Manfred Herzer Historisch-kritische Homosexualität Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors. »Gleichgeschlechtliche Praxen« vs. »homosexuelle Lebensformen« vs. »Hybridbildungen« Infragestellung der Differenzierungsachsen Kinseys homophobe Wissensproduktion. Rosa von Praunheim unter Foucaults Einfluss Revolutionäre Potenziale de Verworfenheit Infragestellung der heterosexuellen Matrix
Den schwullesbische Eintrag »Homosexualität« im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus haben die beiden Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott und Volker Woltersdorff gemeinsam verfasst.[1] Es ist zwar zu begrüßen, dass der Eintrag überhaupt zustande kam und der Wörterbuch-Herausgeber Wolfgang Fritz Haug, an die eurokommunistische Tradition der 1970er Jahre anknüpfend, die Schwulen- und Lesbenemanzipation als marxistische Forderung versteht. Sieht man aber die große Zahl von Fehlern, Irrtümern und Schludrigkeiten im historisch-kritischen Homosexualitätslemma, dann liegt die Vermutung nahe, hier werde auf subtile Weise (mit den Schwulen muss man es nicht so genau nehmen) diskriminiert.
Medizinische NeuprägungGleich der erste Satz ist historisch falsch und kritisch absurd, − historisch falsch, weil »Homosexualität« keineswegs eine medizinische, sondern eine emanzipatorische Neuprägung war, und kritisch absurd, weil die doppelte Verwendbarkeit des Begriffs – pathologisieren/ kriminalisieren oder emanzipieren – unerwähnt bleibt: »Dem Begriff ›H‹, einer medizinischen Neuprägung von 1869, die dazu diente, eine Bevölkerungsgruppe zu pathologisieren bzw. zu kriminalisieren, ist eine lange Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung eingeschrieben.« (510) Tatsächlich war es so, dass der 1824 in Wien geborene Journalist Karl Maria Kertbeny 1869 in einem anonym erschienenen Traktat, in dem er für die kommende preußische Strafrechtsreform Straffreiheit für damals so genannte »widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechtes« verlangte, den Ausdruck erstmals gebrauchte.[2] Etwa zwanzig Jahre nach dem Erstdruck wird das Wort in der medizinischen Fachliteratur vereinzelt verwendet (synonym mit »Conträre Sexualempfindung« und »Päderastie«), um, wenn man so will, eine Bevölkerungsgruppe zu pathologisieren: in der zweiten Auflage von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis (Leipzig 1887) ist einmal von »homosexualer Idiosynkrasie« die Rede, und zwar im autobiografischen Bericht eines »conträr Sexualen von 27 Jahren«. Damit begann die Homosexualität alle älteren und alternativen Bezeichnungen zu verdrängen. Ein weiterer Irrtum unterläuft den beiden Autoren mit ihrer Behauptung, der Ausdruck homosexuell habe »allerdings die Tendenz, v.a. Männer zu repräsentieren und lesbische Frauen unsichtbar zu machen.« (511) Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass der erwähnte Kertbeny von Anfang an »Homosexualisten« und »Homosexualistinnen« im Blick hatte (Kertbeny, S. 110 u.ö.) Die drei in den 1860er Jahren entstandenen neuen Begriffe – Uranismus, conträre Sexualempfindung, Homosexualität – waren gewissermaßen übergeschlechtlich oder geschlechterunspezifisch gemeint, während vorher die homosexuellen Frauen, und nur sie, als Lesbierinnen, Tribaden, Sapphistinnen u.dergl. bezeichnet wurden, schwule Männer hießen Sodomiter, Päderasten, Warme oder in Berlin: Schwule usw. Dass in den einschlägigen Schriften von Kertbeny und Krafft-Ebing mehr von Männern als von Frauen gehandelt wird, erklärt sich mit der Thematik jener Schriften, die strafrechtliche und forensische Seite der widernatürlichen Unzucht zwischen Männern. Krafft-Ebing weist zwar darauf hin, dass dem »Amor lesbicus« allenfalls in Österreich (und in Sachsen) forensische Bedeutung zukommt, aber auch dort sind ihm keine Fälle von strafrechtlicher Verfolgung der Lesben bekannt. In den um die Jahrhundertwende erschienenen monumentalen Handbüchern zur Homosexualität von Moll (1.Aufl. 1891) und Hirschfeld (1.Aufl. 1914) kann von einer Tendenz zur Überrepräsentation schwuler Männer auf Kosten der Lesben schon gar nicht mehr gesprochen werden. Beide Autoren betonen zurecht, dass die individuellen Unterschiede innerhalb der Gruppe der Schwulen wie der Lesben größer sind als die Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Das Merkmal Homosexualität, das sexuelle Interesse an Personen des gleichen Geschlechts, ist offensichtlich derart abstrakt, dass daraus keinerlei weitere, irgendwie charakteristischen Eigenschaften abgeleitet werden können. Die frühe Sexualwissenschaft mit den Avantgardisten Moll und Hirschfeld zog aus dieser Einsicht den richtigen Schluss, dass vor Spekulationen und Deduktionen die konkrete Analyse des konkreten Gegenstandes, die empirische Erforschung der Lebensweisen und der Geschichte der Schwulen und Lesben, zu stehen habe.
»Gleichgeschlechtliche Praxen« vs. »homosexuelle Lebensformen« vs. »Hybridbildungen«Die »dekonstruktivistische Kritik zielt«, anders als beispielsweise eine marxistische, auf Klassenkampf fixierte Gesellschaftskritik, auf die Freilegung »eines Kampfes zwischen unterschiedlichen Bezeichnungs- und Organisationspraxen« (510). Dieser Kampf soll das »heutige Verständnis« von Homosexualität hervorgebracht haben. Dass hier das »heutige Verständnis« im Singular erscheint, ist offensichtlich kein Zufall, denn wiederholt ist auch von einem einzigen Identitätsmodell (510) und von homosexuellem Begehren die Rede, das sich »zu einer persönlichen Identität« (512) verdichtet. Diese »homosexuelle Identität«, die durch »die kapitalistische Revolutionierung der Produktionsverhältnisse und der Kultur« (511 f.) irgendwie entstanden sein soll – vielleicht durch die Macht des Wortes Homosexualität? – soll aber, frisch entstanden, sogleich »mit den Anforderungen der fordistischen Produktionsweise kollidieren« (512). Unter Berufung auf Antonio Gramsci erkennen die dekonstruktivistischen Literaturwissenschaftler, dass die Durchsetzung von Regelmäßigkeit, Ordnung, Hierarchie und disziplinierter Verausgabung der Arbeitskraft an den Fließbändern und in den Kontoren der Fabrik mittels diverser antischwuler (und antilesbischer?) unternehmerischer und staatlicher Strategien erfolgt, die »eine familiale, juristische und religiöse Einbettung« des »Arbeits- und Sexualkörpers« in die Produktionsweise bewirken soll (512). Das ganze klingt für meinen Geschmack ein wenig zu mechanisch-ökonomistisch; ihm scheint die Überzeugung zugrunde zu liegen, als ob die große Industrie, Gramscis Fordismus, in ihrer korrekten Funktion gefährdet ist, wenn »homosexuelle Identität und Praxis« um sich greift. Kriminalisierung, Pathologisierung usw. wären demnach die Abwehrmittel zur Sicherung der Produktion gegen homosexuelle Praxis, gegen schwule und lesbische Orgasmen? Das »kapitalistische Sexualitätsdispositiv« (512), ein Ausdruck, der von Michel Foucault stammen soll, scheint für die beiden Autoren der geeignete Gesamtbegriff zur Etikettierung jenes Zusammenhangs zwischen Fordismus und Homophobie zu sein, der zwar dem Erklärungsmodell nichts Neues hinzufügt, der es aber an den zur Zeit hegemonialen Foucaultismus anschließt. Der stets mehrheitlich praktizierte Sex zwischen Männern und Frauen, soll mithilfe jenes, von Foucault nie kapitalistisch genannten Dispositvs erstmals als Norm, als heterosexuelle Norm, etabliert worden sein. Welche Praktiken stattdessen in vorkapitalistischen Zeiten unter einem »feudalen Allianzdispositiv« üblich waren, erfahren wir nicht. Womöglich träumen unsere Dekonstruktivisten von einem Engelsschen Zustand, »wo unbeschränkter Geschlechtsverkehr innerhalb eines Stammes herrschte« (MEW 21, S. 38)? In der Gegenwart, die von einer »hochtechnologischen Produktionsweise« gekennzeichnet sein soll, ist »die sexuell repressive Disziplinierung der Arbeitskraft weniger wichtig« und es hat eine »Diversifizierung und Kommerzialisierung des sexuellen Feldes« stattgefunden, ferner eine »Entkriminalisierung und -tabuisierung« der Homosexualität (512 f.) Dies alles geschah unter der Ägide des erwähnten Foucaultschen Dispositivs, dem sich bald darauf eine »heterosexuelle Matrix« (524) zugesellen wird. Alternativ zu dieser kurzen Geschichte der Homosexualität im historisch-kritischen Wörterbuch könnte man unter Rückgriff auf Gramsci diese Geschichte als einen Prozess kapitalismusimmanenter »Rationalisierung« darstellen. Gramsci schrieb: »Es ist hervorzuheben, wie die Industriebetriebe (besonders Ford) sich für die sexuellen Beziehungen ihrer Arbeiter interessiert haben, und auch generell für die allgemeine Lösung ihrer Familienangelegenheiten; der anscheinende ›Puritanismus‹ dieses Interesses (wie im Falle des Prohibitionismus) darf nicht irreleiten. Vielmehr kann sich der von der Rationalisierung der Produktion und Arbeit geforderte neue Menschentyp nicht entwickeln, solange der sexuelle Instinkt nicht entsprechend reguliert, nicht auch selbst rationalisiert ist.«[3] Setzt man den Zeitraum zwischen 1850 und 1950 mit der Herausbildung von Sexologie und Psychoanalyse als erste Phase der Rationalisierung der Sexualität im Kapitalismus, dann könnte man den folgenden Abschnitt mit der Veröffentlichung der beiden Kinsey-Reports und der Entdeckung chemischer Antikonzeptiva als zweite Rationalisierungsphase deuten. Die zahllosen, seit dem 19. Jahrhundert produzierten und einander widerstreitenden Ideologien und Theorien zur Homosexualität wären dann als Momente in diesem globalen, in jedem Land von regionaltypischen Widersprüchen und Hemmungs- sowie Rückschlagsbildungen gekennzeichneten Rationalisierungsprozess des menschlichen Geschlechtslebens aufzufassen.[4] Einmal ist die Rede von nativen Kulturen Amerikas, von Surinam und von Indien (510). Dort soll sich eine »Aneignung des Identitätsmodells der H[omosexualität]« im Zuge der Etablierung neoliberaler kapitalistischer Arbeits- und Geschlechtsverhältnisse sowie des Imports entsprechender Lebensstile vollzogen haben. Anders aber als in den Mutterländern dieses Identitätsmodells soll es in Indien und anderswo zu »Hybridbildungen« gekommen sein, »in die unterschiedliche kulturelle Traditionen einfließen« (510). Die Annahme eines einzigen »Identitätsmodells« im Kapitalismus ist der auffälligste Denkfehler in dieser Behauptung. Denn man braucht keinen besonders genauen Blick auf die Welt der Homosexuellen zu werfen, um zu sehen: es gibt nicht nur ein einziges, sondern ungefähr so viele Identitätsmodelle wie Individuen. Und wenn man, wie Mattenklott/Woltersdorff offensichtlich in Nachfolge des social constructionism der 1970er Jahre, aus der Vielfalt der schwulen und lesbischen Identitäten ein einziges im neoliberalen Kapitalismus geltendes Modell abstrahieren will, dann ist dies so leer und bestimmungsarm, dass es zu einer Deskription oder gar Reflexion der Homosexualität nicht mehr taugt. Es verführt zu absurden Trugschlüssen, wie dem von den Hybridbildungen aus unserm Identitätsmodell und traditionellen Modellen etwa unter Schwulen in Indien. Mary McIntosh, die verdienstvolle Schöpferin des Labeling Approach in der Homosexuellenforschung, schrieb leider schon in ihrem Klassiker von 1968 missverständlich von einem »modern stereotype of the homosexual« und der Titel von Kenneth Plummers nicht weniger klassischem Reader The Making of the Modern Homosexual verleitet ebenfalls zu der Vorstellung von einem alternativlosen irgendwie totalitären kapitalistischen Identitätsmodell, das zuerst den gleichgeschlechtlich Liebenden bei uns und dann dem Rest der Welt übergestülpt wurde.[5] Wenn man unbedingt von Hybridbildungen sprechen will, dann sollte man der Ich-Identität aller Menschen auf dem Weltmarkt, allen »vereinzelten Einzelnen« (MEW 13, S.21) ein solches Ding zugestehen. Die Hybridbildung bei Mattenklott/ Woltersdorff hat einen leicht rassistischen Hautgout, wenn man bedenkt, dass es Mischlinge und reine homosexuelle Identitäten geben soll. Die Hybriden wären dann vielleicht ein Drittes Geschlecht der Dekonstruktivisten…
Infragestellung der DifferenzierungsachsenWeiter hinten, bei der Aufzählung der diversen Sorten von »Wissensproduktion« zur Homosexualität, findet sich, recht isoliert, ein Satz, der immerhin eine Alternative zu dem Gerede von der einen monolithischen Identität der Homosexuellen andeutet; es geht um die »westlichen Gesellschaften« mit ihren »Differenzierungsachsen in den Diskursen um die Herstellung sexueller und affektiver Bindungen«: »Die Bedeutung eindeutiger sexueller und geschlechtlicher Identifikation wird in Frage gestellt und folglich auch die Annahme einer homosexuellen Identität.« (515) Datiert wird diese Infragestellung durch westliche Differenzierungsachsen auf »die späten 1980er Jahre«, was vermutlich mit den speziellen Geschichtskenntnissen der historisch-kritischen Autoren zu tun hat. Sie wissen zwar, dass bereits 1926 Magnus Hirschfeld »physische, psychische und soziale Daten aus vielen hundert Sexualbiographien zu einer wissenschaftlichen ›Geschlechtskunde‹ zusammen[geführt hat]« (516), dass Hirschfeld diese vielen Biografien in einem Ordnungsschema sexueller Zwischenstufen systematisiert hat und dass er daraufhin erkennt, jedes Individuum ist eine einzigartige sexuelle Zwischenstufen, eine unwiederholbare Mischung aus männlichen und weiblichen Eigenschaften – davon wissen sie nichts. »Der Mensch ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib. Nur ist das Mischungsverhältnis der aus mütterlicher und väterlicher Ahnenreihe ererbten Eigenschaften ein so unendlich mannigfaltiges, daß kein Einzelwesen mit einem anderen übereinstimmt, weder im ganzen noch im kleinsten seiner Teile. Nichts Gleiches gibt es unter der Sonne, nur Ähnliches.«[6] Diese schöne Feststellung widerspricht keineswegs der Bildung von Typologien. Hirschfeld kannte zum Beispiel die »Sexualtypen Mann und Weib«, und den Typus Transvestit/Transvestitin hat er selbst erfunden und zuerst beschrieben. Wir Heutigen kennen Tunten, Kesse Väter, KinderschänderInnen, Femmes fatales u.v.a.m. Schwierig wirds, wenn der moderne Homosexuelle oder die homosexuelle Identität oder die moderne Heterosexuelle beschrieben werden soll, denn dabei kommt bestenfalls eine weitgehend leere Abstraktion heraus, da nur ein einziges Merkmalisoliert wird, das allen Homosexuellen, ob man sie nun Schwule, Lesben, Homophile, Bisexuelle oder sonstwie nennt, miteinander teilen, nämlich das sexuelle Interesse an Personen des gleichen Geschlechts. Dies ist die einzige offensichtliche Eigenschaft, die ich mit Individuen wie Röhm, Westerwelle, König Ludwig oder Mattenklott gemeinsam habe. Zwischen unseren Identitäten klaffen unermessliche Abgründe. Die beiden Wörterbuch-Autoren wären gut beraten gewesen, wenn sie ihre diskursive Differenzierungsachse auf die homosexuelle Identität gerichtet und die einschlägigen Theorien mit etwas mehr Distanz referiert hätten.
Klaus & GünterDer vor allem wegen seiner Psychiatriegeschichte Bürger und Irre (4.Aufl.1998) auch unter Laien hochangesehene hannöversche Psychiater Klaus Dörner hat 1966 in der Zeitschrift Studium generale seinen Aufsatz »Homosexualität und Mittelstandsgesellschaft. Ansätze zu einer Soziologie männlicher Homosexualität« vorgelegt. Mattenklott/Woltersdorff übernehmen daraus Dörners spekulative These, nach der »im Bereich der sozialen Mittelklassen« Homosexualität unter Männern besonders häufig ist (513).[7] Die Attraktivität dieser Behauptung erklärt sich zwiefach: Sie war Anfang der 1970er Jahren in der damals neuen Schwulenbewegung öfter zu hören, da das damals einflussreiche und noch freudomarxistisch inspirierte Freundespaar Dannecker und Reiche die Dörnersche These mit den Ergebnissen seiner Fragebogenerhebung Der gewöhnliche Homosexuelle bestätigen zu können glaubte. Den beiden Wörterbuch-Autoren dient die Dörner-These dazu, ihre Überzeugung zu untermauern, es gebe seit »den 1990er Jahren« eine »warenförmige Organisation homosexuellen Lustgewinns«, weil »Homosexuelle als Zielgruppe für ›Community‹-bezogenes Marketing« von Warenhandelsunternehmen erkannt würden und Homosexuelle sich besonders gern »die bürgerliche Zirkulationssphäre« als Aufenthaltsort wählen. Begründet wird dies mit einem Katalog von Eigenschaften, die auf nicht näher bestimmte Weise mit der »homosexuellen Identität« zusammenhängen sollen (513): − »familienungebundene Flexibilität und Mobilität« − »Fähigkeit zum Rollenwechsel« − »institutionelle Bindungslosigkeit« − »Interessenegoismus« − »Dissoziation von Arbeits- und Privatsphäre« Man kann den Wörterbuch-Autoren gewiss nicht vorwerfen, dass sie solche unter Schwulen und vielleicht auch unter Lesben verbreitete Anschauungen referieren; der Vorwurf muss dahin gehen, dass ihrem Referat jede kritische Distanz zu solchen Selbstbildern gegenwärtiger Schwulenideologien fehlt. Ein flüchtiger Blick in den Werbeanzeigenteil von Berliner Schwulen- und Lesbenzeitschriften aus den Goldenen Zwanzigerjahren hätte sie belehrt, dass es auch damals nichts gratis gab. Der Besuch beim Frisör, beim Schneider, beim Arzt, in der Leihbücherei, in der Buchhandlung, der Stricherkneipe, dem Restaurant, dem Hotel: alles hatte seinen Preis wie jede andere Ware auch. Der Unterschied zwischen damals und heute ist sicherlich ein quantitativer, da die sog. Neuen Medien und die Fortschritte der Werbepsychologie die Reklame- und Marketingstrategien der Unternehmen verändert haben. Dass hierdurch neue Qualitäten im Kapitalismus entstanden sind, wäre noch zu beweisen. Die Umsatzsteigerungen bei schwulen und lesbischen KonsumentInnen entwickeln sich offensichtlich auch deshalb, weil immer mehr Homosexuelle ihre Angst vor dem Outing überwinden und ihr Leben als Closet Queens/Kings ändern. Ein bisschen lächerlich scheint mir die distanzlos wiedergegebene Meinung eines Michael Pollak von 1986, der diese kapitalismuskritisch gemeinte Beschreibung der »›Homo-Szene‹« auf den Sex übertragen wollte: dieser unterliege neuerdings einer »›freie[n] Marktordnung‹, wo Anbietersubjekte Orgasmen tauschen« (513). Wenn man schließlich liest, dass »in fast allen Kulturen und Epochen […] Formen gleichgeschlechtlicher Sexualität« bezeugt sind (519), dann wüsste man gern, wie sich Mattenklott/Woltersdorff dort den Austausch von Orgasmen vorstellen. Vielleicht ist da irgendein anderes, nicht-kapitalistisches Dispositiv im Spiel. Die vermutlich als Alternative zu klassenanalytischen Fragestellungen gemeinte Ansicht von »besondere[r] Häufigkeit« der Homosexualität in den »sozialen Mittelklassen« (513) wird immerhin durch die Erwähnung einer »Hamburger sexualwissenschaftlichen Schule« ergänzt, die nicht näher bezeichnete Studien »über H bei Arbeitern« veranstaltet haben soll (514); Bochow soll in einer Untersuchung über HIV-Infektionsrisiken die »Unterschichtschwulen in der BRD der 90er Jahre« erforscht haben; ähnlich George Chauncey, der »proletarische homosexuelle Subkulturen« in New York City am Beginn des 20. Jahrhundert entdeckt haben soll (520). Einen Zusammenhang der Arbeiter, Unterschichtschwulen und proletarischen Subkulturen mit ihrer These von den häufigen Mittelklasseschwulen in der bürgerlichen Zirkulationssphäre diskutieren Mattenklott/Woltersdorff nicht.
Kinseys homophobe Wissensproduktion. Rosa von Praunheim unter Foucaults EinflussIm 2. Teil der historisch-kritischen Homosexualität geht es, wie erwähnt, um »die Wissensproduktion über H«, die durchweg von »homophoben Klischees geleitet« sein soll. Zunächst wird das »Konzept der Homophobie« problematisiert, weil es »von der kategorialen Trennung homo- und heterosexueller Bedürfnisse ausgeht« (513). Wenn überhaupt, dann geht besagtes Konzept von dem Sachverhalt aus, das bei Nicht-Homosexuellen zuweilen das Bedürfnis besteht Schwule und/oder Lesben zu hassen, zu verfolgen und zu diskriminieren, sowie von dem Bedürfnis der Homosexuellen, nicht gehasst, diskriminiert und verfolgt zu werden. Warum diese kategoriale Trennung für Mattenklott/Woltersdorff ein Problem ist, bleibt umso unklarer, als sie am Begriff Homosexualität bemängeln, dass es »bei weitem nicht alle Praxen gleichgeschlechtlicher Liebe und Lust erfasst« (510). Man wüsste gern, an welche gleichgeschlechtlichen »Praxen« sie dabei gedacht haben. Das wird aber genauso wenig geklärt wie die Problematik des Homophobiekonzepts, die sich angeblich in jener kategorialen Bedürfnistrennung zeigen soll. Jedenfalls ist die Sexualwissenschaft homophob und »heteronormativ«, was immer das bedeuten mag. Die bekanntesten Wissenschaftler, die Homosexualität heteronormativ bzw. homophob beforscht haben, werden nun in drei Gruppen präsentiert: Gruppe 1 umfasst die Herren Krafft-Ebing, Moll und Kinsey. Diese drei sollen dazu beigetragen haben, Homosexualität »in der Sexualpathologie heimisch zu machen« (514). Auf die beiden Erstgenannten mag das zutreffen, im Fall Kinsey liegt aber ein besonders krasses Fehlurteil vor, das ungefähr das Niveau der Verwechselung von Klaus und Günter Dörner erreicht. Ich würde nicht so weit gehen wie Gunter Schmidt (von der erwähnten Hamburger Schule), für den Kinsey, wegen seiner strikten Weigerung, das von ihm beobachtete Sexualverhalten von Männern und Frauen irgendwelchen medizinischen oder moralischen Wertungen oder Identitäten zuzuordnen, »ein früher und naturalistischer Queer-Theoretiker« war.[8] Es kann aber kein Zweifel bestehen, dass Kinsey einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, die Einstellung der wissenschaftlichen wie der politischen Öffentlichkeit zur Homosexualität in den kapitalistischen Industriestaaten von jedweder Pathologisierung und Kriminalisierung zu lösen, also gerade das Gegenteil von dem, was Mattenklott/Woltersdorff ihm andichten. Gruppe zwo enthält die Autoren Havellock Ellis, Symonds und Hirschfeld, die »im Interesse […] einer ›liberaleren‹ Pathologie […] zugunsten eines Spektrums von ›Zwischenstufen‹« geforscht haben sollen (514). Der eine, sehr lange Schachtelsatz, den Mattenklott/Woltersdorff zur Gruppe zwo formulieren, wimmelt geradezu vor sachlichen Fehlern, worunter die Behauptung, die drei hätten für ihr Zwischenstufen-Spektrum den Ausdruck »psychosexual hermaphroditism« geprägt, zu den schwerwiegenderen gehört. Tatsächlich ist es die englische Übersetzung des von Krafft-Ebing 1891 geprägten Ausdrucks »psychosexuale Hermaphrodisie«, einem Vorläufer des Ausdrucks »Bisexualität«. − Sexual Inversion, 1896 auf Deutsch erschienen, wurde nicht von dem englischen Dichter John Addington Symonds verfasst, sondern von Havelock Ellis. Symonds war drei Jahre vorher gestorben, so dass der Plan eines gemeinsamen Buches über Das konträre Geschlechtsgefühl (so der Titel des wegen der englischen Zensur zuerst in Leipzig erschienenen Werkes) nicht verwirklicht werden konnte. Havelock Ellis hat in sein Buch einige Fragmente aus Symonds‘ Nachlass eingefügt und aus Pietät den Namen des toten Freundes hinter seinem eigenen aufs Titelblatt drucken lassen.[9] Die dritte Gruppe der Wissensproduzenten besteht aus einer Liste von 17 Namen, denen Eigenschaften zugeordnet werden: Giese ist existentialphilosophisch gerichtet; Dannecker/ Reiche sind anthropologisch, kulturalistisch; der militant homophobe Psychoanalytiker Charles Socarides erhält ebenfalls das Etikett anthropologisch-kulturalistisch; Vinnai ist sogar materialistisch usw. »Vor dem Hintergrund der politischen Emanzipationsbewegungen« und »unter dem Einfluss der Forschungen Foucaults« soll sich in den 70er Jahren eine »Wende« zur Erforschung der »›Homophobie‹« in Anführungszeichen vollzogen haben. Vielleicht nicht ganz ernst gemeint ist die dann folgende Behauptung, der »Filmemacher Rosa von Praunheim« habe 1974 mit seinem Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt unter dem Einfluss der Forschungen Foucaults gestanden (514 f.) Die Vorstellung, Rosa von Praunheim habe je unter irgendeinem Einfluss von Foucaults Forschungen gestanden, ist so abwegig wie die Datierung von Rosas Film auf 1974; er wurde im Februar 1971 auf der Westberliner »Berlinale« im Kino »Arsenal« uraufgeführt. Nach kurzen und dunklen Ausführungen zu den Lesben − »Lesben geraten meist erst im Kontext von Gattungsreproduktion und Bevölkerungspolitik ins Visier der Wissenschaft« (516) − folgen ein paar Daten zur Geschichte der Schwulenbewegung. Karl Heinrich Ulrichs wird zwar zutreffend als »Vorkämpfer« bezeichnet, man wundert sich jedoch über die Datierung seines Kampfes »für die reichseinheitliche Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Beziehungen« auf »1867«. Dies ist ein weiterer schriller Lapsus, denn ein Reich für diese Straffreiheit gab es 1867 noch nicht und die Straffreiheit für Urninge (nicht für Lesben) forderte er seit 1864 in allen Staaten des deutschen Sprachgebietes, die noch nicht wie die Königreiche Württemberg, Bayern und Hannover nach französischem Vorbild ihr Strafrecht modernisiert hatten. Ein ähnlicher Unsinn ist es, wenn Hirschfelds 1896er Broschüre Sappho und Sokrates eine Aufforderung »zum Zusammenschluss von gleichgeschlechtlichen Minoritäten im Kampf um Bürgerrechte« enthalten soll (516).
Revolutionäre Potenziale de VerworfenheitZuzustimmen ist den beiden Dekonstruktivisten, wenn sie sich über gewisse »homosexuelle Intellektuelle« lustig machen (namentlich genannt werden Sigusch, Hocquenghem und Mieli), die »in Anknüpfung an die Vorstellung von der emanzipatorischen Mission der Arbeiterklasse« in den 1970er Jahren verkündeten, Homosexualität »könne auf Grund ihrer Verworfenheit revolutionäre Potenziale entfalten« und »zur gesellschaftlichen Befreiung von geschlechtlichen Rollenzwängen, Lustfeindlichkeit und repressiver Sozialisation durch die bürgerliche Kleinfamilie beitragen« (517 f.) Es wirkt wie ein Akt männlich-kavaliermäßiger Herablassung, wenn Mattenklott/ Woltersdorff den diesbezüglichen Extremismus der bei Lesben damals sehr populären frankoamerikanischen Autorin Monique Wittig (518) bei der Erwähnung ihres Namens mit Diskretion übergehen. Wittig hatte damals eine Revolution unter Führung von Feministinnen und Lesben prophezeit, mittels derer eine neue Ordnung jenseits der Kategorie Sex und jenseits aller Wissenschaft, die immer nur repressiv sei, errichtet wird.[10] Erstaunt registrieren sie lediglich: »Aufgrund der Bezogenheit der Kategorie ›Frau‹ auf die des ›Mannes‹, die deren hierarchische Unterordnung einschließe, geht Monique Wittig sogar so weit zu behaupten: ›Lesben sind keine Frauen.‹« (518). Zu der realistischeren Einschätzung der »Homosexuellenemanzipation« als ein subjektives Element der Anpassung kultureller Standards an die neueste Stufe der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung können sich Mattenklott/Woltersdorff jedoch nicht verstehen. Stattdessen sehen sie »in der jüngeren Diskussion«, zum Beispiel bei Leslie Feinberg, eine Kritik der »›Zweigeschlechtlichkeit‹« als »Herrschaftskategorie« (518). Doch auch Feinbergs Krieg als Transgender Warrior müsste meiner Ansicht nach (ähnlich wie die noch immer sich wachsender Beliebtheit erfreuende Queer Theory) von historisch-kritischen MarxistInnen als ideologische Reflexe einer Auflösung oder Transformation traditioneller Geschlechtsrollen interpretiert werden. Ohne hierauf einen Gedanken zu verschwenden, schenken Mattenklott & Woltersdorff den schwulen und lesbischen Subkulturen sowie deren Beiträgen zur heterosexuellen Hochkultur ihre Aufmerksamkeit. In dieser Hochkultur, dem »gesamten westlichen Kanon des Bildungsbürgertums«, entdecken sie überall die Homosexualität »als Subtext« irgendwo unterhalb der kanonischen Texte (519). Den Aufstieg vom Subtext zum Text (oder gar Hypertext?) datieren sie auf eine Tat der »europäischen Symbolisten«: die »Dekonstruktion von ›Natürlichkeit‹«. Sie soll zu einer Aufwertung der Schwulen, speziell in den Werken von Oscar Wilde, Thomas Mann und späteren geführt haben. Nicht nur weil eine Begründung fehlt, erscheint diese Datierung willkürlich und beliebig. Es fragt sich, warum der Beginn dieses Prozesses erst bei Wilde und nicht schon mit Balzac, Schopenhauer oder Whitman begonnen haben soll, sondern erst nach der vermeintlichen symbolistischen Dekonstruktion. Homosexualität ist nicht nur Subtext der Heteros, sie wird auch in der schwulen Subkultur handfest praktiziert. Anders als in den Hoch- soll aber in den Subkulturen eine »Sexualisierung des Mannes als Lust-Objekt« stattfinden (520). Ein zweites subkulturelles Alleinstellungsmerkmal soll die nicht-heteronormative »Modellierung des Geschlechtskörpers« als »›Androgynie‹ und ›Travestie‹« sein. Dass die zahllosen Pippi-Langstrumpf- und Zarah-Leander-Imitationen auf den Tuntenbällen im Schwuz, in Walterchen’s Ballhaus und überall sonst auf der Welt weniger heteronormativ sein sollen als Jack Lemmon in Some Like It Hot oder Heinz Rühmann in Charleys Tante, will nicht recht einleuchten. Ich möchte sogar behaupten, dass es in den schwulen Subkulturen, abgesehen davon, dass hier Männer mit Männern Sex machen wollen, nichts gibt, das es nicht auch in heteronormativen Sexkulturen gibt, zum Beispiel eine angeblich »umstrittene« sadomasochistische Leder-Szene. Wenn sich Mattenklott/Woltersdorff mit der in Tuntenkreisen oft zu hörende Ansicht identifizieren, schwule Subkulturen seien in ihrer »Körper- und Bewegungskultur« irgendwie besonders innovativ und vorbildlich für die Freizeitgestaltung von Heterosexuellen (sie nennen »Tanz, Popmusik und Mode« sowie »Tätowierungen, Piercing, Bodybuilding, Schmuck usw.«), dann unterstellen sie ein wenig unbedacht, dass es eine schwulenspezifische künstlerische Kreativität gibt, die den von ihnen so genannten Mainstream mit Trendidee beliefert; betrübt konstatieren sie, dass solche Trends, einmal in der heterosexuellen Mehrheitskultur angekommen, »meistens ihre homosexuelle Konnotation verlieren« (520). Hätten sie genauer hingeschaut, dann wäre ihnen womöglich aufgefallen, dass es sich bei allen ihren Beispielen ausnahmslos um Übernahmen aus heterosexuellen Adolezenskulturen handelt. Die Übernahme ging in die entgegengesetzte Richtung. So erklärt die Empfänglichkeit vieler Tunten für die Körperschönheit sportlicher junger Männer ihre Begeisterung für Bodybuildingstudios oder die Nachahmung von Körperschmucktechniken, die man sich von der heterosexuell dominierten Punk-Subkultur abguckte. Einen Kulturbereich jedoch, in dem Schwule jahrzehntelang den schöpferischen Ton angaben, die Damenoberbekleidungsindustrie, wird von Mattenklott/Woltersdorff mit Schweigen übergangen. Dabei wäre der maßgebliche Einfluss, den schwule Modeschöpfer wie Christian Dior, Gianni Versace, Yves Saint Laurent, Pierre Cardin oder Jean Paul Gaultier zunächst auf die Damenmode der Bourgeoisie, bald aber auch bei den lohnabhängigen Massen über Prêt-à-porter-Unternehmen ausübten, durchaus erklärungsbedürftig. Hier könnten möglicherweise die Lieblingsvokabeln der beiden Subkulturkenner: Gender und Geschlechtsidentität von Nutzen sein. Sie vertagen diese Thematik aber lieber auf eine künftige »umfassende Analyse von neoliberalem Kapitalismus, postmoderner Ästhetik und Minoritäten-Politik« (520). Am Schluss des Subkultur-Abschnitts gibt es ein Lob für die lesbischen Subkulturen, dem aber ebenfalls ein Aroma männlich-arroganter Herablassung anhaftet: »Daneben entwickelten lesbische Subkulturen v.a. seit den 1970er Jahren eine Kultur der Gleichheit (›sameness‹) mit hohen demokratischen Maßstäben.« (521)
Vorurteile der deutschen Arbeiterbewegung, der DDR und der kommunistischen Parteiinitiativen in WesteuropaDer oft zitierte Brief von Engels an Marx, in dem darüber gewitzelt wird, dass den Päderasten nur noch eine Organisation fehlt, um die Macht im Staat zu erobern, und dass Marx & Engels glücklicherweise zu alt und unattraktiv sind, um nach dem Machtwechsel zwangsweise anal penetriert zu werden, veranlasst Mattenklott/Woltersdorff zu der Feststellung, der Brief »unterscheidet sich weder im Ton noch im Inhalt von entsprechenden Äußerungen politischer Gegner« (521). Einen solchen Unsinn kann man eigentlich nur behaupten, wenn man keinerlei »entsprechende Äußerungen politischer Gegner« aus der Zeit um 1869 zur Kenntnis genommen hat. Mir ist nur ein Text bekannt, der mit Engels‘ Päderasten-Brief in Ton und Inhalt vergleichbar wäre: Heinrich Heines (neben Engels ein weiterer heteronormativer Männerfreund von Karl Marx[11]) Reisebilder II von 1829, in denen er über den antisemitischen und schwulen Dichter Platen spottet. Engels‘ und Heines antischwule Witzeleien unterscheiden sich aber fundamental von allen um 1850 gegen Päderasten oder Urninge gerichteten Polemiken. Während letztere verschärfte Verfolgungsmaßnahmen forderten und theologisch oder strafrechtlich begründete Verdammungsurteile verkündeten, fehlt beides bei Heine und Engels, stattdessen Witzchen übers Arschficken.[12] Eine ähnlich haarsträubende Missinterpretation wird leider auch den beiden Aufsätze angetan, die Eduard Bernstein 1895 in der Neuen Zeit aus Anlass des Prozesses gegen Oscar Wilde veröffentlichte.[13] Bernstein soll dort die Ansicht vertreten haben, Homosexualität »sei ein Symptom der Dekadenz«, sei »bourgeoiser Luxuskonsum« und obendrein sei es »die kapitalistische Gesellschaft, die H produziert«. (522) Tatsächlich führt Bernstein aus, dass die »Mannesliebe« ebenso wie die »weibliche Eigengeschlechtsliebe« »so alt und so verbreitet, auf so verschiedenartigen Kulturstufen anzufinden ist, daß sich von keiner Kulturstufe der Menschheit mit Sicherheit sagen läßt, sie sei von dieser Erscheinung frei gewesen.« Nirgendwo behauptet Bernstein, dass die Homosexualität von der kapitalistischen Gesellschaft produziert werde oder gar Symptom einer Dekadenz sei, wohl aber weiß er, »daß die moralischen Anschauungen geschichtliche Erscheinungen sind, die nicht darnach sich richten, was etwa im Naturzustand war, sondern was auf einer gegebenen Entwicklungsstufe der Gesellschaft ist, für die das dieser Entsprechende das Normale ist.« Ähnlich abwegig ist Mattenklott/Woltersdorffs Behauptung, Bernstein habe Homosexualität für »ein Symptom der Dekadenz« gehalten. Bernstein spricht an keiner Stelle von Dekadenz der kapitalistischen Gesellschaft.[14] Er hält Oscar Wilde für einen »Schüler und Nachahmer […] der Decadence-Literaten Frankreichs, deren erster bewußter und berühmtester Vertreter Baudelaire war, der Dichter der ›Fleurs du mal‹«. Diese Baudelaire-Epigonen »nennen sich deshalb herausfordernd Verfallsmenschen − ›Decadents‹«. Bernstein erkennt demnach sehr wohl, hundert Jahre vor Mattenklott und seinem »Bilderdienst«, dass jene Decadents à la Baudelaire eine ästhetische Opposition betreiben und ihre Produktion auf dem kapitalistischen Markt zu Geld machen. Sie sind anders als frühere Romantiker fasziniert vom »fashionablen« Leben der Großstadt: »Der Verfallsmensch ist […] ein nicht zu sehr aus der Art geschlagener Abkömmling des Romantikers. Er blickt nicht wie dieser zurück in die Vergangenheit, aber er blickt auch nicht vorwärts in die Zukunft, in Bezug auf die er Skeptiker ist. Er sucht die Blume der Romantik nicht auf den Bergen, im Gemäuer verfallener Schlösser, noch in Gemälden der Zukunft, sondern in den fashionablen Höhlen der heutigen Weltstadt. Das Raffinement des weltstädtischen Lebens thut es ihm an.« Immerhin scheinen Mattenklott/ Woltersdorff Bernsteins eigentliche Intention zu ahnen: die Abschaffung des deutschen Schwulenstrafrechts. Wenn sie aber davon erzählen, wie August Bebel »diese Forderung 1898 in den Reichstag« einbringt, wird gleich alles wieder falsch und verkehrt. Sie behaupten allen Ernstes, Bebel habe den § 175 des Reichsstrafgesetzbuches mit dem Argument kritisiert, »dass der Staat Religion und Sittlichkeit zur Stabilisierung der Klassenverhältnisse missbrauche« (522). Bebel hat tatsächlich nichts dergleichen im Reichstag gesagt, ebenso wenig wie die SPD bald darauf »Krupps schwule Extravaganzen auf Capri als Exempel ›kapitalistischen Magnatentums‹« angeprangert hat (522). Bebel hat den § 175 unter anderem wegen der klassenspezifischen Anwendung kritisiert: die armen Schwulen werden bestraft und die reichen können ihren Reichtum nutzen, um straflos im Ausland ihre Bedürfnisse mit Prostituierten zu befriedigen. So auch der Vorwärts in seinem vielgescholtenen Artikel »Krupp auf Capri«: »So lange Herr Krupp in Deutschland lebt, ist er den Strafbestimmungen des § 175 verfallen. Nachdem die Perversität zu einem öffentlichen Skandal geführt hat, wäre es die Pflicht der Staatsanwaltschaft, sofort einzugreifen. Vielleicht erwägt man jetzt, um diesen das Rechtsgefühl verletzenden Widerspruch zwischen Gesetz und Anwendung des Rechtes zu beseitigen, die Beseitigung des § 175, der das Laster nicht ausrottet, aber das Unglück zur furchtbaren Qual verschärft. Von socialdemokratischer Seite ist ja im Reichstag mehrfach auf eine solche Reform gedrungen.«[15] Nichtsdestoweniger ist es angemessen, wenn der SPD, der DDR- und der BRD-Regierung bei ihren einschlägigen Reformbemühungen »Halbherzigkeit« vorgeworfen (523) und die Homosexuellenpolitik in der Sowjetunion als »zweideutig« gerügt wird (523).
Infragestellung der heterosexuellen MatrixFür uns Ältere erscheint es als hübsche Geste, wenn der Artikel Homosexualität mit dem Wendung »in Frage stellen« endet (524). Das weckt Erinnerungen an die wilden Jahre der Westberliner von kleinbürgerlichen Studenten und anarchistischen Hippies dominierten Schwulenbewegung, in deren Rhetorik »in Frage stellen« eine wichtige Rolle spielte. Infrage gestellt wurde vieles, speziell die bürgerliche Sexualmoral, die Kleinfamilie, Zwangsheterosexualität, traditionelle Geschlechterrollen, Verachtung effeminierter Schwuler, das Schwulenstrafrecht und dergl. Der Ausdruck bot manchen Vorteil. Da er sinnverwandt sowohl mit ›bezweifeln‹ wie mit ›gefährden‹ ist, vermittelte er das Gefühl, als habe man tatsächlich die bürgerliche Sexualmoral bedroht, wenn man einen entsprechenden Slogan auf ein Flugblatt schrieb oder im Sprechchor bei einer Straßendemo rief – Radikalität als Wildesche Pose. [1]
Gert Mattenklott & Volker Woltersdorff: Homosexualität, in: Historisch-kritisches
Wörterbuch des Marxismus. Band 6/I: Hegemonie bis Imperialismus. Hrsg.
von Wolfgang Fritz Haug. Hamburg 2004, Sp. 510-526; im Folgenden beziehen
sich eingeklammerte Zahlen auf die Spaltenzählung in diesem Text. [2]
Vgl.: Karl Maria Kertbeny: Schriften zur Homosexualitätsforschung.
Hrsg. von Manfred Herzer. Berlin 2000. [3]
Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Hrsg. u. übers.
von Christian Riechers, mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth. Frankfurt
a.M. 1967, S. 389. [4]
Eine Skizze dieses Gedankenganges habe ich vorgelegt in: Manfred Herzer: Auf
der Suche nach der kritischen Sexualwissenschaft, in: Capri 41
(September 2008), S. 44 ff. [5]
Mary McIntosh: The Homosexual Role, in: Social Problems 16.1968, S.
182-192; der Reader The Making of the Modern Homosexual (1981) enthält
ein Interview zum Thema, das Jeffrey Weeks und Plummer mit McIntosh führten. [6] Magnus Hirschfeld: Geschlechtskunde, Band 1, 1926, S. 5. – Vgl. dazu: J. Edgar Bauer: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulenbewegung, Berlin 1998, S. 15 ff. [7]
Schwer verständlich ist Mattenklott/Woltersdorffs Verwechselung oder
Gleichsetzung des westdeutschen Psychiater Klaus Dörner mit dem ostdeutschen
Hormonforscher Günter Dörner. Diese Verwirrung ist besonders fatal, weil
die bizarren Theorien des Hormonforschers, nach denen Homosexualität schon
beim Fötus diagnostiziert und durch entsprechende Hormongaben in den
letzten Schwangerschaftsmonaten wegtherapiert werden könne, im Lemma nur
seltsam dunkel und unkritisch in einer Aufzählung der »Ursachenforschung
zu H« vorkommt: »Endokrinologen (Dörner 1972)« (514). Günter Dörners einschlägiges
Werk Sexualhormonabhängige Gehirndifferenzierung und Sexualität
wird immerhin im Literaturverzeichnis korrekt aufgeführt. [8]
Gunter Schmidt: Alfred C. Kinsey (1894-1956), in: Personenlexikon der
Sexualforschung, hrsg. von V.Sigusch und G.Grau, Frankfurt 2009, S. 357. [9] Das konträre Geschlechtsgefühl von Havelock Ellis und J.A.Symonds. Deutsche Originalausgabe besorgt unter Mitwirkung von Hans Kurella. Leipzig 1896. – Das englische Original Sexual inversion erschien ein Jahr später in London, allerdings auf Drängen der Familie Symonds ohne die von Symonds verfassten Teile. – Vgl. dazu Günter Graus Eintrag »Havelock Ellis« in: Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt & New York 2009, S. 139 ff. [10]
Beispielsweise: Monique Wittig: The Straight Mind. Boston 1992, S. 17
ff.; der dort wiederabgedruckte Aufsatz »One Is Not Born a Woman« erschien
zuerst 1981 in der US-Zeitschrift Feminist Issues. [11]
»Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias
ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen.« (MEW 23, S. 637) [12] Seine wüsteste Zote wagt Engels dem Freund aber nur auf französisch mitzuteilen: »Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul« (MEW 32, S. 324). Das prüde Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED übersetzt: »Krieg den vorderen, Friede den hinteren Leibesöffnungen« (ebd.) – Heines vielleicht frechster einschlägiger Witz geht so: »Was finden Sie in den Gedichten des Grafen von Platen Hallermünde? frug ich jüngst einen solchen Mann. Sitzfleisch! war die Antwort. Sie meinen in Hinsicht der mühsamen, ausgearbeiteten Form? entgegnete ich. Nein, erwiederte jener, Sitzfleisch auch in Betreff des Inhalts.« (Heine: Säkularausgabe, Band 6. Berlin & Paris 1986, S. 125.) [13] Auf der Homepage der Friedrich-Ebert-Stiftung ist Die Neue Zeit komplett als Faksimile-Volltext zugänglich, incl. Bernsteins 1895er Wilde-Aufsätze »Aus Anlaß eines Sensationsprozesses« und »Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs«. [14] Das blieb wohl erst Lenin vorbehalten, der häufig von »Stagnation und Fäulnis« in Kultur und Gesellschaft des Imperialismus spricht, Homosexualität aber niemals erwähnt. [15] Bebels Reichstagsreden sind außer in den Reichstagsprotokollen auch im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Band 1, 1899, S. 272 ff. abgedruckt; der Artikel »Krupp auf Capri« im Vorwärts vom 15.11.1902 und im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Band 5, 1903, S. 1305 ff. |