Manfred Herzer

Marcel, durch Mitleid wissend

Prousts reiner Tor. Messianische Transformation

Ursprünglich erschienen in: Capri 44, Feb. 2011.
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

 


Je ne lui trouve rien de moschant comme Coco et vous m’aviez dit.[1]

Heut’ ist wieder Char-Freitag! – O, heiliger Tag! Tief bedeutsamster der Welt! Tag der Erlösung! Gott im Leiden!! Wer faßt das Ungeheure? […] Ein warmer, sonniger Charfreitag gab mir durch seine heilige Stimmung einst den Parzival ein: er lebt seitdem in mir fort und gedeiht, wie ein Kind im Mutterschoß.[2]

Die aktuell messianischen Momente im Kunstwerk treten als sein Inhalt, die retardierenden als seine Form in Erscheinung. Inhalt kommt auf uns zu. Form verharrt, läßt uns an sich heran. Die retardierenden (formalen) Momente der Musik liegen wahrscheinlich in der Erinnerung, an der das Hören sich staut. Jedenfalls hat jede Kunstart und jedes Kunstwerk in sich ein Moment, an dem das Vernehmen sich staut und dieses ist das Wesentliche seiner Form.[3]

1.

Hat Marcel Proust seinem Roman Auf der Su­­che nach der verlorenen Zeit[4], in dem es vor allem um die Homosexualität des Man­nes und des Weibes geht, eine oder mehrere Theorien der gleichge­schlechtlichen Liebe unterlegt und wenn ja: wel­che? Diese Fragen sollten geklärt werden, als ich begann, den Roman zum zweiten Mal zu lesen. Sodann sollte die Proustsche Homosexuali­täts­lehre mit den anderen verglichen werden, die da­mals in Frankreich und Deutschland im Um­lauf waren. Bald schon stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte und dass es Proust um nichts weniger ging als um irgendwelche Theorien, sei es zur Sexualität, zu den Juden, zur Kunst, zum Krieg oder zu sonst etwas. Die vielen quasi the­o­retischen Erörterungen und Dispute in den Salons der reichen Pariser Familien, die im Roman so großen Raum ein­nehmen, sind nur mög­lichst exakte Ab­bilder dessen, was in den Kreisen der Pariser Bourgeoisie des Fin de siècle geschwätzt, geglaubt und angezweifelt wurde. Ein Ver­gleich dieser Religion des Alltagslebens und speziell der Pariser Ansichten zur Inversion mit Hirschfelds Lehre von den sexuellen Zwi­schen­stufen ist daher nicht möglich. Es ergab sich aber eine andere über­raschende Vergleichbarkeit des schwu­len französischen Dichters mit dem schwu­len deutschen For­scher und das betraf ihrer bei­der Verhältnis zur Religion, die Reflexion der mit­teleuropä­i­schen Sekularisierung, des Verfalls der christlichen Ideologien im Selbstverständnis der beiden Zeitgenossen. Mit den Stichwor­ten »Kunstreligion« (Proust) und »Wissen­schafts­re­ligion« (Hirschfeld) soll das sowohl individuelle wie auch zeittypische Verhältnis der beiden zur in Verfall und Auflösung befindlichen Religion untersucht werden.

 

2.

Ich glaube, ich habe verstanden, worum es Proust in seinem Roman gegangen ist. Er hat sich zum Ziel gesetzt, eine neue Stufe der rea­listi­schen Schreibweise zu erreichen, mit der er die einschlägigen Werke seiner be­wun­derten Vor­gän­­ger Madame de La Fayette, Balzac, Stendhal und Flaubert[5] überbieten und ein neues Maß an Genauig­keit beim Beschreiben der Innenwelt und der Außenwelt seiner Roman­figuren erreichen konnte. Ziemlich am Anfang seiner Proust-Biogra­fie teilt Jean-Yves Tadié im Anschluss an ein Porträt des Vaters, des Medizi­ners und Schriftstellers Adrien Proust eine Beobach­tung mit, die die Weltsicht des Dichters betrifft:

»Proust hat einen medizinischen Blick auch für die Welt, das Leben, die Leidenschaften: alles Pa­­thologie und Symptome; jede Be­schrei­bung wird zur Diagnose; nirgendwo stär­ker als in der Liebe. Die Forschungen des Vaters sind für den Sohn von Nutzen: jeder untersucht ein anderes Übel; für letzteren ist die Leidenschaft eine Krank­heit. Adrien Proust war ein Spezialist für Cholera und für Pest. Wenn Marcel die Liebe wie eine Krank­heit behandelt, deren Ursprung völlig unscheinbar ist, vergleicht er sie vielleicht eben deshalb mit jener anderen Krankheit, die vom Kommabazillus verursacht wird. Und wenn die Pest, wie der Mediziner zeigt, von Ratten über­tra­gen wird […], dann kann man sich gut vorstellen, daß von diesem Tier zu Hause sogar bei Tisch die Rede war, in den Gesprächen des Arztes, in Gegen­­wart des kleinen Kindes: Adriens Bildung war nicht so ausgeprägt, daß er häufig von etwas anderem als von seinem Beruf gesprochen hätte.« (Tadié S. 59 f.)

Anders als der Papa wollte Marcel aber kein Natur­wissenschaftler werden, sondern Dich­ter. Den Versuch, eine literaturtheoretische Abhand­lung zu schreiben, Contre Sainte-Beuve, eine Kritik der naturalistischen An­sich­ten des Schrift­stellers Charles-Augustin Saint-Beuve, brach er bald ab, oder genauer: er ändert im Manu­skript bald das Thema und skizziert Passagen seines kommenden Ro­mans. Der medizinische Blick, der eine Art imaginäres Beobachtungs­protokoll hervor­brach­te, ähnlich den Falldarstellungen der damaligen medizinischen und besonders der psychiatrischen Literatur, war sozusagen das Roh­­material, aus dem das Sprachkunstwerk zu formen war, der Stoff, aus dem Proust seinen Roman schuf.[6] Klar war ihm beim Schreiben stets, dass die Differenz zwischen beiden Text­sorten allen­falls in der Weise zu überbrücken war, dass der Romanautor den Anspruch höchster Sorgfalt bei der Analyse und gründlichster Durch­dringung eines Ge­genstan­des vom Natur­wissenschaftler über­nimmt (oder imitiert?) und gewissermaßen das Ergebnis des Forschungs­prozesses in Poesie, Sprachmusik verwandelt, in ein Bewusstseins­gemälde oder wie auch immer man das resultie­rende Kunstwerk nennen will. Einmal – 1904 − äußerte Proust seine Über­zeugung, »dass die Wissenschaft sich niemals ›mit Kunst vermischen lässt‹, ›deren Aufgabe es gerade ist, jenes Besondere, jenes Individuelle einzufangen, das den Synthesen der Wissenschaft entgeht‹.«[7]

Natürlich strebte die Wissenschaft ähnlich wie die Künste damals danach, eben »jenes Indivi­duelle einzufangen«, und besonders weit brachten es in dieser Hinsicht die psy­choanalytischen und sexu­alwissenschaft­li­chen Fallstudien. Letztlich war den Sexolo­gen und Psychoanalyti­kern klar, dass sie sich ihrem Ziel, jenes Individuelle zu begreifen, allenfalls als normatives Ideal in einem un­end­li­chen Progress annähern konnten, gewis­ser­maßen asymptotisch. Der Dichter, zumal wenn er den Roman der Lebens­zeit eines Dichters schreibt, der eben dieses sein Dich­terleben zum Gegen­stand seines Romans macht, steht vor einer ähn­lichen unlös­baren Aufgabe wie der Psycho­loge: die To­ta­lität der vergangenen Zeit mit ihren uner­mess­lichen Bewusstseinsströmen, Bilder­fluten und Archiven der Erinnerung und des Ver­gessens kann auch er niemals vollkommen oder voll­stän­dig in seinem Werk einfangen. Dennoch gibt es hier wie dort, sowohl bei den Wissen­schaft­lern wie auch bei den Dichtern am Anfang des 20. Jahrhunderts neue Erkenntnisse, techni­sche Fortschritte, die uns dem Ziel näher­bringen, die verlorene Zeit wiederzufinden.

Als Proust 1920 für die drei bereits erschie­ne­nen Bände seines Romans den Prix Gon­court ge­wann, erhielt er auch von dem Phi­lo­sophen Henri Bergson, den Tadié zurecht als Prousts »gefähr­li­chen Rivalen« bezeichnet, ein kurzes Glück­wunsch­schreiben, in dem es anerkennend heißt: »Selten ist die Introspek­tion so weit vorangetrie­ben worden. Es ist ei­ne unmittelbare und stete Sicht auf die innere Wirklichkeit.«[8] Das ist eine recht treffende Beschreibung dessen, was in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit geschieht: Ein Ich-Erzähler, der zwar »Marcel« heißt, aber kei­nesfalls mit dem Autor identisch ist, erzählt von seinen Anstren­gungen, sich an sein ver­gan­genes Leben zu erinnern, um die Ergeb­nisse und Erlebnisse dieser Erinnerungs­arbeit in einem Roman, nämlich dem vorliegenden, darzustellen. Die Pointe des Ganzen, die Neu­erung, die Proust  für seinen Roman er­findet, kann in der Darstel­lungs­form gesehen werden, die jene Erfahrung der Introspektion, die Bergson hervorhebt, mit einer neue Präzi­sion abbildet. Die Arbeit des Er­innerns wird im Roman sozusagen protokol­liert, wobei zwei Wertmaßstäbe zugrunde liegen, die »Schönheit des Stils«[9] und die maximale Ob­jek­tivität bei der Beschreibung der inneren Wirk­lich­keit. Die Liebe zur Wahrheit, um die es hier geht, ist von einer radikal anderen Na­tur als etwa die, die bei André Gide am Werk ist und die sich dort leicht zu einer missiona­ri­schen oder pro­­­pa­gan­distischen Pose stei­gert. Proust lobt Gide im Brief vom 23.4. 1921 als »Apostel der Aufrichtig­keit« (vgl. Tadié, S. 873), und meiner Ansicht nach sind in diesem Lob Spott und Ironie unüber­hör­bar; dies um so weniger, sobald man in Gides erst­mals 1941 veröffentlichtem Tagebuch den Bericht über die Besuche bei Proust im Mai 1921 liest:

»Wir haben auch heute abend von fast nichts an­de­rem gesprochen als vom Uranismus; er sagt, er bereue die ›Unentschlossenheit‹, die ihn bewogen habe, alle Grazie, alle Zärtlich­keit, allen Charme seiner homosexuellen Er­fahrungen in den ›Schat­ten junger Mädchen‹ [der zweite Band der Recher­­­che] zu trans­po­nieren, um dem hetero­sexu­­ellen Teil seines Buches Nahrung zu geben, so daß ihm für Sodom nur noch Groteskes und Ge­meines geblieben sei. Es scheint ihn aber sehr zu treffen, als ich sage, man könne meinen, er habe den Uranismus brandmarken wollen; er pro­tes­­­tiert, und schließlich begreife ich, daß das, was wir niederträchtig, lächerlich und widerwärtig fin­­den, ihm selbst gar nicht so abstoßend erscheint.« (Gide 1990, S. 673) 

Es spricht für Gide, wenn er schließlich be­greift, dass es Proust  nicht um eine Apologie oder Ver­ur­­teilung der Homosexualität, oder gar ein Be­kenntnis eigener Gefühle geht – das wären eher die Spezialitäten des Aufrich­tigkeitsapostels Gide − , sondern um einen Roman, in dem Gefüh­le und Handlungen der Protagonisten in einer Weise gezeigt werden, die der Wahrheit so nahe kommt wie nie zu­vor. Eine solche Auffassung von Wahrhaftig­keit wird selbstverständ­lich alles von der her­kömmlichen Moral als niederträchtig, lächer­lich und widerwärtig Klassifizierte ge­nauso objektiv darstellen wollen wie Grazie, Zärt­lich­keit, Charme u. dergl. Und kann man sich etwas Gra­zi­­öseres, Zärtlicheres oder Char­man­teres in der schwulen Belletristik vorstel­len als die Be­schrei­bung des schönsten, vi­rils­ten und anmutigs­ten Uranisten von Paris, des intims­ten Freundes des Ich-Erzählers: Robert de Saint-Loup?

In Gides Tagebucheintrag wird auch er­wähnt, dass er Proust seinen Traktat zur Ver­teidigung der Homosexualität Corydon mit­ge­bracht hatte (nicht erwähnt wird, was Proust nach der Lektü­re dazu gesagt hat). Corydon darf man wohl als klassisches Bei­spiel schwuler verlogener Öffent­lichkeits­arbeit bezeichnen, da dort nach dem üb­lichen Schema verfahren wird, die Schwulen, für die um Verständnis geworben wird, in gut und böse einzuteilen und die bösen aus der Ver­teidi­gung auszugrenzen. Böse sind die zu »Feminis­mus« und »Sodomie« Invertierten (Tunten mit Vorliebe für den Analverkehr). Gut sind die »nor­malen Päderasten«, über deren sexuellen Ge­schmack nur gesagt wird, dass sie nicht effemi­niert sind und ebensol­che Männer begehren, mit denen sie auf gar keinen Fall Analverkehr wünschen.[10]

Im Grunde genommen ist es eine kluge und ziem­­lich witzige Reaktion, wenn Proust auf Gides Vorwürfe mit dem Hinweis antwortet, er habe das aus »Unentschlossenheit« so gemacht, denn der Ausdruck wirkt wie eine Er­klärung oder gar Entschuldigung, ist aber kei­ne, sondern der erfolgreiche Versuch, sich der lästigen Diskus­sion mit einem offensicht­li­chen Ignoranten (der Corydon verfasst hat) zu entziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine der für meinen Geschmack schönsten Stellen in Tadiés Proust-Biografie zitieren; sie betrifft die Komik bei Proust und seine Freundschaft mit der Dichterin Anna de Noailles:

»Proust begreift Poesie als ›das Denkmal der Erinnerung für die Minuten unserer Inspira­tion‹, die das ›innere Wesen unser selbst‹ ent­halten: ein Duft von früher, ein gleiches Licht erlöst uns für einen Augenblick ›von der Tyrannei der Gegen­wart‹, so daß  wir ›et­was empfinden, was über die jetzige Stun­de hinausreicht; unsere eigene We­sens­­essenz‹. Man hat noch nicht hinlänglich be­merkt: Proust entwirft Anna de Noailles wegen die Ästhetik der Wiedergefundenen Zeit [der letz­te Band des Romans]. Mit seiner wach­sa­men Sensibilität spürte Proust, daß diese jun­ge Frau immer traurig war und daß sie in der Melancholie ›einen Ausgangspunkt ekstati­scher Träume‹ fand. Er teilte auch denselben Um­gang mit dem Komi­schen, der nicht darin besteht, komische Ge­schich­ten zu erzählen, son­dern in jedem Lebens­umstand ›etwas Komisches‹ zu entdecken. Das Ko­mische ist also mit der Poesie verwandt, die das Wesen der Dinge aufspürt. Verschieden ist nur das Niveau: Charme und Fröhlichkeit kom­men an der Oberfläche und im Gespräch zum Aus­­­­druck, die Inspiration in Tiefe und Einsamkeit.«[11]

Das Groteske und Gemeine, das Lächerliche und Widerwärtige, das Gide an Prousts Darstel­lung von Sodom rügt, ist dort immer zu­gleich auch Aspekt des Wesens der Dinge, eines jeden Lebensumstands – ein Merkmal der besonderen Qualität seiner realistischen Schreibweise.

Prousts Roman-Ich »Marcel« ist hetero­sexu­ell. Er erfährt durch haarsträubend unglaub­wür­dig konstruierte Zufälle von der Existenz der Lesben und Schwulen:

− In der Nähe des Dorfes Montjouvain war er »in den Büschen einer Anhöhe einge­schla­fen« und als er wieder erwachte, beobachtete er − »nur wenige Zen­timeter von mir ent­fernt« − durch das halb offene Fenster eines Hauses wie Fräulein Vinteuil mit ihrer Freun­­din etwas undeutlich beschriebene Sex­spiele spielt, die von Marcel  »Sadismus« ge­nannt werden, weil die beiden Frauen dabei das Foto des gerade verstorbenen Vaters der einen bespucken und den Toten ver­höhnen: »der alte Affe«. (Proust 1994, S. 233 ff.)

− In einem Versteck im Treppenhaus der Pa­riser Mietwohnung seiner Eltern beobach­tet Marcel die Begegnung zweier Homosexuel­ler, des Baron de Charlus und des Herren­schneiders (»Westen­macher«) Jupien, die sich zum Sex verabreden. »Eine äußerst dünne Zwischenwand« ermöglicht es Marcel, den beiden beim Sex zwar nicht zuzu­sehen, aber doch den »unartikulierten Lauten« zuzu­hören, die die beiden in ihrer »Lust« aussto­ßen. (Proust 1999, S. 13 ff.)

− Weil Marcel bei einem nächtlichen Spa­zier­­gang  plötzlich »ungewöhnlichen Durst« ver­spürt und in dieser Gegend von Paris alle Gaststätten ge­schlossen sind, geht er in das einzige noch offene Hotel, das sich aber als Schwulenbordell entpuppt. Dort kann er durch »ein kleines Rund­fenster, an dem aus Versehen der Vorhang nicht zugezogen war«, den Baron de Charlus beobach­tet­, wie er sich mit Ketten an ein Bett gefesselt, »be­reits in seinem Blut schwimmend und mit Striemen be­deckt«,  von dem »Seemann« Maurice mit einer »Klopfpeitsche« verprü­geln lässt. Plötz­lich weiß Marcel auch noch, dass dieses Bordell dem Ba­ron de Charlus gehört, der es gekauft hat, um seine sexuellen Vorlieben zu befriedigen. (Proust 2002, S. 174 ff.)

Der Herausgeber der »Frankfurter Ausgabe«, Luzius Keller äußert hierzu die sonderbare An­­sicht, die »Inszenierung der Homo­sexu­a­lität in der Recherche« sei kompliziert und unwahr­schein­­lich[12]. Offensichtlich ist aber nicht die Ho­mo­sexu­­alität kompliziert und unwahrschein­lich ins­zeniert, sondern die Um­stände, die es dem hete­ro­­sexuellen Ich-Erzähler erlauben, lesbischen und schwulen Sex aus der Distanz zu beobachten oder zu belauschen. Diese Kons­truk­tionen sind derart unwahrscheinlich und geradezu anti-realis­tisch, dass man sich wundert, warum die aus­ufernde Proust-Exegese bisher keinen Erklä­rungs­bedarf zu sehen vermochte.

Hier nun soll eine Deutung der drei genann­ten Beobachtungsszenen vorgeschlagen wer­den, die darauf hinausläuft, dass Proust mit seinen offen­sicht­lich unglaubwürdigen Kons­truktionen ein Signal sendet, das Zweifel an der durchgängig behaupteten Heterosexu­a­li­tät, oder genauer: Nicht-Homosexualität des Ich-Erzählers Marcel säen soll. Ähnlich wie der von den irgendwie heterosexuellen Män­nern Charles Swann und Mar­cel vermutete Lesbensex der jeweils gelieb­ten jungen Mäd­chenblüten Odette (»eine Liebe Swanns«) und Albertine (»die Gefangene«) nie wirklich nachgewiesen, sondern – wie Ina Hartwig recht treffend bemerkt[13] − »der sexuellen Imagination« des Ich-Erzählers resp. Swanns zugewiesen wird, so könnte auch dem Ich-Erzähler selbst wegen seiner beeindrucken­den Kenntnisse über das Leben der Schwu­len, die er auf absurd unwahr­scheinliche Weise erlangt haben will, eine Ho­mo­sexuali­tät angedichtet oder vom Leser imaginiert wer­den. Zu der gleich am Anfang des Ro­mans beob­achteten Sexszene zwi­schen Fräu­lein Vinteuil und ihrer Freundin wäre zwei­erlei zu bemerken: Für Ina Hartwig ist zwar klar, es ist »eine lesbische Szene« (Hartwig 1994, S. 5), die hier be­schrieben wird, der Ich-Erzähler benennt sie aber an­ders, näm­lich mit dem Wort »Sa­dismus«. Die Toch­ter Vinteuils ist eine »Sadis­tin«, »eine Künstle­rin des Bösen«, der »die Lust« böse vor­kam, wes­halb sie »an der Lust etwas Teuf­li­sches« fand und deshalb diese Lust »mit dem Bö­sen« identifi­zierte. (Proust 1994, S. 239 ff.) Der Reiz, den ihre Freun­din auf sie ausübte, bestand demnach darin, »daß ei­ne gegen einen wehrlosen Toten so uner­bitt­lich strenge Per­son ihr Zärtlichkeiten er­wies«. (Proust 1994, S. 238) Hart­wig ver­mu­tet, »dass Proust  weibliche Homo­sexu­­alität vor der Recherche und vor dem Tod seiner Eltern (sein Vater starb 1903, die Mutter 1905) auch benutzte, um ver­steckt über männliche Homosexu­alität zu schrei­ben«, und: »Hätte er jedoch fortan nur noch über männliche Homo­sexu­alität schrei­ben wollen, dann hätte er in der Recher­che kaum derart ausführlich weiterhin auch weibliche Homo­sexualität thematisiert.« (Hartwig 1998, S. 67)

Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass weib­liche Homosexualität, das einzige Mal, wo sie in der Recherche explizit gezeigt wird, vor allem als »Sadismus« verstanden werden soll.  Marion Luckow weist über­zeu­gend darauf hin, dass diese Szene eine ziem­lich genaue Nach­bildung einer anderen ist, die Proust in De Sades Roman La Nouvelle Justine gefunden hat. Prousts Veränderungen betreffen vor allem Geschlechts­umwandlun­gen: Prousts Lesben sind bei De Sade zwei Schwule, und der Beobachter Marcel ist bei De Sade die arme Justine, das profanisierte Foto eines Vaters ist bei De Sade eine leibhaftige Mutter. (Luckow 1962, S. 7 f.)

Dort, wo bei Proust wirklich ausführlicher von den Lesben die Rede ist, bei der ima­gi­nierten lesbischen Liebe zwischen Albertine und ihren Freundinnen, wäre zu klären, ob hier nicht viel­leicht doch nur »versteckt über männ­liche Homo­sexualität« geschrieben wird. Der Hinweis auf Baudelaire kann wei­terhelfen, denn dieser hat, wie Hartwig be­tont, eine »poeti­sche und erotolo­gische Tra­di­tion« der Lesbierin begründet, die von Proust  aufgenommen wird. (Hartwig 1998, S. 67) Aber wie sieht Proust  die Lesbierin­nen bei Baudelaire? Hierzu könnte ein Streitgespräch aus dem Jahr 1921, das André Gide in seinem schon zitierten Tagebuch mitteilt, einen Anhaltspunkt geben:

»Sich selbst durch ständige Zwischen­bemer­kun­gen unterbrechend, redet er [Proust] ohne Zusam­menhang dahin. Er spricht von seiner Überzeu­gung, daß Baudelaire Uranist gewe­sen sei: ›Die Art, wie er von Lesbos spricht, allein schon das Bedürfnis, davon zu spre­chen, wäre für mich Be­weis genug.‹ Und als ich widerspreche: ›Wenn er Uranist war, so jedenfalls halb unbewußt; und Sie werden doch nicht denken, daß er jemals prakti­ziert hat …?‹, ruft er: ›Wieso denn nicht! Ich bin vom Gegenteil überzeugt: wie können Sie da­ran zweifeln, daß er praktiziert hat? Er, Bau­delaire!‹ Und seinem Tonfall konnte man fast entnehmen, ich würde Baudelaire durch meine Zweifel beleidigen.« (Gide 1990, S. 671)

Proust  sieht also nicht nur in der dichteri­schen Beschäftigung mit Lesbensex ein Zei­chen für des Dichters Männerliebe, er sieht auch »das Bedürf­nis, davon zu sprechen«, als Beweis, dass hier stell­vertretend oder codiert vom eigenen schwu­len Sex gesprochen wird. Das ist offen­sicht­lich eine wilde Spekulation Prousts, die aber viel über seinen eigenen dichterischen Umgang mit den Les­ben sagt. Nicht nur, wie Hartwig richtig be­merkt, dass er hier ein tradi­tionelles Muster imi­tiert, mehr noch: die lesbischen Stellen im Ro­man sind in baudelairscher Manier verschlüs­selte schwule Stellen, die »sadistische« Szene zwi­schen Fräulein Vinteuil und ihrer Freundin würde demnach wie in einer Opernouvertüre »die große Szene des gefesselten Charlus« (Tadié, S. 795) im letz­ten Akt, Die wieder­ge­fundene Zeit, ankün­di­gen und vorwegneh­men. Dass die Lesben in Prousts Roman meist, anders als die Schwulen, nur als Ima­ginäre auftauchen, nie der Proustschen Le­bens­­er­fah­rung, sondern immer der französi­schen litera­ri­­schen Tradition[14] entnommen sind, kann beson­ders deutlich am vierten Band, Sodom und Go­mor­rha, demonstriert werden. Hier gibt es näm­lich keine einzige Lesbe, obwohl auf der ersten Seite etwas an­deres mit dem Epigraph von Alfred de Vigny verspro­chen wird: »Die Frau wird in Gomor­rah, der Mann in Sodom herr­schen«; die in der Überschrift zum ersten Kapitel angekün­dig­ten »Zwitterwesen« (hommes-femmes) sind durchweg schwule Männer. Ich ge­be gern zu, dass ich die schnell wachsende Lite­ratur der Proust-Biografik eigent­lich nicht über­schaue, finde es aber doch bemer­kens­wert, wenn die drei neueren Bio­grafen Ro­nald Hayman (1990), Tadié (1996) und Car­ter (2006) nicht eine einzige lesbi­sche Frau in Prousts Entou­rage aus­findig machen konn­ten. »Ich kann […] beim Schrei­ben nichts erzählen, was nicht auf mich mit der Gewalt poe­ti­scher Verzaube­rung eingewirkt hat oder bei dem ich nicht eine allgemeine Wahr­heit zu be­grei­fen geglaubt ha­be«, schreibt Proust  am 6. März 1914 an Gide (Tadié, S. 728). Diese Gewalt scheint er, was die Lesben be­trifft, nur beim Lesen französi­scher schöner Literatur wie Gedichte Baude­laires erlebt zu ha­ben. Es ist gewiss zu viel ge­sagt, wenn Tim Camp­bell ver­mutet, Prousts Roman sei die per­sönliche »coming out story« des Au­tors. (Campbell 1993, S. 178) Dennoch könn­te man die offensichtlich unglaub­haft be­schrie­­be­nen Szenen, in denen der vorgeb­lich nicht-schwule »Marcel« die Schwulen beim Sex, sowie zwei »Sadistin­nen« bei ihren »Ver­­gnü­­­gun­gen« zufällig aus­spioniert, als ironi­sche Hinweise des Autors an seine Le­serInnen verste­hen, hier werde »mit der Ge­walt poetischer Ver­zaube­rung« eine Ge­schich­te erzählt, die wahr ist, weil sie die »We­­sensessenz«[15] der Menschen und Din­ge zeigt, zu der aber zugleich die trüge­ri­sche, irre­führende, in unaufhörlicher Bewe­gung und Ver­än­derung befind­liche Ober­fläche un­trenn­bar dazu­gehört. Marcel, der ja der fikti­ve Autor von Prousts Roman ist, würde dem­nach wie Monsieur de Charlus zu jener Sorte Schwuler gehören, die »nicht sehen [will], daß seit neun­zehnhundert Jah­ren […] die Ho­mosexualität als allgemeine Sitte – jene der jungen Leute Platos wie auch der Hirten Ver­gils – völlig verschwun­den ist und allein die unfreiwillige, nervös bedingte übrig bleibt und um sich greift, jene, die man vor den an­deren verbirgt und vor sich selbst bemäntelt.« (Proust 2000, S. 289) Bliebe noch die Frage, die Ina Hartwig mit gro­ßer Vehemenz ver­neint: »Ist Albertine wirklich ein rasierter Mann?« (Hartwig 1998, S. 65) Ihr ist zuzu­stim­­men, dass die An­nah­­me »ziem­lich abwe­gig« erscheint, »Proust ha­be Schwierigkei­ten mit der Darstel­lung männ­li­cher Homosexua­lität gehabt« und sie des­halb manchmal »in weib­liche Homo­sexualität trans­for­miert«. (Hartwig 1998, S. 63) Wenn man aber die be­drücken­de Liebesgeschich­te zwi­schen Mar­cel und Alber­tine als verschlüs­sel­tes Dra­ma zwei­er Männer liest, dann er­gibt es kei­nen Sinn, dass Marcel nach lesbi­schen Affä­ren seines Ge­liebten forscht; das ganz andere und bedrohli­che der schwulen Liebe ist nicht die lesbische, son­dern die hetero­sexuelle. Der quälende Eifer­suchts­­­wahn eines schwulen Mar­­cel wäre in seiner inneren Logik nach­voll­ziehbar, wenn er argwöhnt, sein Gelieb­ter, der »rasierte Mann«, betrüge ihn mit Frauen.

Bevor ich zeige, warum es für die Architek­tur und die Dramaturgie des Romans notwen­dig ist, dass Marcel kein Schwuler ist (und übrigens auch kein Jude), soll Bekanntes zu der Frage rekapitu­liert werden, wie Proust seine Romanfiguren kon­s­­truiert und in wel­chem Verhältnis sie zu wirk­lich lebenden Personen stehen. Niemand glaubt wohl heute noch, Proust habe die Figuren mit kleinen Retuschen und gegebenenfalls Ge­schlechts­umwandlungen als Porträts seiner Be­kann­ten und Freunde geschaffen, nach dem Mus­ter: Charlus = Robert de Montesquiou, Albertine = Alfred Agostinelli, Françoise = Céleste Albaret usw. Wie erwähnt, beschrieb Proust nur das, was er selbst gesehen hat; das Mate­rial, aus dem er die handelnden, imaginieren­den und reflek­tie­renden Charaktere im Ro­man konstruiert, ent­nimmt er seiner Umge­bung und seiner Introspek­ti­on, die fertigen Kons­t­­rukte sind dann vollstän­dig neue Kunstprodukte, die aus einer Vielfalt von Charakterzügen natür­li­cher Personen zusam­men­gesetzt sind. Tadié illus­triert dieses Verfah­ren Prousts an der Albertine-Figur und der Rolle, die dabei Prousts Freund und Sekretär Albert Nahmias gespielt hat:  

»… die Zuneigung zu Nahmias, die Marcel im No­vember [1911] bekundet: ›Ich habe in Cabourg die süße und unheilvolle Gewohn­heit angenommen, vor Ihnen ganz laut zu denken, und die kleinen Dinge, die mir durch den Kopf gehen, in Ihrem Geist widerspie­geln zu lassen (…) Warum kann ich nicht das Geschlecht und das Gesicht wechseln und das Aussehen einer jungen hübschen Frau an­nehmen, um Sie von ganzem Herzen zu küssen?‹ Von seinem ›kleinen Albert‹, des­sen Vorname Albertine ergeben wird, läßt er sich im Dezember ›Marcel‹ nennen. Und im Februar 1912 ist ›petit Albert‹, so wie früher Lucien Daudet, zu ›Mon cher petit‹ geworden.«[16]

Tadié hatte Gelegenheit, Nahmias, der 1979 starb, über seine Erinnerungen an Proust zu befra­­­­gen. Auf die Frage, ob er das Vorbild für Alber­tine gewesen sei, antwortete er: »Wir waren mehrere.« (Tadié, S. 1108) Und so ist auch »Marcel«, das Roman-Ich, die po­e­tische Schöp­fung Prousts, der seinen Helden aus den Charak­ter­zü­gen vieler natür­licher Per­sonen zusammen­setze und daran glaubte, »daß jeder von uns nicht ein ein­ziger, son­dern eine Unzahl von Personen ist«[17].

Als ich bei Tadié die kleine Bemerkung: »doch unter Wagners Einfluß steht die ge­sam­te Recher­che« las (Tadié S. 727 f.), glaubte ich plötzlich zu begrei­fen, dass Mar­cel neben vielem anderen auch der mo­derne »profanisierte« reine Tor aus Richard Wag­ners Oper Parsifal ist. Prousts Ro­man ist na­türlich, anders als Wagners Oper, kein »Büh­nen­weihfestspiel« und sein Marcel ist auf seiner aben­teu­er­lichen Reise in die Welt der französi­schen Anti­semiten und dreyfusards, der Schwu­len­hasser und Charlusse auf den ersten Blick kaum mit Wagners heilbringen­dem Gast der frommen Ritter in der Burg »Monsalvat« zu vergleichen. Vergleichbar ist aber die Attitüde des aus der Fremde kom­men­den, zum Mitleid bereiten reinen Toren, der den Leidenden und Verfolgten mit furcht­loser Neugier begegnet. Marcel kann zwar nicht wie Parsifal die unter der Bedro­hung durch Klingsor und dem Verlust des heiligen Speers leidenden Gralsritter und die wegen ihres sündigen Gelächters vom Hei­land persönlich verfluchte Kundry erlösen; stattdessen unter­nimmt er es, im Sprach­kunst­werk die ganze Wahrheit über die »Rasse der Tunten«[18] und die französischen Juden abzubilden und so zu ihrer – um es paradox auszudrücken – weltlichen Erlösung, zur emanzipatorischen Befreiung beizutra­gen. Es wird hier eine Auffassung von der so­­zialen Rolle der Kunst sichtbar, die der Auffassung Richard Wagners nahekommt und konträr zu den Kunstpolitiken von André Gide und Bertolt Brecht steht.

Wohlgemerkt geht es hier nur um eine Ent­spre­chung, eine Baudelairesche »correspon­dance« der beiden Protagonisten Parsifal und Marcel, nicht um eine der Wort-Musik Prousts und der Musik-Musik Wagners, denn ich fürchte, bei einem »Musik«-Vergleich kann kaum mehr als blumi­ge, aber leere Re­dens­arten herauskom­men. Tadié bietet hier­für mehr­fach ein schönes Bei­spiel. So etwa, wenn er be­hauptet, Proust sei es gelun­gen, die »Sub­stanz« der vier letzten Streich­quar­tette Beetho­vens »in Sprache zu ver­wan­deln«: »Auch wenn Wagner zur allgemei­nen Ästhetik beiträgt, so sind es doch die Beet­hoven-Quartette, beson­ders die letzten, die sich Proust  unablässig anhört, bis es ihm gelungen sein wird, ihre Substanz in Sprache zu verwandeln.«[19]

In dem breiten und verworrenen Bewusst­seins­­strom, den Marcel seine »Theorie« (Proust 1999, S. 28 ff.) der Homo­sexualität nennt, der aber nicht nach der Logik einer Theorie konstruiert, sondern wie ein Tag­traum oder eine Kaffee­klatsch­plauderei in der Manier von »literarischem Impressionis­mus«[20] komponiert ist, nennt er die »Schmach«, die den homosexuellen Männern in der Vergangenheit angetan wurde, eine »Verfol­gung, die der der Juden gleicht«[21], und warnt schließlich  vor »dem verhäng­nis­vollen Irrtum […], den es bedeuten würde, wenn man in der gleichen Weise, wie man ei­ne zionistische Be­wegung angeregt hat, eine sodomitische Bewe­gung ins Leben rufen und Sodom wieder aufbau­en wollte.« (Proust 1999, S. 52) Die Be­gründung für die War­nung vor dem Verhängnis, die Marcel hier anschließt, macht zwar deutlich, dass er sich nicht vor einer sodomitischen Bewe­gung im Stil des Berliner Wissenschaftlich-huma­ni­tä­ren Ko­mitees fürchtet; es geht ihm buch­stäb­lich darum, dass die Schwu­len ähnlich wie die Zionisten ihren Juden­staat eine Schwu­­len­stadt mit Namen Sodom aufbauen wollen, egal ob auf dem alten Sodom in Pa­lästina oder sonst wo. Die Schwulen würden näm­lich, so prophezeit er, Sodom sofort wie­der verlassen und »in London, in Berlin, in Rom, in Petrograd oder in Paris« alle »an­ge­mes­se­nen Zerstreuungen« su­chen, nur »da­mit es nicht so aussähe, als gehör­ten sie dazu«. Spä­ter äußert er die Überzeugung, dass jene Ho­mosexu­alität Platos und Vergils heutzu­tage »völlig ver­schwunden ist und allein die un­freiwillige, nervös bedingte übrig bleibt und um sich greift, jene, die man vor den ande­ren verbirgt und vor sich selbst bemän­telt«; diese Homosexualität ist nach Marcels Ansicht »die einzig wahre«, weil sie »in Scham und Ver­fol­gung trotz aller Hinder­nis­se weiter­besteht«. (Proust 2000, S. 289) Und gemäß der Einsicht, dass jeder Lebensum­stand auch eine komische Seite hat, werden die Bewoh­ner des Neuen Sodom mit hungri­gen Wöl­fen verglichen: die Sodomitaner würden nur dann in ihre Stadt zu­rückkehren, »wo eine äußerste Notwendigkeit sie dazu zwänge, […] in jenen Hungerzeiten, die selbst die Wölfe aus den Wäldern locken«. (Proust 1999, S. 53)

Im Roman gibt es noch weitere, nur ange­deutete Gemeinsamkeiten zwischen Juden und schwulen Männern, zum Beispiel ihre Verbindungen zu dem Erzfeind Deutschland. Der Anti­semitismus als Grundlage für die Verfolgung des Alfred Dreyfus konnte seine überzeugend­sten Argumen­te aus dem Glau­ben gewinnen, der jüdische Hauptmann habe den Deutschen militärische Geheimnisse ver­raten. Und seit dem Ende des 19. Jahrhun­derts gehört es zu den populären Ansich­ten un­ter Franzosen, dass die Liebe der Männer zu­einander ein aus Deutsch­land einge­schlepp­tes Laster, vice allemand, sei (vgl. Méténier 1904). In Prousts Roman ist nicht nur der bevorzugte Name des Lasters – Homosexualität − deutsch und pedantisch, auch die drei prominentesten Schwulen im Roman, Charlus, Saint-Loup und der Fürst von Guermantes haben, wie immer wieder betont wird, deutsche Vor­fahren. Natür­lich sind Charlus und der Fürst nicht nur schwul, sondern auch antisemitisch (Proust 1999, S. 106 und 744), während sich merkwür­di­ger­weise Marcels jüdischer und heterosexueller Freund Bloch niemals über das Geschlechts­leben der Charlusse äußert; es scheint ihm gleichgültig zu sein.

Nimmt man an, die weitschweifigen Darle­gungen zu so unterschiedlichen Gegenstän­den wie Ho­mo­­­­sexuelle und Juden, Frank­reich und Deutsch­land im Weltkrieg oder zu spektakulären Büh­nen­­auf­füh­­run­gen und Kunstaustellungen seien dem nicht enden wollenden Geschwätz in den Salons der be­schränkten und intriganten, aber hoch­musi­ka­­li­schen und steinreichen Madame Verdurin sowie der weltgewandten Herzogin von Guermantes als monströse »Pastiches« nach­ge­bildet, dann wird klar, dass auch die bunte und wenig konsis­tente Termi­no­logie bei den Reden über die »Ein­wohner Sodoms« zu diesem Sittengemälde dazugehört.

In einem internen Vermerk »zur Bezeich­nung der Homosexuellen« von 1913, der nicht in den Ro­man aufgenommen wurde, gesteht sich Proust ein, dass er nicht den Mut fand, die von Balzac in Splendeur et misère des courti­sanes benutzten Bezeichnungen Tunte (tante) und Drit­tes Ge­schlecht (troisième sexe) zu verwenden; statt­dessen will er seine schwulen Helden Invertierte nennen, nicht Homosexuelle, denn das Wort kom­­me ihm »zu deutsch und zu pedantisch« vor. (Proust 2007, S. 278 f.) Dennoch wählt sein Roman-Marcel meist das deutsche Wort, um Männer mit »seltsamen Nei­gungen«[22] zu be­zeich­­­­nen. Eine inte­ressante Ver­wirrung, die viel­leicht vor allem die Verwir­rung in den Gemütern der Protagonis­ten nach­zeich­net, herrscht in der Frage der Be­wer­tung: Homosexu­alität sei »un­heil­barer Krank­heit ent­sprungen«, be­hauptet Marcel, ein innerer »Zwang«, den »man unpas­sen­derweise« ein »Las­ter« nennt, eine »als Laster bezeichnete Neigung«; einmal ver­gleicht Marcel das Übel der Charlusse sogar mit »progressiver Para­ly­se«. (Proust 1999, S.25 u.ö.; Proust 2000, S. 300) Der schein­bare Widerspruch zwischen »vice« und »maladie inguérissable« ver­­schwin­det aber, wenn man sich klar macht, dass die Krank­heit Homo­sexu­alität nur dann zum Laster wird, wenn der Kranke nicht Ent­haltsam­keit übt, son­dern sein krankhaftes Ver­langen aus­lebt, ver­gleich­bar dem gesun­den Ehemann, der las­ter­haf­terweise ins Bor­dell geht, oder dem ka­tho­li­scher Priester, der sein Keusch­heits­gelüb­de bricht. Inte­ressant ist in diesem Zusam­menhang, dass auch Baron de Charlus sich in seinen ausgie­bigen Dis­kursen zur Ver­­­teidigung dessen »was die Deut­schen als Ho­mosexualität bezeichnen« (Proust 2000, S. 438) niemals von einer Krank­heit, wohl aber, Autoren des 17. und 18. Jahr­­hun­derts (Saint-Simon, La Rochefou­cauld) zitie­rend, von »Lastern, die sich zu allen Zeiten gleichen« oder »griechischen Las­tern« spricht. Was Marcel und Charlus zum Aus­druck bringen, wenn sie sich zur Homosexu­alität äußern, sind die vom Geist der damaligen Zeit gepräg­ten Anschauun­gen darüber. Wie diese sich in einem zeitgenössi­schen Be­wusst­sein ab­bil­den, war eines der großen Themen des Romans.

Nathalie Mauriac-Dyer hat sich die Aufgabe ge­stellt, in Prousts Roman nach Spuren zu suchen, die seine Lektüre psychiatrischer und forensi­scher Literatur aus dem 19. Jahrhun­dert belegen. Sie findet diese Spuren nicht dort, wo von Homo­sexuellen beiderlei Ge­schlechts die Rede ist, sondern in der Be­schrei­bung von Hotel­zimmern. Weil Marcel beim Erwachen die gewölbte Zim­mer­decke als »gigantischen Trichter« wahrnimmt (Proust 1994, S. 14), liege hier ein Verweis auf die anale Zone vor, sowie eine »inter­tex­tualité« mit einem Buch des Gerichtsme­di­zi­ners Tardieu, das Proust vielleicht gelesen ha­ben könnte und in dem den passiven Päde­rasten ein trichterförmiger Anus zugeschrie­ben wird. (Tardieu, S. 146) Tar­dieu berichtet auch von Rissen am Darmausgang (Fissu­ren), die er bei passiven Päderasten häufig sah, und Proust lässt einen Hoteldirektor in Sodom und Gomorrha von Rissen in einer Zim­merdecke sprechen: wieder eine Inter­tex­tualität, die Prousts Spiel mit Hintergedanken (»jeu sur sous-entendu«) und dem discours médico-légale zeigt. (Mauriac-Dyer, S. 100 ff.) Solche schrillen Spekulationen[23] tragen leider nichts zu der nicht unwichtigen Frage bei, wie Proust die Homo­sexualitätstheorien seiner Zeit im Roman einsetzt: sicher irgend­wie spielerisch, aber kaum so wie Mauriac-Dyer sich das vorstellt.

Bevor der Gedanke einer gewissermaßen messia­ni­schen Erlösung der Schwulen und Juden durch Parsifal-Marcel wieder aufge­nommen wird, erst noch ein kleines Beispiel für die »impressionisti­sche« Darstellung der Juden und Antisemiten im Roman:

Marcel geht mit einer Schar junger Mädchen, zu denen auch seine künftige Geliebte Alber­tine ge­hört, auf der Strandpromenade von Balbec, einem imaginären Badeort an der Atlantikküste spazie­ren: »Oft begegneten wir den Schwestern Blochs, die ich grüßen muss­te, seitdem ich bei ihrem Va­ter zum Abend­es­sen gewesen war. Meine Freun­din­nen kannten sie nicht. ›Ich darf mit Israelitin­nen nicht verkehren‹, sagte Albertine. Die Art, wie sie das Wort ›Israelitin­nen‹ (mit schar­fem s) aussprach, bewies zur Genüge, auch wenn man den Rest des Satzes nicht gehört hätte, dass Sym­pa­thie gegenüber den Ange­hörigen des auser­wähl­ten Volkes nicht das Gefühl war, das die jun­gen Töchter frommer Familien der Bour­geoisie beseelte; man hätte sie sicher leicht noch glauben machen kön­nen, die Juden brächten kleine Christenkin­der um. ›Außerdem haben sie scheußliche Ma­nieren, Ihre Freundinnen‹, meinte Andrée mit einem Lächeln, in dem deutlich ihre Überzeugung lag, dass die Mädchen nicht meine Freundinnen seien. ›Wie alles, was mit den zwölf Stämmen zu tun hat‹, setzte Alber­tine noch altklug hinzu. Ehrlich gesagt, mach­ten Blochs Schwes­­tern, zu elegant ange­­­­zogen und gleichzei­tig halb nackt, schmach­tend und keck, anspruchs­voll und schmuddelig, keinen hervorragenden Ein­­druck. Eine ihrer Kusinen, die noch nicht fünf­­zehn Jahre alt war, versetzte die Kasino­be­sucher in Empörung durch ihre offen zur Schau getragene Bewunderung für Mademoi­selle Léa, die Bloch senior zwar als talen­tier­te Schauspiele­rin schätzte, von der aber be­kannt war, daß ihre Neigungen nicht in erster Linie nach der Seite der Herren gingen.« (Proust 1995, S. 686 f.)

Es geht offensichtlich stets darum, das Wahre im Falschen und umgekehrt zur Sprache zu bringen: Blochs Schwestern kommen mit ihrem nicht her­vor­ragenden Outfit und Betra­gen dem angelern­ten Antisemitismus der jun­gen Mädchen entge­gen, und die Empö­rung antisemitischen Kasino­be­su­cher wird ge­weckt durch die offen geäußerte Bewun­de­rung der Fünfzehnjährigen für die Lesbe Léa, die von den frommen Familien der Bour­geoi­sie gewiss noch mehr verachtet wird als die Juden.

Alle leiden in Prousts Roman: Swann und Marcel unter dem Eifersuchtswahn, mit dem sie ihre Ge­lieb­ten und sich selbst quälen; Odette und Alber­tine unter den terroristi­schen Verhören, mit denen sie von ihrem Gatten bzw. Liebhaber auf der Suche nach vermuteten lebischen Seitensprüngen trak­tiert werden; die Ju­den, die sich »in den Tagen schwerer Schicksals­schläge […] um das Op­fer scharen […] um Dreyfus« (Proust 1999,  S. 29), unter den Anti­­semiten; Charlus unter den Kränkungen, die der von ihm hoff­nungslos ge­liebte Geiger Charlie Mo­rel ihm zufügt; unheil­bare Wunden tun sich auf bei der Nachricht vom Tod geliebter Personen:

»In solchen Augenblicken schien mir, wenn ich den Tod meiner Großmutter und den Albertines nebeneinanderstellte, daß mein Leben mit dem Makel des Doppelmords besudelt sei, den allein die feige Nachsicht der Welt mir verzeihen konnte.« (Proust 2001, S. 121)

Und bei der Nachricht vom Tod des schwu­len Freundes Robert de Saint-Loup an der Welt­kriegs­front ist Marcels Kummer so groß, dass er »mehrere Tage lang […] in Gedanken an ihn in meinem Zimmer eingeschlossen« blieb. (Proust 2002, S. 229)

Alle leiden, Marcel aber leidet am meisten. Dieser Eindruck entsteht, weil der Roman wie ein von Marcel verfasstes Protokoll sei­ner lebens­lan­gen Selbstbeobachtung – Berg­son spricht von Introspektion ­− geschrieben ist. Die Leiden (und Freuden) der anderen kann Marcel nur durch Be­obachtung ihrer Ge­spräche und Hand­lun­gen, Mi­mik und Ges­tik erschließen und kommt schnell an un­über­windliche Grenzen. So wenn er mit allen de­tektivischen Mitteln eine Unmenge an Kenntnissen über Albertines gehei­mes Leben als Lesbe erwirbt, ohne jemals Ge­wiss­heit zu erlan­gen, wie es wirklich gewesen ist. Am Ende, im letzten Band, erfährt der Leser von einer Serie mystischer Erweckungserlebnis­se, die Marcel klar machen, dass er in seinem Inneren die Kraft finden kann, den Roman zu schreiben, den wir gerade lesen. Die wie­der­gefundene Zeit ist unter anderem der Roman des Romans im Roman, die Geschichte einer Erleuchtung zum künstlerischen Messianis­mus, zur Schaffung eines Gesamtkunst­werks[24] in Romanform als Beitrag zur Erlösung der Welt.

Marcel schreibt:

»Da aber ging ein neues Licht in mir auf, weniger strahlend gewiss als jenes, dem ich die Erkennt­nis verdanke, daß das Kunstwerk das einzige Mit­­­tel ist, die verlorene Zeit wie­der­zufinden. Ich begriff, daß dieses ganz ver­schiedenartige Mate­rial des literarischen Werkes mein vergangene Leben war; ich be­griff, daß es in den oberfläch­lichen Vergnü­gungen, in der Trägheit, in der Zärt­lichkeit, im Schmerz zu mir gekommen und von mir gespeichert worden war, ohne daß ich seine Bestimmung, ja auch nur sein Fortleben bes­ser erraten hatte als der Same es tut, wenn er die Elemente in sich aufhäuft, durch welche die Pflanze ernährt werden soll. Wie jenes Samen­korn[25] konnte ich sterben, sobald die Pflanze entwickelt war; ich hatte offenbar für es gelebt, ohne es zu wissen oder das Gefühl zu haben, mein Leben müsse jemals in Kon­takt mit jenen Büchern kommen, die ich hätte schreiben mögen und für die ich, wenn ich mich früher an den Arbeitstisch setzte, nie ein Thema fand. So hätte – und hätte doch nicht – mein ganzes Leben bis zu diesem Tag unter dem Titel ›Eine Berufung‹ zusammen­ge­fasst werden können.« (Proust 2002, S. 306 f.)

Die messianische Zeit des ewigen Lebens, die »wir«, die Künst­ler den sterblichen Menschen bringen, indem wir »alle Leiden bis auf den Grund ausschöp­fen« und die »Wer­ke« schaffen, sieht Marcel angekündigt in Manets Gemälde »déjeuner sur l’herbe«, einem heterochauvinistischen Idyll im Grünen:

»Ich aber sage, das grausame Gesetz der Kunst ist, daß die Menschen sterben und daß wir selbst [nämlich wir Künstler] sterben, wobei wir alle Leiden bis auf den Grund aus­schöpfen, damit das Gras nicht des Verges­sens, sondern des ewigen Lebens sprießt, jenes dichte Gras fruchtbarer Wer­ke, auf dem die Generationen voller Heiter­keit und ohne Sorge um die, die darunter schla­fen, abhalten werden ihr déjeuner sur l’herbe.« (Proust 2002, S. 513)

 

3.

Der französische Schriftsteller und Diplomat Paul Morand erinnert sich beim Tagebuch­schreiben 1975, ein Jahr vor seinem Tod, an eine Begeben­heit, die damals mehr als fünf­zig Jahre zurücklag. Im Jahr 1922 besuchte er, soeben von einer Reise nach Berlin zu­rückgekehrt, den bereits todkran­ken Marcel Proust und brachte ihm ein dickes Buch mit, das er in Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft erworben hatte. Das Ge­schenk für Proust »pour l‘amuser« war aber für den Beschenkten keineswegs amüsant. Er wies es mit einem Ausdruck der Verärgerung (»un geste de désespoir«) zurück, was Mo­rand rückbli­ckend so deutet als habe Proust seine Abscheu vor der Veröffentlichung inti­mer Details des Ge­schlechts­­lebens zum Aus­druck bringen wollen.[26] Ich vermute, Morand deutet Prousts Reaktion auf das Souvenir aus Berlin (bei dem dicken Buch aus Hirschfelds Institut kann es sich eigentlich nur um Die Ho­mosexualität de Mannes und des Weibes, 2. Auf­la­ge 1920 gehandelt haben) falsch, denn in Frank­reich hat wohl seit dem Mar­quis de Sade kaum ein Autor so detailfreudig wie Proust die Vielfalt menschlicher Sexua­lität beschrieben und »enthüllt«. Wenn Proust nicht einfach nur seine Enttäuschung ausdrücken wollte, dass er zu schlecht deutsch konnte, um das dicke deutsche Buch zu lesen, dann bietet sich eine dritte Deu­tung an: Proust lehnt eine wissenschaftliche Dar­stellung des Liebeslebens als unangemessen ab und ist überzeugt, dass allein eine künst­lerische Gestaltung wie in seinem Roman diesem Gegen­stand gerecht werden kann.

Den »medizinischen Blick«, den Tadié bei Proust ausgemacht hat, be­nötigt dieser zwar, um die Welt Swanns, die Welt der Guerman­tes und die eigene Innenwelt zu er­for­schen, aber die Darstel­lung der Forschungs­re­sultate könnte allein in der Form des literarischen Gesamt­kunstwerks gelin­gen. »Diese Arbeit des Künstlers« besteht gerade darin, die Ar­beit, »die unsere Eigenliebe, unsere Leiden­schaft, unser Nachahmungstrieb, unser ab­strakter Verstand, unsere Gewohnheiten geleis­tet hatten«, wieder zu beseitigen und zurückzugehen auf dem »umge­kehr­ten Weg, den Weg, der zu den Tiefen zu­rück­führt, in denen das, was wirk­lich existiert hat, von uns ungekannt ruht«. (Proust 2002, S. 302). Tadié deutet Prousts An­sicht von der Arbeit des Künstlers gegen den ab­strakten Verstand als innere Zerrissenheit: »Das Ge­heim­nis der Kunst steckt in einer Impression, die ein Bild in sich zusammenfaßt, und nicht in der Kraft des Schlußfolgerns oder im Intellekt […] Proust ist innerlich zerrissen zwischen Sin­nes­empfindung und Reflexion, zwischen Poesie und Abstraktion.« (Tadié S. 361) Demgegenüber möchte ich behaupten, dass die quasi theoretisie­renden und philosophie­renden Passagen in Prousts Roman weniger Zeichen der Zerrissen­heit zwischen Bilder­dienst und Reflexion sind. Sie sind vielmehr Bestandteile des Bildes, das der Roman ent­wirft, genau wie die Blaumeisen in den blü­hen­den Apfelbäume von  Balbec und der Mond, der wie ein Orangenviertel aussieht und den Platz de la Concorde beleuchtet.

In der sexologischen Literatur jener Zeit, etwa dem unamüsanten Berliner Buch, ist es ungefähr umgekehrt: die epische Abschnitte der Einzelfall­darstellungen dienen in Hirsch­felds Die Ho­mo­sexu­alität de Mannes und des Weibes dazu, die theoretischen Ausführungen zu illustrieren und zu veranschaulichen. Den­noch wirkt in bei­den Werken, in Proust enzy­klo­pä­dischem Roman und in Hirschfelds en­zy­klopädischer Homosexu­ali­tätsstudie ein verwandter messianischer Im­puls, der mit Richard Wagners kunstreligiösem Messi­a­nismus in Beziehung steht. In Abwand­lung des Mottos Per scientiam ad justitiam, in dem Mag­nus Hirschfeld die emanzipato­ri­sche Motivierung seiner Forschertätigkeit artikuliert hat, könnte man Prousts Künstler­moral in dem Spruch Durch Kunst zur Ge­rech­tigkeit zusam­men­fassen, wobei beim humanitären Hirschfeld wie beim wagneria­nischen Proust mit der Ge­rechtigkeit so etwas wie liberté, égalité, fraternité gemeint sein könnte.

J. Edgar Bauer hat in mehreren Aufsätzen die Auffassung vertreten, in Hirschfelds wissen­schaft­li­cher und emanzipatorischer Program­matik spiele das jüdisch-messianische Erbe eine maß­geb­liche Rolle (zuletzt: Bauer 2007). Ich habe dieser Ansicht mehrfach widersprochen, weil nicht zu erkennen war, dass Bauer neben der Er­ziehung in einem libe­­ralen jüdischen Eltern­haus in Hinter­pom­mern noch andere Einflüsse auf Hirschfelds Bildungsgang gelten lassen wollte. Nachdem sich Bauer zu der Klarstellung durch­gerun­gen hat, dass auch für ihn die Bildungsele­mente, die Hirschfeld der historisch-materia­lis­­tischen und der darwinisti­schen Literatur seiner Zeit entnahm, und die Anregungen, die er der reli­giösen Erziehung im Elternhaus verdankt, »in keinem notwendigen Gegensatz zueinander stehen« (Bauer 2007, S. 115), scheint mir dieser Dissenspunkt ausgeräumt. Einen so verstandenen Messianismus-Be­griff[27] halte ich, auf Hirschfelds Lebenswerk angewendet, für sinnvoll. Etwas an­ders liegen die Dinge in der hierher gehörenden Frage, wie es Hirschfeld mit der Religion hielt. Ich habe hierzu, nach nochmaliger Lek­türe von Ernst Haeckels »gemeinverständ­li­che[r] Studie über monistische Philosophie« Die Welträtsel[28] und Studien zu dem nicht­christlichen Sekten­gründungsversuch Stefan Georges (Herzer 2008) meine Meinung ge­ändert. Ich möchte heute Bau­er zustim­men, wenn er bemerkt, »dass Hirsch­felds Atheis­mus alles andere als anti­religiös war«, und weiter ausführt: »Als jahre­langes Mit­glied des Monistenbundes wurde er von Ernst Haeckels Bemühungen um eine Ver­mittlung von Religiosität und Wissenschaft­lich­keit im Zeichen einer pantheistischen Konzeption der Natur stark beeinflusst, welche sich vor al­lem auf Spinoza und Goethe berief. Darü­ber hinaus hatte Hirsch­feld ein reges Interes­se an der Welt­sicht der Theosophie« (Bauer 1998, S. 24).

Proust, Kind einer jüdischen Mama und eines katholischen Vaters, hat spätestens in den hö­he­­ren Klassen des Gymnasiums seine Religi­on ver­loren und von seinem Lieblingslehrer Alphonse Darlu einen »Spiritualismus ohne Gott« über­nom­men (Tadié, S. 266). Seinen ir­gendwie reli­giösen Enthusiasmus für die Kunst entwickelte er vor allem bei der Be­trach­tung der gothischen Kirchen Nord­frank­reichs, der niederländischen Malerei, der Kunststadt Venedig – dies alles unter Anlei­tung durch die kunsttheoretischen Schrif­ten John Ruskins; hinzu kam das Erlebnis von Wagner-Opern und anderer Musik. In einem Brief aus dem Jahr 1895 äußert Proust sich zu seiner Musik-Religion: »Das Wesen der Musik [besteht] darin, in uns diesen geheim­nisvollen (und für die Literatur und generell für alle end­li­chen Aus­drucks­weisen, die sich entweder der Wor­te, mithin der Ideen, deter­minierter Dinge also, oder der determinierten Objekte bedienen – Malerei, Skulptur −, nicht ausdrückbaren) Hinter­grund unserer Seele wachzurufen, der dort be­ginnt, wo das Endliche und alle Künste, die das Endliche zum Gegenstand haben, aufhören; dort, wo auch die Wissenschaft aufhört, und den man deshalb auch als religiös bezeichnen kann.« (nach Tadié, S. 253)

Wann Hirschfeld die Religion verlor, die ihm in seinem Elternhaus beigebracht worden war, kann nur ähnlich ungenau datiert wer­den wie im Fall Prousts. Als Zwanzigjähriger –  also ungefähr 1888 −  hat ihn die Lektüre von Bebels Die Frau und der Sozialismus zur SPD ge­­führt und ver­mutlich um diese Zeit auch zu Haeckels Monis­tenbund (vgl. Herzer 2001, S. 67). Hirschfeld weiß, die Welt wird durch die Wissen­schaft erlöst. Im Monismus hat er seine Wissen­schafts­religion gefunden. Geschlechtkunde und Institut für Sexualwis­senschaft sind seine Kathe­drale wie Prousts Kathedrale sein Roman ist – Or­te, wo die Wis­­senschafts- resp. »Kunstreligion«[29] ihre profanisierten Gottesdienste feiert.

Die vielen Anspielungen auf biblische The­men in Prousts Roman unterliegen dort nach Gerhard Neumanns Ansicht einer »Trans­for­mation des sakralen in ein ästhetisches Mo­dell« (Neumann 2006, S. 183). Meiner Ansicht nach handelt es sich  dabei um ein komplizierteres Verfahren als einer bloßen Transformation: um eine Profanisie­rung bis hin zur blasphemi­schen Verhöhnung der heiligen Texte, um sie so in das kunstreligiös vor­­gestellte Gesamt­kunstwerk einarbeiten zu kön­nen. Jene Stelle im Roman, auf die sich Neumann bezieht (Proust 1994, S. 9), wo die nächtliche Pol­lution des halbwüchsigen Mar­cel und die dabei fantasierte Frau mit Eva verglichen wird, die »aus der Rippe Adams […] entstand«, eignet sich gut, um dieses Verfahren zu demons­trieren: das extrem ba­nale Ereignis des unwill­kür­lichen Samener­gusses bei einem Pubertieren­den wird meta­phorisch verknüpft mit einer der heiligsten Ge­schichten der frommen Christen und Juden, dem Schöpfungsbericht. Die Banalität des Ereig­nisses wird – auch dies eine Ridikü­lisierung der heiligen Legende – durch Ver­gessen be­stä­tigt: »Allmählich verblaßte die Erinnerung an sie, ich hatte das Geschöpf meines Traums vergessen.« (Ebd.) Ein anderer, weitaus drastischerer Fall, der auch Parsifals Christusähnlichkeit nicht ver­schont, betrifft den Baron de Charlus, als er sich am Ende von Sodom und Gomorrha, angeblich um sein sexuelles Interesse an den jungen Juden Bloch zu kaschieren, in eine schier end­lose Hass­tirade gegen die Juden hinein­steigert: Er redet von einer »seltsamen Nei­gung zum Sakrileg, die dieser Rasse inne­wohnt«, und illustriert dies mit zahlreichen Beobachtungen, unter anderm weiß er, dass musikbeflissene Juden religi­öse Musik lieben, in der es um die Kreuzigung Jesu geht; Musik, wie Berlioz‘ Oratorium Jesus Kindheit  mögen sie dagegen nicht:

»In den Concerts Lamoureux saß einmal ein rei­cher jüdischer Bankier neben mir. Man führte die Enfance du Christ von Berlioz auf, er war unan­genehm berührt. Aber er fand bald den beglück­ten Ausdruck wieder, den er gewöhnlich an sich hat, als er den Karfrei­tagszauber hört.« (Proust 1999, S. 743) 

Als Karfreitagszauber bezeichnet Wagner be­kannt­lich den Anfang des letzten Aktes von Par­si­fal, wo an einem warmen sonnigen Kar­frei­tag vor »sanftansteigender Blumenaue« Parsifal nach langen Irrfahrten zu den Grals­rittern zurück­kehrt, um ihnen die vom bösen Klingsor geraubte hei­li­ge Lanze zurückzu­brin­­gen, mit der Christus am Kreuz hängend die linke Seite aufgeschlitzt wor­den war. Da Parsifal sich über das schöne Wet­ter und die nie gesehenen »Blüthen und Blu­men« wun­dert, weil das gar nicht zum »höchsten Schmerzenstag« passt, wird er von Ritter Gurne­manz belehrt: »Das ist Char-Freitags-Zauber, Herr! […] Nun freu’t sich alle Krea­tur auf des Erlösers holder Spur« (Wagner 1883, S. 485)

Wenn der Baron de Charlus seinen eigenen höch­sten Schmerzenstag erlebt, indem er »Schmer­zens­schreie« ausstoßend und »Schläge einer tat­sächlich mit spitzen Nägeln versehenen Klopf­peitsche« empfängt und dabei vom Ich-Erzähler beob­achtet wird (Proust 2002, S. 182), dann stellt Marcel zwar keinen Bezug zwischen den sexuel­len Vorlieben des Barons[30] und seiner christli­chen Frömmigkeit her. Die Vorstellung drängt sich aber auf, dass der fromme Baron beim Sex in ganz mittelalterlicher Weise »in seinem Blut schwimmend und mit Striemen bedeckt« (ebd.) die Passion Christi und die Leiden der Märtyrer nacherlebt, wenn nicht gar die Schmerzen, die Amfortas an seiner Wunde erduldet, die sich erst dann schließt, wenn sie der mitleidsvolle Parsifal mit dem heiligen und heilenden Speer berührt. Der gefesselte Charlus betet quasi: »Ich flehe Sie an, Gnade, Gnade, Mitleid, machen Sie mich los, schlagen Sie nicht so stark auf mich ein! […] Haben Sie Mitleid mit mir!« (Proust 2002, S. 181)

Der reiche jüdische Bankier, den Charlus zuvor getadelt hatte, weil er sich an Wagners Karfrei­tagszauber erfreute, tut im Grunde das gleiche wie Charlus selbst, nur genießt er die Wonnen des Martyriums nicht in Opernmu­sik sublimiert, sonder »in ganz mittel­alter­licher Weise« mit ech­tem Blut, mit Striemen und Schmerzens­schreien. Die Verbindung von schwulem Maso­sex und anti­semitischem Katholizismus ist schon ein ziemlich starkes Stück Christentumsverhöhnung!

Dem reinen Tor Marcel, der den lustvoll blu­ten­den Charlus heimlich beobachtet und be­schreibt, fällt jedoch kein Karfreitags­zauber ein, sondern das gänzlich areligiöse Aischy­los-Drama Der gefesselte Prometheus. Man könnte das als Hinweis darauf deuten, dass an dieser Stelle des Ro­mans Marcels kunst­religiöses Erweckungs­er­leb­nis, das ihm die messianische Kraft zum Ge­samt­kunst­werk ge­ben wird, unmittelbar bevor­steht. Und von dieser Kraft wird erwartet, dass sie die kon­kurrierenden Heilsversprechungen aller überkommenen Religionen jedenfalls übertreffen werde.

Ähnlich wie Neumann bei Proust will auch Bauer bei Hirschfeld Transformationsarbeit in religiö­sen Angelegenheiten entdeckt haben. Während Proust Biblisches einfach in Ästhetisches trans­for­miert haben soll, liegt nach Bauer bei Hirsch­feld eine ausschließ­li­che Bezugnahme auf jüdi­sche Tradition vor; Hirschfelds Wissenschafts­ethos »mahnt« an die »Prophetie Alt-Israels«, die jenseits von Zionismus oder Marxismus ins 20. Jahrhun­dert transformiert wird: »Hirschfelds Wissen­schaftethos führt zu einer Konzeption der sexuellen Emanzipationsgeschichte als real­po­li­ti­schen Befreiungsgeschehnisses, dessen nicht-escha­tologische, offene und zukunfts­ori­entierte Sinnstruktur an die Prophetie Alt-Israels mahnt und sich darum als eine säku­la­risierte Folge der Wirkungsmächtigkeit des messianischen Gedan­kens auffassen lässt, der auch Marxismus und Zionismus prägt. Hirsch­felds eigentümliche Auf­nahme des messianischen Erbes bringt aber mit sich, dass sowohl die theologischen als auch die anthropologischen Grundvoraussetzungen des herkömmlichen Messianismus trans­for­miert wer­den mussten. Zum einen tritt anstelle Gottes die Konzeption einer überrei­chen Natur, deren Grund­züge auf eine natura naturans spinozisti­scher Herkunft verweisen. Zum anderen wird der biblische Sexualdi­mor­phismus durch eine Auf­fassung der Ge­schlechter aufgelöst, deren Viel­falt letztlich durch kein kategoriales System erfasst werden kann.« (Bauer 2004, S. 282 f.)

Bauers von keinem Beleg gestützte Spekula­ti­on, Hirschfeld sei zu seinem Ethos (ich wür­de von Wissenschaftsreligion sprechen) mittels Transfor­ma­tion alttestamentlicher Pro­phetien gekommen, könnte insofern eine Teilwahrheit enthalten, als die religiöse Er­ziehung im Elternhaus (über die wir im Fall Hirschfeld noch weniger Wissen als im Fall Proust) bei der Suche des Erwachsenen nach einem eigenen Weltbild im Hintergrund nach­wirken kann. Solche Überlegungen müss­ten aber die belegbare Tatsache berück­sichtigen, dass der junge Hirschfeld, als er am Ende des 19. Jahr­hunderts seine Lehre von den sexuellen Zwi­schen­stufen konzi­pier­te, von der Religion seiner Eltern vollkom­men entfremdet war. In seiner ers­ten ein­schlä­gigen Publikation Sappho und Sokra­tes von 1896 lässt Hirschfeld ironischer­weise den katholischen Dichter Oscar Wilde auf »Alt-Israel« Bezug nehmen, indem er aus Wildes Verteidigungsrede vor Gericht zitiert, wo Wilde die Männerliebe unter anderm so beschreibt: »›Die Liebe, welche in diesem Jahrhundert nicht ihren Namen nennen darf, die große Zuneigung eines älteren Mannes zu einem jüngeren, wie sie zwischen David und Jonathan bestand.‹« (Hirschfeld 1896, S. 26)

Hirschfelds Wissenschaftsreligion war im Ge­gen­satz zu Prousts Kunstreligion weitge­hend frei von allen Verächtlichmachungen der Staats- oder sons­tiger Religionen. Dies nicht nur weil im deut­schen Kaiserreich an­ders als in Frankreich derartige Äußerungen mit dem Gottes­lästerungs­­paragra­fen des Reichsstrafgesetzbuchs geahndet wurden. Aber anders als Prousts Werk[31] galt schon die bloße Existenz des Hirschfeldschen Eman­zipations­projekts als Angriff auf die Grund­lagen von Staat und Religion. Als einer von zahl­losen anderen sei hier nach einem Pressebericht von 1904 die Äußerung des Ber­­­liner Predigers Dr. Runtze auf einer Kreis­­synode der Evangeli­schen Kirche an­lässlich einer Umfrage Hirsch­felds über die Verbreitung der Homosexualität unter Studenten zitiert:

»Syn. Prediger Dr. Runtze betonte, daß ge­gen die Agitation der Homosexuellen und ge­gen solche Umfragen, wie sie Dr. Hirsch­feld an die Studen­ten der Technischen Hoch­schu­le gerichtet, nicht laut genug Protest erhoben werden könne. Der Ausdruck ›dreist und frech‹ sei in diesem Falle viel zu milde, er nenne es eine ruchlose Scham­losigkeit, die gegen alles verstoße, was Sitte und Religion fordere. (Beifall.)« (Hirschfeld 1904, S. 719)

Hirschfeld antwortete dem Pastor mit einem Brief, in dem er unter anderm mitteilt, er wer­­de ihn nicht wegen Beleidigung anzeigen, weil er »des Bibelwortes gedenke: ›Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹« (Ebd., S. 720) Wenn der fromme Pre­di­ger ausgerechnet von einem Religionsver­ächter auf das Wort des Erlösers am Kreuz (Lukas 23,34) hingewiesen wird, dann ist das natürlich nicht völlig frei von Spott und Ironie. Hirschfelds Generallinie gegen­über den mächtigen Großkirchen war jedoch stets defensiv und auf Vermittlung und Mäßigung bedacht.

Soweit man das den Proust-Biografien ent­neh­­men kann, blieben dem Dichter zeitlebens An­griffe wegen seiner jüdischen Herkunft erspart, während Hirschfeld von deutschen Chris­ten und Faschisten stets auch wegen seiner jüdischen Herkunft attackiert wurde. Beide, der katholisch getaufte Proust und der konfessionslose Hirsch­feld hatten sich zu kei­­ner Zeit ihres Erwachse­nen­lebens mit ihrer jüdischen Herkunft identifiziert, ihre jü­dischen Mütter hatten sie nichtsdestoweniger so heiß geliebt, wie gewöhn­liche Schwule ihre Mütter nun einmal lieben.

 

4. Abschließende Abschweifung

zu Sedgwick  (Outing)

Die folgenden Bemerkungen zur Proust-Deu­tung in Eve Kosofsky Sedgwicks Epistemol­o­gy of the Closet[32] gehören zwar nicht direkt zum bisher verhandelten Gegenstand ›Sex & Religion bei Proust & Hirschfeld‹, mittelbar aber doch, da einige meiner Behaup­tun­gen durch die Kritik an Sedgwicks konträren Ansichten präzisiert werden können.

Im Vorwort zur Neuausgabe von 2008 nennt Sedgwick ihr Buch nicht ganz zu Unrecht »a founding text in queer theory« (S. xvi). Sie will von einem distinkt feministi­schen und distinkt anti-homophoben Stand­punkt aus die Hypothese prüfen, dass in der Zeit zwischen 1880 und 1980 in Europa und Nordamerika die Definition der männlichen Homo- und Heterosexualität sich in einer Art Dauerkrise befunden habe, die sich im ver­steck­ten, ihr Sosein verheimlichenden und ver­leug­nenden Leben der schwulen Männer (in the closet) dieser Epoche zeigt (S. 11 ff.) Prousts Roman wird interpretiert als exemplarische Schil­de­rung der Innenansicht dieser heimlichen schwulen Welt am Beispiel von Leben und Meinungen des Baron de Charlus als Illus­tra­tion der Folgen einer grundsätzlichen Un­möglichkeit, Homosexualität/Hete­ro­sexua­li­tät zu definieren (»the foundational impossi­bi­lities of modern homo/heterosexual defi­nition [&] what it makes happen, and how«, S. 213). Bei Proust gerät die Darstellung dieser Innen­­ansicht zum »Spectacle of the Closet« (ebd.), zu der ihr Bilder des Musik­thea­ters einfallen, wie »operatic« und »out­pouring of this aria« (S. 230); vervoll­ständigt wird dieses Sittenbild aus Charlus‘ gehei­mem Le­ben durch die Außenansicht von Mar­cels, des Erzählers, schwulem Le­ben, das Sedgwick mit einer abenteuerlichen Argu­mentation, die sie anscheinend für epistemo­logisch hält, ent­hüllt: die leidensreiche Liebe zwischen Mar­cel und Albertine ist für Sedg­wick als Hete­ro­sexualität getarnte Män­ner­lie­be, bei der es vor allem um Arschficken (S. 238) und Schwanzlutschen (S. 236) geht. Sedg­wick sieht »two closets: in the first place the closet viewed, the spectacle of the closet; and in the second its hidden framer and con­sumer, the closet inhabited, the viewpoint of the closet« (S. 222 f.) Der Standpunkt des Er­zählers Marcel ist für sie »the viewpoint of the closet«, also die Außenansicht der schwu­len Welt, wie ein sich selbst verleugnender schwuler Mann sie sieht. Daran ist nur so viel wahr, dass Proust, der Autor, tatsächlich ein schwuler Mann war. Proust hat sich aber nicht selbst verleugnet, so dass Sedgwicks Deu­­tung als brutalst möglicher Wille zur Simplifizie­rung des Verhältnisses zwischen Autor, Ich-Erzähler und beider Sexualitäten erscheint.

Nun kann man À la recherche du temps perdu auf vielfältigste Weise lesen und inter­pretieren.[33] Warum nicht auch à la Sedgwick! Mit ihrer Deutung verbindet sie aber eine gewis­sermaßen sozialtherapeutische Absicht, den Roman als eine Art Befreiungs­medium zu nut­zen, indem sie darin »thrilling poetics of exemp­tion« (S. 247) entdeckt bzw. »a dan­ger­ously enabeling poetics and politics of exemption« (S. 223). Darüber hinaus eröffnet für Sedgwick die Enttarnung Albertines als schwuler Mann mit »modern, less mutilating and hierarchical sexuality« eine utopische Per­spektive auf eine visionäre Politik (»this utopian readig of Albertine […] seems to of­fer a certain relatively consistent footing for a visionary politics«, S. 237). Sedgwick ver­mei­­det es, ihre visionären Utopien von Be­frei­ung durch Poesie und Politik in Prousts Roman zu präzisieren, erwähnt nur, dass die Proust-Lektüre auf sie selbst wie vermutlich auch auf andere Leser eine stark aufmuntern­den irgendwie heilsamen Effekt hatte (»an almost coarsely ener­gizing effect«, S. 242), der sie an die oben erwähnte »exemption« denken lässt, den sie andrerseits in morali­scher Hinsicht für fragwürdig hält. Denn seit jeher gehört zum »modern regime of the closet« etwas, das hierzulande nach amerika­nischem Vorbild Outing hieß und das Sedgwick »re­ve­lation« (S. 244 u.ö.) nennt und für eine »ho­mophobic impulsion« hält, die die Schwulen­bewegung von Anfang an fas­ziniert habe.[34] Sie sieht sich selbst als Mit­schuldige, da sie doch so­eben das unglückli­che Heteropaar Albertine und Marcel als zwei sexbesessene Tunten entlarvt hatte. Dieses Posieren als gestrenge Moralistin erscheint spä­tes­tens dann fragwürdig, wenn Sedgwick Beispiele aus ihrer Gegenwart heranzieht, wie einen New-York-Times-Nachruf auf den 1986 an AIDS gestorbenen schwulen und rechtsra­dika­len Politiker Roy Cohn. Sie hält den Nachruf für »homo­pho­bic«, weil er den Wi­derspruch zwi­schen Cohns zur Schau ge­stell­ter morali­schen Sauberkeit und dem nach ei­ge­nem Maßstab unmoralischen Lebenswan­del the­ma­tisiert (S. 243). Die Argumentation läuft darauf hinaus, in Prousts Roman und in der Person Prousts einen moralischen Defekt bloß zu legen, der für die selbstverleugneri­schen Schwulen typisch sein und in der Lust am Enttarnen anderer gleichfalls selbst­verleug­ne­ri­scher Zeitgenossen bestehen soll.

Man kann aber weder Proust selbst noch sei­ne Romanfigur Charlus als versteckt le­bende Schwule klassifizieren, denn beider Haltung zur Veröffentlichung der eigenen Sexualität war allenfalls ambivalent (vgl. Tadié 2008, S. 117, S. 1088 u.ö.; zu Charlus vgl. Proust 2000, S. 424 ff., wo er auf einer Soirée bei den Verdurins einen langen Vortrag zur Apo­logie der Männerliebe hält). Zudem kann Sedgwick nicht überzeugend darlegen, worin bei Proust, bei Hirschfeld und während der AIDS-Krise das moralische Problem von Zwangsouting bestehen soll; statt zu argu­mentieren, verkündet sie autoritativ: Zwangs­outing ist stets unmoralisch.

Sedgwick verkennt völlig, dass es sich bei Auf der Suche nach der verlorenen Zeit um ein Sprachkunstwerk handelt und nicht um das von Proust vielleicht anfangs, um 1909, geplante schwule Emanzipationspamphlet – so etwa lautet mein Haupteinwand gegen Sedg­wicks Proust-Interpretation. Wegen die­sem Missverständnis läuft ihre Analyse und Kritik ins Leere. Immerhin ist nachvoll­zieh­bar, wenn sie alle Mängel und Miss­stän­de in der Welt der versteckt lebenden Schwu­len mit deren inkohärenten, zwischen min­der­hei­tenmäßiger (Wir sind anders als die andern) und universalistischer (Alle Männer sind bi­sexuell) Definition changierender Iden­tität auf eben diese, vom Ghetto oder »closet« er­zwungenen Lebensweisen zu­rück­führt.[35] Da­bei ist besonders das, was wir früher »schwu­ler Selbsthass« nannten und was Sedgwick »ho­­mophobic impulsions« nennt, grundsätz­lich zutreffend als notwendig zur Innenaus­stat­­tung des »closet« benannt. Wenn Sedg­wick jedoch Marcels und Charlus‘ ideo­lo­gi­sche Er­ör­te­run­­gen zu den Ursachen und zur mo­rali­schen Beurteilung der Homosexua­lität als analyti­sche und ethische Kategorien ein­stuft, ver­kennt sie wiederum den Status des Textes. Denn die Weishei­ten und Metaphern, die dem Erzähler Marcel zum heim­lich beobach­teten Sex zwischen dem ge­ronto­philen Schneider Jupien und dem über 60-jährigen Charlus einfallen, ha­ben in ihrem wild assoziativen Mittei­lungs­drang kaum etwas mit Theorie und Ana­lytik zu tun, alles aber mit Prousts An­spruch, eine bei Balzac und Flaubert erreich­te Stufe des realistischen Romans zu überbie­ten, indem die An­sichten und Empfindungen der Prota­gonis­ten mit nicht dagewesener Genauigkeit und Poesie abgebildet werden. Seine Methode ist dabei nicht Analyse, sondern Abbildung, oder mit Walter Benjamin: »Nicht Reflexion – Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren.« (Benjamin 1977, S. 320)

Immerhin ist auch Sedgwick die verwirrende Widersprüchlichkeit der »analytic catego­ries« im Roman aufgefallen: »In fact, every analytic or ethical category applied through­out A la recherche to the homosexuality of M. de Charlus can easily be shown to be sub­verted or directly contradicted elsewhere.« (S. 230) Der simplen Einsicht, dass Prousts Roman ein Roman ist und keine Abhandlung über psychische und soziale Probleme und Wi­dersprüche im Leben der Pariser Schwu­len um 1900, verschließt sie sich aber hart­näckig. So bleibt ihr auch die von Proust im letz­ten Band: Die wiedergefundene Zeit in der Nachfolge der Kunstreligion Richard Wag­ners entwickelt Idee von der Erlösung der Menschheit durch das Kunstwerk unzu­gäng­­lich. Stattdessen sieht sie einen von Prousts Werk ausgehenden Befreiungseffekt und hofft, dass auch andere LeserInnen davon ergriffen würden.

Einmal am Ende des letzten Bandes lässt Proust seinen Ich-Erzähler den Roman mit einer »Kirche« vergleichen, »in der die Gläu­bigen nach und nach Wahrheiten entdecken und Harmonien, den großen Plan, der dem Ganzen zugrunde lag, erkennen würden« (Proust 2002, S. 516 f.) Zu vermuten bleibt, dass es mit der Religiosität bei Proust und bei Hirschfeld vielleicht doch nicht allzu weit her war, dass ein hinreichendes Maß an Skepsis und Ironie ihren religiösen Schwung gedämpft haben dürfte.

 

Literatur

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[1] Aus einem Brief Prousts an Reynaldo Hahn vom 7.10. 1907. – William C. Carter erklärt in seinem Buch Proust in Love auf S. 36 den Ausdruck »moschant« so: »[Proust & Hahn] invented code words for fun and mystification, or perhaps to mislead any nosy person who might chance to read one of their letters. For example ›moschant‹, an obvious corruption of ›méchant‹ (bad or mean) often indicated homosexual behavior or an individual known or thought to be gay.« Selbsterlebtes in einen literarischen Text verwan­deln ist auch eine Art Codierung, und kaum etwas ist öder als das Bemühen, das Sprachkunstwerk zu decodieren, zu fragen, wer eigentlich ge­meint ist mit Albertine oder mit Charlus; als ob man eine Wagner-Oper hört, nur um sich am Wiedererkennen der Leitmotive zu erfreuen.

[2] Richard Wagner in einem Brief an König Ludwig II. vom 14.4.1865 (Wagner 1936, S. 84). – Im gleichen Brief nennt er den König christusgleich »Erlöser[], Heiland[] meines Daseins!«.

[3] Benjamin 1985, S. 126.

[4] Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Paris 1913-1927. − Zitiert wird hier nach der »Frankfurter Ausgabe«: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aus dem Franzö­sischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens, revidiert von Luzius Keller. (7 Bände.) Frankfurt am Main 1994-2002.

[5] Als unerreichbare Vorbilder werden wiederholt genannt La Princ­esse de Clèves (Marie-Madleine Gräfin von La Fayette 1678), La Comédie Humaine (Honoré de Balzac 1829-1854), La Chartreuse de Parme (Stendhal 1839) und L’Éducation sentimentale (Gustave Flaubert 1869). ­– Zum Verhältnis Prousts zu Balzac vgl. Jäger, 1988.

[6] Tadié, der Biograf, weist darauf hin, dass der Dichter nur beschreibt, was er kennt: »Proust erweist sich immer als treuer Befolger des Grundsatzes, er könne nur das beschreiben, was er selbst gesehen habe.« (Tadié, S. 795)

[7] Tadié, S. 536; Tadié zitiert hier aus einem Aufsatz Prousts aus der Zeitschrift Chronique des arts et de la curiosité vom 13.8.1904

[8] Vgl. Tadié, S. 173. – Proust kann deshalb als gefährlicher Rivale für Bergson angesehen werden, weil dieser einige Jah­­re vor Proust   eine psychologische Untersuchung zu ei­nem verwandten Thema ge­schrieben hatte, Matière et Mé­mo­ire (Paris 1896, deutsch: Materie und Gedächtnis. Eine Ab­handlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist): die erlebte Zeit im Gedächtnis, in der Erinne­rung, im Traum und im praktischen Alltagsleben. Proust sieht jedoch den fundamentalen Unterschied zu Bergson in der angeblich von ihm selbst entdeckten unwillkürlichen Erinnerung (mémo­ire involontaire), die Bergson nicht kenne (Tadié, S. 173).

[9] Vgl. Tadié, S. 548, der aus einem in der deutschen Proust-Ausgabe nicht enthaltenen Text über Maeterlinck den Satz zitiert: »Die Schönheit des Stils ist im Grunde irrational.«

[10] André Gide: Corydon. Deutsch von Joachim Moras. Frank­furt am Main 1964 (zuerst deutsch Stuttgart 1932). Im Vorwort heißt es (S.8) scheinbar versöhnlich: »Verschiedene Schriften – die Prousts namentlich – haben das Publikum daran gewöhnt, sich über Dinge, die es vorher zu ignorieren vorgab oder zu ignorieren vorzog, weni­ger aufzuregen und sie mit größerer Ruhe zu betrachten […] Jedoch haben diese Schriften, so fürchte ich, zugleich viel dazu beigetra­gen, die öffentliche Meinung irrezuleiten. Die Theorie der Mann-Frau, der ›sexuellen Mittelstufen‹, die in Deutschland, schon ziem­lich lange vor dem Kriege, Dr. Hirschfeld aufbrachte und der sich Marcel Proust anzuschließen scheint, braucht durchaus nicht falsch zu sein; doch erklärt und trifft sie nur gewisse Fälle von Homosexu­alität, und zwar gerade diejeni­gen, mit denen ich mich in diesem Buche nicht beschäftige – den Fall der Inversion, den des Feminis­mus, den der Sodo­mie.« Diese gewissen Fälle firmieren auf Seite 155 unter »Degeneration, Wahnsinn und Krankheit«.

[11] Tadié 2008, S. 415. – Tadié berichtet von einem Gespräch mit dem greisen Duc de Gramont, der ihm erzählte, dass er im Jahr 1904 Monsieur Proust und Comtesse de Noailles zu einem Diner auf sein Schloss Vallières eingeladen hatte, weil die beiden »die komischs­ten Figuren in Paris gewesen seien« (S. 1043), also als eine Art Hofnarren-Paar.

[12] Proust 1999, S. 799. – Keller äußert zur Homosexualität der Män­ner noch weitere Seltsamkeiten. So behauptet er ohne Beleg, Proust habe die Idee eines homme-femme von Karl Heinrich Ulrichs über­nommen. Auf die Idee, dass Proust dies aus Platons Gastmahl ent­nommen oder aus Bal­zacs Ausdruck »le troisième sexe« abge­leitet haben könnte, kommt er leider nicht. Auch hält er den schwu­len Juristen Karl Heinrich Ulrichs für einen »Psychopathologen« (ebd., S. 802), den österrei­chi­schen Schriftsteller Karl Maria Kert­beny, der den Ausdruck Homo­sexualität prägte, für einen »ungarischen Arzt« (ebd., S. 799) und glaubt, Richard von Krafft-Ebing habe in seiner Psychopathia sexualis 1886 be­hauptet, Homosexuelle seien an der Stimme zu erkennen, die­se sei »verräterisch« (ebd., S. 812) usw. Fer­ner ist anzu­merken, dass Keller ohne nachzuprüfen, Gides fal­sche Be­haup­tung übernimmt, Magnus Hirschfeld und andere deut­sche Sexologen hätten »nur ganz bestimmte Fälle von Ho­mo­sexua­lität behandelt« und die Fälle, die Gide betreffen, ignoriert (edb. S. 802).

[13] Hartwig 1994, S. 3 ff. − Vgl. auch: »die weibliche Homosexua­lität weist er [Proust] der sexuellen Imagination seines Erzählers zu« (Hartwig 1998, S. 69).  

[14] Die Tradition wurde natürlich nicht erst von Baudelaires Les Fleurs du Mal (1857) begründet. Der von Proust als un­erreichtes Vorbild verehrte Balzac hatte schon 1834 seine Lesbenerzählung La Fille aux yeux d’or publiziert und Théo­phile Gautier hat in sei­ner Mademoiselle de Maupin von 1835 eine Lesbe zur Roman­heldin erwählt. Dies drei Beispiele der reichen, stets von Männern verfassten Lesben-Belletristik im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Und im 18.Jahrhundert: De Sade: La Nouvelle Justine (1797), Diderot: La Réligieuse (1796) usw.

[15] Tadié (S. 415) zitiert diesen Ausdruck aus Prousts frühem Romanfragment Jean Santeuil.

[16] Tadie, S. 668 f. – Nahias ist nicht nur 15 Jahre jünger als Proust, er ist auch fünf Zentimeter kleiner.

[17] Proust 2001, S. 169. – Ebenfalls in Die Flüchtige ist einmal die Rede von den »zahllosen Ichs […] aus denen wir bestehen« (S. 24).

[18] Laut Herausgeber Keller gebraucht Proust den Audruck »La Race des Tantes« nur einmal in einer Entwurfskizze. Im Roman selbst ist meist von »Homosexuellen« die Rede (vgl. Keller in: Proust  1997, S. 414)

[19] Tadié, S. 728. – Das kommt mir ähnlich verrückt vor wie die Behauptung, Thomas Manns Zauberberg sei die in einen Roman verwandelte Musik zu Carmen von Georges Bizet.

[20] ein Ausdruck Prousts, den Tadié S. 586 zitiert.

[21] Proust 1999, S. 29. – Nicht ohne den schrillen Einfall hin­zuzu­fü­gen, dass die jeweiligen Erfahrungen von Verfolgung die Juden und die Schwulen gleichermaßen »mit den physi­schen und psychischen Merkmalen einer Rasse« gezeichnet habe.

[22] Proust 1995, S. 465. – Hier,  Im Schatten junger Mäd­chen­­blüte, werden die Schwulen erstmals kurz erwähnt. Auf der Seite 456 heißen sie noch wie geplant »Invertierte«, in Sodom und Go­morrha sind die »Charlusse« nur noch ho­mo­sexuell. An mehreren Stellen haben jedoch die Über­set­zer ohne Begründung Homosexu­a­lität eingesetzt, wo im Ori­gi­nal »l’inversion sexuelle« steht. Meist geht es aber auch im französischen Urtext um »l‘homosexualité« und häufig um »le vice«.

[23] Die andere sehr originelle Entdeckung Tardieus, den schrauben- oder korkenzieherartig geformten Phallus der aktiven Päderasten hat Mauriac-Dyer leider nicht in Prousts Roman aufgesucht: »Die Drehung und Richtungsänderung des Gliedes finden ihre Erklärung in dem Widerstande der Afteröffnung, welcher proportional dem Volumen des Glie­des zunimmt. Seine Einbringung verlangt eine schrauben- oder korkenzieherartige Bewegung, die sich zuletzt dem ganzen Gliede mittheilt. Es darf aber nicht besonders auffal­len, dass ein Organ eine solche Formveränderung erleidet, welches einer wiederholten Compression in langer Gewohnheit ausgesetzt ist.« (Tardieu 1860, S. 157).

[24] Proust ließ sich nicht nur beim Schreiben von der Musik, vor al­lem von Opern Wagners und Streichquartetten Beet­hovens inspi­rie­ren, er glaubte auch, bei der Romankonstruk­tion die Architektur gothischer Kathedralen nachzubilden; schließlich versuchte er, wie Keller mehrfach erwähnt, die Malerei des Kubismus in Text zu ver­wandeln. So lässt sich zeigen, dass die Beschreibung Saint-Loups beim hastigen Verlassen des Schwulen­puffs dem Gemälde Nu descendant un escalier nachgebildet ist, das Marcel Duchamp 1912 erstmals ausgestellt hatte (vgl. Keller in: Proust 2002, S.572)

[25] Herausgeber Keller weist darauf hin, dass dieser Ver­gleich biblisch ist; Joh. 12,24: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle, und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbet, so bringet’s viel Früchte.« (Keller in: Proust 2002, S: 586)

[26] »4 octobre […] Les vicieux ont au désespoir; le vice à l’écran, c’est la fin du vice. Ils poussent le même cri que Proust, lorsque je posai sur son lit l’énorme ouvrage de l’Institut de recherches sexuelles de Magnus Hirschfeld, que je lui avais rapporté de Berlin, en 1922, pour l’amuser. Loin de l’amuser, il eut un geste de désespoir. (Qu’est-ce que le temple, une fois déchiré le rideau?)« (Morand 2001, S. 629).

[27] Unter dem Stichwort Messianismus werden in meiner Ausgabe von Meyers Grosses Taschenlexikon von 1981 als Beispiele ge­nannt: »ein Teil der melanes. Cargo-Kulte und, polit. erfolgreicher, die schiit. Revolutionsbewegung um den Ajatollah Chomaini im Iran (seit 1978).«

[28] »Viele und sehr angesehene Naturforscher und Philoso­phen der Gegenwart, welche unsere monistischen Überzeu­gungen teilen, hal­ten die Religion überhaupt für eine abge­tane Sache. Sie meinen, daß die klare Einsicht in die Welt­entwicklung, die wir den gewaltigen Erkenntnisfortschritten des 19. Jahrhunderts verdanken, nicht bloß das Kausali­täts­bedürfnis unserer Vernunft vollkommen befriedige, sondern auch die höchsten Gefühlsbedürfnisse unseres Gemütes. Die­se Ansicht ist in gewissem Sinne richtig, insofern bei einer voll­kommen klaren und folgerichtigen Auffassung des Monismus tat­säch­lich die beiden Begriffe von Religion und Wissenschaft zu ei­nem mit einander verschmelzen. Indessen nur wenige entschlos­sene Denker ringen sich zu dieser höchsten und reinsten Auffassung von Spinoza und Goethe empor; vielmehr verharren die meisten Gebil­de­­ten unserer Zeit bei der Überzeugung, daß die Religion ein selb­stän­dige, von der Wissenschaft unabhängiges Gebiet unseres Geis­tes­lebens darstelle, nicht minder wertvoll und unentbehrlich als die letztere.« (Haeckel 1908, S. 206)

[29] »Parsifal ist also unleugbar ein Dokument der ›Kunst­reli­gion‹ des 19. Jahrhunderts. Der Begriff besagt jedoch weni­ger, daß Religion – unter dem Gesichtspunkt des positiven Christentums: als Pseudo­religion – und das Kunstwerk als religiöer Ritus verstanden werde, sondern daß Religion – oder deren Wahrheit – aus der Form des Mythos in die der Kunst übergegangen sei. Und der Inbegriff der Kunst, deren geschichtsphilosophische Stunde geschlagen hat, war für Wagner das Drama.« (Dahlhaus1996, S. 206) Ein halbes Jahr­hundert später war für Proust der Roman der Inbegriff der Kunst.

[30] »Nun war aber der Baron […] nicht nur Christ, sondern auch in ganz mittelalterlicher Weise gläubig.« (Proust 1999, S. 649)

[31] Tadié berichtet jedoch, dass der junge und fromme François Mauriac die Lektüre von Sodom und Gomorrha als sitt­liche Gefahr für die Jugend sah: »›Bewunderung, Ab­scheu, Schrecken und Ekel angesichts dieser schrecklichen Frucht, deren skandalisierende Wir­kung auf die vielen jun­gen Men­schen‹ er fürchtet, ›die an der ver­fluchten Grenze zögern und die Ihre gnadenlose Diagnose auf Sodom zu­rück­werfen wird‹. Vielen ist es ›eine schreckliche Wahl, eine Verur­tei­lung zur Reinheit‹, fügt der Autor von Souffrances et bonheur du chrétien in einem halben Selbstbekenntnis hinzu.« (Tadié, S. 870)

[32] Im Folgenden beziehen sich die eingeklammerten Seitenzahlen auf dieses Buch.

[33] Sie selbst warnt allerdings (mit einem Satz von wahrhaft proustianischer Komplexität) vor einer quasi religiösen Betonung der unendlichen Pluralität der Differenz und den damit verbundenen homophobischen Gefahren: »I know from some experience of interacting with people about this and related material how well lubricated, in contemporary critical practice and especially that of heterosexual readers, is the one-way chute from a certain specificity of discourse around gay issues and homophobia, by way of momentarily specific pluralizing of those issues, to – with a whoosh of relief – the terminus of a magnetic, almost religiously numi­nous insistence on a notional ›undecidability‹ or ›infinite plurality‹ of ›difference‹ into whose vast and shadowy spaces the machinery of heterosexist presumption and homophobic projection will already, undetected, have had ample time to creep.« (S. 247)

[34] Hirschfeld erscheint gleich zweimal in Sedgwicks Liste der homophobischen Schwulendenunzianten, wobei ihre Be­ru­fung auf James Steakley und Richard Plant abwegig ist und schludrige Lektüre vermuten lässt. Hirschfeld soll zwei­mal versteckt lebende Schwule denunziert haben, »1907-9« hat er in der Eulenburg-Affäre »a prince« geoutet und »1924« den »police informer and mass murderer Fritz Haar­mann« (S. 244). Im Prozess Graf Moltke gegen Harden von 1907 hat Hirschfeld tatsächlich als Sachverständiger dem Grafen, der kein »prince«, also kein Fürst war, als nicht prak­tizie­ren­den Homosexuellen bezeichnet und sich dabei auf die Aus­sa­gen von Moltkes Gattin gestützt; als die Glaub­­würdigkeit der Zeugin erschüttert war, widerrief Hirschfeld sein gutach­terliches Endurteil. Vollends rätsel­haft ist Sedgwicks Be­haup­tung zum Haarmann-Prozeß, den in Hirschfelds Gut­ach­­­ten ging es um die Zurechnungsfähig­keit des Mörders und nicht um die Frage, wie schwul er ist.

[35] Hier ist anzumerken, dass Sedgwick bei der Definition des für ihre closet epistemology grundlegenden Begriffspaares »minoritizing/universalizing« eine abwegige Karikatur von Hirschfelds Zwischenstufenlehre zeichnet. Sie hält Hirsch­feld für einen »believer in the ›third sex‹ who posited an exact equation between cross-gender behaviors and homo­sexual desire« (S. 88) Sie beruft sich auf einen Autor Don Mager, der sich wiederum auf Lauritsen/Thorstad und Steakley beruft. Hirschfeld hat sie nicht gelesen, kennt ihn nur aus dritter Hand.