­mäßig als »fes­ten Kern« der Geschlech­ter­diffe­renz be­zeichnet (ebd.:529, 535 u.ö.) und einmal als »bio­tisch-körper­liches Funda­ment« (ebd.) wäre in einer wahr­haft kritischen Sexu­al­wis­senschaft das Funda­ment einer Dialektik der Ge­schlechterdifferenz; bei Sigusch wird dieses Fun­dament sozusagen ausge­klam­mert, und schließlich wird auch noch mit der un­ab­lässig wiederholten Warnung vor der »Wissen­schaftsgläu­big­keit« ernst gemacht und die komplette Sexualwis­sen­schaft für irrsinnig erklärt: »Fielen Be­gehren und Lieben nicht auseinander, kämen Dauer und Intensi­tät, Harmonie und Erregung zusammen, wüssten wir, was ein sexu­eller Rausch ist und könn­ten uns in ihn verset­zen, scherten wir uns doch um wis­senschaft­liche Erör­te­rungen überhaupt nicht, hiel­ten wir doch Sexual-Wissenschaft für so ir­rsin­nig wie sie tatsächlich ist« (ebd.:538 f., Herv. von mir, MH) – eine irrationalis­tische Dialek­tik der Gegen­auf­klärung, die sich nach einer »Me­taphysik« oder »Meta-Physik« sehnt, die der unkri­tischen Sexualwis­sen­schaft die Augen öffnen soll (ebd.:384 & 521).

Beim Werben um Annäherung zwi­schen kri­ti­scher Sexu­alwissenschaft und Queer Theory gibt Sigusch einmal zu bedenken, dass der »neoliberale Turbo­kapitalismus« letztere miss­brau­chen könnte, weil beide, Turbo­kapi­talis­mus und Queer Theory, die Men­schen, die »euphemis­tisch im­mer noch Subjekte ge­­nannt« werden, zurichtet mit­tels »Verflüssi­gung ihrer alten Identitäten, Bin­dun­gen, Sicher­hei­ten und Rech­te«, der Kapitalismus praktisch und die Theory theo­re­tisch (ebd.: 537 f.) Siguschs kapitalismus­kri­ti­sche Einstel­lung ist bei der Rezeption der Kritik der poli­ti­schen Ökonomie immerhin bis zur Analyse des Fe­tisch­­charakters der Ware vorgedrungen[11]. Marx‘ Kon­zept der histori­schen transitori­schen Not­wen­dig­keit der kapita­lis­tischen Pro­duktionsweise (vgl. MEW 25: 635 u.ö.) hat er nicht mehr rezi­piert, so dass er die Ver­­flüs­si­gung der alten Identitä­ten, Bindungen, Si­cher­­heiten und Rechte der Men­schen nur als turbo­ka­pi­talis­tischen Verfall und Nie­dergang, nicht aber in ihrem Doppelcharakter regis­trie­ren konnte. Lenin hätte hier sicherlich imperi­alis­tische Stagnation & Fäulnis diagnostiziert.

9. »Die Frage nach der Auflösung der binären Sexu­alität« – , zu der Sigusch wie gezeigt nur ver­schwom­­men und aus Sorge vor zu großer Nähe zu einem bio­logistischen Diskurs wider­sprüchlich Stel­lung nimmt – , wird nach Bauer »heute nicht nur von Vertretern der gender und queer studies, son­dern auch inner­halb der Biologie und verwandten Disziplinen ge­stellt« (Bauer 2005:13). Neuer­dings versucht Heinz-Jürgen Voß, den heutigen Forschungsstand der Bio­wissenschaften im Lichte einer Queer Theory darzu­stel­len, kann aber seinen An­spruch nicht einlösen, »Al­­ternativen zu binär-geschlechtlichen Deutungen« aufzuzeigen (Voß 2010:386). Nach einer Übersicht zur medizini­schen Geschlechterforschung in Europa seit dem 17. Jahr­hundert fasst er den derzeitigen For­schungsstand dahin­gehend zusammen, dass die Gene nicht von sich aus, sondern in einem System von Wech­selwir­kungen mit der sie einhüllenden Zelle und mit dem gesamten Organismus, in den die Zelle ein­gebettet ist, ein Geschlecht des Embryos produ­zieren, das »individu­ell spezi­fisch« resp. »individuell und viel­fältig aus­ge­prägt« sein soll (ebd.:394 f.) Da­raus folgert Voß, »dass sich als geschlechtlich betrachtete Merkmale – Genitalien – individuell unterschiedlich ausprägen, dass zahl­reiche Kombi­nationen auch zwi­­schen heute als ›weiblich‹ und heute als ›männ­lich‹ betrachteten Merk­malen auf­tre­ten« (ebd.:395). Merk­würdigerweise bricht er an dieser Stelle seine Argu­mentation unver­mittelt ab und versichert, dass es keine »na­tür­li­chen«, sondern nur gesell­schaft­lich und, wie er einmal andeutet, zum Zweck der »Un­gleich­behandlung von Menschen« (ebd.:386) produ­zierte An­schau­ungen über die Zwei­ge­schlecht­lichkeit des Men­schen gebe. Voß scheint sich immerhin darü­ber im Klaren zu sein, dass seine ei­gene Interpre­ta­tion neuerer genetischer Forschun­gen nicht allein in sei­nem Kopf spuken, sondern ähn­lich gesell­schaftlich pro­duziert wurden wie die über­kommene Vorstellung von der menschlichen Zweige­schlecht­­lich­keit. Von Hirschfelds Zwischen­stufenlehre weiß er nichts, ledig­­­­lich die Schmetterlingsforschungen des Biologen Goldschmidt in den 1920er Jahren, die ihn zur Kons­truk­tion einer lücken­losen Reihe von Zwischen­stu­fen zwischen den Polen »typisch weiblicher« und »ty­pisch männlicher« Insek­ten, Wirbel­tiere incl. Men­schen veranlasste, erwähnt Voß kurz (vgl. ebd.:391; zu Gold­schmidt vgl. Satzinger 2004). Voß kritisiert Judith Butlers Annahme, »dass ›Frau‹ und ›Mann‹ mit je spezifischen Merkmalszu­wei­sungen exis­tieren«, wobei Butler sich auf die nur »vermeint­lich sichere körper­li­che Grund­lage« bezieht, die »wir mit Begrif­fen wie ›Hoden‹, ›Hodensack‹, ›Pe­nis‹, ›Gebär­mutter‹, ›Klitoris‹, ›Eierstock‹ belegen« (ebd.:386). Er sieht zwar mit Butler, dass »Kör­perlichkeit in Gesell­schaft bezeichnet wird«, kann aber offensichtlich nicht an­geben, wie solche Be­zeichnungen oder »Deutungen« gesell­schaftlich pro­duziert werden und dass allem Bezeichnen ein Be­zeichnetes zugrunde liegt. Es geht ihm wie Feuer­bach: »er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegen­ständliche Tätigkeit«, als ob die genannten Begriffe zur Bezeichnung der körperlichen Grund­lage beliebig und willkürlich erfunden wurden und nicht viel­mehr der Alltagserfah­rung entsprechen, dass manche Menschen einen Penis haben, andere eine Klitoris und dass dieser Unterschied eine Rolle bei der sexuellen Part­nerwahl spielt, diese Erfahrung also dem gesell­schaftli­chen Leben entspringt, das »we­sentlich praktisch« ist.[12] Voß geht mit seiner idea­lis­tischen Semantik nicht so weit wie Bauer, der nach­weisen will, dass Männer und Frauen bloße Fik­tionen sind. (Bauer 2007:109) Bei Voß sollen Al­ternativen zu binär-geschlechtlichen Deutungen nur »vor­gestellt« werden, ohne diese zu ersetzen. Selt­samer­weise scheint Voss am Ende seines Auf­satzes die Ankün­di­gung vom Anfang irgend­wie ver­gessen zu haben: die Vorstellung der Alterna­tiven fehlt. Voss schließt mit der wenig erhellenden Be­merkung, dass Frau und Mann nach neuer biologi­scher For­schung nicht mehr als natürlich different gesehen werden kön­nen. Die Ausdrücke Frau, Mann und natürlich setzt er dabei in Anführungszeichen, ohne zu erläutern, was er sich dabei gedacht hat (Voß 2010:395).

10. Soweit ich sehe, hat J. Edgar Bauer als ers­ter auf Hirschfelds Bemühung hingewiesen, die Zwi­schen­stu­fen­lehre analog zur Ge­schlech­­tervielfalt für die Ab­wehr von Rassen­theo­rien ein­zu­setzen, die nach dem Sieg der Nazis in Deutsch­land zunehmend politisch-terroristischen Ein­fluss gewan­nen: »Der sexu­alwis­sen­­schaftlichen Aussage, daß alle Men­schen sexuelle Zwischenstufen sind, ent­spricht die bio-an­thro­­pologi­sche Feststellung, daß ›alle Menschen Bas­tarde‹ sind […] Die begrün­dete Einsicht in die un­end­liche Fülle der Natur führt so zur Aufhebung sowohl der sexu­al­di­mor­phistischen Kategorialität als auch der Eintei­lung der mensch­lichen Gattung in Rassen.« (Bauer 2002:89 f.) Bauer irrt jedoch, wenn er Hirsch­felds kritische Revision der Rassentheorien auf die Zeit des Exils und die Arbeit Phantom Rasse. Ein Hirn­ge­spinst als Weltgefahr von 1935 datiert. Den Satz Hirsch­felds: »Biologisch genau genommen sind alle Men­schen Bas­tar­de«, den Bauer aus der 1935er Ar­beit als zentral hervorhebt, findet man bereits im zweiten Band der Geschlechts­kunde von 1928, und zwar im Kon­text der Darlegung seiner Sicht einer – wie man es nen­nen könnte – liberalen Eugenik[13] (GK 2:585). Er re­feriert dort die vielfältigen An­sichten zu den Men­schen­ras­sen, die seit dem 18. Jahrhundert in den Human­wis­sen­schaf­ten propagiert werden, weist die Unhaltbar­keit der damals immer bedrohlicheren Einfluss ge­win­­nen­den Ansicht von der Überlegen­heit und Hö­herwertigkeit einer arischen Rasse nach und zeigt schließlich die Beliebig­keit und Will­kür der Ein­teilung der Menschen in Rassen: »Schon Lamarck hat darauf hingewiesen, daß dieser Fülle der Erschei­nungen gegenüber alle Einteilungen der Geschöpfe im letzten Grunde nur ›künstliche Hilfs­mittel‹ sind; die Natur selbst, sagt er einmal, kennt weder Klassen noch Arten.« (GK 2:654)

Andrerseits kennt auch Hirschfeld die zeit­ge­nössi­sche Realität von Rassenhass und staat­lich sankti­o­niertem Rassismus, die gesell­schaftlich wirkliche Existenz der Menschen­rassen; so notiert er etwa 1933 in seinem Exiltagebuch: »Der Tag des Juden­boykott – 1.IV.33 – wird nicht nur in der Geschichte der Judenheit fort­leben! Seither macht die Ernied­rigung und Entwür­digung der Juden von Tag zu Tag grössere Fortschrit­te und ist heute fast schon stärker wie die der Neger in Ameri­ka.« (nach Dose 2005:44) Der Vergleich der ras­sistischen Politik in den USA und in Nazi-Deutsch­land in den 1930er Jah­ren funktioniert nur, wenn man den Nazi-Begriff der jüdi­schen Rasse mit dem USA-offiziellen Begriff der Neger-Rasse gleich­setzt. Dass hegemoniale politi­sche Kräfte an die Exis­tenz von Men­schenrassen und an die Ver­werf­lichkeit von Rassen­mischungen glau­ben, bedeu­tet: Die Rassen gibt es in den genannten Gesell­schaf­ten tatsäch­lich, weil es für die Landes­bewoh­ner so spontan und un­mittelbar evident ist, ob sein Ge­genüber ein Neger ist oder nicht, wie er sich unbe­zweifelbar sicher ist, ob er es mit einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Da­men­imitatoren im Tingel­­tan­gel und schwarz ge­schminkte hellhäutige Othel­lo-Dar­steller im Theater bekräftigen diese Evi­­denz bloß. Die Rassen wie die Geschlechter besitzen eine gesell­schaft­liche Reali­tät, weil Men­schen an sie glauben und entsprechend han­deln; und wenn ein­flusslose Wis­senschaftler die Men­schen­rassen und die Zweige­schlecht­lichkeit als will­kürliche Kons­truk­tio­nen und als »Phantom« nachge­wiesen haben, dann kann dies die Ge­wiss­heit allen­falls auf lange Sicht erschüttern und dies auch nur in dem Maß wie die Entwicklung der Produktions­ver­hält­nisse und des gesellschaftlichen Reichtums dafür Spiel­räume eröffnen.

11. In Sappho und Sokrates von 1896 versucht Hirsch­feld eine lamarckistisch-darwinistisch ge­färb­te Ge­schich­te von den Anfängen der Wahr­nehmung der Geschlechter­binarität in der Menschengattung zu er­zäh­­len; es begann mit dem Kinderwunsch: »Wenn wir davon ausgehen, […] daß die Anlage jedes Indivi­du­ums eine zwitterhafte ist und der seelische Drang ur­sprüng­lich beide Ge­schlech­ter in glei­cher Stärke um­faßte, so ist es wohl wahr­schein­lich, daß die Absicht sich fortzu­pflanzen, sich der Kinder zu erfreuen, die Menschen bewogen hat, die Liebe zum andern Ge­schlecht zu bethätigen […] Nach dem Dar­win’schen Grundsatz von dem Siege des Zweck­mä­ßigen – sur­vival of the fittest – erstarkte die flei­ßig ge­übte Anlage – Uebung macht den Meister – und ver­fes­tigte sich immer tiefer durch tau­sendjähri­ge Verer­bung, wäh­rend der mit gu­tem Recht ver­nach­lässigte Trieb zum eigenen Geschlecht verküm­merte, genau so wie die un­geübten Muskeln der Ohr­muschel, mit denen wir das Ohr einst ebenso be­de­cken und schüt­zen konnten, wie mit den Augen­liedern die Augen.« (Hirschfeld 1896:15) Indem Hirsch­feld in seiner vorgeschicht­lichen Spekulation einen beide Geschlechter in glei­cher Stärke umfas­sen­den seeli­schen Drang der frühen Menschen annimmt, der sich erst all­mählich hetero­sexuell ein­schränkt, stellt er sich in direkte Oppo­si­ti­on zu Engels und Dar­win und auch zu Sigmund Freud, der Darwin in dieser Frage folgt. Die drei Genannten ge­hen überein­stimmend von einer gleich­förmigen Hetero­sexualität von Anfang an aus, also davon, dass die entschei­dende Frage der Objektwahl lautete: Mann oder Frau? So beruft sich Engels auf Morgan, der »in Übereinstim­mung mit der Mehrzahl seiner Kollegen« einen »Ur­zustand« annimmt, »wo unbe­schränkter Ge­schlechts­verkehr […] herrschte, so daß jede Frau je­dem Mann, und jeder Mann jeder Frau gleich­mäßig gehörte« (MEW 21:38 f.). Freud zitiert in Totem und Tabu Dar­win zustimmend, welcher zum »sozi­a­len Urzu­stand des Menschen« an­nahm, »daß allge­meine Ver­mi­schung der Ge­schlechter im Natur­zu­stand äußerst unwahr­scheinlich ist«, vielmehr lebte wahrscheinlich »jeder Mann mit einer Frau oder, hat­te er die Macht, mit mehreren, welche er eifer­süchtig gegen alle ande­ren Männer verteidigte« (Freud 1961:152 f.) Die voll­kom­mene Hetero­sexualität in Morgans »Urzustand« und in Darwins »Urhorde«, die ja die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen bedeutet, schließt die von Hirsch­feld vermutete an­fäng­liche Partnerwahl nach geschlechts­indifferen­tem Muster jedenfalls aus. Ent­spre­chend glaubte Engels, dass Homo­sexu­a­lität bei den Griechen (»die Wider­wär­tigkeit der Knaben­lie­be«) eine späte Folge der »Ent­­würdigung der Frau­en« gewesen sei (MEW 21:67). Wäh­rend sich Darwin dazu über­haupt nicht äu­ßer­te, hielt Freud die mani­feste Homosexu­alität für ein Symptom psychi­scher Erkrankung. Hirschfeld nimmt zwar später die Vor­stellung einer urgeschicht­lichen Sexualität jen­seits der Mann-Frau-Unter­schei­dung nicht wieder auf, der emanzipatorische Kern­gedanke seiner Zwi­schen­stu­fenlehre zielt aber, wenn schon nicht auf eine Sexu­a­li­tät, so doch auf eine Gesell­schaftsord­nung der Zu­kunft, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für alle gilt, für die augenfälligsten »Sexualtypen Mann und Weib« wie für alle anderen.

Die Lehre von den sexuellen Zwischenstufen kündet von dem Fortschritt, den die transito­rische Arbeit der kapita­lis­tischen Produk­tions­weise an den Indi­vi­duen zur Vor­berei­tung der Übergangsgesellschaft am An­fang des 20. Jahrhunderts geleistet hatte. Sie ist sozu­sa­gen ihre ideologische Widerspiegelung. Die Mate­ri­a­lisie­rung des Gespenstes des Kom­munis­mus hat die Überwindung des absolu­tistischen Glau­bens an die Geschlechter­binarität zur Voraussetzung.

Literatur

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Bauer, J. Edgar (1999): Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstel­lung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 29/30:66 ff.

Bauer, J. Edgar (2002): Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 33/34:68 ff.

Bauer, J. Edgar (2005): Magnus Hirschfeld: der Sexualdenker und das Zerrbild des Sexualreformers, in: Capri Nr. 37:5 ff.

Bauer, J. Edgar (2007): Magnus Hirschfeld: Sexualidentität und Geschichtsbewußtsein. Eine drit­­te Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 37/38:109 ff.

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von K. Menke. Frankfurt.

Dose, Ralf (2005): Magnus Hirschfeld. Deutscher, Jude, Weltbürger. Teetz.

Engels, Friedrich (1962, zuerst 1884): Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, im Anschluss an Lewis H. Morgans Forschungen, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke, Band 21:27 ff. (zitiert als MEW 21)

Freud, Sigmund (1961, zuerst 1913): Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neuro­tiker. Frankfurt (=Freud: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. 3. Aufl. Band 9).

Grau, Günter (2010): 75. Todestag von Magnus Hirschfeld, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 45:9.

Habermas, Jürgen (1992): Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt.

Habermas, Jürgen (2005a): Die Zukunft der menschli­chen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausg. Frankfurt.

Habermas, Jürgen (2005b): Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt.

Herzer, Manfred (1998): Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Reli­gion und das dritte Geschlecht der Romantik, in Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 28:45 ff.

Herzer, Manfred (2001): Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. 2., überarb. Aufl. Hamburg.

Hirschfeld, Magnus (1896): Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Leipzig.

Hirschfeld, Magnus (1899): Die objektive Diagnose der Homo­sexualität, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 1:4 ff.

Hirschfeld, Magnus (1905): Geschlechts-Übergänge. Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechts­charaktere. <Sexuelle Zwischenstufen.> Leipzig.

Hirschfeld, Magnus (1910): Die Transvestiten, eine Untersu­chung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangrei­chem casuistischen und historischen Material. Berlin & Leipzig.

Hirschfeld, Magnus (1919): Was eint und trennt das Menschengeschlecht? Berlin.

Hirschfeld, Magnus (1923): Die intersexuelle Konsti­tu­tion, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 23:3 ff.

Hirschfeld, Magnus (1926): Geschlechtskunde auf Grund drei­ßigjähriger Erfahrung bearbeitet. Band 1: Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart (zitiert als GK 1).

Hirschfeld, Magnus (1928): Geschlechtskunde auf Grund drei­ßigjähriger Erfahrung bearbeitet. Band 2: Folgen und Folge­run­gen. Stuttgart (zitiert als GK 2).

Hirschfeld, Magnus (1930): Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Erfahrung bearbeitet. Band 3: Einblicke und Ausblicke. Stuttgart (zitiert als GK 3).

Hirschfeld, Magnus (1931): Vorwort, in: Felix Halle: Geschlechts­leben und Strafrecht. Berlin:IX ff.

Hirschfeld, Magnus (1986; zuerst 1922/23): Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922. Hrsg. u. mit einem Nachwort von M. Herzer u. J. Steakley. Berlin.

Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der politischen Ökono­mie (Rohentwurf) 1857-1858. Anhang 1850-1859. Berlin. (zitiert als: GR)

Marx, Karl (1961): Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft, in: Marx/Engels Werke Band 13:3 ff. (zitiert als: MEW 13)

Marx, Karl (1968): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Lizenzausgabe. Frankfurt a.M. (zitiert als: MEW 23)         

Marx, Karl (1968): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Lizenzausgabe. Frankfurt a.M. (zitiert als: MEW 25)

Musil, Robert (1970; zuerst 1930): Der Mann ohne Eigenschaf­ten. Roman. Hrsg. von A. Frisé. Sonderausgabe. Hamburg.

Proust, Marcel (1993; zuerst 1925): À la recherche du temps perdu. La fugitive. Cahiers d’Albertine disparue. Texte établi, présenté et annoté par N. Mauriac Dyer. Paris.

Satzinger, Helga (2004): Rasse, Gene und Geschlecht. Zur Kons­tituierung zentraler biologischer Begriffe bei Richard Goldschmidt und Fritz Lenz 1916-1936. Berlin.

Schopenhauer, Arthur (1987; zuerst 1859): Die Welt als Wille und Vorstellung. Gesamtausg. in 2 Bänden nach der Edition von A. Hübscher und mit einem Nachwort von H. G. Ingenkamp. Stuttgart.

Sigusch, Volkmar (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/New York.

Stirner, Max (1979; zuerst 1845): Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort hrsg. von A. Meyer. Stuttgart.

Ulrichs, Karl Heinrich (1899):  Vier Briefe, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jg. 1:36 ff.

Voß, Heinz-Jürgen (2010): ›Natürlich‹ gibt es kein Geschlecht: Von Theorien der Differenz und Gleichheit zweier Geschlechter hin zu vielen Geschlechtern, in: Das Argument, Nr. 287:386 ff.


*  *  *

 

 



[1] Der hier vorgelegte Versuch, Hirschfelds theoretisch-emanzi­pa­torische Bemühungen als eine wichtige Ergän­zung des his­torisch-materialistischen Konzepts des Individuums von Marx und Engels zu deuten, soll zugleich ein Gegenentwurf zu J. Edgar Bauers Inter­pre­tation des Hirsch­feldschen Œuvres als »Ergän­zung von Max Stirners Kritik der anthropo-theologischen Grund­voraus­setzungen des Abend­landes« (Bauer 1998:26) sein. Vgl. dazu auch Bauer 1999:70 f., wo es heißt: »Stir­ners Werk Der Einzi­ge und sein Eigentum […] beschreitet denke­risch einen dekons­­truk­­­ti­ven Weg der Sprach­herr­schaft hin zur Dimension des Un­aus­sprech­li­chen, für die sicherlich der phi­losophisch und reli­giös versierte Hirsch­­feld mehr Ver­ständ­nis zeigen würde, als sei­ne vorwiegend psycho-soziologisch ori­en­tierten Kom­men­ta­to­ren.« Am Schluss meiner Darlegung wird womöglich deutlich, dass Stir­ners Kons­trukt des »Einzigen« als ideologischer Reflext der real un­ter dem Kapitalismus sich voll­ziehenden Ver­wandlung der frei­en und gleichen Warenbesitzer in »vereinzelte Einzelne« aufge­fasst werden kann. Wäh­­rend aber der vereinzelte Einzelne und die universal entwickelten In­divi­du­en im Postkapi­talismus bei Marx stets sozusagen überge­schlechtlich gefasst sind, stand für Stirner nie außer Frage, dass sein Einzi­ger ein Männchen ist. Das Ich des Einzigen, der sein Sach‘ auf Nichts gestellt hat, widmet das Buch »Meinem Liebchen Marie Dähnhard«; das Liebchen gehört anscheinend zu seinem Eigentum (Stirner 1979:2).

[2] »Seine geschichtlich dimensionierte Konzeption des Befrei­ungs­kampfes für die Rechte sexu­el­ler Minderhei­ten wendet sich zwar gegen die schöpfungstheologische Fixierung einer bino­men Sexu­a­lität. Aber seine Leiden­schaft für die Verwirk­lichung der Gerech­tig­keit in der Geschichte verrät die messianische Inspi­ration der Propheten Israels.« (Bauer 1998:25)

[3] Eine Vorwegnahme dieses zentralen Gedankens findet sich bereits bei Karl Heinrich Ulrichs, wenn er am 23.12.1862 in einem Privatbrief schreibt: »In gewisser Hinsicht ist also jeder Mensch, Mann sowohl wie Weib, ein Zwitter.« (Ulrichs 1899:66).

[4] Hirschfeld (1905:8) zitiert beispielsweise aus Charles Darwins The variation of animals and plants under domestica­tion (London 1868, deutsch 1873): »Wir sehen, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundä­ren Charaktere jedes Geschlechts schla­fend oder latent in dem entgegengesetzten Geschlecht ruhen, be­reit, sich unter eigentümlichen Zuständen zu entwickeln.«

[5] »Nur für eine unter den vielen Geschlechtstypen scheint mir eine Ausnahme am Platz: das ist das müt­ter­liche Weib. Die echte Mut­ter ist tatsächlich unter allen Menschentypen das voll­endetste Geschöpf. Es gibt keinen erhabeneren und ergrei­fende­ren Anblick als den einer Mutter« usw. (GK Bd. 1:541)

[6] Beim Lesen des Romans ist mir diese Stelle nicht aufge­fallen, erst recht nicht, dass sie sich zur Verdeutlichung des Gehalts der Zwischenstufenlehre eignet. Ich wurde auf sie aufmerksam durch Ralf Dahrendorfs Homo socio­logicus, wo sie zur Klärung des Dah­rendorfschen Rollen­konzepts dient. Er sieht eine Ent­spre­chung zwischen den zehn Musilschen Charakteren und Kants Unter­schei­dung des empirischen und des intelligiblen Charakters des Menschen. Kants intelligiblem Charakter und Bauers Ineffabilität des Indivi­du­ums (vgl. Bauer 1998:23 u.ö.) sind aber ebenso wie Musils zehnter Charakter der Erd­bewohner »jenseits von Natur und Geschich­te« in einer Art »Weltenthobenheit« zuhause (vgl. Habermas 2005b:195). Man könnte aber die Konstrukte der drei einander nicht sehr ähn­lichen Autoren als Hinweis auf die prin­zi­pi­elle Unabschließ­barkeit erfahrungswissen­schaft­licher For­schung und Wissens­generierung in Sachen Individuum verstehen und dann an Friedrich Engels‘ diesbezügliche Feststellung den­ken: »Die Wahr­heit […] lag nun in dem Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissen­schaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann.« (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21:267)

[7] Der Dichter Marcel Proust, ein Zeitgenosse Hirschfelds und Musils legte seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit eine ähnliche, nicht sehr dialektische, son­dern eher serielle Theorie der vielen Charaktere zu­grunde, die bei ihm Ichs (moi) genannt werden, beispiels­weise im sechsten Band La Fugitive: »Cela n’est pas vrai seulement pour notre moi permanent qui se prolonge pendant toute la durée de notre vie, mais pour tous nos moi successifs qui, en somme, le composent en partie.« (Proust 1993:286)

[8] Hirschfeld zitiert ihn mehrmals aus den Nouveaux essais von Leibniz (1704) und übersetzt: »In der Natur geht alles stufen­weise, nichts sprungweise« (GK 1:545). Ähnli­che Aussagen, die er als »Naturgesetz« bezeichnet, fand er bei Amos Comenius (1638) und Karl von Linné (1751).

[9] Zustimmung zu Habermas‘ Kritik an den poststruk­tura­listischen Denkern geht einher mit erheblichen Einwän­den gegen seine Sicht des Historischen Materialismus, den er unter Absehung von der Marxschen Arbeitswert­theorie mit ihrem veralteten Produk­tionsparadigma einer angreifbaren Rekonstruktion unterzieht.

[10] Der Sigusch-Schüler Günter Grau warnt neuerdings sogar vor den Gefahren, die von Hirschfelds Lehren für die Frei­heit des Indi­viduums ausgehen: »Sicherlich war er [=Hirsch­­­­­feld] kein ›Vorden­ker der Nazi-Ideologie‹, wie ihm später vereinzelt vorge­worfen wurde, wohl aber ver­kannte er die Gefahren, die von einer durch rassen­hygi­eni­sche Vor­­­stellungen bestimm­­te Bevölke­rungs­politik für das Selbst­­bestimmungsrecht und die Freiheit des Individuums ausgehen.« (Grau 2010:9)

[11] Gleichbedeutendend »neben« dem Warenfetisch sieht Si­gusch im Kapitalismus einen zweiten, den »Fetisch Wissen/ Wissen­schaft« am Werk; dieser soll »heute […] alle Fetische über­trumpft« und so in unserem »Turbo­kapi­talis­mus« die Antiquiert­heit der Kritik der politi­schen Öko­­no­mie erwie­sen haben (Sigusch 2008:373), denn Marx konnte noch nichts von Siguschs »Wissensfetisch« ahnen.

[12] vgl. dazu die 1. und 8. der Thesen ad Feuerbach (MEW 3:5 ff.)

[13] Den Ausdruck »liberale Eugenik« habe ich von Haber­mas übernommen, der ihn für seine Kritik der neuesten bio­wis­sen­schaftlichen Eingriffsmöglichkeiten in die Re­produk­tion der menschlichen Gattung verwendet: »So nenne ich eine Praxis, die Eingriffe in das Genom der befruchteten Eizelle dem Ermessen der Eltern überlässt. Das bedeutet keine In­ter­vention in Freihei­ten, die jeder geborenen Person, ob sie natürlich gezeugt oder gene­tisch programmiert worden ist, moralisch zustehen; aber sie berührt eine naturale Voraus­set­zung für das Bewusst­sein der betroffenen Person, auto­nom und verantwort­lich handeln zu können.« (Ha­ber­mas 2005a:132) Sigusch, der eine Kritik der neuen re­pro­duk­ti­ons­medi­zinischen Möglichkeiten aus seiner »kri­ti­schen Se­xu­al­wissenschaft« ausklammert, kritisiert um so rigoroser die liberale Eugenik der 1920er Jahre.