Manfred Herzer

Eine misslungene Diskursanalyse

Philippe Weber: Der Trieb zum Erzählen.
Sexualpathologie und Homosexualität, 1852-1914.
Bielefeld: Transcript Verl. 2008. 378 S.

Ursprünglich erschienen in: CAPRI 44 (Feb. 2011).
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

Die schon oft untersuchte Geschichte der medi­zi­ni­schen Homosexualitätstheorien von den Päde­rastie­stu­dien des Gerichtsarztes Casper bis zur Sexualtheorie Sigmund Freuds wird in der vorlie­genden Züricher Dissertation als eine Foucault­sche Genealogie noch einmal nacherzählt. Aus­drü­­cke mit Wiedererken­nungs­wert wie »Biopoli­tik«, »Disziplinarmacht« und »Mikrophysik der Macht« sowie die Bezeich­nung der Homosexuel­len des 19. Jahrhunderts als »Spezies«, ihre Ho­mo­sexualität als »Monomanie« signalisieren die Treue zum Denken des großen postmodernen Nietzscheaners. So dient auch das protokollierte Ge­spräch zwischen Ärzten und schwulen oder lesbischen Pati­enten dazu, »Geständnisse« über ihre »Lüste« her­auszupressen (116). Insgesamt geht es Verf. um eine »Diskursanalyse«, deren Vorzüge gegenüber her­köm­mlicher Wissen­schafts­geschichts­schreibung de­mons­triert wer­den. Die Methodik geht aber über bloße Gene­­a­logie hinaus, indem »der narratologische und poe­tologische Zugriff« ergänzend herangezogen wird, denn »mit diesen Methoden werden die lite­rarischen Instrumente sichtbar, mit denen die­selbe Geschichte immer wieder neu und anders erzählt werden kann« (28). Diese immer gleiche und doch stets neue Ge­schichte ist das Protokoll, das die Ärzte oder Sexual­pathologen über die Un­­tersuchung und Befragung der Patienten an­fertigten und in die Fachpubli­kationen zur Veran­schaulichung ihrer Theorien einfügten. Seitdem Casper 1852 elf eigene Beobachtungen von Pä­deras­ten veröffentlichte, soll es diesen Typus von Texten geben, den Verf. »sexualpathologisches Narrativ« nennt und dessen Genese und schließ­liche Überwin­dung durch Freud er diskurs­analytisch nachzeichnet.

Die Texte Caspers, in denen er seine Päderasten be­schreibt und Allgemeines über Verbreitung und Er­scheinungsformen der Päderastie in Ge­schichte und Gegenwart, speziell in Berlin, mit­teilt, sollen noch sehr allgemein und nicht dazu geeignet gewesen sein, eine »spezifische homo­sexuelle Persönlichkeit« zu be­gründen (49). Cas­pers Päderasten sollen sich von den Späteren schon deshalb unterschieden haben, weil »die Pä­derastie grundsätzlich von allen Männern vor­ge­nommen werden« konnte, weshalb es auch »kei­ne spezifisch ›päderastische‹ Persönlichkeit« gab (51). Dass Casper schließlich von dem Laster der Päderastie annimmt: »Bei den meisten, die ihm ergeben sind, ist es angeboren und gleichsam wie eine geistige Zwit­ter­bildung«; dass er ferner An­gaben über »Gang, Blick, Haltung, Stimme«, sowie über Wohnungseinrich­tun­gen, Kleidung und das häufig »weibische Aeussere« der ihm be­kannt gewordenen Männer macht (z.B. Casper 1858: 174 f.); dass schließlich keiner der nach­fol­genden Ärzte bezweifelt hat, alle Männer seien zu päderastischen Akten als Prostituierte oder Insassen homosozialer Institute wie Gefängnisse, Klöster oder Internate fähig – all dies hindert Verf. nicht daran, Caspers Fallgeschichten als bloße Vorläufer des wirk­lichen und echten sexu­alpathologischen Narrativs oder »Erzählmusters« zu klassifizieren. Dieses Muster soll erst 1869 von Griesinger und dessen Schüler Westphal er­funden worden sein. Griesingers Polemik gegen Casper soll die bloße Vorläuferschaft des letzte­ren be­legen (58 f.), ist aber schon deshalb dafür ungeeig­net, weil Grie­singer Caspers Ansichten zur Zurechnungs­fä­hig­­keit einer Tat zum Täter kri­tisiert, Caspers Päderastie­gutachten aber über­haupt nicht die Frage der Zurechnungsfähigkeit, sondern das mögliche Vorhandensein von körper­lichen Spuren des päderastischen Aktes betraf.

Westphal war es, der für Caspers Päderastie nicht nur den neuen Namen ›Conträre Sexualempfing‹, son­dern auch eine neue »Textsorte« (61) zur Be­schreibung der­selben, eben jenes Narrativ erfand. Sie brachte die Ergeb­nisse der Beobachtung, Be­fragung und Diagnose »in eine narrative Ord­nung«, die auf neue Weise »ein Wissen über die psychischen Zustände, über das Füh­len, Begeh­ren und Denken der Patienten« her­vor­brach­te (64). Die eigentliche Vollendung des sexual­patholo­gischen Narrativs ge­lang aber erst 1882 Krafft-Ebing, als er in der Allge­meinen Zeitschrift für Psychi­atrie drei neue Fälle von conträrer Sexualempfindung beschrieb, wobei »die neuen Erzähl­prak­tiken paradig­ma­tisch zusammengeführt wurden« (77). Wenn es aber darum geht, die neue Qualität dieser para­dig­ma­ti­schen Zusammenführung zu benennen, bleibt es doch nur bei quantitativen Änderungen: der pathologische Trieb, den Casper noch »Drang« nannte, wird in einem »neuen Ausmaß sichtbar«, er wird zur »ent­scheidenden Kraft innerhalb der Biographie« und »zum zen­­tralen Symptom« der conträren Sexual­emp­findung (78). Die nähere Bestimmung dessen, was mit dem neuen Ausmaß, der entscheidenden Kraft und dem zentralen Symptom gemeint ist, unterbleibt aber. Stattdessen wird eine bloße Dichotomie behauptet, Unschärfe vs. Präzision: während es Westphal noch misslang, »diesen Trieb präzise darzustellen, so dass er »ein unscharfes Phäno­men« blieb (71), konnte Krafft-Ebing nach dem Wendejahr 1882 »minutiös« und »in einer uner­hörten Präzision«  die »Welt des Geschlechtsle­bens« des Patienten rekonstruieren (79). Weber behauptet sogar, dass diese Krafft-Ebingsche Prä­zision eine »Berech­nung« (83 u.ö.) der Triebstär­ke »mit exakten Vermessungen […] psychischer Anoma­lien« (114) erlaubt habe. Tatsächlich geht es Weber nur um ein lustiges Wortspiel, wenn er sagt, die Ärzte seien in der Lage, »die Zu­rech­nungsfähigkeit zu be­rechnen« (149). Die forensi­schen Ärzte konnten natür­lich nichts berechnen, sondern nur ein gutachterliches Urteil über die Frage abgeben, ob der Angeklagte oder Zeuge zur Zeit der Tat über so viel freien Willen ver­füg­te, dass er dafür verantwortlich war oder nicht.

Der Hintergrund des Spiels mit dem Wort Be­rech­nung scheint aber in dem Wunsch zu liegen, möglichst weit­gehend Begriffe der Newtonschen Physik als Meta­phern ganz nach Foucaults Gusto in die Diskursanaly­se der Sexualpathologen ein­zupflegen. Dass dies kei­nen Erkenntniszuwachs bringt, sondern eher eine Ver­ne­belung, lässt sich gut an den Begriffen ›Kraft‹ und ›Energie‹ zei­gen. Der Sexualtrieb, den die Sexualpa­tho­logen konstruierten, wirkt aufgrund einer »Trieb­kraft«, der wiederum einer »Triebmechanik«  als »ge­schlossenes mechanisches System« unterliegt (144 f.) Erst Freud soll etwa zeitgleich zu Iwan Bloch dieser Triebmechanik ein Ende bereitet haben, indem er ein Triebmodell nach dem Vor­bild der Thermodynamik einführte; dies soll an dem Ersatz des Begriffs ›Kraft‹ durch ›Energie‹ deutlich werden, weil die Triebkraft immer nur in eine Richtung wirken kann, entweder hetero oder homo. Energie ist nach Webers Ver­ständ­nis im Gegensatz zu Kraft beliebig verschiebbar und wandelbar und kann überall wirken zum Beispiel in Sport und Literatur und nicht nur beim Sex; »überall regierte der ›König Sex‹ (Michel Fou­cault)« (165). Der Gipfel des Antriebs­wech­sels soll mit »Freuds Konzept der Libido-Ener­gie« (318) erreicht worden sein, weil dies die »Loslö­sung des Sexualtriebs von einer natürli­chen Fina­lität« ermöglicht. Vor Freud war eine solche Los­lösung den Sexualpathologen unmög­lich, wes­halb auch Freud allein die »Grundlagen für die Liberalisierung und Pluralisierung der Sexuali­täten im 20. Jahrhundert« gelegt habe (320).

Diese Argumentation ist in mehreren Punkten nicht überzeugend:

1. hat Verf. den Unterschied zwischen Kraft und Ener­gie in der Physik nicht begriffen. Dieser besteht nicht darin, dass Energie anders als Kraft wandelbar und verschiebbar ist, vielmehr ist Ener­gie definiert als das Potential eines physika­lischen Systems zum Einsatz von Kraft für eine Arbeit. Die Möglichkeit der Ver­schiebung, Schwächung, Verstärkung, Transforma­tion, Um­kehrung usw. haben Kraft und Energie ge­mein­sam. (Als übrigens Gunter Schmidt die Sexuali­tätsideologien der letzten 200 Jahre kritisierte, weil ihnen eine »Dampfkesseltheorie« oder ein »psycho­hydraulisches Modell« zugrunde liegt, bewies er im­merhin genügend Physikkenntnisse, um in Freuds Triebtheorie nur die differenzier­teste Form  jenes Modells zu identifizieren, das die sexuelle Lust als Abfuhr von durch biolo­gi­sche Prozesse oder innere Reize aufgebauten Spannungen deutet. (Vgl. Schmidt 1975: 30 ff.)

2. war der Sexualtrieb in den Theorien Blochs und Freuds gerade nicht darin von der »Libido sexualis« Krafft-Ebings unterschieden, dass letz­tere in Richtung und Ziel weniger verän­derbar oder sublimierbar wäre; in dieser Hinsicht sind sie gleich: »Jedenfalls bildet das Geschlechts­le­ben den gewaltigsten Factor im indi­viduellen und socialen Dasein, den mächtigsten Im­puls zur Be­thätigung der Kräfte, zur Erwerbung von Besitz, zur Gründung eines häuslichen Heerdes, zur Er­weckung altruistischer Gefühle, zunächst gegen eine Person des anderen Geschlechts, dann gegen die Kinder und im weiteren Sinn gegenüber der gesamm­ten menschlichen Gesellschaft.« (Krafft-Ebing 1886:2)

3. räumt Verf. zwar ein, dass Freud »zu einem neu­artigen Verständnis der Homosexualität«  ge­funden habe, dennoch aber bleibe eine »Ambi­va­lenz«, weil Freud dem »sexualpathologischen Er­be« irgendwie treu blieb (312). Es bedarf keiner besonders sorgfäl­tigen Freud-Lektüre, um zu bemerken, dass sich diese Treue bei Freud − und bei seinen SchülerInnen noch bis in die 1980er Jahre hinein − in ihrem Festhalten an der doktri­nä­ren Überzeugung zeigt, nach der mani­fes­te Ho­mosexualität eine therapiebedürftigen »Abir­rung« oder »Störung« der einzig gesunden und biolo­gisch korrekten Entwicklung zur Fähigkeit ist, hetero­sexuell zu koitieren. Dass Verf. die durch­gängige Pathologisierung der Homosexu­ellen durch Freuds Lehre unter dem Schlagwort Ambivalenz versteckt, statt sich mit ihr ausein­anderzusetzen, muss als eine der größeren Mängel seines Buchs gelten.

Die beiden letzten Kapitel (219-327) bieten eine Art Showdown zwischen Magnus Hirschfeld und Sig­mund Freud, bei dem letzterer siegt, weil ihm als ein­zigen unter den Ärzten »die Distanzierung zum patho­logischen Denken« (321), die Unter­mi­nierung der »epistemischen Grundlagen des sexu­al­pathologischen Denkens« dank des »revolu­tio­näre[n] Potential[s]« der Psychoanalyse gelingt (323). Hirschfeld hingegen war nicht in der Lage, jenes pathologische Denken zu über­winden; anders als bei Freud waren seine Homo­sexu­ellen auch nur so krank wie die Patienten Molls oder Krafft-Ebings. Der kleine Unterschied zu den Vor­­gängern bestand darin, dass »Hirschfelds Ho­mo­sexueller« etwas von ihm lernte, nämlich »mit seiner leicht pathologischen Anomalie umzuge­hen und ein sexuell erfülltes Leben zu führen« (240). Dieses Kunst­stück brachte Hirschfeld mit­hilfe der »Theo­rie der sexuellen Zwischen­stu­fen« (241 u.ö.) und einer »Soziologie der Homo­sexualität« (275 u.ö.) zustande. Die Soziologie wird auch mehrfach als »Hirschfelds Innovation« bezeichnet; innovativ war es, »die Ho­mosexuellen nicht nur als Individuen, sondern auch als Kollektiv zu erforschen« (244). ­Letzt­lich war aber Hirschfeld mit seinem Anspruch auf »›Befreiung‹ der Homosexuellen« (220) auch nur ein Funktionär einer sexualpathologischen »Bio­politik«, die im Interesse der Festigung der Diszi­plinarmacht des Ärztestandes und einer irgend­wie rassistischen Bevölkerungspolitik (vgl. 278) für die Schwulen und Lesben allein »Unter­wer­fung unter das sexualpathologische Wissen« be­zweckte. Verf. will nicht wie die Autoren Sigusch und Kratz eine Verbindung zwischen Hirschfelds Lehren und »faschistischem Gedan­kengut« konstruieren (233). Hirschfeld wird vielmehr  innerhalb der Sexual­patho­logie und der dazugehörigen, die Disziplinar­macht stärkenden Biopolitik »verortet« (ebd.) Freud hingegen »ver­stärkte« die »liberalen und pluralen Momente« im Geschlechtsleben, indem er mit seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und dem Auf­satz »Über die Psychogenese eines Falles von weib­li­cher Homosexualität« eine neuartige »Bunt­heit« ent­deckte (311 ff.; bes. 327). Die Sexualpathologen incl. Hirschfeld waren allesamt zu diesem Schritt nicht imstande − trotz »huma­ner Rhetorik« (38) und obwohl ihr »Diskurs« als ein »plurales, dynamisches Feld« (36) vorzustel­len ist, das »zweifellos ein liberales Mo­ment« entfaltet (171). Sie alle hielten mehr oder weni­ger starr an dem von Foucault genealogisch nachge­wiesenen Esquirolschen Monomaniekonzept fest.

Die Interpretation der Texte Hirschfelds  kann man nicht anders denn als Tiefpunkt des vorlie­genden Buches bezeichnen; Hirschfelds »Innova­tion« im Ver­gleich zu den älteren Sexualpatholo­gen soll darin be­ste­hen, dass er als Biopolitiker »das Kollektiv der Ho­mosexuellen als patholo­gi­sche Minorität isolierte«, nachdem er zuvor bei sei­nen homosexuellen Patienten mittels des sexu­alpathologischen Narrativs »einen pa­thologischen Trieb« diagnostiziert habe (270). Nicht zu bean­standen ist die Feststellung des Verf., dass Hirsch­feld die beiden Behauptungen, Homosexu­a­lität sei keine Krankheit, sondern eine Ano­ma­lie, und Ho­mosexuelle seien zur Ehe nicht geeig­net, weil sie ge­sundheitliche Mängel an ihren Nachwuchs vererben könnten, nicht selbst erfun­den, sondern von Albert Moll übernommen hat (215 & 305). Verf. ist aber nicht in der Lage, die pathologisierende Version des Homosexualitäts­konzepts in seiner transitorischen Funk­tion in­ner­halb der Hirschfeldschen Zwischen­stufenlehre zu verstehen. Dass Hirschfeld gerade nicht »seine ›Theorie der sexuellen Zwischenstufen‹« auf­ge­stellt hat, um »in sexualpathologischer Manier« dem Sexualtrieb als Geschlechtsmerkmal die Auf­gabe der Fortpflanzung zuzuschreiben (241), wird deutlich bei etwas genauerer Betrachtung dieser vermeintlichen Theorie. Einer der zen­tra­len Texte hierfür ist Hirsch­felds Aufsatz »Die Zwischenstufen-„Theorie“« von 1910. Verf. zi­tiert daraus mehrfach, übersieht aber konsequent die Gänsefüßchen, die das Wort Theorie ein­schlie­ßen. Die »nicht ganz richtige Vorstellung«, seine Lehre von den sexuellen Zwischenstufen sei eine Theorie, hat Hirschfeld zuerst bei Forel und Fried­län­der gefunden und korrigiert: »Vor allen Dingen ist da zu betonen, dass es sich bei diesem Sexualproblem in erster Linie überhaupt nicht um eine Theorie, sondern um ein Eintei­lungsprinzip handelt. Wir verstehen un­ter sexu­ellen Zwischenstufen männlich geartete Frau­en und weiblich geartete Männer in allen möglichen Abstufungen« (Hirschfeld 1910: 116 & 130). Im selben Aufsatz behauptet Hirschfeld, »in jedem Men­schen findet sich eine verschiedene Mi­schung männ­licher und weiblicher Substanz«, was letztlich jedes Individuum zu einer sexuellen Zwischenstufe macht; sodann kennzeichnet er sei­nen Standpunkt zur Frage der Pathologie in aller Eindeutigkeit indem er »alle diese Zwi­schen­stufen als sexuelle Varietäten auffasst und den Begriff des Pathologischen im Sexualleben von ganz anderen Momenten abhängig macht, in ers­ter Linie nämlich davon, inwieweit die Vor­aus­setzun­gen der beiderseitigen Geschlechtsreife und Ge­schlechtsfreiheit Verletzungen erleiden« (Hirschfeld 1910: 129). Somit gibt es für Hirsch­feld im Gegensatz zu allen seinen Kollegen – von Moll und Kraepelin bis zur Freudschen Schule – nur zwei Handlungsweisen, denen er Krank­heits­qualität zuerkennt: Sex mit Kindern und Notzucht.

Um diese klare Aussage Hirschfelds, die sich durchgängig im Gesamtœuvre wiederfindet ähn­lich wie die erwähnten Gänsefüßchen zu überse­hen, bedarf es einer Lektüre und Interpre­tations­methode, die man vielleicht als selektiv be­zeich­nen könnte. Zu dieser Methodik passt es recht gut, wenn Verf. zu J.E. Bauers Aufsatz »Der Tod Adams« (Bauer 1998) nur der etwas fade Scherz einfällt, Bauer sei mit seiner Feststel­lung »ein wenig vorschnell« (242). Hirschfelds Bruch mit dem Geschlechter­dualismus hält Verf. nämlich für eine Art Paradoxon, das dieser ledig­lich »mittels Pathologisierung überschrieb« (243).

Abschließend noch ein Wort zum Leiden der Ho­mosexuellen im Berichtszeitraum, dessen Fehl­ein­schätzung Verf. womöglich bei der angemes­senen Lektüre Hirschfelds behindert hat. Wenn Freuds Patientin einen »Selbstmordversuch« (321) unternimmt, ist dies für Verf. ebenso wenig Anlass zur Reflexion wie die »Angst- und Ver­zweiflungszustände« (138) eines Krafft-Ebing-Patienten; wenn Dessoirs Patient seine »Leidens­genossen« (137) erwähnt, dann ist dies auch nur ein weiteres Symptom für die Machtbesessenheit der Ärzte, die Geständnisse aus den eingebildeten Kranken herauspressen, um diese zu Narrativen zu verarbeiten. Wenn die Sexualpathologen des Verf. ihren Anspruch artikulieren, menschliche Leiden zu mildern oder zu beseitigen, dann kann sein »sozialgeschichtlich bemühtes Auge« (47) immer nur Versuche wahrnehmen, die ärztliche Gier nach Disziplinarmacht »mit humanitärer Rhetorik« (38) zu kaschieren. Wer es wie Verf. versäumt, einen Gedanken auf die Motivation und den Leidensdruck der sexualpathologischen Forschungsobjekte zu verwenden, dem wird es schwer fallen, die Logik der Hirschfeldschen entpathologisierenden Sexologie und Sexual­politik zu begreifen, die der Utopie der »sexu­ellen Menschenrechte« keinesfalls nur rhetorisch verpflichtet war.

 

Literatur

Bauer, J. Edgar (1998): Der Tod Adams. Geschichts­philosophische Thesen zur Sexualemanzi­pation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulen­bewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Berlin, S. 15 ff.


Casper, Johann Ludwig (1858): Practisches Handbuch der gerichtlichen Medicin. Biologischer Theil. Berlin


Hirschfeld, Magnus (1910): Die Zwischenstufen-„Theorie“, in: Sexualprobleme, S. 116 ff.


Krafft-Ebing, Richard von (1886): Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart.


Schmidt, Gunter (1975): Sexuelle Motivation und Kontrolle, in: Ergebnisse zur Sexualforschung. Hrsg. von E. Schorsch u. G. Schmidt. Köln, S. 30 ff.