Manfred Herzer

Historisch-kritische Homosexualität

Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.


Inhalt

Medizinische Neuprägung. 1

»Gleichgeschlechtliche Praxen« vs. »homosexuelle Lebensformen« vs. »Hybridbildungen«. 2

Infragestellung der Differenzierungsachsen. 4

Klaus & Günter 5

Kinseys homophobe Wissensproduktion. Rosa von Praunheim unter Foucaults Einfluss. 6

Revolutionäre Potenziale de Verworfenheit 7

Vorurteile der deutschen Arbeiterbewegung, der DDR und der kommunistischen Parteiinitiativen in Westeuropa  9

Infragestellung der heterosexuellen Matrix. 10

 

Den schwullesbische Eintrag »Ho­mosexualität« im Histo­risch-kritischen Wörterbuch des Mar­xismus haben die beiden Literaturwis­sen­schaftler Gert Mattenklott und Volker Wol­ters­dorff ge­meinsam ver­fasst.[1] Es ist zwar zu begrü­ßen, dass der Eintrag überhaupt zustande kam und der Wör­terbuch-Her­ausgeber Wolfgang Fritz Haug, an die euro­kom­munis­tische Tra­dition der 1970er Jahre an­knüp­fend, die Schwulen- und Lesben­eman­zipa­tion als marxistische For­derung versteht. Sieht man aber die große Zahl von Feh­lern, Irrtümern und Schlud­rig­keiten im histo­risch-kriti­schen Homo­­sexualitäts­lemma, dann liegt die Vermu­tung nahe, hier werde auf subtile Weise (mit den Schwulen muss man es nicht so genau nehmen) diskriminiert.

 

Medizinische Neuprägung

Gleich der erste Satz ist histo­risch falsch und kri­tisch absurd, − historisch falsch, weil »Ho­mo­­se­xu­­a­lität« keineswegs eine medizini­sche, sondern eine emanzipatorische Neuprägung war,  und kritisch absurd, weil die doppelte Ver­wend­­bar­keit des Begriffs – pathologisieren/ kri­minali­sie­ren oder emanzipie­ren – unerwähnt bleibt: »Dem Begriff ›H‹, einer medizinischen Neuprägung von 1869, die dazu diente, eine Bevölkerungs­grup­pe zu patho­lo­gisieren bzw. zu kriminali­sie­ren, ist ei­ne lange Geschichte von Verfolgung und Diskri­minierung eingeschrie­ben.« (510) Tatsächlich war es so, dass der 1824 in Wien gebo­re­ne Journalist Karl Maria Kert­beny 1869 in ei­nem anonym er­schienenen Traktat, in dem er für die kommende preußische Strafrechtsreform Straf­freiheit für da­mals so genannte »wider­natür­liche Unzucht zwi­schen Personen männlichen Ge­­schlech­tes« ver­langte, den Ausdruck erstmals gebrauchte.[2] Etwa zwanzig Jahre nach dem Erst­druck wird das Wort in der me­di­­zi­nischen Fachliteratur verein­zelt ver­wendet (syno­nym mit »Conträre Sexualempfin­dung« und »Pä­derastie«), um, wenn man so will, eine Bevölke­rungs­gruppe zu patho­logisieren: in der zweiten Auflage von Krafft-Ebings Psycho­pathia Sexu­alis (Leipzig 1887) ist einmal von »ho­mosexualer Idiosynkrasie« die Rede, und zwar im autobio­gra­­­fi­schen Bericht eines »con­trär Sexualen von 27 Jahren«. Damit begann die Homo­sexu­a­lität alle älteren und alternati­ven Bezeichnungen zu ver­drän­gen.

Ein weiterer Irrtum unterläuft den bei­den Auto­ren mit ihrer Behaup­tung, der Ausdruck ho­mo­sexuell habe »al­lerdings die Tendenz, v.a. Män­ner zu reprä­sen­tie­ren und lesbische Frauen un­sichtbar zu machen.« (511) Demgegenüber ist darauf hin­zu­weisen, dass der erwähnte Kert­beny von Anfang an »Homosex­u­a­listen« und »Homo­sexualis­tin­nen« im Blick hatte (Kertbe­ny, S. 110 u.ö.) Die drei in den 1860er Jahren entstan­de­nen neuen Be­griffe – Uranismus, conträre Se­xu­­al­empfindung, Ho­­mosexualität – waren ge­wis­ser­maßen über­ge­schlechtlich oder geschlech­ter­unspezifisch ge­meint, während vorher die ho­mo­sexu­ellen Frauen, und nur sie, als Lesbierin­nen, Tribaden, Sapphis­tin­nen u.dergl. bezeich­net wur­den, schwule Män­ner hießen Sodomiter, Päde­ras­ten, Warme oder in Berlin: Schwule usw. Dass in den einschlägigen Schriften von Kertbe­ny und Krafft-Ebing mehr von Män­nern als von Frauen gehandelt wird, erklärt sich mit der The­ma­­tik je­ner Schriften, die straf­rechtliche und forensische Seite der wider­natürlichen Unzucht zwischen Män­nern. Krafft-Ebing weist zwar darauf hin, dass dem »Amor lesbicus« allen­falls in Öster­reich (und in Sachsen) forensische Be­deutung zukommt, aber auch dort sind ihm keine Fälle von strafrechtli­cher Verfol­gung der Lesben be­kannt. In den um die Jahrhun­dert­wende er­schie­nenen monu­mentalen Hand­büchern zur Ho­mo­sexualität von Moll (1.Aufl. 1891) und Hirsch­feld (1.Aufl. 1914) kann von einer Tendenz zur Überrepräsentation schwuler Männer auf Kosten der Lesben schon gar nicht mehr gesprochen werden. Beide Auto­ren betonen zurecht, dass die individuellen Unter­schiede in­ner­halb der Grup­pe der Schwulen wie der Lesben größer sind als die Un­terschiede zwi­schen beiden Grup­pen. Das Merkmal Homo­sexu­a­lität, das sexu­­elle Interesse an Personen des glei­chen Ge­schlechts, ist of­fen­sichtlich der­art ab­strakt, dass daraus keiner­lei wei­tere, irgendwie cha­rak­te­ris­ti­schen Eigen­schaf­ten abge­leitet werden können. Die frühe Se­xualwissenschaft mit den Avantgar­disten Moll und Hirsch­feld zog aus dieser Ein­sicht den rich­ti­gen Schluss, dass vor Spekulati­o­nen und Deduk­ti­onen die konkrete Analyse des konkreten Gegen­standes, die em­pirische Erfor­schung der Le­bens­weisen und der Geschichte der Schwulen und Lesben, zu stehen habe.

 

»Gleichgeschlechtliche Praxen« vs. »homosexuelle Lebensformen« vs. »Hybridbildungen«

Die »dekonstruktivistische Kri­tik zielt«, anders als beispiels­weise eine marxistische, auf Klassen­kampf fixierte Gesell­schaftskritik, auf die Frei­legung »eines Kampfes zwischen unter­schiedli­chen Bezeichnungs- und Organisations­praxen« (510). Dieser Kampf soll das »heutige Verständ­nis« von Ho­mosexua­lität hervorgebracht haben.

Dass hier das »heutige Ver­ständ­nis« im Singular erscheint, ist offensichtlich kein Zufall, denn wie­derholt ist auch von einem einzigen Identitäts­modell (510) und von homosexuellem Begehren die Rede, das sich »zu einer persönlichen Iden­ti­tät« (512) verdichtet. Diese »homo­sexuelle Iden­tität«, die durch »die kapitalistische Revolu­tio­nie­rung der Produktionsver­hält­nisse und der Kultur« (511 f.) irgendwie entstanden sein soll – vielleicht durch die Macht des Wortes Homo­sexualität? – soll aber, frisch entstanden, sogleich »mit den An­forderungen der for­distischen Pro­duk­tions­wei­se kollidieren« (512). Unter Beru­fung auf Antonio Gramsci er­ken­nen die dekons­truktivis­ti­schen Lite­raturwissenschaftler, dass die Durchsetzung von Re­gelmäßigkeit, Ordnung, Hierar­chie und diszi­plinierter Veraus­gabung der Arbeitskraft an den Fließ­bän­dern und in den Kon­toren der Fabrik mittels diverser anti­schwu­ler (und antilesbi­scher?) unterneh­meri­scher und staatlicher Strategien er­folgt, die »eine familiale, ju­ristische und religiöse Einbettung« des »Ar­beits- und Sexualkörpers« in die Produkti­ons­wei­se be­wir­ken soll (512). Das ganze klingt für mei­nen Geschmack ein wenig zu mechanisch-ökono­mis­tisch; ihm scheint die Über­zeugung zu­grun­de zu liegen, als ob die gro­ße Indus­­trie, Gramscis Fordis­­mus, in ihrer korrekten Funktion gefährdet ist, wenn »homo­sexu­elle Iden­­tität und Praxis« um sich greift. Kriminalisie­rung, Pathologisie­rung usw. wären demnach die Ab­wehr­mittel zur Siche­­rung der Produktion gegen homosexuelle Praxis, gegen schwule und lesbische Orgasmen?

Das »kapitalistische Sexualitäts­dispositiv« (512), ein Ausdruck, der von Michel Foucault stam­men soll, scheint für die beiden Autoren der geeignete Gesamt­begriff zur Etikettierung jenes Zusam­men­­­hangs zwischen For­dismus und Homophobie zu sein, der zwar dem Erklärungs­modell nichts Neu­es hinzufügt, der es aber an den zur Zeit he­ge­­mo­nialen Foucaultismus an­schließt. Der stets mehr­heit­lich praktizierte Sex zwi­schen Män­nern und Frauen, soll mithilfe jenes, von Fou­cault nie kapi­talistisch genannten Dispo­sitvs erst­mals als Norm, als heterosexuelle Norm, eta­bliert worden sein. Welche Prak­tiken stattdes­sen in vor­ka­pi­talis­ti­schen Zeiten unter ei­nem »feu­dalen Al­li­anz­dis­posi­tiv« üblich waren, erfah­ren wir nicht. Wo­mög­lich träumen un­sere Dekon­s­truktivisten von ei­nem Engelsschen Zustand, »wo unbe­schränkter Geschlechts­ver­kehr inner­halb eines Stammes herrschte« (MEW 21, S. 38)?

In der Gegenwart, die von einer »hochtechnolo­gi­schen Produkti­onsweise« gekennzeichnet sein soll, ist »die sexuell repressive Disziplinierung der Arbeitskraft weniger wichtig« und es hat ei­ne »Di­ver­sifizierung und Kom­merzialisierung des se­xu­ellen Feldes« stattgefunden, ferner eine »Ent­­­kriminalisierung und -tabuisierung« der Ho­mo­sexu­a­lität (512 f.) Dies alles geschah unter der Ägide des erwähnten Foucaultschen Dispositivs, dem sich bald darauf eine »hetero­se­xu­elle Matrix« (524) zugesellen wird.

Alternativ zu dieser kurzen Ge­schichte der Ho­mo­­­sexualität im historisch-kritischen Wörter­buch könnte man unter Rück­griff auf Gramsci diese Ge­schich­te als einen Prozess kapi­ta­lismus­imma­nen­ter »Rationalisierung« darstellen. Gramsci schrieb:   

»Es ist hervorzuheben, wie die Industriebetriebe (besonders Ford) sich für die sexuellen Be­zie­hun­gen ihrer Arbeiter inte­res­siert haben, und auch ge­ne­rell für die allgemeine Lösung ihrer Famili­en­angelegenheiten; der anscheinende ›Puritanis­mus‹ dieses Interesses (wie im Falle des Prohi­bi­ti­onis­mus) darf nicht irreleiten. Vielmehr kann sich der von der Rationalisierung der Produktion und Ar­beit geforder­te neue Menschentyp nicht ent­wi­ckeln, solange der sexuelle Instinkt nicht entspre­chend re­gu­liert, nicht auch selbst rationalisiert ist.«[3]

Setzt man den Zeitraum zwi­schen 1850 und 1950 mit der Herausbildung von Sexologie und Psycho­ana­lyse als erste Phase der Rationalisie­rung der Sexualität im Kapitalismus, dann könnte man den fol­genden Abschnitt mit der Veröffentli­chung der beiden Kinsey-Re­ports und der Entde­ckung che­mi­­scher Antikonzeptiva als zweite Ra­ti­onalisie­rungsphase deuten. Die zahllosen, seit dem 19. Jahr­­hundert produzierten und einander wider­strei­ten­den Ideo­logien und Theorien zur Homo­sexua­li­tät wären dann als Mo­mente in diesem glo­balen, in je­dem Land von regionaltypischen Wider­sprü­chen und Hemmungs- sowie Rück­schlagsbil­dun­gen gekennzeichneten Rationa­li­sie­rungspro­zess des menschlichen Geschlechts­lebens aufzu­fassen.[4] Einmal ist die Rede von nativen Kulturen Ame­ri­kas, von Surinam und von Indien (510). Dort soll sich eine »Aneignung des Identi­tätsmo­dells der H[omosexualität]« im Zuge der Etablie­rung neo­li­beraler kapitalistischer Arbeits- und Ge­schlechts­verhältnisse sowie des Imports entspre­chen­der Lebensstile vollzogen haben. Anders aber als in den Mutterländern dieses Iden­titätsmodells soll es in Indien und anderswo zu »Hybridbildun­gen« ge­kommen sein, »in die un­ter­schiedliche kul­turel­le Traditionen einflie­ßen« (510). Die An­nah­me eines einzigen »Iden­titäts­modells« im Kapitalismus ist der auffälligste Denkfehler in dieser Behauptung. Denn man braucht keinen besonders genauen Blick auf die Welt der Homo­sexuellen zu werfen, um zu sehen: es gibt nicht nur ein einziges, son­dern ungefähr so viele Identi­tätsmodelle wie Indi­viduen. Und wenn man, wie Mattenklott/Wolters­dorff offensichtlich in Nach­folge des social con­struc­tionism der 1970er Jahre, aus der Vielfalt der schwulen und lesbischen Iden­titäten ein einziges im neoliberalen Kapita­lismus geltendes Modell abstrahieren will, dann ist dies so leer und bestim­mungsarm, dass es zu einer Deskription oder gar Reflexion der Ho­mo­sexualität nicht mehr taugt. Es ver­führt zu ab­sur­den Trugschlüssen, wie dem von den Hybrid­bil­dungen aus unserm Identitätsmodell und tradi­ti­onellen Modellen etwa unter Schwulen in Indien.

Mary McIntosh, die verdienstvolle Schöpferin des Labeling Approach in der Homosexuellenfor­schung, schrieb leider schon in ihrem Klassiker von 1968 missverständlich von einem »modern stere­o­type of the homo­sexual« und der Titel von Ken­neth Plummers nicht weniger klassischem Reader The Making of the Modern Homosexual verleitet ebenfalls zu der Vorstellung von einem alterna­tivlosen irgendwie totalitären kapi­ta­listi­schen Iden­titäts­modell, das zuerst den gleich­ge­schlecht­lich Liebenden bei uns und dann dem Rest der Welt übergestülpt wurde.[5] Wenn man unbedingt von Hybridbildungen sprechen will, dann sollte man der Ich-Identität aller Men­schen auf dem Weltmarkt, allen »vereinzelten Ein­zel­nen« (MEW 13, S.21) ein solches Ding zugeste­hen. Die Hy­brid­bildung bei Mattenklott/ Wol­tersdorff hat einen leicht rassistischen Hautgout, wenn man bedenkt, dass es Mischlinge und reine homo­sexu­elle Identitäten geben soll. Die Hybri­den wären dann vielleicht ein Drittes Geschlecht der Dekonstruktivisten…

 

Infragestellung der Differenzierungsachsen

Weiter hinten, bei der Aufzählung der diversen Sor­ten von »Wissensproduktion« zur Homosexu­a­lität, findet sich, recht isoliert, ein Satz, der im­mer­hin eine Alternative zu dem Gerede von der einen monolithischen Identität der Homosexuellen andeutet; es geht um die »westlichen Gesellschaf­ten« mit ihren »Differenzierungsachsen in den Dis­­kursen um die Herstellung sexueller und affek­tiver Bindungen«: »Die Bedeutung eindeutiger sexueller und geschlechtlicher Identifikation wird in Frage gestellt und folglich auch die Annahme ei­ner homosexuellen Identität.« (515) Datiert wird diese Infragestellung durch westliche Differen­zie­rungsachsen auf »die späten 1980er Jahre«, was ver­mutlich mit den speziellen Geschichtskennt­nis­sen  der historisch-kritischen Autoren zu tun hat. Sie wissen zwar, dass bereits 1926 Magnus Hirsch­feld »physische, psychische und soziale Da­­ten aus vielen hundert Sexualbiographien zu einer wissenschaftlichen ›Geschlechtskunde‹ zu­sam­men[geführt hat]« (516), dass Hirschfeld die­se vielen Biografien in einem Ordnungsschema se­­xueller Zwischenstufen systematisiert hat und dass er daraufhin erkennt, jedes Individuum ist eine einzigartige sexuelle Zwischenstufen, eine un­wie­derholbare Mischung aus männlichen und weib­lichen Eigenschaften – davon wissen sie nichts.

»Der Mensch ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib. Nur ist das Mischungsverhältnis der aus mütterlicher und väterlicher Ahnenreihe ererbten Eigenschaften ein so unendlich mannig­fal­tiges, daß kein Einzelwesen mit einem anderen übereinstimmt, weder im ganzen noch im kleins­ten seiner Teile. Nichts Gleiches gibt es unter der Sonne, nur Ähnliches.«[6]

Diese schöne Feststellung widerspricht keines­wegs der Bildung von Typologien. Hirschfeld kannte zum Beispiel die »Sexualtypen Mann und Weib«, und den Typus Transvestit/Transvestitin hat er selbst erfunden und zuerst beschrieben. Wir Heutigen kennen Tunten, Kesse Väter, Kinder­schände­rIn­nen, Femmes fatales u.v.a.m. Schwie­rig wirds, wenn der moderne Homosexuelle oder die homo­sexuelle Identität oder die moderne He­te­rosexuel­le beschrieben werden soll, denn dabei kommt bestenfalls eine weitgehend leere Abstrak­tion heraus, da nur ein einziges Merkmalisoliert wird, das allen Homosexuellen, ob man sie nun Schwu­le, Lesben, Homophile, Bisexuelle oder sonstwie nennt, miteinander teilen, nämlich das sexuelle Inter­esse an Personen des gleichen Geschlechts. Dies ist die einzige offensichtliche Eigenschaft, die ich mit Individuen wie Röhm, Westerwelle, König Ludwig oder Mattenklott gemeinsam habe. Zwischen unseren Identitäten klaffen unermessliche Abgründe. Die beiden Wörterbuch-Autoren wären gut bera­ten gewe­sen, wenn sie ihre diskursive Differen­zie­rungsachse auf die homosexuelle Identität gerichtet und die einschlägigen Theorien mit etwas mehr Distanz referiert hätten.

 

Klaus & Günter

Der vor allem wegen seiner Psy­chiatriegeschich­te Bürger und Irre (4.Aufl.1998) auch un­ter Laien hochangesehene han­növersche Psychiater Klaus Dör­ner hat 1966 in der Zeit­schrift Studium gene­rale seinen Aufsatz »Homosexualität und Mit­tel­standsgesellschaft. An­sät­ze zu einer Sozio­logie männli­cher Homosexualität« vorge­legt. Matten­klott/Woltersdorff übernehmen daraus Dörners spe­kulative These, nach der »im Be­reich der so­zi­alen Mittelklas­sen« Homosexu­a­li­tät unter Män­­nern besonders häufig ist (513).[7] Die Attraktivität die­ser Behauptung erklärt sich zwiefach:

Sie war Anfang der 1970er Jah­ren in der damals neuen Schwu­lenbewegung öfter zu hören, da das da­mals einflussreiche und noch freu­­domar­xis­tisch inspirierte Freun­des­­paar Danne­cker und Reiche die Dör­nersche These mit den Ergeb­nis­sen seiner Fra­gebo­gen­erhe­bung Der gewöhnliche Homo­sexu­­elle bestätigen zu können glaubte.

Den beiden Wörterbuch-Auto­ren dient die Dör­ner-These da­zu, ihre Überzeugung zu unter­mau­ern, es gebe seit »den 1990er Jahren« eine »wa­ren­för­mige Orga­nisation homosexuel­len Lust­ge­winns«, weil »Homo­sexuelle als Ziel­grup­pe für ›Com­munity‹-bezogenes Mar­ke­ting« von Waren­handelsun­ternehmen erkannt würden und Homo­sexuelle sich be­son­ders gern »die bürgerliche Zirkula­tions­sphä­re« als Aufenthaltsort wäh­len. Begründet wird dies mit ei­nem Katalog von Ei­gen­schaf­ten, die auf nicht näher be­stimmte Weise mit der »homo­se­xu­ellen Identität« zusammen­hängen sollen (513):

− »familienungebundene Flexibilität und Mobilität«

− »Fähigkeit zum Rollenwechsel«

− »institutionelle Bindungslosigkeit«

− »Interessenegoismus«

− »Dissoziation von Arbeits- und Privatsphäre«

Man kann den Wörterbuch-Au­toren gewiss nicht vorwer­fen, dass sie solche unter Schwu­len und vielleicht auch unter Lesben verbreitete Anschau­ungen refe­rieren; der Vorwurf muss dahin gehen, dass ihrem Referat jede kriti­sche Distanz zu sol­chen Selbstbildern gegenwärtiger Schwulenideo­lo­gien fehlt. Ein flüchtiger Blick in den Werbe­an­zeigenteil von Berliner Schwu­len- und Lesben­zeit­­schriften aus den Goldenen Zwanzigerjahren hätte sie be­lehrt, dass es auch damals nichts gratis gab. Der Besuch beim Frisör, beim Schneider, beim Arzt, in der Leihbücherei, in der Buchhand­lung, der Stri­cher­knei­pe, dem Restaurant, dem Ho­tel: alles hatte seinen Preis wie jede andere Ware auch. Der Unterschied zwischen damals und heute ist sicherlich ein quan­titativer, da die sog. Neu­en Medien und die Fort­schrit­te der Wer­be­psychologie die Rekla­me- und Marketing­stra­­tegien der Unternehmen ver­ändert ha­ben. Dass hierdurch neue Qua­li­täten im Kapitalis­mus ent­stan­den sind, wäre noch zu bewei­sen. Die Um­satz­stei­ge­rungen bei schwulen und lesbi­schen Kon­sumentInnen entwi­ckeln sich offensichtlich auch deshalb, weil immer mehr Ho­mo­sexuelle ihre Angst vor dem Outing über­winden und ihr Le­ben als Closet Queens/Kings ändern.

Ein bisschen lächerlich scheint mir die distanzlos wiedergege­bene Meinung eines Michael Pollak von 1986, der diese kapi­talismuskritisch gemein­te Be­schreibung der »›Homo-Szene‹« auf den Sex übertragen wollte: dieser unterliege neuer­dings einer »›freie[n] Marktordnung‹, wo Anbie­ter­sub­jekte Orgasmen tauschen« (513). Wenn man schließlich liest, dass »in fast al­len Kulturen und Epochen […] Formen gleichgeschlecht­licher Sexu­alität« bezeugt sind (519), dann wüsste man gern, wie sich Mattenklott/Woltersdorff dort den Austausch von Orgasmen vorstellen. Vielleicht ist da ir­gend­ein anderes, nicht-kapitalis­tisches Dispositiv im Spiel.

Die vermutlich als Alternative zu klassenanalyti­schen Frage­stellungen gemeinte Ansicht von »be­sondere[r] Häufigkeit« der Homosexualität in den »so­zialen Mittelklassen« (513) wird immer­hin  durch die Erwähnung einer »Hamburger sexual­wis­sen­schaftlichen Schule« er­gänzt, die nicht nä­her bezeich­ne­te Studien »über H bei Arbei­tern« veranstaltet haben soll (514); Bochow soll in einer Un­tersuchung über HIV-Infekti­ons­risi­ken die »Un­­terschicht­schwulen in der BRD der 90er Jahre« erforscht haben; ähnlich George Chauncey, der »proleta­rische homosexuelle Sub­kul­tu­ren« in New York City am Be­ginn des 20. Jahr­hun­­dert ent­deckt haben soll (520). Einen Zu­­sammenhang der Arbeiter, Unterschicht­schwulen und pro­leta­rischen Subkulturen mit ih­rer The­se von den häu­figen Mit­telklasseschwulen in der bürger­lichen Zirkulationssphäre dis­kutieren Mattenklott/Wol­ters­dorff nicht.

 

Kinseys homophobe Wissensproduktion. Rosa von Praunheim unter Foucaults Einfluss

Im 2. Teil der historisch-kriti­schen Homosexua­lität geht es, wie erwähnt, um »die Wissenspro­duk­tion über H«, die durchweg von »ho­mophoben Klischees geleitet« sein soll. Zunächst wird das »Konzept der Homophobie« problematisiert, weil es »von der kategorialen Trennung ho­mo- und heterosexueller Be­dürf­nisse ausgeht« (513). Wenn überhaupt, dann geht be­sag­tes Konzept von dem Sachverhalt aus, das bei Nicht-Homosexuel­len zuweilen das Bedürfnis be­steht Schwule und/oder Lesben zu hassen, zu verfolgen und zu diskriminieren, sowie von dem Bedürfnis der Ho­mosexuellen, nicht gehasst, dis­kriminiert und ver­folgt zu werden. Warum diese kategoriale Tren­nung für Mat­tenklott/Wolters­dorff ein Pro­blem ist, bleibt umso unkla­rer, als sie am Begriff Homo­­sexu­alität bemängeln, dass es »bei weitem nicht alle Praxen gleichge­schlecht­licher Liebe und Lust erfasst« (510). Man wüsste gern, an welche gleich­geschlechtlichen »Praxen« sie dabei ge­dacht haben. Das wird aber genauso wenig geklärt wie die Pro­blema­tik des Homo­phobiekonzepts, die sich angeblich in jener ka­te­gori­alen Bedürfnis­trennung zeigen soll.

Jedenfalls ist die Sexual­wis­sen­schaft homophob und »hetero­normativ«, was immer das be­deuten mag. Die bekanntesten Wissenschaftler, die Ho­mo­sexu­alität heteronormativ bzw. ho­mo­phob beforscht haben, wer­den nun in drei Gruppen präsentiert:

Gruppe 1 umfasst die Herren Krafft-Ebing, Moll und Kinsey. Diese drei sollen dazu bei­ge­tra­gen haben, Homosexualität »in der Sexual­patho­logie heimisch zu machen« (514). Auf die bei­den Erstgenannten mag das zu­treffen, im Fall Kinsey liegt aber ein besonders krasses Fehl­urteil vor, das ungefähr das Ni­veau der Verwechselung von Klaus und Günter Dörner er­reicht. Ich würde nicht so weit gehen wie Gunter Schmidt (von der erwähnten Hamburger Schule), für den Kinsey, wegen seiner strikten Weigerung, das von ihm beobachtete Sexual­ver­halten von Männern und Frauen irgendwelchen medizinischen oder mora­lischen Wertungen oder Identitäten zuzuordnen, »ein früher und naturalistischer Queer-Theoreti­ker« war.[8] Es kann aber kein Zweifel beste­hen, dass Kinsey einen entschei­denden Bei­trag dazu geleistet hat, die Einstellung der wis­sen­schaftli­chen wie der politischen Öffent­lichkeit zur Ho­mosexuali­tät in den kapitalisti­schen Indus­trie­staaten von jedweder Patho­lo­gi­sie­­rung und Kri­minali­sie­rung zu lösen, also gera­de das Ge­­gen­teil von dem, was Mat­ten­klott/Woltersdorff ihm andichten.

Gruppe zwo enthält die Autoren Havellock Ellis, Symonds und Hirschfeld, die »im Interesse […] ei­ner ›liberaleren‹ Patholo­gie […] zugunsten ei­nes Spek­trums von ›Zwischenstufen‹« geforscht haben sollen (514). Der eine, sehr lange Schach­tel­satz, den Mattenklott/Wol­ters­dorff zur Gruppe zwo formu­lie­ren, wimmelt geradezu vor sach­­li­chen Fehlern, worunter die Behaup­tung, die drei hätten für ihr Zwischenstufen-Spek­trum den Aus­druck »psychose­xu­al hermaph­roditism« geprägt, zu den schwerwiegenderen ge­hört. Tatsächlich ist es die eng­lische Übersetzung des von Krafft-Ebing 1891 geprägten Aus­drucks »psychosexuale Hermaphrodisie«, einem Vor­läufer des Ausdrucks »Bisexualität«. − Sexual Inversion, 1896 auf Deutsch erschienen, wurde nicht von dem engli­schen Dichter John Addington Symonds ver­fasst, sondern von Havelock Ellis. Symonds war drei Jahre vorher gestorben, so dass der Plan eines gemeinsamen Buches über Das konträre Ge­schlechts­gefühl (so der Titel des wegen der engli­schen Zensur zuerst in Leipzig erschienenen Wer­kes) nicht verwirklicht werden konnte. Havelock Ellis hat in sein Buch einige Fragmente aus Symonds‘ Nachlass eingefügt und aus Pietät den Namen des toten Freundes hinter seinem eigenen aufs Titelblatt drucken lassen.[9]

Die dritte Gruppe der Wissensproduzenten besteht aus ei­ner Liste von 17 Namen, denen Eigenschaf­ten zugeordnet wer­den: Giese ist existentialphilo­so­phisch gerichtet; Dan­necker/ Reiche sind an­thro­pologisch, kul­turalis­tisch; der militant ho­mo­phobe Psychoanalytiker Charles Socarides erhält eben­falls das Etikett anthropolo­gisch-kulturalis­tisch; Vinnai ist sogar materialistisch usw.

»Vor dem Hintergrund der poli­tischen Emanzi­pa­tionsbewegun­gen« und »unter dem Einfluss der Forschungen Foucaults« soll sich in den 70er Jahren eine »Wen­de« zur Erforschung der »›Ho­mo­phobie‹« in Anfüh­rungs­zeichen vollzogen haben. Vielleicht nicht ganz ernst ge­meint ist die dann folgende Be­hauptung, der »Filme­macher Rosa von Praunheim« habe 1974 mit seinem Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, son­dern die Situation in der er lebt unter dem Einfluss der For­schun­gen Foucaults gestanden (514 f.) Die Vorstellung, Rosa von Praunheim habe je unter irgendeinem Einfluss von Fou­caults Forschungen gestanden, ist so abwegig wie die Datie­rung von Rosas Film auf 1974; er wurde im Februar 1971 auf der Westberliner »Berlinale« im Kino »Arsenal« uraufgeführt.

Nach kurzen und dunklen Aus­führungen zu den Lesben  − »Lesben geraten meist erst im Kontext von Gattungsre­produk­tion und Bevölkerungspoli­tik ins Visier der Wissenschaft« (516)  − folgen ein paar Daten zur Geschichte der Schwulen­be­we­gung. Karl Heinrich Ulrichs wird zwar zu­tref­fend als »Vor­kämpfer« bezeich­net, man wun­dert sich jedoch über die Datie­rung seines Kampfes »für die reichs­einheitliche Straf­freiheit gleichge­schlecht­licher Bezie­hun­gen« auf »1867«. Dies ist ein weiterer schriller Lap­sus, denn ein Reich für diese Straffreiheit gab es 1867 noch nicht und die Straffreiheit für Urninge (nicht für Lesben) for­der­te er seit 1864 in allen Staaten des deutschen Sprachgebietes, die noch nicht wie die König­reiche Württemberg, Bayern und Han­no­ver nach französischem Vorbild ihr Straf­recht mo­der­ni­siert hatten. Ein ähnlicher Un­sinn ist es, wenn Hirsch­felds 1896er Broschüre Sappho und Sokrates eine Aufforderung »zum Zusam­men­­schluss von gleich­geschlechtlichen Minori­täten im Kampf um Bürger­rech­te« enthalten soll (516).

 

Revolutionäre Potenziale de Verworfenheit

Zuzustimmen ist den beiden De­konstruktivis­ten, wenn sie sich über gewisse »homosexuelle In­tel­lektuelle« lustig machen (na­mentlich ge­nannt werden Si­gusch, Hocquenghem und Mie­li), die »in Anknüpfung an die Vorstellung von der eman­zipa­torischen Mission der Arbei­ter­klasse« in den 1970er Jahren verkündeten, Homosexuali­tät »könne auf Grund ihrer Verwor­fenheit revolu­ti­onäre Potenziale ent­falten« und »zur gesell­schaft­­li­chen Befreiung von ge­schlechtlichen Rol­len­zwängen, Lustfeindlich­keit und repres­si­ver So­­zi­a­li­sation durch die bür­gerliche Kleinfamilie bei­tra­gen« (517 f.) Es wirkt wie ein Akt männ­lich-kavaliermäßiger He­r­ablassung, wenn Mat­ten­klott/ Wol­ters­dorff den diesbezügli­chen Extre­mismus der bei Lesben damals sehr populären fran­ko­­ame­rikanischen Autorin Mo­nique Wittig (518) bei der Er­wähnung ihres Na­mens mit Dis­kretion überge­hen. Wittig hatte da­mals eine Revolu­ti­on un­­ter Führung von Femi­nis­tinnen und Lesben prophe­zeit, mittels derer eine neue Ord­nung jen­seits der Kategorie Sex und jen­seits aller Wissen­schaft, die immer nur re­pressiv sei, errich­tet wird.[10] Er­staunt registrie­ren sie le­dig­lich: »Auf­grund der Bezogen­heit der Kate­go­rie ›Frau‹ auf die des ›Mannes‹, die deren hierarchi­sche Unter­ordnung einschließe, geht Monique Wittig sogar so weit zu behaupten: ›Les­ben sind keine Frauen.‹« (518).

Zu der realistischeren Ein­schät­zung der »Ho­­mo­sexuelleneman­zipation« als ein subjek­ti­ves Ele­­ment der Anpassung kultu­rel­ler Stan­dards an die neueste Stufe der kapitalisti­schen Pro­duktiv­kraftentwicklung können sich Matten­klott/Wol­tersdorff jedoch nicht verstehen. Statt­dessen se­hen sie »in der jün­ge­ren Diskussion«, zum Bei­spiel bei Leslie Feinberg, eine Kritik der »›Zwei­geschlechtlichkeit‹« als »Herrschaftskate­gorie« (518). Doch auch Feinbergs Krieg als Trans­­gen­der Warrior müsste meiner Ansicht nach (ähnlich wie die noch immer sich wachsender Be­­­­liebt­heit er­freuende Queer Theory) von his­to­risch-kriti­schen Marxis­tIn­nen als ideologi­sche Reflexe ei­ner Auflösung oder Transforma­tion traditionel­ler Geschlechts­rollen interpretiert werden.

Ohne hierauf einen Gedanken zu verschwenden, schenken Mat­ten­klott & Woltersdorff den schwu­­len und lesbischen Sub­kul­tu­ren sowie deren Bei­trä­gen zur heterosexuellen Hochkultur ihre Auf­merk­samkeit. In dieser Hochkultur, dem »gesam­ten west­lichen Kanon des Bildungs­bür­ger­tums«, entdecken sie über­all die Homosexualität »als Sub­text« irgendwo unterhalb der kanonischen Texte (519). Den Aufstieg vom Subtext zum Text (oder gar Hypertext?) da­tie­ren sie auf eine Tat der »eu­ro­päischen Symbolisten«: die »De­kons­truk­ti­on von ›Natür­lich­keit‹«. Sie soll zu einer Auf­wer­tung der Schwulen, speziell in den Wer­ken von Oscar Wil­de, Thomas Mann und späte­ren geführt haben. Nicht nur weil eine Begrün­dung fehlt, er­scheint diese Datierung willkürlich und belie­big. Es fragt sich, warum der Beginn dieses Prozesses erst bei Wilde und nicht schon mit Balzac, Scho­penhauer oder Whitman begon­nen haben soll, son­dern erst nach der vermeint­li­­chen symbolisti­schen Dekonstruktion.

Homosexualität ist nicht nur Sub­text der Heteros, sie wird auch in der schwulen Subkultur handfest praktiziert. Anders als in den Hoch- soll aber in den Sub­kulturen eine »Sexualisie­rung des Man­nes als Lust-Ob­jekt« stattfinden (520). Ein zwei­tes sub­kul­turelles Allein­stellungs­merkmal soll die nicht-heteronormative »Modellierung des Ge­schlechts­körpers« als »›Androgynie‹ und ›Tra­ves­tie‹« sein. Dass die zahllosen Pippi-Lang­strumpf- und Zarah-Lean­der-Imitationen auf den Tunten­bällen im Schwuz, in Walter­chen’s Bal­l­haus und überall sonst auf der Welt weniger hete­ronormativ sein sollen als Jack Lemmon in Some Like It Hot oder Heinz Rühmann in Char­leys Tante, will nicht recht ein­leuchten. Ich möchte sogar behaup­ten, dass es in den schwulen Sub­kul­turen, abge­sehen davon, dass hier Männer mit Männern Sex ma­chen wollen, nichts gibt, das es nicht auch in heteronormativen Sexkulturen gibt, zum Beispiel eine angeblich »umstrittene« sa­do­ma­sochistische Leder-Szene. Wenn sich Matten­klott/Wol­ters­dorff mit der in Tuntenkreisen oft zu hörende Ansicht identifi­zie­ren, schwule Subkul­turen seien in ihrer »Körper- und Be­wegungskul­tur« irgendwie be­sonders in­no­vativ und vor­bild­­lich für die Frei­zeitgestal­tung von Heterosexuel­len (sie nen­nen »Tanz, Pop­mu­sik und Mo­de« sowie »Täto­wie­run­gen, Pier­cing, Bodybuilding, Schmuck usw.«), dann unter­stel­len sie ein wenig unbedacht, dass es eine schwu­lenspezi­fi­sche künst­leri­sche Kreativität gibt, die den von ihnen so ge­nannten Main­stream mit Trend­idee belie­fert; be­trübt konstatie­ren sie, dass solche Trends, ein­mal in der heterosexuellen Mehr­heitskultur an­­ge­kommen, »meistens ihre ho­mosexuelle Kon­no­tation verlieren« (520). Hätten sie genauer hin­geschaut, dann wäre ihnen wo­mög­lich auf­ge­fal­len, dass es sich bei al­len ihren Beispielen aus­nahms­los um Übernahmen aus hete­rosexuellen Adolezenskulturen handelt. Die Übernahme ging in die entgegengesetzte Rich­tung. So erklärt die Empfänglichkeit vieler Tunten für die Körper­schönheit sportli­cher junger Män­ner ihre Begeis­terung für Body­buildingstudios oder die Nach­ahmung von Kör­per­schmucktechni­ken, die man sich von der heterosexuell do­minier­ten Punk-Subkultur abguckte.

Einen Kulturbereich jedoch, in dem Schwule jahr­zehn­te­lang den schöpferischen Ton anga­ben, die Da­men­oberbeklei­dungs­industrie, wird von Mat­ten­­klott/Woltersdorff mit Schwei­gen über­gan­gen. Dabei wäre der maßgebliche Ein­fluss, den schwu­le Modeschöpfer wie Christian Dior, Gianni Ver­sace, Yves Saint Laurent, Pierre Cardin oder Jean Paul Gaultier zunächst auf die Damenmode der Bour­geoisie, bald aber auch bei den lohnab­hän­­gi­gen Massen über Prêt-à-porter-Unternehmen aus­üb­ten, durchaus erklärungsbe­dürftig. Hier könn­ten möglicherweise die Lieb­lingsvoka­beln der bei­den Subkulturkenner: Gender und Ge­schlechtsidenti­tät von Nutzen sein. Sie verta­gen diese Thematik aber lieber auf eine künftige »um­fassende Analy­se von neoli­beralem Kapita­lis­mus, postmoderner Ästhetik und Minoritäten-Politik« (520).

Am Schluss des Subkultur-Abschnitts gibt es ein Lob für die lesbi­schen Subkulturen, dem aber ebenfalls ein Aroma männ­lich-arroganter Herab­las­sung anhaftet: »Daneben entwickel­ten lesbi­sche Subkulturen v.a. seit den 1970er Jahren eine Kul­tur der Gleichheit (›sameness‹) mit hohen demokratischen Maßstäben.« (521)

 

Vorurteile der deutschen Arbeiterbewegung, der DDR und der kommunistischen Parteiinitiativen in Westeuropa

Der oft zitierte Brief von Engels an Marx, in dem darüber gewit­zelt wird, dass den Päderasten nur noch eine Organisation fehlt, um die Macht im Staat zu erobern, und dass Marx & En­gels glück­li­cher­wei­se zu alt und unattraktiv sind, um nach dem Macht­wechsel zwangsweise anal penetriert zu werden, ver­an­lasst Mattenklott/Wolters­dorff zu der Feststellung, der Brief »unterscheidet sich we­­der im Ton noch im Inhalt von ent­sprechenden Äu­ßerungen poli­ti­scher Gegner« (521). Einen sol­­­­chen Unsinn kann man eigent­lich nur behaup­ten, wenn man keinerlei »entsprechende Äuße­run­­­gen politischer Gegner« aus der Zeit um 1869 zur Kenntnis genommen hat. Mir ist nur ein Text bekannt, der mit Engels‘ Päderasten-Brief in Ton und Inhalt vergleichbar wäre: Hein­rich Heines (ne­ben Engels ein weiterer hetero­nor­ma­tiver Män­­­nerfreund von Karl Marx[11]) Rei­se­bilder II von 1829, in denen er über den anti­semi­tischen und schwulen Dichter Platen spottet. Engels‘ und Heines antischwule Witzelei­en un­ter­scheiden sich aber fundamental von allen um 1850 gegen Päde­rasten oder Ur­ninge gerichteten Polemiken. Wäh­rend letztere verschärfte Ver­fol­gungsmaßnahmen forder­ten und theologisch oder straf­recht­lich be­gründete Verdam­mungsurteile verkündeten, fehlt beides bei Heine und Engels, stattdessen Witz­chen übers Arsch­ficken.[12]

Eine ähnlich haarsträubende Missinterpretation wird leider auch den beiden Aufsätze ange­tan, die Eduard Bernstein 1895 in der Neuen Zeit aus An­lass des Prozesses gegen Oscar Wilde ver­öffent­lich­te.[13] Bernstein soll dort die Ansicht ver­treten ha­ben, Homosexualität »sei ein Symptom der Dekadenz«, sei »bourgeoiser Luxuskonsum« und obendrein sei es »die kapi­talistische Gesell­schaft, die H produziert«. (522) Tatsächlich führt Bern­stein aus, dass die »Mannesliebe« ebenso wie die »weibliche Eigengeschlechts­liebe« »so alt und so verbreitet, auf so verschiedenartigen Kul­tur­stufen anzufinden ist, daß sich von keiner Kultur­stufe der Menschheit mit Sicherheit sa­gen läßt, sie sei von dieser Er­scheinung frei gewe­sen.« Nir­gend­wo behauptet Bernstein, dass die Ho­mosexu­alität von der kapitalistischen Gesell­schaft pro­du­ziert werde oder gar Symp­tom einer Deka­denz sei, wohl aber weiß er, »daß die mo­ra­lischen An­schauungen ge­schichtliche Er­schei­nun­gen sind, die nicht dar­nach sich rich­ten, was etwa im Natur­zustand war, sondern was auf einer ge­gebe­nen Entwicklungs­stufe der Gesellschaft ist, für die das die­ser Ent­sprechende das Normale ist.« Ähnlich abwegig ist Mat­tenklott/Wolters­dorffs Behaup­tung, Bernstein habe Homose­xuali­tät für »ein Symptom der Deka­denz« gehalten. Bernstein spricht an keiner Stelle von De­kadenz der kapi­ta­listischen Ge­sellschaft.[14] Er hält Oscar Wilde für einen »Schüler und Nach­ahmer […] der Deca­dence-Literaten Frankreichs, deren ers­ter bewuß­ter und berühmtester Vertreter Baude­laire war, der Dichter der ›Fleurs du mal‹«. Diese Baude­laire-Epigonen »nennen sich deshalb her­aus­for­dernd Verfallsmenschen − ›Decadents‹«. Bern­stein erkennt demnach sehr wohl, hundert Jah­re vor Mattenklott und sei­nem »Bilderdienst«, dass jene Decadents à la Baudelaire eine ästhe­ti­sche Opposition betreiben und ihre Produktion auf dem kapitalistischen Markt zu Geld machen. Sie sind anders als frü­here Romantiker fasziniert vom »fashionablen« Leben der Groß­stadt: »Der Ver­fallsmensch ist […] ein nicht zu sehr aus der Art geschlagener Abkömmling des Romantikers. Er blickt nicht wie dieser zurück in die Ver­gan­­gen­heit, aber er blickt auch nicht vorwärts in die Zu­kunft, in Bezug auf die er Skeptiker ist. Er sucht die Blume der Roman­tik nicht auf den Ber­gen, im Ge­mäuer verfallener Schlösser, noch in Gemälden der Zukunft, sondern in den fashiona­blen Höhlen der heutigen Weltstadt. Das Raffine­ment des welt­­­städ­ti­schen Lebens thut es ihm an.« Immerhin scheinen Mattenklott/ Wol­tersdorff Bernsteins ei­gent­liche Intention zu ahnen: die Ab­schaffung des deutschen Schwulenstrafrechts. Wenn sie aber da­von erzählen, wie Au­gust Bebel »diese For­de­rung 1898 in den Reichstag« ein­bringt, wird gleich alles wieder falsch und ver­kehrt. Sie be­haup­ten allen Ernstes, Bebel habe den § 175 des Reichs­straf­ge­setzbuches mit dem Argument kri­ti­siert, »dass der Staat Reli­gion und Sittlichkeit zur Sta­bi­­lisierung der Klassen­ver­hältnis­se miss­brau­che« (522). Bebel hat tatsäch­lich nichts derglei­chen im Reichstag gesagt, eben­so wenig wie die SPD bald da­rauf »Krupps schwule Extrava­gan­zen auf Capri als Exempel ›ka­pitalistischen Mag­na­ten­­tums‹« angeprangert hat (522). Bebel hat den § 175 unter ande­rem we­gen der klassenspe­zi­fi­schen Anwen­dung kritisiert: die armen Schwu­len werden be­straft und die rei­chen kön­nen ihren Reichtum nut­zen, um straf­los im Aus­land ihre Be­dürf­nisse mit Prostituierten zu be­frie­­digen. So auch der Vor­wärts in seinem viel­geschol­te­nen Ar­tikel »Krupp auf Capri«: »So lan­­ge Herr Krupp in Deutsch­land lebt, ist er den Straf­bestim­mungen des § 175 ver­fallen. Nach­dem die Perver­sität zu ei­nem öffentli­chen Skan­­dal ge­führt hat, wäre es die Pflicht der Staatsan­waltschaft, sofort einzu­greifen. Vielleicht erwägt man jetzt, um diesen das Rechtsge­fühl ver­letzen­den Wi­der­spruch zwi­schen Gesetz und An­wen­dung des Rechtes zu be­seitigen, die Besei­ti­gung des § 175, der das Las­ter nicht ausrot­tet, aber das Unglück zur furcht­­baren Qual verschärft. Von soci­­al­de­mo­kratischer Seite ist ja im Reichs­tag mehrfach auf eine sol­che Reform gedrun­gen.«[15] Nichtsdesto­we­niger ist es ange­mes­sen, wenn der SPD, der DDR- und der BRD-Regie­rung bei ihren ein­schlägigen Reform­bemühungen »Halb­her­zigkeit« vorge­wor­fen (523) und die Ho­mo­sexu­ellenpolitik in der Sow­jetunion als »zweideutig« gerügt wird (523).

 

Infragestellung der heterosexuellen Matrix

Für uns Ältere erscheint es als hübsche Geste, wenn der Arti­kel Homosexualität mit dem Wen­dung »in Frage stellen« en­det (524). Das weckt Erinne­run­gen an die wilden Jahre der West­­berli­ner von kleinbürgerli­chen Studenten und anar­chis­ti­schen Hippies dominierten Schwu­len­bewe­gung, in deren Rhetorik »in Frage stel­len« eine wichtige Rolle spielte. Infrage gestellt wurde vieles, speziell die bürgerliche Sexualmo­ral, die Kleinfamilie, Zwangshetero­se­xu­alität, traditio­nel­le Ge­schlech­terrollen, Verachtung ef­fe­minier­ter Schwuler, das Schwulenstrafrecht und dergl. Der Ausdruck bot manchen Vor­teil. Da er sinn­ver­wandt sowohl mit ›bezweifeln‹ wie mit ›ge­fähr­­den‹ ist, vermittelte er das Gefühl, als habe man tat­säch­lich die bürgerliche Sexu­almoral be­droht, wenn man einen entspre­chen­den Slogan auf ein Flugblatt schrieb oder im Sprechchor bei einer Stra­ßendemo rief – Radikalität als Wildesche Pose.



[1] Gert Mattenklott & Volker Woltersdorff: Homosexualität, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 6/I: He­ge­monie bis Imperialismus. Hrsg. von Wolf­gang Fritz Haug. Hamburg 2004, Sp. 510-526; im Folgenden be­ziehen sich einge­klam­merte Zahlen auf die Spaltenzählung in diesem Text.
 

[2] Vgl.: Karl Maria Kertbeny: Schriften zur Homosexualitäts­forschung. Hrsg. von Manfred Herzer. Berlin 2000.
 

[3] Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Hrsg. u. übers. von Christian Riechers, mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth. Frankfurt a.M. 1967, S. 389.
 

[4] Eine Skizze dieses Gedankenganges habe ich vorgelegt in: Manfred Herzer: Auf der Su­che nach der kriti­schen Sexua­l­wissen­schaft, in: Capri 41 (September 2008), S. 44 ff.
 

[5] Mary McIntosh: The Homosexual Role, in: Social Problems 16.1968, S. 182-192; der Reader The Making of the Modern Homo­sexual (1981) enthält ein Interview zum Thema, das Jeffrey Weeks und Plummer mit McIntosh führten.
 

[6] Magnus Hirschfeld: Geschlechtskunde, Band 1, 1926, S. 5. – Vgl. dazu: J. Edgar Bauer: Der Tod Adams. Geschichtsphi­lo­sophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulenbewegung, Berlin 1998, S. 15 ff.

[7] Schwer verständlich ist Mattenklott/Wol­tersdorffs Ver­wechselung oder Gleichset­zung des westdeut­schen Psychia­ter Klaus Dörner mit dem ostdeutschen Hor­monfor­scher Günter Dörner. Diese Verwir­rung ist be­son­­ders fatal, weil die bizarren Theorien des Hor­monfor­schers, nach denen Ho­mo­sexualität schon beim Fötus dia­gnos­tiziert und durch entspre­chende Hormon­gaben in den letzten Schwanger­schaftsmona­ten weg­therapiert werden könne, im Lemma nur selt­­sam dunkel und unkritisch in einer Auf­zählung der »Ursachen­for­schung zu H« vor­kommt: »Endo­krinologen (Dörner 1972)« (514). Gün­­ter Dörners ein­­schlä­giges Werk Sexualhor­mon­abhängi­ge Gehirn­diffe­ren­zie­rung und Sexualität wird immerhin im Lite­raturver­zeichnis korrekt aufgeführt.
 

[8] Gunter Schmidt: Alfred C. Kinsey (1894-1956), in: Personen­lexikon der Sexual­for­schung, hrsg. von V.Sigusch und G.Grau, Frankfurt 2009, S. 357.
 

[9] Das konträre Geschlechtsgefühl von Havelock Ellis und J.A.Symonds. Deutsche Originalausgabe besorgt unter Mit­wirkung von Hans Kurella. Leipzig 1896. – Das englische Original Sexual inversion erschien ein Jahr später in London, allerdings auf Drängen der Familie Symonds ohne die von Symonds verfassten Teile. – Vgl. dazu Günter Graus Eintrag »Havelock Ellis« in: Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt & New York 2009, S. 139 ff.

[10] Beispielsweise: Monique Wittig: The Straight Mind. Boston 1992, S. 17 ff.; der dort wiederabgedruckte Aufsatz »One Is Not Born a Woman« erschien zuerst 1981 in der US-Zeitschrift Feminist Issues.
 

[11] »Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen.« (MEW 23, S. 637)
 

[12] Seine wüsteste Zote wagt Engels dem Freund aber nur auf franzö­sisch mitzuteilen: »Guerre aux cons, paix aux trous-de-cul« (MEW 32, S. 324). Das prüde Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED übersetzt: »Krieg den vorde­ren, Friede den hinteren Leibesöffnungen« (ebd.) – Heines vielleicht frechster einschlägiger Witz geht so: »Was finden Sie in den Gedichten des Grafen von Platen Hallermünde? frug ich jüngst einen solchen Mann. Sitzfleisch! war die Ant­wort. Sie meinen in Hinsicht der mühsamen, ausgearbeiteten Form? entgegnete ich. Nein, erwiederte jener, Sitzfleisch auch in Betreff des Inhalts.« (Heine: Säkularausgabe, Band 6. Berlin & Paris 1986, S. 125.)

[13] Auf der Homepage der Friedrich-Ebert-Stiftung ist Die Neue Zeit komplett als Fak­simile-Volltext zugänglich, incl. Bern­steins 1895er Wilde-Aufsätze »Aus Anlaß eines Sensa­tionsprozesses« und »Die Beur­thei­lung des widernormalen Geschlechts­verkehrs«.

[14] Das blieb wohl erst Lenin vorbehalten, der häufig von »Stagnation und Fäulnis« in Kultur und Gesellschaft des Imperialismus spricht, Homosexualität aber niemals erwähnt.

[15] Bebels Reichstagsreden sind außer in den Reichs­tags­protokollen auch im Jahrbuch für sexu­elle Zwischenstufen Band 1, 1899, S. 272 ff. abgedruckt; der Artikel »Krupp auf Capri« im Vorwärts vom 15.11.1902 und im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Band 5, 1903, S. 1305 ff.