Manfred Herzer Marcel, durch Mitleid wissend Prousts reiner Tor. Messianische Transformation Ursprünglich
erschienen in: Capri 44, Feb. 2011.
Je ne lui trouve rien de moschant comme Coco et vous m’aviez dit.[1] Heut’ ist wieder Char-Freitag! – O, heiliger Tag! Tief bedeutsamster der Welt! Tag der Erlösung! Gott im Leiden!! Wer faßt das Ungeheure? […] Ein warmer, sonniger Charfreitag gab mir durch seine heilige Stimmung einst den Parzival ein: er lebt seitdem in mir fort und gedeiht, wie ein Kind im Mutterschoß.[2] Die
aktuell messianischen Momente im Kunstwerk treten als sein Inhalt, die
retardierenden als seine Form in Erscheinung. Inhalt kommt auf uns zu. Form
verharrt, läßt uns an sich heran. Die retardierenden (formalen) Momente der
Musik liegen wahrscheinlich in der Erinnerung, an der das Hören sich staut.
Jedenfalls hat jede Kunstart und jedes Kunstwerk in sich ein Moment, an dem das
Vernehmen sich staut und dieses ist das Wesentliche seiner Form.[3] 1. Hat Marcel Proust seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit[4], in dem es vor allem um die Homosexualität des Mannes und des Weibes geht, eine oder mehrere Theorien der gleichgeschlechtlichen Liebe unterlegt und wenn ja: welche? Diese Fragen sollten geklärt werden, als ich begann, den Roman zum zweiten Mal zu lesen. Sodann sollte die Proustsche Homosexualitätslehre mit den anderen verglichen werden, die damals in Frankreich und Deutschland im Umlauf waren. Bald schon stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte und dass es Proust um nichts weniger ging als um irgendwelche Theorien, sei es zur Sexualität, zu den Juden, zur Kunst, zum Krieg oder zu sonst etwas. Die vielen quasi theoretischen Erörterungen und Dispute in den Salons der reichen Pariser Familien, die im Roman so großen Raum einnehmen, sind nur möglichst exakte Abbilder dessen, was in den Kreisen der Pariser Bourgeoisie des Fin de siècle geschwätzt, geglaubt und angezweifelt wurde. Ein Vergleich dieser Religion des Alltagslebens und speziell der Pariser Ansichten zur Inversion mit Hirschfelds Lehre von den sexuellen Zwischenstufen ist daher nicht möglich. Es ergab sich aber eine andere überraschende Vergleichbarkeit des schwulen französischen Dichters mit dem schwulen deutschen Forscher und das betraf ihrer beider Verhältnis zur Religion, die Reflexion der mitteleuropäischen Sekularisierung, des Verfalls der christlichen Ideologien im Selbstverständnis der beiden Zeitgenossen. Mit den Stichworten »Kunstreligion« (Proust) und »Wissenschaftsreligion« (Hirschfeld) soll das sowohl individuelle wie auch zeittypische Verhältnis der beiden zur in Verfall und Auflösung befindlichen Religion untersucht werden.
2. Ich glaube, ich habe verstanden, worum es Proust in seinem Roman gegangen ist. Er hat sich zum Ziel gesetzt, eine neue Stufe der realistischen Schreibweise zu erreichen, mit der er die einschlägigen Werke seiner bewunderten Vorgänger Madame de La Fayette, Balzac, Stendhal und Flaubert[5] überbieten und ein neues Maß an Genauigkeit beim Beschreiben der Innenwelt und der Außenwelt seiner Romanfiguren erreichen konnte. Ziemlich am Anfang seiner Proust-Biografie teilt Jean-Yves Tadié im Anschluss an ein Porträt des Vaters, des Mediziners und Schriftstellers Adrien Proust eine Beobachtung mit, die die Weltsicht des Dichters betrifft: »Proust hat einen medizinischen Blick auch für die Welt, das Leben, die Leidenschaften: alles Pathologie und Symptome; jede Beschreibung wird zur Diagnose; nirgendwo stärker als in der Liebe. Die Forschungen des Vaters sind für den Sohn von Nutzen: jeder untersucht ein anderes Übel; für letzteren ist die Leidenschaft eine Krankheit. Adrien Proust war ein Spezialist für Cholera und für Pest. Wenn Marcel die Liebe wie eine Krankheit behandelt, deren Ursprung völlig unscheinbar ist, vergleicht er sie vielleicht eben deshalb mit jener anderen Krankheit, die vom Kommabazillus verursacht wird. Und wenn die Pest, wie der Mediziner zeigt, von Ratten übertragen wird […], dann kann man sich gut vorstellen, daß von diesem Tier zu Hause sogar bei Tisch die Rede war, in den Gesprächen des Arztes, in Gegenwart des kleinen Kindes: Adriens Bildung war nicht so ausgeprägt, daß er häufig von etwas anderem als von seinem Beruf gesprochen hätte.« (Tadié S. 59 f.) Anders als der Papa wollte Marcel aber kein Naturwissenschaftler werden, sondern Dichter. Den Versuch, eine literaturtheoretische Abhandlung zu schreiben, Contre Sainte-Beuve, eine Kritik der naturalistischen Ansichten des Schriftstellers Charles-Augustin Saint-Beuve, brach er bald ab, oder genauer: er ändert im Manuskript bald das Thema und skizziert Passagen seines kommenden Romans. Der medizinische Blick, der eine Art imaginäres Beobachtungsprotokoll hervorbrachte, ähnlich den Falldarstellungen der damaligen medizinischen und besonders der psychiatrischen Literatur, war sozusagen das Rohmaterial, aus dem das Sprachkunstwerk zu formen war, der Stoff, aus dem Proust seinen Roman schuf.[6] Klar war ihm beim Schreiben stets, dass die Differenz zwischen beiden Textsorten allenfalls in der Weise zu überbrücken war, dass der Romanautor den Anspruch höchster Sorgfalt bei der Analyse und gründlichster Durchdringung eines Gegenstandes vom Naturwissenschaftler übernimmt (oder imitiert?) und gewissermaßen das Ergebnis des Forschungsprozesses in Poesie, Sprachmusik verwandelt, in ein Bewusstseinsgemälde oder wie auch immer man das resultierende Kunstwerk nennen will. Einmal – 1904 − äußerte Proust seine Überzeugung, »dass die Wissenschaft sich niemals ›mit Kunst vermischen lässt‹, ›deren Aufgabe es gerade ist, jenes Besondere, jenes Individuelle einzufangen, das den Synthesen der Wissenschaft entgeht‹.«[7] Natürlich strebte die Wissenschaft ähnlich wie die Künste damals danach, eben »jenes Individuelle einzufangen«, und besonders weit brachten es in dieser Hinsicht die psychoanalytischen und sexualwissenschaftlichen Fallstudien. Letztlich war den Sexologen und Psychoanalytikern klar, dass sie sich ihrem Ziel, jenes Individuelle zu begreifen, allenfalls als normatives Ideal in einem unendlichen Progress annähern konnten, gewissermaßen asymptotisch. Der Dichter, zumal wenn er den Roman der Lebenszeit eines Dichters schreibt, der eben dieses sein Dichterleben zum Gegenstand seines Romans macht, steht vor einer ähnlichen unlösbaren Aufgabe wie der Psychologe: die Totalität der vergangenen Zeit mit ihren unermesslichen Bewusstseinsströmen, Bilderfluten und Archiven der Erinnerung und des Vergessens kann auch er niemals vollkommen oder vollständig in seinem Werk einfangen. Dennoch gibt es hier wie dort, sowohl bei den Wissenschaftlern wie auch bei den Dichtern am Anfang des 20. Jahrhunderts neue Erkenntnisse, technische Fortschritte, die uns dem Ziel näherbringen, die verlorene Zeit wiederzufinden. Als Proust 1920 für die drei bereits erschienenen Bände seines Romans den Prix Goncourt gewann, erhielt er auch von dem Philosophen Henri Bergson, den Tadié zurecht als Prousts »gefährlichen Rivalen« bezeichnet, ein kurzes Glückwunschschreiben, in dem es anerkennend heißt: »Selten ist die Introspektion so weit vorangetrieben worden. Es ist eine unmittelbare und stete Sicht auf die innere Wirklichkeit.«[8] Das ist eine recht treffende Beschreibung dessen, was in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschieht: Ein Ich-Erzähler, der zwar »Marcel« heißt, aber keinesfalls mit dem Autor identisch ist, erzählt von seinen Anstrengungen, sich an sein vergangenes Leben zu erinnern, um die Ergebnisse und Erlebnisse dieser Erinnerungsarbeit in einem Roman, nämlich dem vorliegenden, darzustellen. Die Pointe des Ganzen, die Neuerung, die Proust für seinen Roman erfindet, kann in der Darstellungsform gesehen werden, die jene Erfahrung der Introspektion, die Bergson hervorhebt, mit einer neue Präzision abbildet. Die Arbeit des Erinnerns wird im Roman sozusagen protokolliert, wobei zwei Wertmaßstäbe zugrunde liegen, die »Schönheit des Stils«[9] und die maximale Objektivität bei der Beschreibung der inneren Wirklichkeit. Die Liebe zur Wahrheit, um die es hier geht, ist von einer radikal anderen Natur als etwa die, die bei André Gide am Werk ist und die sich dort leicht zu einer missionarischen oder propagandistischen Pose steigert. Proust lobt Gide im Brief vom 23.4. 1921 als »Apostel der Aufrichtigkeit« (vgl. Tadié, S. 873), und meiner Ansicht nach sind in diesem Lob Spott und Ironie unüberhörbar; dies um so weniger, sobald man in Gides erstmals 1941 veröffentlichtem Tagebuch den Bericht über die Besuche bei Proust im Mai 1921 liest: »Wir haben auch heute abend von fast nichts anderem gesprochen als vom Uranismus; er sagt, er bereue die ›Unentschlossenheit‹, die ihn bewogen habe, alle Grazie, alle Zärtlichkeit, allen Charme seiner homosexuellen Erfahrungen in den ›Schatten junger Mädchen‹ [der zweite Band der Recherche] zu transponieren, um dem heterosexuellen Teil seines Buches Nahrung zu geben, so daß ihm für Sodom nur noch Groteskes und Gemeines geblieben sei. Es scheint ihn aber sehr zu treffen, als ich sage, man könne meinen, er habe den Uranismus brandmarken wollen; er protestiert, und schließlich begreife ich, daß das, was wir niederträchtig, lächerlich und widerwärtig finden, ihm selbst gar nicht so abstoßend erscheint.« (Gide 1990, S. 673) Es spricht für Gide, wenn er schließlich begreift, dass es Proust nicht um eine Apologie oder Verurteilung der Homosexualität, oder gar ein Bekenntnis eigener Gefühle geht – das wären eher die Spezialitäten des Aufrichtigkeitsapostels Gide − , sondern um einen Roman, in dem Gefühle und Handlungen der Protagonisten in einer Weise gezeigt werden, die der Wahrheit so nahe kommt wie nie zuvor. Eine solche Auffassung von Wahrhaftigkeit wird selbstverständlich alles von der herkömmlichen Moral als niederträchtig, lächerlich und widerwärtig Klassifizierte genauso objektiv darstellen wollen wie Grazie, Zärtlichkeit, Charme u. dergl. Und kann man sich etwas Graziöseres, Zärtlicheres oder Charmanteres in der schwulen Belletristik vorstellen als die Beschreibung des schönsten, virilsten und anmutigsten Uranisten von Paris, des intimsten Freundes des Ich-Erzählers: Robert de Saint-Loup? In Gides Tagebucheintrag wird auch erwähnt, dass er Proust seinen Traktat zur Verteidigung der Homosexualität Corydon mitgebracht hatte (nicht erwähnt wird, was Proust nach der Lektüre dazu gesagt hat). Corydon darf man wohl als klassisches Beispiel schwuler verlogener Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen, da dort nach dem üblichen Schema verfahren wird, die Schwulen, für die um Verständnis geworben wird, in gut und böse einzuteilen und die bösen aus der Verteidigung auszugrenzen. Böse sind die zu »Feminismus« und »Sodomie« Invertierten (Tunten mit Vorliebe für den Analverkehr). Gut sind die »normalen Päderasten«, über deren sexuellen Geschmack nur gesagt wird, dass sie nicht effeminiert sind und ebensolche Männer begehren, mit denen sie auf gar keinen Fall Analverkehr wünschen.[10] Im Grunde genommen ist es eine kluge und ziemlich witzige Reaktion, wenn Proust auf Gides Vorwürfe mit dem Hinweis antwortet, er habe das aus »Unentschlossenheit« so gemacht, denn der Ausdruck wirkt wie eine Erklärung oder gar Entschuldigung, ist aber keine, sondern der erfolgreiche Versuch, sich der lästigen Diskussion mit einem offensichtlichen Ignoranten (der Corydon verfasst hat) zu entziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine der für meinen Geschmack schönsten Stellen in Tadiés Proust-Biografie zitieren; sie betrifft die Komik bei Proust und seine Freundschaft mit der Dichterin Anna de Noailles: »Proust begreift Poesie als ›das Denkmal der Erinnerung für die Minuten unserer Inspiration‹, die das ›innere Wesen unser selbst‹ enthalten: ein Duft von früher, ein gleiches Licht erlöst uns für einen Augenblick ›von der Tyrannei der Gegenwart‹, so daß wir ›etwas empfinden, was über die jetzige Stunde hinausreicht; unsere eigene Wesensessenz‹. Man hat noch nicht hinlänglich bemerkt: Proust entwirft Anna de Noailles wegen die Ästhetik der Wiedergefundenen Zeit [der letzte Band des Romans]. Mit seiner wachsamen Sensibilität spürte Proust, daß diese junge Frau immer traurig war und daß sie in der Melancholie ›einen Ausgangspunkt ekstatischer Träume‹ fand. Er teilte auch denselben Umgang mit dem Komischen, der nicht darin besteht, komische Geschichten zu erzählen, sondern in jedem Lebensumstand ›etwas Komisches‹ zu entdecken. Das Komische ist also mit der Poesie verwandt, die das Wesen der Dinge aufspürt. Verschieden ist nur das Niveau: Charme und Fröhlichkeit kommen an der Oberfläche und im Gespräch zum Ausdruck, die Inspiration in Tiefe und Einsamkeit.«[11] Das Groteske und Gemeine, das Lächerliche und Widerwärtige, das Gide an Prousts Darstellung von Sodom rügt, ist dort immer zugleich auch Aspekt des Wesens der Dinge, eines jeden Lebensumstands – ein Merkmal der besonderen Qualität seiner realistischen Schreibweise. Prousts Roman-Ich »Marcel« ist heterosexuell. Er erfährt durch haarsträubend unglaubwürdig konstruierte Zufälle von der Existenz der Lesben und Schwulen: − In der Nähe des Dorfes Montjouvain war er »in den Büschen einer Anhöhe eingeschlafen« und als er wieder erwachte, beobachtete er − »nur wenige Zentimeter von mir entfernt« − durch das halb offene Fenster eines Hauses wie Fräulein Vinteuil mit ihrer Freundin etwas undeutlich beschriebene Sexspiele spielt, die von Marcel »Sadismus« genannt werden, weil die beiden Frauen dabei das Foto des gerade verstorbenen Vaters der einen bespucken und den Toten verhöhnen: »der alte Affe«. (Proust 1994, S. 233 ff.) − In einem Versteck im Treppenhaus der Pariser Mietwohnung seiner Eltern beobachtet Marcel die Begegnung zweier Homosexueller, des Baron de Charlus und des Herrenschneiders (»Westenmacher«) Jupien, die sich zum Sex verabreden. »Eine äußerst dünne Zwischenwand« ermöglicht es Marcel, den beiden beim Sex zwar nicht zuzusehen, aber doch den »unartikulierten Lauten« zuzuhören, die die beiden in ihrer »Lust« ausstoßen. (Proust 1999, S. 13 ff.) − Weil Marcel bei einem nächtlichen Spaziergang plötzlich »ungewöhnlichen Durst« verspürt und in dieser Gegend von Paris alle Gaststätten geschlossen sind, geht er in das einzige noch offene Hotel, das sich aber als Schwulenbordell entpuppt. Dort kann er durch »ein kleines Rundfenster, an dem aus Versehen der Vorhang nicht zugezogen war«, den Baron de Charlus beobachtet, wie er sich mit Ketten an ein Bett gefesselt, »bereits in seinem Blut schwimmend und mit Striemen bedeckt«, von dem »Seemann« Maurice mit einer »Klopfpeitsche« verprügeln lässt. Plötzlich weiß Marcel auch noch, dass dieses Bordell dem Baron de Charlus gehört, der es gekauft hat, um seine sexuellen Vorlieben zu befriedigen. (Proust 2002, S. 174 ff.) Der Herausgeber der »Frankfurter Ausgabe«, Luzius Keller äußert hierzu die sonderbare Ansicht, die »Inszenierung der Homosexualität in der Recherche« sei kompliziert und unwahrscheinlich[12]. Offensichtlich ist aber nicht die Homosexualität kompliziert und unwahrscheinlich inszeniert, sondern die Umstände, die es dem heterosexuellen Ich-Erzähler erlauben, lesbischen und schwulen Sex aus der Distanz zu beobachten oder zu belauschen. Diese Konstruktionen sind derart unwahrscheinlich und geradezu anti-realistisch, dass man sich wundert, warum die ausufernde Proust-Exegese bisher keinen Erklärungsbedarf zu sehen vermochte. Hier nun soll eine Deutung der drei genannten Beobachtungsszenen vorgeschlagen werden, die darauf hinausläuft, dass Proust mit seinen offensichtlich unglaubwürdigen Konstruktionen ein Signal sendet, das Zweifel an der durchgängig behaupteten Heterosexualität, oder genauer: Nicht-Homosexualität des Ich-Erzählers Marcel säen soll. Ähnlich wie der von den irgendwie heterosexuellen Männern Charles Swann und Marcel vermutete Lesbensex der jeweils geliebten jungen Mädchenblüten Odette (»eine Liebe Swanns«) und Albertine (»die Gefangene«) nie wirklich nachgewiesen, sondern – wie Ina Hartwig recht treffend bemerkt[13] − »der sexuellen Imagination« des Ich-Erzählers resp. Swanns zugewiesen wird, so könnte auch dem Ich-Erzähler selbst wegen seiner beeindruckenden Kenntnisse über das Leben der Schwulen, die er auf absurd unwahrscheinliche Weise erlangt haben will, eine Homosexualität angedichtet oder vom Leser imaginiert werden. Zu der gleich am Anfang des Romans beobachteten Sexszene zwischen Fräulein Vinteuil und ihrer Freundin wäre zweierlei zu bemerken: Für Ina Hartwig ist zwar klar, es ist »eine lesbische Szene« (Hartwig 1994, S. 5), die hier beschrieben wird, der Ich-Erzähler benennt sie aber anders, nämlich mit dem Wort »Sadismus«. Die Tochter Vinteuils ist eine »Sadistin«, »eine Künstlerin des Bösen«, der »die Lust« böse vorkam, weshalb sie »an der Lust etwas Teuflisches« fand und deshalb diese Lust »mit dem Bösen« identifizierte. (Proust 1994, S. 239 ff.) Der Reiz, den ihre Freundin auf sie ausübte, bestand demnach darin, »daß eine gegen einen wehrlosen Toten so unerbittlich strenge Person ihr Zärtlichkeiten erwies«. (Proust 1994, S. 238) Hartwig vermutet, »dass Proust weibliche Homosexualität vor der Recherche und vor dem Tod seiner Eltern (sein Vater starb 1903, die Mutter 1905) auch benutzte, um versteckt über männliche Homosexualität zu schreiben«, und: »Hätte er jedoch fortan nur noch über männliche Homosexualität schreiben wollen, dann hätte er in der Recherche kaum derart ausführlich weiterhin auch weibliche Homosexualität thematisiert.« (Hartwig 1998, S. 67) Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass weibliche Homosexualität, das einzige Mal, wo sie in der Recherche explizit gezeigt wird, vor allem als »Sadismus« verstanden werden soll. Marion Luckow weist überzeugend darauf hin, dass diese Szene eine ziemlich genaue Nachbildung einer anderen ist, die Proust in De Sades Roman La Nouvelle Justine gefunden hat. Prousts Veränderungen betreffen vor allem Geschlechtsumwandlungen: Prousts Lesben sind bei De Sade zwei Schwule, und der Beobachter Marcel ist bei De Sade die arme Justine, das profanisierte Foto eines Vaters ist bei De Sade eine leibhaftige Mutter. (Luckow 1962, S. 7 f.) Dort, wo bei Proust wirklich ausführlicher von den Lesben die Rede ist, bei der imaginierten lesbischen Liebe zwischen Albertine und ihren Freundinnen, wäre zu klären, ob hier nicht vielleicht doch nur »versteckt über männliche Homosexualität« geschrieben wird. Der Hinweis auf Baudelaire kann weiterhelfen, denn dieser hat, wie Hartwig betont, eine »poetische und erotologische Tradition« der Lesbierin begründet, die von Proust aufgenommen wird. (Hartwig 1998, S. 67) Aber wie sieht Proust die Lesbierinnen bei Baudelaire? Hierzu könnte ein Streitgespräch aus dem Jahr 1921, das André Gide in seinem schon zitierten Tagebuch mitteilt, einen Anhaltspunkt geben: »Sich selbst durch ständige Zwischenbemerkungen unterbrechend, redet er [Proust] ohne Zusammenhang dahin. Er spricht von seiner Überzeugung, daß Baudelaire Uranist gewesen sei: ›Die Art, wie er von Lesbos spricht, allein schon das Bedürfnis, davon zu sprechen, wäre für mich Beweis genug.‹ Und als ich widerspreche: ›Wenn er Uranist war, so jedenfalls halb unbewußt; und Sie werden doch nicht denken, daß er jemals praktiziert hat …?‹, ruft er: ›Wieso denn nicht! Ich bin vom Gegenteil überzeugt: wie können Sie daran zweifeln, daß er praktiziert hat? Er, Baudelaire!‹ Und seinem Tonfall konnte man fast entnehmen, ich würde Baudelaire durch meine Zweifel beleidigen.« (Gide 1990, S. 671) Proust sieht also nicht nur in der dichterischen Beschäftigung mit Lesbensex ein Zeichen für des Dichters Männerliebe, er sieht auch »das Bedürfnis, davon zu sprechen«, als Beweis, dass hier stellvertretend oder codiert vom eigenen schwulen Sex gesprochen wird. Das ist offensichtlich eine wilde Spekulation Prousts, die aber viel über seinen eigenen dichterischen Umgang mit den Lesben sagt. Nicht nur, wie Hartwig richtig bemerkt, dass er hier ein traditionelles Muster imitiert, mehr noch: die lesbischen Stellen im Roman sind in baudelairscher Manier verschlüsselte schwule Stellen, die »sadistische« Szene zwischen Fräulein Vinteuil und ihrer Freundin würde demnach wie in einer Opernouvertüre »die große Szene des gefesselten Charlus« (Tadié, S. 795) im letzten Akt, Die wiedergefundene Zeit, ankündigen und vorwegnehmen. Dass die Lesben in Prousts Roman meist, anders als die Schwulen, nur als Imaginäre auftauchen, nie der Proustschen Lebenserfahrung, sondern immer der französischen literarischen Tradition[14] entnommen sind, kann besonders deutlich am vierten Band, Sodom und Gomorrha, demonstriert werden. Hier gibt es nämlich keine einzige Lesbe, obwohl auf der ersten Seite etwas anderes mit dem Epigraph von Alfred de Vigny versprochen wird: »Die Frau wird in Gomorrah, der Mann in Sodom herrschen«; die in der Überschrift zum ersten Kapitel angekündigten »Zwitterwesen« (hommes-femmes) sind durchweg schwule Männer. Ich gebe gern zu, dass ich die schnell wachsende Literatur der Proust-Biografik eigentlich nicht überschaue, finde es aber doch bemerkenswert, wenn die drei neueren Biografen Ronald Hayman (1990), Tadié (1996) und Carter (2006) nicht eine einzige lesbische Frau in Prousts Entourage ausfindig machen konnten. »Ich kann […] beim Schreiben nichts erzählen, was nicht auf mich mit der Gewalt poetischer Verzauberung eingewirkt hat oder bei dem ich nicht eine allgemeine Wahrheit zu begreifen geglaubt habe«, schreibt Proust am 6. März 1914 an Gide (Tadié, S. 728). Diese Gewalt scheint er, was die Lesben betrifft, nur beim Lesen französischer schöner Literatur wie Gedichte Baudelaires erlebt zu haben. Es ist gewiss zu viel gesagt, wenn Tim Campbell vermutet, Prousts Roman sei die persönliche »coming out story« des Autors. (Campbell 1993, S. 178) Dennoch könnte man die offensichtlich unglaubhaft beschriebenen Szenen, in denen der vorgeblich nicht-schwule »Marcel« die Schwulen beim Sex, sowie zwei »Sadistinnen« bei ihren »Vergnügungen« zufällig ausspioniert, als ironische Hinweise des Autors an seine LeserInnen verstehen, hier werde »mit der Gewalt poetischer Verzauberung« eine Geschichte erzählt, die wahr ist, weil sie die »Wesensessenz«[15] der Menschen und Dinge zeigt, zu der aber zugleich die trügerische, irreführende, in unaufhörlicher Bewegung und Veränderung befindliche Oberfläche untrennbar dazugehört. Marcel, der ja der fiktive Autor von Prousts Roman ist, würde demnach wie Monsieur de Charlus zu jener Sorte Schwuler gehören, die »nicht sehen [will], daß seit neunzehnhundert Jahren […] die Homosexualität als allgemeine Sitte – jene der jungen Leute Platos wie auch der Hirten Vergils – völlig verschwunden ist und allein die unfreiwillige, nervös bedingte übrig bleibt und um sich greift, jene, die man vor den anderen verbirgt und vor sich selbst bemäntelt.« (Proust 2000, S. 289) Bliebe noch die Frage, die Ina Hartwig mit großer Vehemenz verneint: »Ist Albertine wirklich ein rasierter Mann?« (Hartwig 1998, S. 65) Ihr ist zuzustimmen, dass die Annahme »ziemlich abwegig« erscheint, »Proust habe Schwierigkeiten mit der Darstellung männlicher Homosexualität gehabt« und sie deshalb manchmal »in weibliche Homosexualität transformiert«. (Hartwig 1998, S. 63) Wenn man aber die bedrückende Liebesgeschichte zwischen Marcel und Albertine als verschlüsseltes Drama zweier Männer liest, dann ergibt es keinen Sinn, dass Marcel nach lesbischen Affären seines Geliebten forscht; das ganz andere und bedrohliche der schwulen Liebe ist nicht die lesbische, sondern die heterosexuelle. Der quälende Eifersuchtswahn eines schwulen Marcel wäre in seiner inneren Logik nachvollziehbar, wenn er argwöhnt, sein Geliebter, der »rasierte Mann«, betrüge ihn mit Frauen. Bevor ich zeige, warum es für die Architektur und die Dramaturgie des Romans notwendig ist, dass Marcel kein Schwuler ist (und übrigens auch kein Jude), soll Bekanntes zu der Frage rekapituliert werden, wie Proust seine Romanfiguren konstruiert und in welchem Verhältnis sie zu wirklich lebenden Personen stehen. Niemand glaubt wohl heute noch, Proust habe die Figuren mit kleinen Retuschen und gegebenenfalls Geschlechtsumwandlungen als Porträts seiner Bekannten und Freunde geschaffen, nach dem Muster: Charlus = Robert de Montesquiou, Albertine = Alfred Agostinelli, Françoise = Céleste Albaret usw. Wie erwähnt, beschrieb Proust nur das, was er selbst gesehen hat; das Material, aus dem er die handelnden, imaginierenden und reflektierenden Charaktere im Roman konstruiert, entnimmt er seiner Umgebung und seiner Introspektion, die fertigen Konstrukte sind dann vollständig neue Kunstprodukte, die aus einer Vielfalt von Charakterzügen natürlicher Personen zusammengesetzt sind. Tadié illustriert dieses Verfahren Prousts an der Albertine-Figur und der Rolle, die dabei Prousts Freund und Sekretär Albert Nahmias gespielt hat: »… die Zuneigung zu Nahmias, die Marcel im November [1911] bekundet: ›Ich habe in Cabourg die süße und unheilvolle Gewohnheit angenommen, vor Ihnen ganz laut zu denken, und die kleinen Dinge, die mir durch den Kopf gehen, in Ihrem Geist widerspiegeln zu lassen (…) Warum kann ich nicht das Geschlecht und das Gesicht wechseln und das Aussehen einer jungen hübschen Frau annehmen, um Sie von ganzem Herzen zu küssen?‹ Von seinem ›kleinen Albert‹, dessen Vorname Albertine ergeben wird, läßt er sich im Dezember ›Marcel‹ nennen. Und im Februar 1912 ist ›petit Albert‹, so wie früher Lucien Daudet, zu ›Mon cher petit‹ geworden.«[16] Tadié hatte Gelegenheit, Nahmias, der 1979 starb, über seine Erinnerungen an Proust zu befragen. Auf die Frage, ob er das Vorbild für Albertine gewesen sei, antwortete er: »Wir waren mehrere.« (Tadié, S. 1108) Und so ist auch »Marcel«, das Roman-Ich, die poetische Schöpfung Prousts, der seinen Helden aus den Charakterzügen vieler natürlicher Personen zusammensetze und daran glaubte, »daß jeder von uns nicht ein einziger, sondern eine Unzahl von Personen ist«[17]. Als ich bei Tadié die kleine Bemerkung: »doch unter Wagners Einfluß steht die gesamte Recherche« las (Tadié S. 727 f.), glaubte ich plötzlich zu begreifen, dass Marcel neben vielem anderen auch der moderne »profanisierte« reine Tor aus Richard Wagners Oper Parsifal ist. Prousts Roman ist natürlich, anders als Wagners Oper, kein »Bühnenweihfestspiel« und sein Marcel ist auf seiner abenteuerlichen Reise in die Welt der französischen Antisemiten und dreyfusards, der Schwulenhasser und Charlusse auf den ersten Blick kaum mit Wagners heilbringendem Gast der frommen Ritter in der Burg »Monsalvat« zu vergleichen. Vergleichbar ist aber die Attitüde des aus der Fremde kommenden, zum Mitleid bereiten reinen Toren, der den Leidenden und Verfolgten mit furchtloser Neugier begegnet. Marcel kann zwar nicht wie Parsifal die unter der Bedrohung durch Klingsor und dem Verlust des heiligen Speers leidenden Gralsritter und die wegen ihres sündigen Gelächters vom Heiland persönlich verfluchte Kundry erlösen; stattdessen unternimmt er es, im Sprachkunstwerk die ganze Wahrheit über die »Rasse der Tunten«[18] und die französischen Juden abzubilden und so zu ihrer – um es paradox auszudrücken – weltlichen Erlösung, zur emanzipatorischen Befreiung beizutragen. Es wird hier eine Auffassung von der sozialen Rolle der Kunst sichtbar, die der Auffassung Richard Wagners nahekommt und konträr zu den Kunstpolitiken von André Gide und Bertolt Brecht steht. Wohlgemerkt geht es hier nur um eine Entsprechung, eine Baudelairesche »correspondance« der beiden Protagonisten Parsifal und Marcel, nicht um eine der Wort-Musik Prousts und der Musik-Musik Wagners, denn ich fürchte, bei einem »Musik«-Vergleich kann kaum mehr als blumige, aber leere Redensarten herauskommen. Tadié bietet hierfür mehrfach ein schönes Beispiel. So etwa, wenn er behauptet, Proust sei es gelungen, die »Substanz« der vier letzten Streichquartette Beethovens »in Sprache zu verwandeln«: »Auch wenn Wagner zur allgemeinen Ästhetik beiträgt, so sind es doch die Beethoven-Quartette, besonders die letzten, die sich Proust unablässig anhört, bis es ihm gelungen sein wird, ihre Substanz in Sprache zu verwandeln.«[19] In dem breiten und verworrenen Bewusstseinsstrom, den Marcel seine »Theorie« (Proust 1999, S. 28 ff.) der Homosexualität nennt, der aber nicht nach der Logik einer Theorie konstruiert, sondern wie ein Tagtraum oder eine Kaffeeklatschplauderei in der Manier von »literarischem Impressionismus«[20] komponiert ist, nennt er die »Schmach«, die den homosexuellen Männern in der Vergangenheit angetan wurde, eine »Verfolgung, die der der Juden gleicht«[21], und warnt schließlich vor »dem verhängnisvollen Irrtum […], den es bedeuten würde, wenn man in der gleichen Weise, wie man eine zionistische Bewegung angeregt hat, eine sodomitische Bewegung ins Leben rufen und Sodom wieder aufbauen wollte.« (Proust 1999, S. 52) Die Begründung für die Warnung vor dem Verhängnis, die Marcel hier anschließt, macht zwar deutlich, dass er sich nicht vor einer sodomitischen Bewegung im Stil des Berliner Wissenschaftlich-humanitären Komitees fürchtet; es geht ihm buchstäblich darum, dass die Schwulen ähnlich wie die Zionisten ihren Judenstaat eine Schwulenstadt mit Namen Sodom aufbauen wollen, egal ob auf dem alten Sodom in Palästina oder sonst wo. Die Schwulen würden nämlich, so prophezeit er, Sodom sofort wieder verlassen und »in London, in Berlin, in Rom, in Petrograd oder in Paris« alle »angemessenen Zerstreuungen« suchen, nur »damit es nicht so aussähe, als gehörten sie dazu«. Später äußert er die Überzeugung, dass jene Homosexualität Platos und Vergils heutzutage »völlig verschwunden ist und allein die unfreiwillige, nervös bedingte übrig bleibt und um sich greift, jene, die man vor den anderen verbirgt und vor sich selbst bemäntelt«; diese Homosexualität ist nach Marcels Ansicht »die einzig wahre«, weil sie »in Scham und Verfolgung trotz aller Hindernisse weiterbesteht«. (Proust 2000, S. 289) Und gemäß der Einsicht, dass jeder Lebensumstand auch eine komische Seite hat, werden die Bewohner des Neuen Sodom mit hungrigen Wölfen verglichen: die Sodomitaner würden nur dann in ihre Stadt zurückkehren, »wo eine äußerste Notwendigkeit sie dazu zwänge, […] in jenen Hungerzeiten, die selbst die Wölfe aus den Wäldern locken«. (Proust 1999, S. 53) Im Roman gibt es noch weitere, nur angedeutete Gemeinsamkeiten zwischen Juden und schwulen Männern, zum Beispiel ihre Verbindungen zu dem Erzfeind Deutschland. Der Antisemitismus als Grundlage für die Verfolgung des Alfred Dreyfus konnte seine überzeugendsten Argumente aus dem Glauben gewinnen, der jüdische Hauptmann habe den Deutschen militärische Geheimnisse verraten. Und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gehört es zu den populären Ansichten unter Franzosen, dass die Liebe der Männer zueinander ein aus Deutschland eingeschlepptes Laster, vice allemand, sei (vgl. Méténier 1904). In Prousts Roman ist nicht nur der bevorzugte Name des Lasters – Homosexualität − deutsch und pedantisch, auch die drei prominentesten Schwulen im Roman, Charlus, Saint-Loup und der Fürst von Guermantes haben, wie immer wieder betont wird, deutsche Vorfahren. Natürlich sind Charlus und der Fürst nicht nur schwul, sondern auch antisemitisch (Proust 1999, S. 106 und 744), während sich merkwürdigerweise Marcels jüdischer und heterosexueller Freund Bloch niemals über das Geschlechtsleben der Charlusse äußert; es scheint ihm gleichgültig zu sein. Nimmt man an, die weitschweifigen Darlegungen zu so unterschiedlichen Gegenständen wie Homosexuelle und Juden, Frankreich und Deutschland im Weltkrieg oder zu spektakulären Bühnenaufführungen und Kunstaustellungen seien dem nicht enden wollenden Geschwätz in den Salons der beschränkten und intriganten, aber hochmusikalischen und steinreichen Madame Verdurin sowie der weltgewandten Herzogin von Guermantes als monströse »Pastiches« nachgebildet, dann wird klar, dass auch die bunte und wenig konsistente Terminologie bei den Reden über die »Einwohner Sodoms« zu diesem Sittengemälde dazugehört. In einem internen Vermerk »zur Bezeichnung der Homosexuellen« von 1913, der nicht in den Roman aufgenommen wurde, gesteht sich Proust ein, dass er nicht den Mut fand, die von Balzac in Splendeur et misère des courtisanes benutzten Bezeichnungen Tunte (tante) und Drittes Geschlecht (troisième sexe) zu verwenden; stattdessen will er seine schwulen Helden Invertierte nennen, nicht Homosexuelle, denn das Wort komme ihm »zu deutsch und zu pedantisch« vor. (Proust 2007, S. 278 f.) Dennoch wählt sein Roman-Marcel meist das deutsche Wort, um Männer mit »seltsamen Neigungen«[22] zu bezeichnen. Eine interessante Verwirrung, die vielleicht vor allem die Verwirrung in den Gemütern der Protagonisten nachzeichnet, herrscht in der Frage der Bewertung: Homosexualität sei »unheilbarer Krankheit entsprungen«, behauptet Marcel, ein innerer »Zwang«, den »man unpassenderweise« ein »Laster« nennt, eine »als Laster bezeichnete Neigung«; einmal vergleicht Marcel das Übel der Charlusse sogar mit »progressiver Paralyse«. (Proust 1999, S.25 u.ö.; Proust 2000, S. 300) Der scheinbare Widerspruch zwischen »vice« und »maladie inguérissable« verschwindet aber, wenn man sich klar macht, dass die Krankheit Homosexualität nur dann zum Laster wird, wenn der Kranke nicht Enthaltsamkeit übt, sondern sein krankhaftes Verlangen auslebt, vergleichbar dem gesunden Ehemann, der lasterhafterweise ins Bordell geht, oder dem katholischer Priester, der sein Keuschheitsgelübde bricht. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch Baron de Charlus sich in seinen ausgiebigen Diskursen zur Verteidigung dessen »was die Deutschen als Homosexualität bezeichnen« (Proust 2000, S. 438) niemals von einer Krankheit, wohl aber, Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts (Saint-Simon, La Rochefoucauld) zitierend, von »Lastern, die sich zu allen Zeiten gleichen« oder »griechischen Lastern« spricht. Was Marcel und Charlus zum Ausdruck bringen, wenn sie sich zur Homosexualität äußern, sind die vom Geist der damaligen Zeit geprägten Anschauungen darüber. Wie diese sich in einem zeitgenössischen Bewusstsein abbilden, war eines der großen Themen des Romans. Nathalie Mauriac-Dyer hat sich die Aufgabe gestellt, in Prousts Roman nach Spuren zu suchen, die seine Lektüre psychiatrischer und forensischer Literatur aus dem 19. Jahrhundert belegen. Sie findet diese Spuren nicht dort, wo von Homosexuellen beiderlei Geschlechts die Rede ist, sondern in der Beschreibung von Hotelzimmern. Weil Marcel beim Erwachen die gewölbte Zimmerdecke als »gigantischen Trichter« wahrnimmt (Proust 1994, S. 14), liege hier ein Verweis auf die anale Zone vor, sowie eine »intertextualité« mit einem Buch des Gerichtsmediziners Tardieu, das Proust vielleicht gelesen haben könnte und in dem den passiven Päderasten ein trichterförmiger Anus zugeschrieben wird. (Tardieu, S. 146) Tardieu berichtet auch von Rissen am Darmausgang (Fissuren), die er bei passiven Päderasten häufig sah, und Proust lässt einen Hoteldirektor in Sodom und Gomorrha von Rissen in einer Zimmerdecke sprechen: wieder eine Intertextualität, die Prousts Spiel mit Hintergedanken (»jeu sur sous-entendu«) und dem discours médico-légale zeigt. (Mauriac-Dyer, S. 100 ff.) Solche schrillen Spekulationen[23] tragen leider nichts zu der nicht unwichtigen Frage bei, wie Proust die Homosexualitätstheorien seiner Zeit im Roman einsetzt: sicher irgendwie spielerisch, aber kaum so wie Mauriac-Dyer sich das vorstellt. Bevor der Gedanke einer gewissermaßen messianischen Erlösung der Schwulen und Juden durch Parsifal-Marcel wieder aufgenommen wird, erst noch ein kleines Beispiel für die »impressionistische« Darstellung der Juden und Antisemiten im Roman: Marcel geht mit einer Schar junger Mädchen, zu denen auch seine künftige Geliebte Albertine gehört, auf der Strandpromenade von Balbec, einem imaginären Badeort an der Atlantikküste spazieren: »Oft begegneten wir den Schwestern Blochs, die ich grüßen musste, seitdem ich bei ihrem Vater zum Abendessen gewesen war. Meine Freundinnen kannten sie nicht. ›Ich darf mit Israelitinnen nicht verkehren‹, sagte Albertine. Die Art, wie sie das Wort ›Israelitinnen‹ (mit scharfem s) aussprach, bewies zur Genüge, auch wenn man den Rest des Satzes nicht gehört hätte, dass Sympathie gegenüber den Angehörigen des auserwählten Volkes nicht das Gefühl war, das die jungen Töchter frommer Familien der Bourgeoisie beseelte; man hätte sie sicher leicht noch glauben machen können, die Juden brächten kleine Christenkinder um. ›Außerdem haben sie scheußliche Manieren, Ihre Freundinnen‹, meinte Andrée mit einem Lächeln, in dem deutlich ihre Überzeugung lag, dass die Mädchen nicht meine Freundinnen seien. ›Wie alles, was mit den zwölf Stämmen zu tun hat‹, setzte Albertine noch altklug hinzu. Ehrlich gesagt, machten Blochs Schwestern, zu elegant angezogen und gleichzeitig halb nackt, schmachtend und keck, anspruchsvoll und schmuddelig, keinen hervorragenden Eindruck. Eine ihrer Kusinen, die noch nicht fünfzehn Jahre alt war, versetzte die Kasinobesucher in Empörung durch ihre offen zur Schau getragene Bewunderung für Mademoiselle Léa, die Bloch senior zwar als talentierte Schauspielerin schätzte, von der aber bekannt war, daß ihre Neigungen nicht in erster Linie nach der Seite der Herren gingen.« (Proust 1995, S. 686 f.) Es geht offensichtlich stets darum, das Wahre im Falschen und umgekehrt zur Sprache zu bringen: Blochs Schwestern kommen mit ihrem nicht hervorragenden Outfit und Betragen dem angelernten Antisemitismus der jungen Mädchen entgegen, und die Empörung antisemitischen Kasinobesucher wird geweckt durch die offen geäußerte Bewunderung der Fünfzehnjährigen für die Lesbe Léa, die von den frommen Familien der Bourgeoisie gewiss noch mehr verachtet wird als die Juden. Alle leiden in Prousts Roman: Swann und Marcel unter dem Eifersuchtswahn, mit dem sie ihre Geliebten und sich selbst quälen; Odette und Albertine unter den terroristischen Verhören, mit denen sie von ihrem Gatten bzw. Liebhaber auf der Suche nach vermuteten lebischen Seitensprüngen traktiert werden; die Juden, die sich »in den Tagen schwerer Schicksalsschläge […] um das Opfer scharen […] um Dreyfus« (Proust 1999, S. 29), unter den Antisemiten; Charlus unter den Kränkungen, die der von ihm hoffnungslos geliebte Geiger Charlie Morel ihm zufügt; unheilbare Wunden tun sich auf bei der Nachricht vom Tod geliebter Personen: »In solchen Augenblicken schien mir, wenn ich den Tod meiner Großmutter und den Albertines nebeneinanderstellte, daß mein Leben mit dem Makel des Doppelmords besudelt sei, den allein die feige Nachsicht der Welt mir verzeihen konnte.« (Proust 2001, S. 121) Und bei der Nachricht vom Tod des schwulen Freundes Robert de Saint-Loup an der Weltkriegsfront ist Marcels Kummer so groß, dass er »mehrere Tage lang […] in Gedanken an ihn in meinem Zimmer eingeschlossen« blieb. (Proust 2002, S. 229) Alle leiden, Marcel aber leidet am meisten. Dieser Eindruck entsteht, weil der Roman wie ein von Marcel verfasstes Protokoll seiner lebenslangen Selbstbeobachtung – Bergson spricht von Introspektion − geschrieben ist. Die Leiden (und Freuden) der anderen kann Marcel nur durch Beobachtung ihrer Gespräche und Handlungen, Mimik und Gestik erschließen und kommt schnell an unüberwindliche Grenzen. So wenn er mit allen detektivischen Mitteln eine Unmenge an Kenntnissen über Albertines geheimes Leben als Lesbe erwirbt, ohne jemals Gewissheit zu erlangen, wie es wirklich gewesen ist. Am Ende, im letzten Band, erfährt der Leser von einer Serie mystischer Erweckungserlebnisse, die Marcel klar machen, dass er in seinem Inneren die Kraft finden kann, den Roman zu schreiben, den wir gerade lesen. Die wiedergefundene Zeit ist unter anderem der Roman des Romans im Roman, die Geschichte einer Erleuchtung zum künstlerischen Messianismus, zur Schaffung eines Gesamtkunstwerks[24] in Romanform als Beitrag zur Erlösung der Welt. Marcel schreibt: »Da aber ging ein neues Licht in mir auf, weniger strahlend gewiss als jenes, dem ich die Erkenntnis verdanke, daß das Kunstwerk das einzige Mittel ist, die verlorene Zeit wiederzufinden. Ich begriff, daß dieses ganz verschiedenartige Material des literarischen Werkes mein vergangene Leben war; ich begriff, daß es in den oberflächlichen Vergnügungen, in der Trägheit, in der Zärtlichkeit, im Schmerz zu mir gekommen und von mir gespeichert worden war, ohne daß ich seine Bestimmung, ja auch nur sein Fortleben besser erraten hatte als der Same es tut, wenn er die Elemente in sich aufhäuft, durch welche die Pflanze ernährt werden soll. Wie jenes Samenkorn[25] konnte ich sterben, sobald die Pflanze entwickelt war; ich hatte offenbar für es gelebt, ohne es zu wissen oder das Gefühl zu haben, mein Leben müsse jemals in Kontakt mit jenen Büchern kommen, die ich hätte schreiben mögen und für die ich, wenn ich mich früher an den Arbeitstisch setzte, nie ein Thema fand. So hätte – und hätte doch nicht – mein ganzes Leben bis zu diesem Tag unter dem Titel ›Eine Berufung‹ zusammengefasst werden können.« (Proust 2002, S. 306 f.) Die messianische Zeit des ewigen Lebens, die »wir«, die Künstler den sterblichen Menschen bringen, indem wir »alle Leiden bis auf den Grund ausschöpfen« und die »Werke« schaffen, sieht Marcel angekündigt in Manets Gemälde »déjeuner sur l’herbe«, einem heterochauvinistischen Idyll im Grünen: »Ich aber sage, das grausame Gesetz der Kunst ist, daß die Menschen sterben und daß wir selbst [nämlich wir Künstler] sterben, wobei wir alle Leiden bis auf den Grund ausschöpfen, damit das Gras nicht des Vergessens, sondern des ewigen Lebens sprießt, jenes dichte Gras fruchtbarer Werke, auf dem die Generationen voller Heiterkeit und ohne Sorge um die, die darunter schlafen, abhalten werden ihr déjeuner sur l’herbe.« (Proust 2002, S. 513)
3. Der französische Schriftsteller und Diplomat Paul Morand erinnert sich beim Tagebuchschreiben 1975, ein Jahr vor seinem Tod, an eine Begebenheit, die damals mehr als fünfzig Jahre zurücklag. Im Jahr 1922 besuchte er, soeben von einer Reise nach Berlin zurückgekehrt, den bereits todkranken Marcel Proust und brachte ihm ein dickes Buch mit, das er in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft erworben hatte. Das Geschenk für Proust »pour l‘amuser« war aber für den Beschenkten keineswegs amüsant. Er wies es mit einem Ausdruck der Verärgerung (»un geste de désespoir«) zurück, was Morand rückblickend so deutet als habe Proust seine Abscheu vor der Veröffentlichung intimer Details des Geschlechtslebens zum Ausdruck bringen wollen.[26] Ich vermute, Morand deutet Prousts Reaktion auf das Souvenir aus Berlin (bei dem dicken Buch aus Hirschfelds Institut kann es sich eigentlich nur um Die Homosexualität de Mannes und des Weibes, 2. Auflage 1920 gehandelt haben) falsch, denn in Frankreich hat wohl seit dem Marquis de Sade kaum ein Autor so detailfreudig wie Proust die Vielfalt menschlicher Sexualität beschrieben und »enthüllt«. Wenn Proust nicht einfach nur seine Enttäuschung ausdrücken wollte, dass er zu schlecht deutsch konnte, um das dicke deutsche Buch zu lesen, dann bietet sich eine dritte Deutung an: Proust lehnt eine wissenschaftliche Darstellung des Liebeslebens als unangemessen ab und ist überzeugt, dass allein eine künstlerische Gestaltung wie in seinem Roman diesem Gegenstand gerecht werden kann. Den »medizinischen Blick«, den Tadié bei Proust ausgemacht hat, benötigt dieser zwar, um die Welt Swanns, die Welt der Guermantes und die eigene Innenwelt zu erforschen, aber die Darstellung der Forschungsresultate könnte allein in der Form des literarischen Gesamtkunstwerks gelingen. »Diese Arbeit des Künstlers« besteht gerade darin, die Arbeit, »die unsere Eigenliebe, unsere Leidenschaft, unser Nachahmungstrieb, unser abstrakter Verstand, unsere Gewohnheiten geleistet hatten«, wieder zu beseitigen und zurückzugehen auf dem »umgekehrten Weg, den Weg, der zu den Tiefen zurückführt, in denen das, was wirklich existiert hat, von uns ungekannt ruht«. (Proust 2002, S. 302). Tadié deutet Prousts Ansicht von der Arbeit des Künstlers gegen den abstrakten Verstand als innere Zerrissenheit: »Das Geheimnis der Kunst steckt in einer Impression, die ein Bild in sich zusammenfaßt, und nicht in der Kraft des Schlußfolgerns oder im Intellekt […] Proust ist innerlich zerrissen zwischen Sinnesempfindung und Reflexion, zwischen Poesie und Abstraktion.« (Tadié S. 361) Demgegenüber möchte ich behaupten, dass die quasi theoretisierenden und philosophierenden Passagen in Prousts Roman weniger Zeichen der Zerrissenheit zwischen Bilderdienst und Reflexion sind. Sie sind vielmehr Bestandteile des Bildes, das der Roman entwirft, genau wie die Blaumeisen in den blühenden Apfelbäume von Balbec und der Mond, der wie ein Orangenviertel aussieht und den Platz de la Concorde beleuchtet. In der sexologischen Literatur jener Zeit, etwa dem unamüsanten Berliner Buch, ist es ungefähr umgekehrt: die epische Abschnitte der Einzelfalldarstellungen dienen in Hirschfelds Die Homosexualität de Mannes und des Weibes dazu, die theoretischen Ausführungen zu illustrieren und zu veranschaulichen. Dennoch wirkt in beiden Werken, in Proust enzyklopädischem Roman und in Hirschfelds enzyklopädischer Homosexualitätsstudie ein verwandter messianischer Impuls, der mit Richard Wagners kunstreligiösem Messianismus in Beziehung steht. In Abwandlung des Mottos Per scientiam ad justitiam, in dem Magnus Hirschfeld die emanzipatorische Motivierung seiner Forschertätigkeit artikuliert hat, könnte man Prousts Künstlermoral in dem Spruch Durch Kunst zur Gerechtigkeit zusammenfassen, wobei beim humanitären Hirschfeld wie beim wagnerianischen Proust mit der Gerechtigkeit so etwas wie liberté, égalité, fraternité gemeint sein könnte. J. Edgar Bauer hat in mehreren Aufsätzen die Auffassung vertreten, in Hirschfelds wissenschaftlicher und emanzipatorischer Programmatik spiele das jüdisch-messianische Erbe eine maßgebliche Rolle (zuletzt: Bauer 2007). Ich habe dieser Ansicht mehrfach widersprochen, weil nicht zu erkennen war, dass Bauer neben der Erziehung in einem liberalen jüdischen Elternhaus in Hinterpommern noch andere Einflüsse auf Hirschfelds Bildungsgang gelten lassen wollte. Nachdem sich Bauer zu der Klarstellung durchgerungen hat, dass auch für ihn die Bildungselemente, die Hirschfeld der historisch-materialistischen und der darwinistischen Literatur seiner Zeit entnahm, und die Anregungen, die er der religiösen Erziehung im Elternhaus verdankt, »in keinem notwendigen Gegensatz zueinander stehen« (Bauer 2007, S. 115), scheint mir dieser Dissenspunkt ausgeräumt. Einen so verstandenen Messianismus-Begriff[27] halte ich, auf Hirschfelds Lebenswerk angewendet, für sinnvoll. Etwas anders liegen die Dinge in der hierher gehörenden Frage, wie es Hirschfeld mit der Religion hielt. Ich habe hierzu, nach nochmaliger Lektüre von Ernst Haeckels »gemeinverständliche[r] Studie über monistische Philosophie« Die Welträtsel[28] und Studien zu dem nichtchristlichen Sektengründungsversuch Stefan Georges (Herzer 2008) meine Meinung geändert. Ich möchte heute Bauer zustimmen, wenn er bemerkt, »dass Hirschfelds Atheismus alles andere als antireligiös war«, und weiter ausführt: »Als jahrelanges Mitglied des Monistenbundes wurde er von Ernst Haeckels Bemühungen um eine Vermittlung von Religiosität und Wissenschaftlichkeit im Zeichen einer pantheistischen Konzeption der Natur stark beeinflusst, welche sich vor allem auf Spinoza und Goethe berief. Darüber hinaus hatte Hirschfeld ein reges Interesse an der Weltsicht der Theosophie« (Bauer 1998, S. 24). Proust, Kind einer jüdischen Mama und eines katholischen Vaters, hat spätestens in den höheren Klassen des Gymnasiums seine Religion verloren und von seinem Lieblingslehrer Alphonse Darlu einen »Spiritualismus ohne Gott« übernommen (Tadié, S. 266). Seinen irgendwie religiösen Enthusiasmus für die Kunst entwickelte er vor allem bei der Betrachtung der gothischen Kirchen Nordfrankreichs, der niederländischen Malerei, der Kunststadt Venedig – dies alles unter Anleitung durch die kunsttheoretischen Schriften John Ruskins; hinzu kam das Erlebnis von Wagner-Opern und anderer Musik. In einem Brief aus dem Jahr 1895 äußert Proust sich zu seiner Musik-Religion: »Das Wesen der Musik [besteht] darin, in uns diesen geheimnisvollen (und für die Literatur und generell für alle endlichen Ausdrucksweisen, die sich entweder der Worte, mithin der Ideen, determinierter Dinge also, oder der determinierten Objekte bedienen – Malerei, Skulptur −, nicht ausdrückbaren) Hintergrund unserer Seele wachzurufen, der dort beginnt, wo das Endliche und alle Künste, die das Endliche zum Gegenstand haben, aufhören; dort, wo auch die Wissenschaft aufhört, und den man deshalb auch als religiös bezeichnen kann.« (nach Tadié, S. 253) Wann Hirschfeld die Religion verlor, die ihm in seinem Elternhaus beigebracht worden war, kann nur ähnlich ungenau datiert werden wie im Fall Prousts. Als Zwanzigjähriger – also ungefähr 1888 − hat ihn die Lektüre von Bebels Die Frau und der Sozialismus zur SPD geführt und vermutlich um diese Zeit auch zu Haeckels Monistenbund (vgl. Herzer 2001, S. 67). Hirschfeld weiß, die Welt wird durch die Wissenschaft erlöst. Im Monismus hat er seine Wissenschaftsreligion gefunden. Geschlechtkunde und Institut für Sexualwissenschaft sind seine Kathedrale wie Prousts Kathedrale sein Roman ist – Orte, wo die Wissenschafts- resp. »Kunstreligion«[29] ihre profanisierten Gottesdienste feiert. Die vielen Anspielungen auf biblische Themen in Prousts Roman unterliegen dort nach Gerhard Neumanns Ansicht einer »Transformation des sakralen in ein ästhetisches Modell« (Neumann 2006, S. 183). Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei um ein komplizierteres Verfahren als einer bloßen Transformation: um eine Profanisierung bis hin zur blasphemischen Verhöhnung der heiligen Texte, um sie so in das kunstreligiös vorgestellte Gesamtkunstwerk einarbeiten zu können. Jene Stelle im Roman, auf die sich Neumann bezieht (Proust 1994, S. 9), wo die nächtliche Pollution des halbwüchsigen Marcel und die dabei fantasierte Frau mit Eva verglichen wird, die »aus der Rippe Adams […] entstand«, eignet sich gut, um dieses Verfahren zu demonstrieren: das extrem banale Ereignis des unwillkürlichen Samenergusses bei einem Pubertierenden wird metaphorisch verknüpft mit einer der heiligsten Geschichten der frommen Christen und Juden, dem Schöpfungsbericht. Die Banalität des Ereignisses wird – auch dies eine Ridikülisierung der heiligen Legende – durch Vergessen bestätigt: »Allmählich verblaßte die Erinnerung an sie, ich hatte das Geschöpf meines Traums vergessen.« (Ebd.) Ein anderer, weitaus drastischerer Fall, der auch Parsifals Christusähnlichkeit nicht verschont, betrifft den Baron de Charlus, als er sich am Ende von Sodom und Gomorrha, angeblich um sein sexuelles Interesse an den jungen Juden Bloch zu kaschieren, in eine schier endlose Hasstirade gegen die Juden hineinsteigert: Er redet von einer »seltsamen Neigung zum Sakrileg, die dieser Rasse innewohnt«, und illustriert dies mit zahlreichen Beobachtungen, unter anderm weiß er, dass musikbeflissene Juden religiöse Musik lieben, in der es um die Kreuzigung Jesu geht; Musik, wie Berlioz‘ Oratorium Jesus Kindheit mögen sie dagegen nicht: »In den Concerts Lamoureux saß einmal ein reicher jüdischer Bankier neben mir. Man führte die Enfance du Christ von Berlioz auf, er war unangenehm berührt. Aber er fand bald den beglückten Ausdruck wieder, den er gewöhnlich an sich hat, als er den Karfreitagszauber hört.« (Proust 1999, S. 743) Als Karfreitagszauber bezeichnet Wagner bekanntlich den Anfang des letzten Aktes von Parsifal, wo an einem warmen sonnigen Karfreitag vor »sanftansteigender Blumenaue« Parsifal nach langen Irrfahrten zu den Gralsrittern zurückkehrt, um ihnen die vom bösen Klingsor geraubte heilige Lanze zurückzubringen, mit der Christus am Kreuz hängend die linke Seite aufgeschlitzt worden war. Da Parsifal sich über das schöne Wetter und die nie gesehenen »Blüthen und Blumen« wundert, weil das gar nicht zum »höchsten Schmerzenstag« passt, wird er von Ritter Gurnemanz belehrt: »Das ist Char-Freitags-Zauber, Herr! […] Nun freu’t sich alle Kreatur auf des Erlösers holder Spur« (Wagner 1883, S. 485) Wenn der Baron de Charlus seinen eigenen höchsten Schmerzenstag erlebt, indem er »Schmerzensschreie« ausstoßend und »Schläge einer tatsächlich mit spitzen Nägeln versehenen Klopfpeitsche« empfängt und dabei vom Ich-Erzähler beobachtet wird (Proust 2002, S. 182), dann stellt Marcel zwar keinen Bezug zwischen den sexuellen Vorlieben des Barons[30] und seiner christlichen Frömmigkeit her. Die Vorstellung drängt sich aber auf, dass der fromme Baron beim Sex in ganz mittelalterlicher Weise »in seinem Blut schwimmend und mit Striemen bedeckt« (ebd.) die Passion Christi und die Leiden der Märtyrer nacherlebt, wenn nicht gar die Schmerzen, die Amfortas an seiner Wunde erduldet, die sich erst dann schließt, wenn sie der mitleidsvolle Parsifal mit dem heiligen und heilenden Speer berührt. Der gefesselte Charlus betet quasi: »Ich flehe Sie an, Gnade, Gnade, Mitleid, machen Sie mich los, schlagen Sie nicht so stark auf mich ein! […] Haben Sie Mitleid mit mir!« (Proust 2002, S. 181) Der reiche jüdische Bankier, den Charlus zuvor getadelt hatte, weil er sich an Wagners Karfreitagszauber erfreute, tut im Grunde das gleiche wie Charlus selbst, nur genießt er die Wonnen des Martyriums nicht in Opernmusik sublimiert, sonder »in ganz mittelalterlicher Weise« mit echtem Blut, mit Striemen und Schmerzensschreien. Die Verbindung von schwulem Masosex und antisemitischem Katholizismus ist schon ein ziemlich starkes Stück Christentumsverhöhnung! Dem reinen Tor Marcel, der den lustvoll blutenden Charlus heimlich beobachtet und beschreibt, fällt jedoch kein Karfreitagszauber ein, sondern das gänzlich areligiöse Aischylos-Drama Der gefesselte Prometheus. Man könnte das als Hinweis darauf deuten, dass an dieser Stelle des Romans Marcels kunstreligiöses Erweckungserlebnis, das ihm die messianische Kraft zum Gesamtkunstwerk geben wird, unmittelbar bevorsteht. Und von dieser Kraft wird erwartet, dass sie die konkurrierenden Heilsversprechungen aller überkommenen Religionen jedenfalls übertreffen werde. Ähnlich wie Neumann bei Proust will auch Bauer bei Hirschfeld Transformationsarbeit in religiösen Angelegenheiten entdeckt haben. Während Proust Biblisches einfach in Ästhetisches transformiert haben soll, liegt nach Bauer bei Hirschfeld eine ausschließliche Bezugnahme auf jüdische Tradition vor; Hirschfelds Wissenschaftsethos »mahnt« an die »Prophetie Alt-Israels«, die jenseits von Zionismus oder Marxismus ins 20. Jahrhundert transformiert wird: »Hirschfelds Wissenschaftethos führt zu einer Konzeption der sexuellen Emanzipationsgeschichte als realpolitischen Befreiungsgeschehnisses, dessen nicht-eschatologische, offene und zukunftsorientierte Sinnstruktur an die Prophetie Alt-Israels mahnt und sich darum als eine säkularisierte Folge der Wirkungsmächtigkeit des messianischen Gedankens auffassen lässt, der auch Marxismus und Zionismus prägt. Hirschfelds eigentümliche Aufnahme des messianischen Erbes bringt aber mit sich, dass sowohl die theologischen als auch die anthropologischen Grundvoraussetzungen des herkömmlichen Messianismus transformiert werden mussten. Zum einen tritt anstelle Gottes die Konzeption einer überreichen Natur, deren Grundzüge auf eine natura naturans spinozistischer Herkunft verweisen. Zum anderen wird der biblische Sexualdimorphismus durch eine Auffassung der Geschlechter aufgelöst, deren Vielfalt letztlich durch kein kategoriales System erfasst werden kann.« (Bauer 2004, S. 282 f.) Bauers von keinem Beleg gestützte Spekulation, Hirschfeld sei zu seinem Ethos (ich würde von Wissenschaftsreligion sprechen) mittels Transformation alttestamentlicher Prophetien gekommen, könnte insofern eine Teilwahrheit enthalten, als die religiöse Erziehung im Elternhaus (über die wir im Fall Hirschfeld noch weniger Wissen als im Fall Proust) bei der Suche des Erwachsenen nach einem eigenen Weltbild im Hintergrund nachwirken kann. Solche Überlegungen müssten aber die belegbare Tatsache berücksichtigen, dass der junge Hirschfeld, als er am Ende des 19. Jahrhunderts seine Lehre von den sexuellen Zwischenstufen konzipierte, von der Religion seiner Eltern vollkommen entfremdet war. In seiner ersten einschlägigen Publikation Sappho und Sokrates von 1896 lässt Hirschfeld ironischerweise den katholischen Dichter Oscar Wilde auf »Alt-Israel« Bezug nehmen, indem er aus Wildes Verteidigungsrede vor Gericht zitiert, wo Wilde die Männerliebe unter anderm so beschreibt: »›Die Liebe, welche in diesem Jahrhundert nicht ihren Namen nennen darf, die große Zuneigung eines älteren Mannes zu einem jüngeren, wie sie zwischen David und Jonathan bestand.‹« (Hirschfeld 1896, S. 26) Hirschfelds Wissenschaftsreligion war im Gegensatz zu Prousts Kunstreligion weitgehend frei von allen Verächtlichmachungen der Staats- oder sonstiger Religionen. Dies nicht nur weil im deutschen Kaiserreich anders als in Frankreich derartige Äußerungen mit dem Gotteslästerungsparagrafen des Reichsstrafgesetzbuchs geahndet wurden. Aber anders als Prousts Werk[31] galt schon die bloße Existenz des Hirschfeldschen Emanzipationsprojekts als Angriff auf die Grundlagen von Staat und Religion. Als einer von zahllosen anderen sei hier nach einem Pressebericht von 1904 die Äußerung des Berliner Predigers Dr. Runtze auf einer Kreissynode der Evangelischen Kirche anlässlich einer Umfrage Hirschfelds über die Verbreitung der Homosexualität unter Studenten zitiert: »Syn. Prediger Dr. Runtze betonte, daß gegen die Agitation der Homosexuellen und gegen solche Umfragen, wie sie Dr. Hirschfeld an die Studenten der Technischen Hochschule gerichtet, nicht laut genug Protest erhoben werden könne. Der Ausdruck ›dreist und frech‹ sei in diesem Falle viel zu milde, er nenne es eine ruchlose Schamlosigkeit, die gegen alles verstoße, was Sitte und Religion fordere. (Beifall.)« (Hirschfeld 1904, S. 719) Hirschfeld antwortete dem Pastor mit einem Brief, in dem er unter anderm mitteilt, er werde ihn nicht wegen Beleidigung anzeigen, weil er »des Bibelwortes gedenke: ›Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹« (Ebd., S. 720) Wenn der fromme Prediger ausgerechnet von einem Religionsverächter auf das Wort des Erlösers am Kreuz (Lukas 23,34) hingewiesen wird, dann ist das natürlich nicht völlig frei von Spott und Ironie. Hirschfelds Generallinie gegenüber den mächtigen Großkirchen war jedoch stets defensiv und auf Vermittlung und Mäßigung bedacht. Soweit man das den Proust-Biografien entnehmen kann, blieben dem Dichter zeitlebens Angriffe wegen seiner jüdischen Herkunft erspart, während Hirschfeld von deutschen Christen und Faschisten stets auch wegen seiner jüdischen Herkunft attackiert wurde. Beide, der katholisch getaufte Proust und der konfessionslose Hirschfeld hatten sich zu keiner Zeit ihres Erwachsenenlebens mit ihrer jüdischen Herkunft identifiziert, ihre jüdischen Mütter hatten sie nichtsdestoweniger so heiß geliebt, wie gewöhnliche Schwule ihre Mütter nun einmal lieben.
4. Abschließende Abschweifung zu Sedgwick (Outing) Die folgenden Bemerkungen zur Proust-Deutung in Eve Kosofsky Sedgwicks Epistemology of the Closet[32] gehören zwar nicht direkt zum bisher verhandelten Gegenstand ›Sex & Religion bei Proust & Hirschfeld‹, mittelbar aber doch, da einige meiner Behauptungen durch die Kritik an Sedgwicks konträren Ansichten präzisiert werden können. Im Vorwort zur Neuausgabe von 2008 nennt Sedgwick ihr Buch nicht ganz zu Unrecht »a founding text in queer theory« (S. xvi). Sie will von einem distinkt feministischen und distinkt anti-homophoben Standpunkt aus die Hypothese prüfen, dass in der Zeit zwischen 1880 und 1980 in Europa und Nordamerika die Definition der männlichen Homo- und Heterosexualität sich in einer Art Dauerkrise befunden habe, die sich im versteckten, ihr Sosein verheimlichenden und verleugnenden Leben der schwulen Männer (in the closet) dieser Epoche zeigt (S. 11 ff.) Prousts Roman wird interpretiert als exemplarische Schilderung der Innenansicht dieser heimlichen schwulen Welt am Beispiel von Leben und Meinungen des Baron de Charlus als Illustration der Folgen einer grundsätzlichen Unmöglichkeit, Homosexualität/Heterosexualität zu definieren (»the foundational impossibilities of modern homo/heterosexual definition [&] what it makes happen, and how«, S. 213). Bei Proust gerät die Darstellung dieser Innenansicht zum »Spectacle of the Closet« (ebd.), zu der ihr Bilder des Musiktheaters einfallen, wie »operatic« und »outpouring of this aria« (S. 230); vervollständigt wird dieses Sittenbild aus Charlus‘ geheimem Leben durch die Außenansicht von Marcels, des Erzählers, schwulem Leben, das Sedgwick mit einer abenteuerlichen Argumentation, die sie anscheinend für epistemologisch hält, enthüllt: die leidensreiche Liebe zwischen Marcel und Albertine ist für Sedgwick als Heterosexualität getarnte Männerliebe, bei der es vor allem um Arschficken (S. 238) und Schwanzlutschen (S. 236) geht. Sedgwick sieht »two closets: in the first place the closet viewed, the spectacle of the closet; and in the second its hidden framer and consumer, the closet inhabited, the viewpoint of the closet« (S. 222 f.) Der Standpunkt des Erzählers Marcel ist für sie »the viewpoint of the closet«, also die Außenansicht der schwulen Welt, wie ein sich selbst verleugnender schwuler Mann sie sieht. Daran ist nur so viel wahr, dass Proust, der Autor, tatsächlich ein schwuler Mann war. Proust hat sich aber nicht selbst verleugnet, so dass Sedgwicks Deutung als brutalst möglicher Wille zur Simplifizierung des Verhältnisses zwischen Autor, Ich-Erzähler und beider Sexualitäten erscheint. Nun kann man À la recherche du temps perdu auf vielfältigste Weise lesen und interpretieren.[33] Warum nicht auch à la Sedgwick! Mit ihrer Deutung verbindet sie aber eine gewissermaßen sozialtherapeutische Absicht, den Roman als eine Art Befreiungsmedium zu nutzen, indem sie darin »thrilling poetics of exemption« (S. 247) entdeckt bzw. »a dangerously enabeling poetics and politics of exemption« (S. 223). Darüber hinaus eröffnet für Sedgwick die Enttarnung Albertines als schwuler Mann mit »modern, less mutilating and hierarchical sexuality« eine utopische Perspektive auf eine visionäre Politik (»this utopian readig of Albertine […] seems to offer a certain relatively consistent footing for a visionary politics«, S. 237). Sedgwick vermeidet es, ihre visionären Utopien von Befreiung durch Poesie und Politik in Prousts Roman zu präzisieren, erwähnt nur, dass die Proust-Lektüre auf sie selbst wie vermutlich auch auf andere Leser eine stark aufmunternden irgendwie heilsamen Effekt hatte (»an almost coarsely energizing effect«, S. 242), der sie an die oben erwähnte »exemption« denken lässt, den sie andrerseits in moralischer Hinsicht für fragwürdig hält. Denn seit jeher gehört zum »modern regime of the closet« etwas, das hierzulande nach amerikanischem Vorbild Outing hieß und das Sedgwick »revelation« (S. 244 u.ö.) nennt und für eine »homophobic impulsion« hält, die die Schwulenbewegung von Anfang an fasziniert habe.[34] Sie sieht sich selbst als Mitschuldige, da sie doch soeben das unglückliche Heteropaar Albertine und Marcel als zwei sexbesessene Tunten entlarvt hatte. Dieses Posieren als gestrenge Moralistin erscheint spätestens dann fragwürdig, wenn Sedgwick Beispiele aus ihrer Gegenwart heranzieht, wie einen New-York-Times-Nachruf auf den 1986 an AIDS gestorbenen schwulen und rechtsradikalen Politiker Roy Cohn. Sie hält den Nachruf für »homophobic«, weil er den Widerspruch zwischen Cohns zur Schau gestellter moralischen Sauberkeit und dem nach eigenem Maßstab unmoralischen Lebenswandel thematisiert (S. 243). Die Argumentation läuft darauf hinaus, in Prousts Roman und in der Person Prousts einen moralischen Defekt bloß zu legen, der für die selbstverleugnerischen Schwulen typisch sein und in der Lust am Enttarnen anderer gleichfalls selbstverleugnerischer Zeitgenossen bestehen soll. Man kann aber weder Proust selbst noch seine Romanfigur Charlus als versteckt lebende Schwule klassifizieren, denn beider Haltung zur Veröffentlichung der eigenen Sexualität war allenfalls ambivalent (vgl. Tadié 2008, S. 117, S. 1088 u.ö.; zu Charlus vgl. Proust 2000, S. 424 ff., wo er auf einer Soirée bei den Verdurins einen langen Vortrag zur Apologie der Männerliebe hält). Zudem kann Sedgwick nicht überzeugend darlegen, worin bei Proust, bei Hirschfeld und während der AIDS-Krise das moralische Problem von Zwangsouting bestehen soll; statt zu argumentieren, verkündet sie autoritativ: Zwangsouting ist stets unmoralisch. Sedgwick verkennt völlig, dass es sich bei Auf der Suche nach der verlorenen Zeit um ein Sprachkunstwerk handelt und nicht um das von Proust vielleicht anfangs, um 1909, geplante schwule Emanzipationspamphlet – so etwa lautet mein Haupteinwand gegen Sedgwicks Proust-Interpretation. Wegen diesem Missverständnis läuft ihre Analyse und Kritik ins Leere. Immerhin ist nachvollziehbar, wenn sie alle Mängel und Missstände in der Welt der versteckt lebenden Schwulen mit deren inkohärenten, zwischen minderheitenmäßiger (Wir sind anders als die andern) und universalistischer (Alle Männer sind bisexuell) Definition changierender Identität auf eben diese, vom Ghetto oder »closet« erzwungenen Lebensweisen zurückführt.[35] Dabei ist besonders das, was wir früher »schwuler Selbsthass« nannten und was Sedgwick »homophobic impulsions« nennt, grundsätzlich zutreffend als notwendig zur Innenausstattung des »closet« benannt. Wenn Sedgwick jedoch Marcels und Charlus‘ ideologische Erörterungen zu den Ursachen und zur moralischen Beurteilung der Homosexualität als analytische und ethische Kategorien einstuft, verkennt sie wiederum den Status des Textes. Denn die Weisheiten und Metaphern, die dem Erzähler Marcel zum heimlich beobachteten Sex zwischen dem gerontophilen Schneider Jupien und dem über 60-jährigen Charlus einfallen, haben in ihrem wild assoziativen Mitteilungsdrang kaum etwas mit Theorie und Analytik zu tun, alles aber mit Prousts Anspruch, eine bei Balzac und Flaubert erreichte Stufe des realistischen Romans zu überbieten, indem die Ansichten und Empfindungen der Protagonisten mit nicht dagewesener Genauigkeit und Poesie abgebildet werden. Seine Methode ist dabei nicht Analyse, sondern Abbildung, oder mit Walter Benjamin: »Nicht Reflexion – Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren.« (Benjamin 1977, S. 320) Immerhin ist auch Sedgwick die verwirrende Widersprüchlichkeit der »analytic categories« im Roman aufgefallen: »In fact, every analytic or ethical category applied throughout A la recherche to the homosexuality of M. de Charlus can easily be shown to be subverted or directly contradicted elsewhere.« (S. 230) Der simplen Einsicht, dass Prousts Roman ein Roman ist und keine Abhandlung über psychische und soziale Probleme und Widersprüche im Leben der Pariser Schwulen um 1900, verschließt sie sich aber hartnäckig. So bleibt ihr auch die von Proust im letzten Band: Die wiedergefundene Zeit in der Nachfolge der Kunstreligion Richard Wagners entwickelt Idee von der Erlösung der Menschheit durch das Kunstwerk unzugänglich. Stattdessen sieht sie einen von Prousts Werk ausgehenden Befreiungseffekt und hofft, dass auch andere LeserInnen davon ergriffen würden. Einmal am Ende des letzten Bandes lässt Proust seinen Ich-Erzähler den Roman mit einer »Kirche« vergleichen, »in der die Gläubigen nach und nach Wahrheiten entdecken und Harmonien, den großen Plan, der dem Ganzen zugrunde lag, erkennen würden« (Proust 2002, S. 516 f.) Zu vermuten bleibt, dass es mit der Religiosität bei Proust und bei Hirschfeld vielleicht doch nicht allzu weit her war, dass ein hinreichendes Maß an Skepsis und Ironie ihren religiösen Schwung gedämpft haben dürfte.
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Aus dem Französischen übersetzt von Helmut Scheffel. Hrsg. von Mariolina Bongiovanni Bertini in Zusammenarbeit mit Luzius Keller. Frankfurt am Main Proust , Marcel (1999): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 4. Sodom und Gomorrha. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Frankfurt am Main. Proust , Marcel (2000): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 5. Die Gefangene. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Frankfurt am Main. Proust , Marcel (2001): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 6. Die Flüchtige. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Frankfurt am Main. Proust , Marcel (2002): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 7. Die wiedergefundene Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller. Frankfurt am Main. Proust , Marcel (2007): Nachgelassenes und Wiedergefundenes. Aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Frankfurt am Main Sedgwick, Eve Kosofsky (2008, zuerst 1990): Epistemology of the Closet. Updated with a New Preface. Berkeley u.a. Tadié, Jean-Yves (2008): Marcel Proust. Biographie. Aus dem Französischen von Max Looser. Frankfurt am Main. Tardieu, Ambroise (1860): Die Vergehen gegen die Sittlichkeit in staatsärztlicher Beziehung betrachtet. Nach der dritten französischen Auflage ins Deutsche übertragen von Fr. Wilh. Theile. Weimar. Wagner, Richard (1883): Gesammelte Schriften und Dichtungen. 10. Band. Leipzig. Wagner, Richard (1936): König Ludwig II. und Richard Wagner. Briefwechsel. Bearbeitet von Otto Strobel. Band 1. Karlsruhe. [1] Aus einem Brief Prousts an Reynaldo Hahn vom 7.10. 1907. – William C. Carter erklärt in seinem Buch Proust in Love auf S. 36 den Ausdruck »moschant« so: »[Proust & Hahn] invented code words for fun and mystification, or perhaps to mislead any nosy person who might chance to read one of their letters. For example ›moschant‹, an obvious corruption of ›méchant‹ (bad or mean) often indicated homosexual behavior or an individual known or thought to be gay.« Selbsterlebtes in einen literarischen Text verwandeln ist auch eine Art Codierung, und kaum etwas ist öder als das Bemühen, das Sprachkunstwerk zu decodieren, zu fragen, wer eigentlich gemeint ist mit Albertine oder mit Charlus; als ob man eine Wagner-Oper hört, nur um sich am Wiedererkennen der Leitmotive zu erfreuen. [2] Richard Wagner in einem Brief an König Ludwig II. vom 14.4.1865 (Wagner 1936, S. 84). – Im gleichen Brief nennt er den König christusgleich »Erlöser[], Heiland[] meines Daseins!«. [3] Benjamin 1985, S. 126. [4] Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Paris 1913-1927. − Zitiert wird hier nach der »Frankfurter Ausgabe«: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller. (7 Bände.) Frankfurt am Main 1994-2002. [5] Als unerreichbare Vorbilder werden wiederholt genannt La Princesse de Clèves (Marie-Madleine Gräfin von La Fayette 1678), La Comédie Humaine (Honoré de Balzac 1829-1854), La Chartreuse de Parme (Stendhal 1839) und L’Éducation sentimentale (Gustave Flaubert 1869). – Zum Verhältnis Prousts zu Balzac vgl. Jäger, 1988. [6] Tadié, der Biograf, weist darauf hin, dass der Dichter nur beschreibt, was er kennt: »Proust erweist sich immer als treuer Befolger des Grundsatzes, er könne nur das beschreiben, was er selbst gesehen habe.« (Tadié, S. 795) [7] Tadié, S. 536; Tadié zitiert hier aus einem Aufsatz Prousts aus der Zeitschrift Chronique des arts et de la curiosité vom 13.8.1904 [8] Vgl. Tadié, S. 173. – Proust kann deshalb als gefährlicher Rivale für Bergson angesehen werden, weil dieser einige Jahre vor Proust eine psychologische Untersuchung zu einem verwandten Thema geschrieben hatte, Matière et Mémoire (Paris 1896, deutsch: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist): die erlebte Zeit im Gedächtnis, in der Erinnerung, im Traum und im praktischen Alltagsleben. Proust sieht jedoch den fundamentalen Unterschied zu Bergson in der angeblich von ihm selbst entdeckten unwillkürlichen Erinnerung (mémoire involontaire), die Bergson nicht kenne (Tadié, S. 173). [9] Vgl. Tadié, S. 548, der aus einem in der deutschen Proust-Ausgabe nicht enthaltenen Text über Maeterlinck den Satz zitiert: »Die Schönheit des Stils ist im Grunde irrational.« [10] André Gide: Corydon. Deutsch von Joachim Moras. Frankfurt am Main 1964 (zuerst deutsch Stuttgart 1932). Im Vorwort heißt es (S.8) scheinbar versöhnlich: »Verschiedene Schriften – die Prousts namentlich – haben das Publikum daran gewöhnt, sich über Dinge, die es vorher zu ignorieren vorgab oder zu ignorieren vorzog, weniger aufzuregen und sie mit größerer Ruhe zu betrachten […] Jedoch haben diese Schriften, so fürchte ich, zugleich viel dazu beigetragen, die öffentliche Meinung irrezuleiten. Die Theorie der Mann-Frau, der ›sexuellen Mittelstufen‹, die in Deutschland, schon ziemlich lange vor dem Kriege, Dr. Hirschfeld aufbrachte und der sich Marcel Proust anzuschließen scheint, braucht durchaus nicht falsch zu sein; doch erklärt und trifft sie nur gewisse Fälle von Homosexualität, und zwar gerade diejenigen, mit denen ich mich in diesem Buche nicht beschäftige – den Fall der Inversion, den des Feminismus, den der Sodomie.« Diese gewissen Fälle firmieren auf Seite 155 unter »Degeneration, Wahnsinn und Krankheit«. [11] Tadié 2008, S. 415. – Tadié berichtet von einem Gespräch mit dem greisen Duc de Gramont, der ihm erzählte, dass er im Jahr 1904 Monsieur Proust und Comtesse de Noailles zu einem Diner auf sein Schloss Vallières eingeladen hatte, weil die beiden »die komischsten Figuren in Paris gewesen seien« (S. 1043), also als eine Art Hofnarren-Paar. [12] Proust 1999, S. 799. – Keller äußert zur Homosexualität der Männer noch weitere Seltsamkeiten. So behauptet er ohne Beleg, Proust habe die Idee eines homme-femme von Karl Heinrich Ulrichs übernommen. Auf die Idee, dass Proust dies aus Platons Gastmahl entnommen oder aus Balzacs Ausdruck »le troisième sexe« abgeleitet haben könnte, kommt er leider nicht. Auch hält er den schwulen Juristen Karl Heinrich Ulrichs für einen »Psychopathologen« (ebd., S. 802), den österreichischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny, der den Ausdruck Homosexualität prägte, für einen »ungarischen Arzt« (ebd., S. 799) und glaubt, Richard von Krafft-Ebing habe in seiner Psychopathia sexualis 1886 behauptet, Homosexuelle seien an der Stimme zu erkennen, diese sei »verräterisch« (ebd., S. 812) usw. Ferner ist anzumerken, dass Keller ohne nachzuprüfen, Gides falsche Behauptung übernimmt, Magnus Hirschfeld und andere deutsche Sexologen hätten »nur ganz bestimmte Fälle von Homosexualität behandelt« und die Fälle, die Gide betreffen, ignoriert (edb. S. 802). [13] Hartwig 1994, S. 3 ff. − Vgl. auch: »die weibliche Homosexualität weist er [Proust] der sexuellen Imagination seines Erzählers zu« (Hartwig 1998, S. 69). [14] Die Tradition wurde natürlich nicht erst von Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857) begründet. Der von Proust als unerreichtes Vorbild verehrte Balzac hatte schon 1834 seine Lesbenerzählung La Fille aux yeux d’or publiziert und Théophile Gautier hat in seiner Mademoiselle de Maupin von 1835 eine Lesbe zur Romanheldin erwählt. Dies drei Beispiele der reichen, stets von Männern verfassten Lesben-Belletristik im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Und im 18.Jahrhundert: De Sade: La Nouvelle Justine (1797), Diderot: La Réligieuse (1796) usw. [15] Tadié (S. 415) zitiert diesen Ausdruck aus Prousts frühem Romanfragment Jean Santeuil. [16] Tadie, S. 668 f. – Nahias ist nicht nur 15 Jahre jünger als Proust, er ist auch fünf Zentimeter kleiner. [17] Proust 2001, S. 169. – Ebenfalls in Die Flüchtige ist einmal die Rede von den »zahllosen Ichs […] aus denen wir bestehen« (S. 24). [18] Laut Herausgeber Keller gebraucht Proust den Audruck »La Race des Tantes« nur einmal in einer Entwurfskizze. Im Roman selbst ist meist von »Homosexuellen« die Rede (vgl. Keller in: Proust 1997, S. 414) [19] Tadié, S. 728. – Das kommt mir ähnlich verrückt vor wie die Behauptung, Thomas Manns Zauberberg sei die in einen Roman verwandelte Musik zu Carmen von Georges Bizet. [20] ein Ausdruck Prousts, den Tadié S. 586 zitiert. [21] Proust 1999, S. 29. – Nicht ohne den schrillen Einfall hinzuzufügen, dass die jeweiligen Erfahrungen von Verfolgung die Juden und die Schwulen gleichermaßen »mit den physischen und psychischen Merkmalen einer Rasse« gezeichnet habe. [22] Proust 1995, S. 465. – Hier, Im Schatten junger Mädchenblüte, werden die Schwulen erstmals kurz erwähnt. Auf der Seite 456 heißen sie noch wie geplant »Invertierte«, in Sodom und Gomorrha sind die »Charlusse« nur noch homosexuell. An mehreren Stellen haben jedoch die Übersetzer ohne Begründung Homosexualität eingesetzt, wo im Original »l’inversion sexuelle« steht. Meist geht es aber auch im französischen Urtext um »l‘homosexualité« und häufig um »le vice«. [23] Die andere sehr originelle Entdeckung Tardieus, den schrauben- oder korkenzieherartig geformten Phallus der aktiven Päderasten hat Mauriac-Dyer leider nicht in Prousts Roman aufgesucht: »Die Drehung und Richtungsänderung des Gliedes finden ihre Erklärung in dem Widerstande der Afteröffnung, welcher proportional dem Volumen des Gliedes zunimmt. Seine Einbringung verlangt eine schrauben- oder korkenzieherartige Bewegung, die sich zuletzt dem ganzen Gliede mittheilt. Es darf aber nicht besonders auffallen, dass ein Organ eine solche Formveränderung erleidet, welches einer wiederholten Compression in langer Gewohnheit ausgesetzt ist.« (Tardieu 1860, S. 157). [24] Proust ließ sich nicht nur beim Schreiben von der Musik, vor allem von Opern Wagners und Streichquartetten Beethovens inspirieren, er glaubte auch, bei der Romankonstruktion die Architektur gothischer Kathedralen nachzubilden; schließlich versuchte er, wie Keller mehrfach erwähnt, die Malerei des Kubismus in Text zu verwandeln. So lässt sich zeigen, dass die Beschreibung Saint-Loups beim hastigen Verlassen des Schwulenpuffs dem Gemälde Nu descendant un escalier nachgebildet ist, das Marcel Duchamp 1912 erstmals ausgestellt hatte (vgl. Keller in: Proust 2002, S.572) [25] Herausgeber Keller weist darauf hin, dass dieser Vergleich biblisch ist; Joh. 12,24: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle, und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbet, so bringet’s viel Früchte.« (Keller in: Proust 2002, S: 586) [26] »4 octobre […] Les vicieux ont au désespoir; le vice à l’écran, c’est la fin du vice. Ils poussent le même cri que Proust, lorsque je posai sur son lit l’énorme ouvrage de l’Institut de recherches sexuelles de Magnus Hirschfeld, que je lui avais rapporté de Berlin, en 1922, pour l’amuser. Loin de l’amuser, il eut un geste de désespoir. (Qu’est-ce que le temple, une fois déchiré le rideau?)« (Morand 2001, S. 629). [27] Unter dem Stichwort Messianismus werden in meiner Ausgabe von Meyers Grosses Taschenlexikon von 1981 als Beispiele genannt: »ein Teil der melanes. Cargo-Kulte und, polit. erfolgreicher, die schiit. Revolutionsbewegung um den Ajatollah Chomaini im Iran (seit 1978).« [28] »Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philosophen der Gegenwart, welche unsere monistischen Überzeugungen teilen, halten die Religion überhaupt für eine abgetane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Weltentwicklung, die wir den gewaltigen Erkenntnisfortschritten des 19. Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausalitätsbedürfnis unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühlsbedürfnisse unseres Gemütes. Diese Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer vollkommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus tatsächlich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu einem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlossene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebildeten unserer Zeit bei der Überzeugung, daß die Religion ein selbständige, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geisteslebens darstelle, nicht minder wertvoll und unentbehrlich als die letztere.« (Haeckel 1908, S. 206) [29] »Parsifal ist also unleugbar ein Dokument der ›Kunstreligion‹ des 19. Jahrhunderts. Der Begriff besagt jedoch weniger, daß Religion – unter dem Gesichtspunkt des positiven Christentums: als Pseudoreligion – und das Kunstwerk als religiöer Ritus verstanden werde, sondern daß Religion – oder deren Wahrheit – aus der Form des Mythos in die der Kunst übergegangen sei. Und der Inbegriff der Kunst, deren geschichtsphilosophische Stunde geschlagen hat, war für Wagner das Drama.« (Dahlhaus1996, S. 206) Ein halbes Jahrhundert später war für Proust der Roman der Inbegriff der Kunst. [30] »Nun war aber der Baron […] nicht nur Christ, sondern auch in ganz mittelalterlicher Weise gläubig.« (Proust 1999, S. 649) [31] Tadié berichtet jedoch, dass der junge und fromme François Mauriac die Lektüre von Sodom und Gomorrha als sittliche Gefahr für die Jugend sah: »›Bewunderung, Abscheu, Schrecken und Ekel angesichts dieser schrecklichen Frucht, deren skandalisierende Wirkung auf die vielen jungen Menschen‹ er fürchtet, ›die an der verfluchten Grenze zögern und die Ihre gnadenlose Diagnose auf Sodom zurückwerfen wird‹. Vielen ist es ›eine schreckliche Wahl, eine Verurteilung zur Reinheit‹, fügt der Autor von Souffrances et bonheur du chrétien in einem halben Selbstbekenntnis hinzu.« (Tadié, S. 870) [32] Im Folgenden beziehen sich die eingeklammerten Seitenzahlen auf dieses Buch. [33] Sie selbst warnt allerdings (mit einem Satz von wahrhaft proustianischer Komplexität) vor einer quasi religiösen Betonung der unendlichen Pluralität der Differenz und den damit verbundenen homophobischen Gefahren: »I know from some experience of interacting with people about this and related material how well lubricated, in contemporary critical practice and especially that of heterosexual readers, is the one-way chute from a certain specificity of discourse around gay issues and homophobia, by way of momentarily specific pluralizing of those issues, to – with a whoosh of relief – the terminus of a magnetic, almost religiously numinous insistence on a notional ›undecidability‹ or ›infinite plurality‹ of ›difference‹ into whose vast and shadowy spaces the machinery of heterosexist presumption and homophobic projection will already, undetected, have had ample time to creep.« (S. 247) [34] Hirschfeld erscheint gleich zweimal in Sedgwicks Liste der homophobischen Schwulendenunzianten, wobei ihre Berufung auf James Steakley und Richard Plant abwegig ist und schludrige Lektüre vermuten lässt. Hirschfeld soll zweimal versteckt lebende Schwule denunziert haben, »1907-9« hat er in der Eulenburg-Affäre »a prince« geoutet und »1924« den »police informer and mass murderer Fritz Haarmann« (S. 244). Im Prozess Graf Moltke gegen Harden von 1907 hat Hirschfeld tatsächlich als Sachverständiger dem Grafen, der kein »prince«, also kein Fürst war, als nicht praktizierenden Homosexuellen bezeichnet und sich dabei auf die Aussagen von Moltkes Gattin gestützt; als die Glaubwürdigkeit der Zeugin erschüttert war, widerrief Hirschfeld sein gutachterliches Endurteil. Vollends rätselhaft ist Sedgwicks Behauptung zum Haarmann-Prozeß, den in Hirschfelds Gutachten ging es um die Zurechnungsfähigkeit des Mörders und nicht um die Frage, wie schwul er ist. [35] Hier ist anzumerken, dass Sedgwick bei der Definition des für ihre closet epistemology grundlegenden Begriffspaares »minoritizing/universalizing« eine abwegige Karikatur von Hirschfelds Zwischenstufenlehre zeichnet. Sie hält Hirschfeld für einen »believer in the ›third sex‹ who posited an exact equation between cross-gender behaviors and homosexual desire« (S. 88) Sie beruft sich auf einen Autor Don Mager, der sich wiederum auf Lauritsen/Thorstad und Steakley beruft. Hirschfeld hat sie nicht gelesen, kennt ihn nur aus dritter Hand. |