Manfred Herzer What the Butler Saw (und was sie sich dabei dachte). 100 Jahre Female Trouble Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.
Match (to Dr Prentice). Have you anything to say, sir? Prentice. Yes. What this young woman claims is a tissue of lies. Sergeant Match scratches his head. . Match (pause). This is a boy, sir. Not a girl. If you’re baffled by the difference it might be as well to approach both with caution. (To Geraldine.) Let’s hear what you’ve got to say for yourself. Geraldine. I came here for a job. On some pretext the doctor got me to remove my clothes. Afterwards he behaved in a strange manner. (Joe Orton: What the Butler Saw. London 1969, S. 52)
Was will das Weib? (Sigmund Freud nach Jones 1962, S. 493)
Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, den Geschlechter-Begriff zu kritisieren, den Judith Butler in ihrem seinerzeit viel beachteten Buch Das Unbehagen der Geschlechter entfaltete. Der Vergleich mit dem Geschlechter-Begriff Magnus Hirschfelds, der erstmals 1896 in seiner Schrift Sappho und Sokrates entwickelt wird, macht deutlich, dass Butler weit hinter das von Hirschfeld erreichte Reflexionsniveau zurückfällt, was vermutlich mit Butlers linguistisch geturntem Idealismus zusammenhängt, den sie mit einer nietzscheanischen Moralkritik verquickt, um »Zwangsheterosexualität« und die Vorstellung von »vordiskursiven Körpern« mittels einem linksliberalen Politikkonzept zu bekämpfen. Schließlich wird eine Neuinterpretation der Hirschfeldschen Lehre von den sexuellen Zwischenstufen aus der Sicht des Historischen Materialismus skizziert. * * * Vor fast zwanzig Jahren, 1990, erschien erstmals Gender Trouble, das Buch der US-amerikanischen Professorin für Rhetorik und Vergleichende Literaturwissenschaften Judith Butler. Im Vorwort zur 1999er Neuausgabe nennt sie ihr Werk treffend »one of the founding texts of queer theory« bezeichnete (Butler 2007, S. VII). Schon ein Jahr nach dem Original konnte man Das Unbehagen der Geschlechter, die deutsche Version von Gender Trouble, als Taschenbuch kaufen.
1. Foucaults Queer Genealogie Die erwähnte Queer Theory könnte man als eine Korrekturbewegung innerhalb der zuvor aufgekommenen Gender Studies ansehen, da eine auffällige Eigentümlichkeit derselben in einer Art Ausklammerung der Sexualität aus der Erforschung der Geschlechtsidentität – eine mögliche Übersetzung von »gender« − bestand. Reiche (2004, S. 115) beschreibt diese, der Queer Theory vorausgehende Bewegung als einen »Siegeszug«: »Gender ist ein selten schönes Beispiel dafür, wie ein Begriff aus einer hochspezialisierten Wissenschaftssprache, in diesem Fall dem Schnittpunkt von Endokrinologie, Genetik und Psychoanalyse, heraustritt, einen Siegeszug durch die Geistes- und Sozialwissenschaften antritt und dort zu einer Hauptmetapher für Wissenschaftspolitik (gender studies) und politische Bewegungen (gender movements) wird. Wo von gender gesprochen wird, wird das sex verdrängt – Verdrängung hier zunächst physikalisch und semantisch und gar nicht psychoanalytisch verstanden.« Die Aufhebung dieses Verdrängungsprozesses scheint nun in der Queer Theory angestrebt (vgl. Hark 1998); und Butlers Buch habe ich als einen nietzscheanisch-foucaultistischen Syntheseversuch von gender & sex gelesen, der sich selbst als »subversiv« und »politisch« versteht. Natürlich kommt es dabei zu interessanten Verwicklungen und Konfusionen, die auch dann nicht aufgelöst werden, wenn Foucaults Ideen zur Macht der Diskurse und zum Machtdispositiv Sexualität am Ende einer behutsamen Kritik unterzogen werden. Zunächst rekapituliert Butler in mehreren Anläufen Foucaults, im ersten Band seiner Sexualität und Wahrheit entwickelte Vorstellung von der Vergeblichkeit sexueller Emanzipation. Für Foucault führt jeder Befreiungsversuch immer nur zu einer Ausweitung der Macht, weil er von dieser Macht als einer Art automatischem Subjekt selbst produziert wurde; so beispielsweise im Kapitel »Das Verbot, die Psychoanalyse und die Produktion der heterosexuellen Matrix«: »An dieser Stelle scheint es angebracht, zu Foucault zurückzukehren, der behauptet, daß Sexualität und Macht stets deckungsgleich sind, und so implizit das Postulat einer subversiven oder emanzipatorischen, vom Gesetz befreiten Sexualität zurückweist […] Dieser normativen Struktur gemäß erfordert die Subversion, Destabilisierung oder Verschiebung eine Sexualität, der es irgendwie gelingt, den hegemonialen sexuellen Verboten zu entgehen. Foucault dagegen betrachtet diese Verbote als ständig und ungewollt produktiv, was gerade bedeutet, daß das ›Subjekt‹ das in und durch diese Verbote begründet und hergestellt werden soll, keinen Zugang zu einer Sexualität hat, die irgendwie ›außerhalb‹, ›vor‹ oder ›nach‹ der Macht selbst liegt.« (Butler 1991, S. 55) Ständig und ungewollt produktiv (»invariably and inadvertently productive«, Butler 2007, S. 40) ist demnach »die Macht«, die man sich wohl als ein mittels der »Diskurse« alles kontrollierendes und beherrschendes Super-Subjekt vorzustellen hat, vor allem auf zweierlei Art: (1) die lebendigen Menschen werden von Anfang an von der Macht in Subjekte, in Unterworfene, verwandelt und dem Gesetz (was ein weiterer Name der Macht ist; ein anderer ist: »Kultur«) unterworfen. Diese Unterwerfung ist aber so total und unentrinnbar, dass sie (2) auch noch alle möglichen Rebellionen, Subversionen, Widerstände u. dergl., die die Subjekte autonom zu veranstalten wähnen, ebenfalls umfasst, so dass alles Aufbegehren und alle Emanzipationskämpfe statt zur Befreiung nur zu einer immer ausweglosere Verstrickung ins Regelwerk der Macht führen. Butler ermittelt zum Zweck ihrer subversiven Analyse der Produktion der binären Geschlechtsidentität zwei Gestalten dieser allmächtigen Macht: Phallogozentrismus und Zwangsheterosexualität (phallogocentrism & compulsory heterosexuality). Sie übernimmt diesen sozusagen konterrevolutionären und fatalistischen Macht-Begriff via Foucault von Nietzsche und damit noch einen anderen Ausdruck, den sie für ihre Untersuchung der Geschlechterbinarität fruchtbar machen will: Genealogie. Dieses Konzept, das Nietzsche seinerzeit zur Überbietung des damals im deutschen Kaiserreich vorherrschenden Historismus erfand und das die folgenden Nietzscheaner als kapitalismusapologetische Alternative zum Historischen Materialismus einsetzten, geht von einer Doktrin aus, nach der die Geschichte die ewige Wiederkehr des Gleichen sein soll, weshalb eine genealogische Untersuchung historischer Phänomene sich auch nur mit einer Art impressionistischer Beschreibung der unendlichen Vielfalt der Machtmanifestationen in der Zeit begnügt. Wie aber kann man unter solchen ideologischen Prämissen hoffen, zur Verwirklichung eines »Emanzipationsideals« (Butler 1991, S. 142) beizutragen und die Macht subversiv angreifen zu können? Die Stichworte hierzu lauten: stören, enthüllen, dezentrieren, lachen: »Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie und die Zwangsheterosexualität stützen? […] So ernst die Medizinalisierung des weiblichen Körpers ist – dieser Begriff ist zugleich lachhaft, und für den Feminismus ist es unbedingt notwendig, über ernste Kategorien zu lachen[1] […] Die grundlegenden Kategorien des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und des Begehrens als Effekt einer spezifischen Machtformation zu enthüllen, erfordert eine Form der kritischen Untersuchung, die Foucault in Anschluß an Nietzsche als ›Genealogie‹ bezeichnet hat […] Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist, sich auf solche definierenden Institutionen: den Phallogozentrismus und die Zwangsheterosexualität zu zentrieren – und sie zu dezentrieren.« (Butler 1991, S. 8 f.) Später, in ihrem 1999er Vorwort, formuliert sie ihr Ziel noch bescheidener: »The aim of the text [Gender Trouble] was to open up the field of possibility for gender without dictating which kinds of possibilities ought to be realized.« (Butler 2007, S. VIII) Zweifellos hat sie ihr Ziel, zu »enthüllen«, dass das Geschlechtsleben bunter und vielfältiger ist, als wir uns das in unseren künsten Träumen vorzustellen wagen, erreicht. Sie will aber doch noch etwas mehr: »The text also sought to undermine any and all efforts to wield a discourse of truth to deligimate minority gendered and sexual practices.« (Butler 2007, S. VIII) Ihr politisches Programm (J.E. Bauer würde hier vermutlich sagen: ihr Messianismus) sieht demnach vor, für ein bisschen mehr Freundlichkeit und Nettigkeit gegenüber den meisten sexuellen Minderheiten in die Welt zu sorgen und die Macht der Hauptwidersacher in dieser Angelegenheit, Phallogozentrismus und Zwangsheterosexualität, subversiv zu unterminieren. Butler wiederholt immer wieder Foucaults Auffassung, dass emanzipatorische Sexualpolitik deshalb illusorisch sei, weil sie von der »Macht« produziert wurde, um diese nur immer weiter zu festigen. (Butler 1991, S. 146 u. ö.) Sie glaubt aber, in einem abgelegeneren Text des Meisters, in seinem Vorwort zu Herculin Barbin, dite Alexina B. von 1978 »ein unausgesprochenes Emanzipationsideal« enthüllen zu können (Butler 1991, S. 142). Butlers Beweisführung ist nur wenig überzeugend, ebenso wenig wie die Kritik, die sie an dem unausgesprochenen Ideal übt: Sie hat den Eindruck, als würde Foucault in der von ihm herausgegebenen und kommentierten Autobiografie des irgendwie transsexuellen, damals, im 19. Jahrhundert, so genannten Hermaphroditen Herculine Barbin indirekt ein romantisches Emanzipationsideal propagieren: »Allem Anschein nach romantisiert Foucault Herculines Welt der Lüste als ›glücklichen Limbus[2] der Nicht-Identität‹, d.h. als eine Welt, die die Kategorien des Sexus und der Identität übersteigt [...] Anders formuliert: Foucault ruft hier die Trope[3] der vordiskursiven, libidinösen Mannigfaltigkeit auf, die im Grunde eine Sexualität ›vor dem Gesetz‹ voraussetzt, eine Sexualität, die nur darauf wartet, von den Fesseln des ›Sexus‹ befreit zu werden.« (Butler 1991, S. 143 & 146) Solche vordiskursiven Mannigfaltigkeiten – das ist eine Generalüberzeugung, die Butler aus Foucaults Schriften übernommen hat – darf es in der Ideenwelt der Diskurse und Mächte natürlich gar nicht geben. Daher kann sie dem Theoretiker nicht verzeihen, dass er auch nur andeutungsweise das Vorhandensein einer vordiskursiven Natur für denkbar hält. Die Annahme einer vordiskursiven materiellen Natur wie etwa die Körper der Menschen ist für Butlers idealistischen Konstruktionismus ganz unakzeptabel, weshalb auch große Teile ihres Buches der Enthüllung von naturalistischen Annahmen bei AutorInnen wie Sigmund Freud, Jacques Lacan, Simone de Beauvoir, Claude Lévi-Strauss, Julia Kristeva und Monique Wittig gewidmet sind. Ihr Urteilsspruch in allen diesen Fällen lautet: Verdinglichung (reification), ein von Hegel entlehnter Ausdruck, den Butler aber mit einer moralisierenden (»politischen«) Nebenbedeutung versieht. Die zugrundeliegende Idee ist durchaus ehrenwert und beinahe ein bisschen kryptomarxistisch: die gesellschaftlichen Verhältnisse (die Neo-Nietzscheanerin spricht hier von Macht & Diskurs) werden von den Menschen im historischen Prozess hergestellt und verändert, erscheinen ihnen aber verdreht als unveränderbare, ewige Naturverhältnisse; Wirtschaftskrisen, Kriege und alle Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse erscheinen als Naturkatastrophen oder Naturereignisse, die sich ereignen wie Regen und Sonne, Seuchen und Erdbeben. Da Butler erkannt hat, dass auch die Geschlechteridentitäten (gender identities) und die damit zusammenhängende Herrschaft der Männer über die Frauen Ergebnisse historischer Kämpfe sind und keinerlei natürliche Ursachen haben, folglich auch in Kämpfen veränderbar sind, sieht sie ihre Aufgabe als Kulturkritikerin darin, die als ewige Naturverhältnisse erscheinenden Geschlechterverhältnisse als historisch gewordene und irgendwie »diskursiv« veränderbare zu kennzeichnen. Dass sie sich damit in einem Widerspruch mit Foucaults Lehren verheddert, scheint sie nicht zu stören. An dieser Stelle ist natürlich eine Abgrenzung vom Marxismus erforderlich, was Butler auf recht originelle Weise gelingt: Marx habe die Aufgabe gestellt, »die kontingenten Akte, die den Schein einer natürlichen Notwendigkeit hervorbringen, zu enthüllen«, was ihn immerhin in den Rang eines Vertreters der »Kulturkritik« erhebt (Butler 1991, S. 61). Friedrich Engels wird nicht ganz so cool behandelt; an seine »Spekulationen« wird die gute Absicht gelobt, »jenen reaktionären Theorien entgegenzutreten, welche die Unterordnung der Frau als natürlich oder universell hinstellen«. Engels sei aber beim Spekulieren von »Scheinvoraussetzungen« ausgegangen und habe »fragwürdige normative Ideale« vertreten, womit alles klar zu sein scheint. (Butler 1991, S. 65) Simone de Beauvoirs nach sechzig Jahren ein wenig veraltetes Wort: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird es« meint wohl ungefähr diesen Sachverhalt, wird aber für Butler zum Anlass der Kritik, weil das Zur-Frau-Werden à la Beauvoir einen Frauenkörper voraussetzt, der gewissermaßen die Naturbasis abgibt, auf der die soziale Konstruktion Frau errichtet wird. Der Einwand, dass die Wahrnehmung und Bezeichnung eines Körpers als männlich oder weiblich immer schon sozial konstruiert ist, dass »die Plausibilität dieser binären Beziehung diskursiv hervorgebracht wird«, scheint so etwas zu sein wie der Kern der Butlerschen »Genealogie der Geschlechter-Ontologie (gender ontology)« (Butler 1991, S. 60). An der gleichen Stelle benennt sie als Subjekt dieses Vorgangs nicht etwa die lebendigen Menschen, es sind für die nietzscheanische Kulturkritikerin stattdessen »bestimmte kulturelle Konfigurationen der Geschlechtsidentität, [die] die Stelle des ›Wirklichen‹ eingenommen haben und durch diese geglückte Selbst-Naturalisierung ihre Hegemonie festigen und ausdehnen« (ebd.) Damit hat Butler – immer im Bemühen, versteckten Naturalismus & Verdinglichung zu enthüllen − noch die letzten Reste materialistischer Annahmen aus Beauvoirs These hinausgesäubert und die handelnden Menschen, die in ihrer gesellschaftlichen Praxis meiner Ansicht nach diese ›kulturellen Konfigurationen‹ produzieren, reproduzieren und schließlich dekonfigurieren, ebenfalls hinausgesäubert. Der ganze kritische Reinigungsprozess heißt dann: »Genealogie der Geschlechter-Ontologie« (ebd.) und wird ein wenig schematisch bei den Texten der oben genannten AutorInnen durchexerziert.
2. Lesbophobe Mütterlichkeit An einem weiteren Beispiel, der Kritik einiger Texte der Psychoanalytikerin und Linguistin Julia Kristevas, möchte ich jetzt die Unzulänglichkeit des Butlerschen Genealogie-Schemas deutlich machen. Butler will herausgefunden haben, dass »das Semiotische« Kristevas »emanzipatorisches Ideal« ist, das manchmal verneint und manchmal bejaht werde (Butler 1991, S. 124). Tatsächlich entwickelt Kristeva den Begriff des Semiotischen, um die erste Phase des Spracherwerbs der Kleinkinder zu beschreiben, die nach dem Freud-Lacanschen Entwicklungsmodell in der präödipalen Phase der symbiotischen Beziehung des Kindes zur Mutter beginnt und mit dem »Spiegelstadium«[4] und der imaginierten Kastration im Ödipus (etwa im zweiten Lebensjahr) in das »Symbolische« übergeht. Das Symbolische steht für: - Loslösung des kindlichen Körpers von der Mutter - Selbstwahrnehmung als identisches Subjekt - Lokalisieren des Lusterlebens in den Genitalien - Unterwerfung unter die symbolische Ordnung, die die Zeichen als Signifikante und die Objekte als Signifikate bezeichnet und so die Sprache als Kommunikationsmedium ermöglicht. (Kristeva 1978, S. 58 u.ö.) Das Semiotische ist dem Symbolischen zeitlich vorgelagert und zugleich als seine notwendige Voraussetzung unauflöslich mit ihm als »rhythmischer Raum«, in dem Sinngebung stattfindet, verbunden. Diese Verbindung ins allgemeine Bewusstsein zu heben, unternehmen in Kristevas Sicht zuerst die avantgardistische Dichtern Stéphane Mallarmé (1842-1898) und Lautréamont (Isidore Ducasse, 1846-1870) – bald darauf Sigmund Freud: »Mit Freuds Entdeckung wurde der Schleier gelüftet, den das 19. Jahrhundert über die Sexualität gebreitet hatte; sie wurde zum Angelpunkt zwischen Sprache und Gesellschaft erklärt, zwischen Trieb und soziosymbolischer Ordnung; Freud ist es zu verdanken, daß die Praxis Lautréamonts und Mallarmés radikalisiert werden und die objektive und gesellschaftliche Bedeutung erlangen konnte, die ihr vorschwebte. Mit anderen Worten: Die poetische Erfahrung am Ausgang des letzten Jahrhunderts, an der Schwelle zu Freuds Entdeckung, bezeichnet einen Durchbruch, der sogleich wieder verschüttet, re-fetischisiert (Apollinaire), ja akademisiert wurde (Valéry). Erst seit und kraft Freud[s Entdeckung] hatte sie eine Zukunft (Joyce, Bataille); erst seit ihr und mit ihr läßt sich die Reichweite dieser Erfahrung ermessen.« (Kristeva 1978, S. 94) Es geht Kristeva demnach um die Erkundung der sexuellen Ursprünge der Sprache, sowohl in der Phylogenese der menschlichen Gattung wie in der Ontogenese des Individuums und zusätzlich um die spezifische Konstellation von Produktivkräften und kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die Entdeckung dieses Zusammenhangs ermöglichten. Eine weitere Umschreibung des Semiotischen: »Mallarmé kennzeichnet diesen der Sprache inhärenten semiotischen Rhythmus, wenn er vom ›Geheimnis in den Buchstaben‹ spricht (Mystère dans les lettres): gleichgültig gegenüber der Sprache, rätselhaft und weiblich, ist dieser dem Schreiben zugrunde liegende Bereich rhythmisch, entfesselt und nicht auf seine intelligible, verbale Übersetzung reduzierbar; er ist musikalisch, geht den Urteilen voraus, und nur eine einzige Gewähr gibt es, die ihn zu mäßigen vermag – die Syntax.« (Kristeva 1978, S. 40 f.) Kristeva erstrebt mit ihrer Unterscheidung des Symbolischen vom Semiotischen also keinen Beitrag zur Psycholinguistik des Kleinkindes oder zur Bewahrung des Semiotischen als »emanzipatorisches Ideal« im von Butler so genannten kulturellen Leben. Vielmehr geht es um die Untersuchung einer konkreten historischen Situation Frankreichs, in der die beiden Revolutionäre der poetischen Sprache, Mallarmé und Lautréamont, ihre Avantgarde-Texte produzierten, gewissermaßen als Ersatz für die gescheiterte soziale Revolution: »Man denke nur an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, an die Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen, der Bauern und Kleinbürger, die infolge der Kapitalakkumulation des bürgerlichen Staates verarmt waren und ihrem Unmut in einer Reihe von Revolten Ausdruck gaben – von 1848 bis hin zur Commune. Ihre ideologische Repräsentation fand diese Unzufriedenheit jedoch lediglich im mystischen Positivismus eines Comte oder Renan, allenfalls in den revolutionären soziologischen Theorien von Marx und den französischen Utopisten und Anarchisten. Der Kapitalismus gesteht dem Subjekt zwar Anspruch auf Revolte zu, wobei er sich auf jeden Fall das Recht ihrer Unterdrückung vorbehält, doch die ideologischen Systeme, die er ihm anbietet, beherrschen, vereinigen, konsolidieren die Revolte und drängen sie in den Spielraum des Subjekts oder des Staates zurück. Sind die objektiven Bedingungen dafür nicht erfüllt, daß sich dieser Spannungszustand in einer Revolution entlädt, so ist das Verwerfen auf die Symbolisierung in Avantgarde-Texten angewiesen wie im ausgehenden 19. Jahrhundert; die verdrängte Wahrheit des aufgesplitterten Subjekts wird dann in ihnen festgemacht.« (Kristeva 1978, S. 207) Es klingt irgendwie allzu queer, wenn Butler behauptet, es gehe Kristeva um die Formulierung eines emanzipatorischen Ideals oder »politischen Programms«, demzufolge das Mütterlich-Semiotische das väterliche Gesetz des Symbolischen zu subvertieren und einen »anderen Kulturtypus« hervorzubringen hätte, was aber an inneren Widersprüchen und Wirrnissen in Kristevas Schriften zum Scheitern verurteilt sei (Butler 1991, S. 132, 136 u.ö.) Kristeva formuliert nirgends irgendwelche ausgedachten Programme zur Emanzipation von Frauen, Müttern, Kindern oder sonst jemanden; sie macht zwar aus ihrer Sympathie für die großen Praktiker und Theoretiker der Revolutionierung des kapitalistischen Ausbeutersystems, Marx, Lenin, Mao Tse-tung nie einen Hehl[5]; sie ist sich aber darüber im Klaren, dass sie mit ihrer Praxis als Psychoanalytikerin und Sprachwissenschaftlerin einen eher kümmerlichen Beitrag zur Aufhellung der Bedingungen leisten kann, die »Lusterleben und Revolution« ermöglichen (Kristeva 1978, S. 31) Der Vorwurf, den Butler gegen Kristeva erhebt, zielt nicht darauf, dass sie nicht den gleichen Hausgöttern wie Butler (Nietzsche und Foucault) huldigt, sondern die Herren Hegel, Marx, Lenin, Mao und Freud verehrt; es geht vielmehr gegen Kristevas vermeintliche Homophobie oder genauer ihre Lesbophobie, die Butler in Kristevas Aufsatz Maternité selon Giovanni Bellini von 1975entdeckt haben will. Butler behauptet, Kristeva bezeichne dort – allerdings »nicht explizit« − weibliche »Homosexualität als eine kulturell unintelligible Praxis und als zuinnerst psychotisch; andererseits ruft sie die Mutterschaft als zwanghafte Abwehr gegen das libidinöse Chaos auf.« (Butler 1991, S. 132) Und noch einmal gegen die »nicht explizit« lesbophobe Sprachwissenschaftlerin: »Indem Kristeva das Lesbische als ›Anderes‹ der Kultur und die lesbische Rede als psychotischen ›Wort-Taumel‹ kennzeichnet, konstruiert sie die lesbische Sexualität als wesenhaft unintelligibel« (Ebd., S. 133) Ähnlich wie Kristeva nirgendwo ihre angeblichen Thesen von den notwendig psychotischen Lesben vertritt, weder im- noch explizit, erläutert auch Butler nie, in welcher Bedeutung sie eines ihrer Lieblingsbegriffspaare einsetzt: intelligibel/unintelligibel. Schaut man sich die Kontexte an, in denen eines der beiden erscheint, dann kann es eigentlich nur im Sinne von gut/böse gemeint sein mit der Nebenbedeutung, dass das »Gesetz des Vaters« mehr noch als die praktische Moral die väterliche Regelung von vernünftigem Denken und Sprechen bestimmt. Lesben sollen für Kristeva, wenigstens in ihrem Aufsatz über die Semiotik der Inzestfantasien in den Madonnenbildern des venezianischen Malers Bellini, zuinnerst psychotisch und wesenhaft unintelligibel sein: »Kristeva zufolge führt die unmittelbare Besetzung des weiblichen homosexuellen Begehrens unmißverständlich zur Psychose.« (Ebd., S. 132) Butler belegt die explizite These von den psychotischen Lesben mit drei Zitaten aus Kristevas Bellini-Aufsatz und scheitert dabei komplett.[6] Ihr Problem ist, dass Kristeva an keiner Stelle in den von Butler herangezogenen Texte praktizierte Erwachsenenhomosexualität thematisiert. An den von Butler inkriminierten Stellen geht es allein um Vorgänge im Unbewussten von Gebärenden, die Wiederbelebung von Inzestfantasien aus der eigenen frühen Kindheit während und unittelbar nach der Niederkunft − sowohl mit der eigenen Mutter als auch mit dem eigenen Vater. Dabei sind die gleichgeschlechtlichen Inzestfantasien dem Semiotischen, der präödipalen Entwicklungsstufe näher als die gegengeschlechtlichen mit dem Vater, die dem Sybolischen, dem Spracherwerb und der Ich-Identitätsbildung nahestehen. In diesen Gedanken Kristevas hineinzulesen, das damit »der Homosexualität« die Fähigkeit zu einem »nicht-psychotischen gesellschaftlichen Ausdruck« abgesprochen werde, kommt mir irgendwie unintelligibel vor: statt einer Textinterpretation eine Fälschung. Für Butler ist offensichtlich das größte Ärgernis, dass Kristeva eine schwer zu bestreitende Tatsache überhaupt thematisiert: alle Menschen werden von einer Mutter geboren, leben mit ihren Müttern anfangs in einer symbioseartigen Beziehung und bewahren das Gedächtnis der Erlebnisse und Fantasien dieser Frühzeit in ihrem Unbewussten. Da Butler sich eine »vordiskursive« Naturbasis des menschlichen Lebens, die erwähnten schwer zu bestreitenden Tatsachen, nicht vorstellen mag, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die MaterialistInnen, die dies dennoch tun, als Handlanger der Verdinglichung zu denunzieren, die »die Institution Mutterschaft als Zwangssystem für die Frauen« verschleiern und als unabänderlich rechtfertigen (Butler 1991, S. 140 f.) Eine Begründung für die Ansicht vom Systemzwang zur Mutterschaft hält Butler für überflüssig. In unseren fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften, die legalisierte Abtreibung und chemische Antikonzeptiva für die Gebärfähigen ohneweiteres verfügbar halten, dürfte eine solche Begründung auch einigermaßen kompliziert ausfallen.
3. Lesbischer Materialismus & Totalitarismusverdacht Das Geschlecht eines Menschen steht für Butler nicht von Anfang an fest, sondern wird von einem Diskurs (der Erwachsenen?) über das Neugeborene erzeugt. Der Diskurs markiert die Geschlechtsidentitäten der Körper und verleiht ihnen zugleich die Eigenschaft des Menschlichen: »Ein Kind wird in dem Augenblick zum menschlichen Wesen, wenn die Frage: ›Ist es ein Junge oder ein Mädchen?‹ beantwortet ist.« (Butler 1991, S. 165 f.) In Übereinstimmung mit den Ansichten der französischen Schriftstellerin Monique Wittig (1935-2003) will sie damit de Beauvoirs quasi rollentheoretische These der gesellschaftlichen Produktion der Geschlechterrollen überbieten, denn gender ist viel mehr als Geschlechterrolle. Gender ist ein Effekt der nietzscheanischen Macht, deren Wahrheit in ihrer allumfassenden Produktion von Diskursen und Gegendiskursen besteht und eine vordiskursive Realität ausschließt, jedenfalls aus den Köpfen derer ausschließt, die an sie glauben: »Die Sprache gewinnt ihre Macht, das ›gesellschaftlich Reale‹ zu schaffen, durch die lokutionären Akte [=Sprechakte, die Realität bezeichnen] der sprechenden Subjekte.« (Butler 1991, S. 171) Butler macht aus ihrer warmen Sympathie für die lesbischen Kampfschriften von Monique Wittig keinen Hehl, übt aber heftigste Kritik an einigen besonders schrägen Doktrinen Wittigs zur Macht des Wortes. Einiges davon, das Wittig dem Butlerschen Totalitalrismusverdacht aussetzt (Butler 1991, S. 175), sei hier kurz resümiert[7]: Die kommunistischen Parteien und Bewegungen haben bisher verhindert, dass die Frauen sich als eine Klasse an und für sich wahrnehmen und organisieren. Wenn die Frauen dies jetzt endlich tun, dann können sie in einem revolutionären Klassenkampf gegen die Männer eine neue Ordnung ohne die Spaltung der Gesellschaft in herrschende Männer und unterdrückte Frauen errichten. Revolution und neue Ordnung unterscheiden sich aber grundlegend von allen früheren von Männern gemachten, denn die Revolution der Feministinnen und Lesben findet nicht auf der Straße, sondern in der Sprache statt. Wittigs Poesien, ihre Romane und Theaterstücke, sollen dazu einen Beitrag leisten; es sieht so aus, als ob hier eine (vielleicht nur als Nonsense-Satire gemeinte) Missinterpretation von Kristevas Die Revolution der poetischen Sprache ausprobiert wird. Butler lehnt zwar die in Wittigs Schriften propagierte politische Strategie rundweg ab, weil sie sie für problematisch hält (zu einem »problematischen Humanismus« und einer »problematischen Metaphysik« zurückführend, S. 184). Andererseits freut sich Butler über ihre offensichtlich zutreffende Entdeckung, dass sich die selbsternannte Materialistin Wittig »als klassische Idealistin« erweist (S. 185), deren politische Ziele an liberalistischer Harmlosigkeit dem Subversions-Ideal Butlers ebenbürtig ist: »Ihr [Wittigs] Ziel ist, die Idee des natürlichen Körpers als Konstruktion zu entlarven und ein Ensemble von dekonstruktiven/ rekonstruktiven Strategien zur Konfiguration der Körper anzubieten, die die Macht der Heterosexualität anfechten.« (Ebd.) Und eine solche Anfechtung ist auch Butlers erklärtes Ziel, das sie unter der Rubrik »gegen Zwangsheterosexualität« und »für Vervielfältigung der möglichen Geschlechtsidentitäten (many genders)« abhandelt. In der guten alten Zeit der 1970er Jahre war, wenigstens in der Westberliner Schwulenbewegung, dieses mehr oder weniger amüsante Vervielfältigungs-Spiel mit dem aus New York City importierten Namen Genderfucking[8] zeitweise recht beliebt. Das war damals die schwulenbewegte Antwort der Dennewitzstraße auf die traditionellen Tuntenbälle (Ball der Freunde) in »Walterchens Ballhaus« am Bülowbogen und die noch traditionsbetonteren Transvestitenrevuen im »Chez nous« in der Marburger Straße. Viele der damals Schwulenbewegten glaubten ähnlich wie Butler einige Jahrzehnte später, dass ihr transvestitisches Freizeitvergnügen subversiv sei, einige behaupteten sogar, Genderfucking sei ein fundamentaler Angriff auf die »bürgerliche Sexualmoral« (zur Kritik dieser Illusion vgl. Graf/Steglitz 1974)
4. Kapitalismus und Schizophrenie I. Many Sexes Butler wie auch der Wittig-Kommentator J.E. Bauer zitieren eine Stelle bei Wittig, in der es auf den ersten Blick so aussieht, als würde sie wie aus einem somnambulen Dämmerzustand heraus die ihr gewiss unbekannte Lehre von den sexuellen Zwischenstufen Magnus Hirschfelds aufrufen: »For us there are, it seems, not one or two sexes but many (cf. Guattari/Deleuze), as many sexes as there are individuals.«[9] (Wittig 1979, S.119) Butler weist diese Vorstellung vom einzigartigen Geschlecht jedes Individuums strikt zurück, weil sie »mit logischer Notwendigkeit« glaubt, diese »schrankenlose Vervielfältigung« führe »zur Negierung des Geschlechts als solchem«: »Das Geschlecht eines Individuums wäre eine radikal einzigartige Eigenschaft, die nicht mehr als sinnvolle, deskriptive Verallgemeinerung fungieren könnte« (Butler 1991, S. 176). Butler begründet nicht, warum sie diesen Funktionsverlust fürchtet und welche sinnvollen Verallgemeinerungen ihr bei Wegfall des Geschlechts nicht mehr möglich sein würden. Ich verdanke J.E.Bauer den Hinweis auf die Bedeutung des im obigen Zitat eingeklammerten »cf. Guattari/Deleuze«: Es handelt sich um eine Stelle aus dem Buch Capitalisme et schizophrénie 1: L’Anti-Œdipe der beiden Autoren Gilles Deleuze und Félix Guattari (Paris 1972), sie findet sich in der deutschen Ausgabe im 3. Kapitel »Einführung in die Schizo-Analyse« auf der Seite 381 und hat nach meinem Verständnis einen völlig andern Sinn als den, den Wittig dort hineinlegt. Es geht darin um eine Charakterisierung des Unbewussten in einer Schicht, die ein wenig Kristevas präödipalem Semiotischem ähnelt. Für Deleuze und seinem Partner gibt es dort aber nicht soviele Geschlechter wie Individuen, sondern auch nur, wie im wirklichen Leben Männer & Frauen. Sie sollen »anthropomorphe Repräsentationen« sein, die die unbewusste »Wunschproduktion« vervielfältigt, »hunderttausend Mal«: »[…] aus dem Unbewußten aufgestiegene Vorstellung! […] überall eine mikroskopische Trans-Sexualität, die bewirkt, daß die Frau ebenso viele Männer umfaßt wie ein Mann, und der Mann ebenso viele Frauen, die alle in der Lage sind, miteinander in Verhältnisse der Wunschproduktion einzutreten, die die statistische Ordnung der Geschlechter umstürzt. Sich zu lieben heißt nicht, es nur einmal, oder selbst zweimal, sondern hunderttausendmal zu treiben. So sind die Wunschmaschinen, ist das unmenschliche Geschlecht also nicht ein, nicht zwei, sondern n… Geschlechter. Die Schizo-Analyse ist die wechselseitige Analyse dieser n… Geschlechter in einem Subjekt [!], jenseits der anthropomorphen Repräsentation, die die Gesellschaft ihm aufzwingt […] Die schizo-analytische Formel der Wunschrevolution wird zu allem Anfang sein: Jedem seine Geschlechter!« (Deleuze/Guattari 1974, S. 381) Wittig versucht also vergeblich, sich in ihrer Vision (Bauer 2006, S. 28 spricht von »utopia«) − jedem Individuum sein eigenes Geschlecht − bei Deleuze & Guattari, zwei Superstars der Literatenszene der 1970er Jahre[10], rückzuversichern. Das ist auch eher bedeutungslos, denn in Wittigs literarischem Assoziationsstrom wird stellenweise ein allgemeinmenschliches Emanzipationsprogramm angedeutet, das Bauer (2006, S. 23) recht treffend charakterisiert als »libertarian thrust toward the concrete realization of universal humanness«, wobei wir immerhin bei den Idealen von 1789 angekommen wären. Dieser »libertarian thrust« scheint mir ein sympathischer Unterschied zu sein zwischen Wittigs Ansichten einerseits und den doch immer verstohlen mit der Macht einer Nietzscheschen selbstbefreiten Herrenrasse jenseits aller Sklavenmoral liebäugelnden »postmodernen« Autoren Foucault, Deleuze, Guatteri u.v.a.m., und leider auch unserer Judith Butler. Die zahllosen Männer und Frauen in jedem von uns haben sich Deleuze und Guatterie nicht selbst ausgedacht. Da beide Nietzsche ähnlich glühend verehren wie Butler dies tut, konnten sie bei ihm ihren schizo-analytischen Einfall vorgefertigt übernehmen. In der Ausgabe des Nazi-Philosophen Alfred Baeumler liest sich das so: »Das Ich ist nicht die Stellung eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken usw.), sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt hinsieht.« (Nietzsche 1931, S. 137) Baeumler datiert diese Stelle auf etwa 1873 und seither erfreute sich die Vorstellung ›Ich ist nicht ein anderer, sondern viele‹ besonders bei den Dichtern zunehmender Beliebtheit. Obwohl Marcel Proust nie Nietzsche rezipiert hat (wohl aber ähnlich reaktionären Anschauungen anhing wie Nietzsche), gibt es in seinem zwischen 1913 und 1927 erschienem Roman À la recherche du temps perdu. ebenfalls eine Vielfalt von Ichs in jedem Individuum. In Prousts Roman gibt es zwar auch nur zwei Geschlechter, und die vielen Schwulen und Lesben, die darin vorkommen, muss man sich vielleicht als zusammengesetzt aus einer Männer- und einer Frauenhälfte vorstellen: einmal nennt Proust sie »hommes-femmes« (Proust 1993, S. 7). Was er damit meinen könnte, wird nicht erklärt. Proust erklärt auch nicht, wie er sich das vorstellt: die zahllosen Ichs, aus denen wir bestehen. Er erwähnt diesen Gedanken aber zahllose Male in seinem siebenbändigen Roman, zum Beispiel dort, wo der Protagonist darüber sinniert, dass seine Geliebte, Albertine, ihn verlassen hat: »Ach! Noch nie, seit Albertine fort war, hatte ich mich dorthin gesetzt. Daher konnte ich auch nicht sitzen bleiben und erhob mich; und so stellte sich jeden Augenblick eines der zahllosen Ichs ein, aus denen wir bestehen und die sich bescheiden zurückhalten, ein Ich, das noch nichts davon wußte, daß Albertine gegangen war, und dem ich es erst mitteilen mußte; ich war gezwungen – was grausam schien, als wenn sie Fremde gewesen wären, die nicht meine eigene Leidensfähigkeit besaßen − , das widerfahrene Unglück allen diesen Wesen, allen diesen Ichs zu berichten, denen es noch unbekannt war; jedes von ihnen mußte ein erstesmal die Worte vernehmen: […] ›Albertine ist fort‹.« (Proust 2001, S. 24 f.) Wir alle sind demnach für Nietzsche, Proust, Deleuze und Guattari irgendwie multiple Persönlichkeiten, bei denen zwischen Nietzsche und den Späteren strittig ist, ob es sich dabei um Frauen und Männer handelt oder um bloße Monosexualität. Niklas Luhmann behauptet wohl zurecht, die Idee des aus einer Mehrheit von Ichs oder Selbsts zusammengesetzten Individuums sei »gegen Ende des 19. Jahrhunderts« aufgekommen: »Alle copieren, alle richten sich nach der Mode. Und es gehört schon verzweifelter Mut dazu, für den Künstler eine Ausnahme zu reklamieren. Mit einem Fuß steht auch er auf den variablen, kontingenten, modischen Grundlagen der Modernität; nur mit dem anderen berührt er das Absolute. Hierin deutet sich schon an, was wenig später ›wissenschaftliches‹ (psychiatrisches, sozialpsychologisches, soziologisches) Normalrezept werden wird: sich in mehrere Selbsts, mehrere Identitäten, mehrere Persönlichkeiten zu zerlegen, um der Mehrheit sozialer Umwelten und den Unterschiedlichkeiten der Anforderungen gerecht werden zu können. Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert.« (Luhmann 1981, S. 220 & 223)
5. »Wissenschaftliche Mythen« bei Freud und Hirschfeld Magnus Hirschfeld und Sigmund Freud erzählen je einen, von Freud so genannten »wissenschaftlichen Mythus« (Freud 1967, S. 74) über den »sozialen Urzustand des Menschen«, um ihre jeweiligen Konzepte der geschlechtlichen Vielfalt (Hirschfeld) resp. des Ursprungs von Religionen, Künsten und Moralen (Freud) zu verdeutlichen. Bei aller Verschiedenheit beider Erzählungen teilen sie doch mindestens zwei Vorlieben: Beide sehen eine ursprüngliche Bisexualität des Menschen und beide beziehen sich auf Ideen Darwins, die sie für ihre Zwecke uminterpretieren. (a) Freud: In seiner Studie Totem und Tabu von 1913, in der er Ergebnisse ethnologischer Forschungen mit der damaligen Einsicht der Psychoanalyse parallelisiert, dass der Ödipus-Komplex »den Kern aller Neurosen bildet« (Freud 2000, S. 212), erzählt Freud von der »Darwinschen Urhorde« (ebd., S. 179), die er sich als heterosexuell-patriarchalischen Verband denkt, den ein »gewaltätige[r] Urvater« (ebd. S. 196) beherrscht. Dieser Urvater hat für sich das Monopol des Geschlechtsverkehrs mit allen Frauen der Urhorde durchgesetzt und damit die jüngeren Männer zur heterosexuellen Enthaltsamkeit und zu »homosexuellen Gefühlen und Betätigungen« (ebd. S. 198) miteinander gezwungen. Dieser Zustand ist für die jungen Heterosexuellen unhaltbar: »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich gewesen wäre.« (Ebd. S. 196) Im vorliegenden Zusammenhang ist vor allem interessant, dass die Annahme einer ursprünglichen Bisexualität hier nur als Not-Homosexualität der Brüder vorkommt und dass es für Freud nur um die Naturalisierung und Verewigung dessen ging, was man mit Judith Butler »Zwangsheterosexualität« nennen könnte. Im ersten Kapitel von Totem und Tabu sieht es so aus, als würde Freud seinen wissenschaftlichen Mythus von der Ermordung des Vater-Despoten durch die not-homosexuelle Brüderhorde gleichsam nach hinten in eine noch fernere Vergangenheit erweitern, indem er die von einigen totemistisch organisierten Völkern praktizierte »Gruppenehe« erwähnt, »deren Wesen darin besteht, daß eine gewisse Anzahl von Männern eheliche Rechte über eine gewisse Anzahl von Frauen ausübt.« (Freud 2000, S. 53) Überhaupt setzen die von Freud gewählten Beispiele mythischer Heterosexualität eine Stufe der Naturerkenntnis oder Produktivkraftentwicklung voraus, auf der die Kausalität von Zeugung und Geburt bereits bekannt ist. Freud erwähnt zwar kurz das Beispiel des australischen Arunta-Volkes (»Menschen, die noch nicht erkannt hatten, daß die Empfängnis die Folge des Geschlechtsverkehrs sei«, Freud 2000, S. 167), stellt aber keine Überlegungen darüber an, wie sich dieses Nicht-Wissen auf die Sexualitäts- und Herrschaftsverhältnisse bei den Arunta auswirkt. Ihn interessiert allein die Frage nach der Onto- und Phylogenese heterosexueller Männer und Frauen. Der orthodox freudianische Psychoanalytiker Reimut Reiche weist dann auch zutreffend in seiner Butler-Kritik mit einiger Selbstironie darauf hin, dass die Psychoanalyse bisher auf folgende Enthüllung spezialisiert gewesen sei: »Die verschiedenen psychoanalytischen Abfallbewegungen und die Utopisten [seien] mit den Perversen darin vereint […], dass sie in ihrer unbewussten Dynamik den Geschlechtsunterschied leugnen« (Reiche 2004, S. 134). Und er fügt hinzu: »Der radikale geschlechtskonstruktivistische Diskurs unterläuft diese Enthüllung, indem er den Geschlechtsunterschied bewusst verneint und gerade diese Verneinung zu seinem eigenen Differenzschema erklärt, mit dem er sich von den anderen Wissenschaften unterscheidet. Als tendenziell unnormal, nämlich als chauvinistisch, altmodisch oder pseudoreligiös erscheint dann, wer immer noch an die Körpergebundenheit von Geschlechtsunterschieden glaubt.« (Ebd.) (b) Hirschfeld: In seiner kleinen, fast zwei Jahrzehnte vor Totem und Tabu erschienenen Schrift Sappho und Sokrates erzählt Magnus Hirschfeld zur Einleitung in seine Lehre von den sexuellen Zwischenstufen ebenfalls einen »wissenschaftlichen Mythus« aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte: »Wenn wir davon ausgehen, woran ein Zweifel naturwissenschaftlich nicht möglich ist, daß die Anlage jedes Individuums eine zwitterhafte ist und der seelische Drang ursprünglich beide Geschlechter in gleicher Stärke umfaßte, so ist es wohl wahrscheinlich, daß die Absicht sich fortzupflanzen, sich der Kinder zu erfreuen, die Menschen bewogen hat, die Liebe zum andern Geschlecht zu bethätigen, entsprechend der durch göttliche Autorität verstärkten Suggestion: ›seid fruchtbar und mehret Euch‹. Nach dem Darwin’ schen Grundsatz von dem Siege des Zweckmäßigen – survival of the fittest − erstarkte die fleißig geübte Anlage – Uebung macht den Meister – und befestigte sich immer tiefer durch tausendjährige Vererbung, während der mit gutem Recht vernachlässigte Trieb zum eigenen Geschlecht verkümmerte« (Hirschfeld 1896, S. 15) Hirschfeld stellt sich hier offensichtlich vor, wie in einer Epoche der Menschheitsgeschichte, die noch lange vor der von Freud imaginierten vatermordenden Brüderhorde liegt, die Menschen paritätisch homo- und heterosexuelle Praktiken pflogen und nach der Erkenntnis, dass Heterosexuelles die Produktion von Nachkommen ermöglicht, diesem den Vorzug gaben und den Trieb zum eigenen Geschlecht wegen fehlender Übung verkümmern ließen. Diese »Genealogie« des Primats der Heterosexualität trägt zwar recht skurrile Züge, immerhin aber versucht Hirschfeld hier, ein Phänomen entwicklungsgeschichtlich zu erklären, das seine Zeitgenossen normalerweise als individuelle Krankheit oder persönliches Laster klassifizierten. Zudem nimmt Hirschfeld die naturwissenschaftlich nicht zu bezweifelnde zwitterhafte Anlage jedes Individuums zum Ausgangspunkt für ein folgenreiches Nachdenken über Männer und Frauen: zur ersten Formulierung seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen, die nicht nur Butlers hundert Jahre spätere linguistisch-idealistische Vorstellung von diskursiven gender identities vorwegnimmt, sondern auch jene Sichtweise auf Mann und Frau begründet, die in Monique Wittigs Vision der unendlich vielen Geschlechter angedeutet wird. Ausgehend von der Feststellung: »in der Ur-Anlage sind alle Menschen körperlich und seelisch Zwitter« (Hirschfeld 1896, S. 9 f.), gelangt Hirschfeld bald darauf zu folgender die Erwachsenen betreffende Einsicht: »So sehen wir, dass die Behauptung, sämtliche Geschlechtsunterschiede seien nur Gradunterschiede, ›bis aufs Haar‹ stimmt […], alles, was das Weib besitzt, hat, wenn auch in noch so kleinen Resten der Mann ebenfalls und ebenso sind bei jedem Weibe Spuren aller männlicher Eigentümlichkeiten nachzuweisen.« (Hirschfeld 1899, S. 15) Die radikalste Formulierung dieser Sicht auf Mann und Frau gelingt ihm erst 1905, als er schreibt: »Sehr streng wissenschaftlich genommen dürfte man in diesem Sinne gar nicht von Mann und Weib sprechen, sondern nur von Menschen, die größtenteils männlich oder größtenteils weiblich sind.« (Hirschfeld 1905, S.4) In diesem Sinne kann man sagen, Hirschfeld eröffnet die Möglichkeit einer Perspektive, die ein neuartiges individualistisches Bild des Menschen und seiner Geschlechtlichkeit zeigt: »Der Mensch ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib. Nur ist das Mischungsverhältnis der aus mütterlicher und väterlicher Ahnenreihe ererbten Eigenschaften ein so unendlich mannigfaltiges, daß kein Einzelwesen mit einem anderen übereinstimmt, weder im ganzen noch im kleinsten seiner Teile. Nichts Gleiches gibt es unter der Sonne, nur Ähnliches.« (Hirschfeld 1926, S. 5) Diese extrem individualistische Sicht steht für Hirschfeld jedoch nicht in Widerspruch zu einer Typenklassifikation, die die »Sexualtypen Mann und Weib« annimmt und von der biologischen Tatsache der Mutterschaft und Vaterschaft ausgeht: »Nichts wäre nun allerdings verfehlter […], als wenn man sich auf den Standpunkt stellen würde, daß es eigentliche Geschlechtsunterschiede überhaupt nicht gäbe, die beiden Geschlechter seien nicht nur gleichwertig und gleichberechtigt, sondern auch körperseelisch von gleicher Beschaffenheit. Daß die Natur eine Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern vorgesehen hat, geht schon aus der Trennung der Geschlechter hervor.« (Ebd., S. 490) Das hört sich fast so an wie die Butlerschen Bedenken gegen Wittigs Vision (as many sexes as there are individuals). Anders als Butler, die bei einer unendlichen Vermehrung der Geschlechter befürchtet, diese Kategorie würde entleert und ihre Unterscheidungskraft verlieren, verweist Hirschfeld auf die nur schwer zu bestreitende Tatsache der Vaterschaft und Mutterschaft, ohne die es kein menschliches Leben gibt. Würde man diese »Arbeitsteilung« zwischen Mann und Frau bei der Nachwuchsproduktion leugnen und die beiden Geschlechter in many sexes »auflösen«, jeden Menschen zu einer einzigartigen sexuellen Zwischenstufe erklären, die weder Mann noch Frau ist, sondern ein unwiederholbarer Zwitter, dann hätte man die Frauenfrage, die Tatsache der seit »vielen Jahrtausenden« bestehenden Unterdrückung der Frau durch den Mann gleich mitaufgelöst und hinwegtheoretisiert. Für Hirschfeld wäre nichts verfehlter als eine solche Sichtweise, denn er begrüßt und unterstützt aktiv den Kampf der Frauenbewegungen (und den der homosexuellen Männer und Frauen ohnehin): »[…] erst seit einigen Jahrzehnten, die im Vergleich zu den vielen Jahrtausenden eine viel zu kurze Spanne Zeit sind, um zu abschließenden Urteilen zu gelangen, beginnt das Weib sich seine natürlichen Freiheiten und Rechte zurückzugewinnen.« (Ebd.) J.E. Bauer, der in seiner Interpretation der Zwischenstufenlehre den eben erwähnten Aspekt übergeht, stützt sich hauptsächlich auf eine Formulierung Hirschfelds, wo dieser, ausgehend von der Kernthese, der Mensch ist nicht Mann oder Weib, sondern Mann und Weib, sagt, dass diese Grundtypen Mann und Weib »im Grunde nur Fiktionen sind« (Hirschfeld 1923, S. 24, vgl. Bauer 2007, S. 112). Bauer folgert aus der im Zitat behaupteten Fiktionalität der Geschlechter, dass all diese Fiktionen im Zuge eines Befreiungsmessianismus »letztlich aufgelöst werden müssen« (ebd.) und vermutet bei denen, die die »dekonstruktiven Folgen von Hirschfelds Lehre« nicht nachvollziehen wollen, sie hofften, Konstrukte wie »der Schwule« vor »der Auflösung durch Hirschfelds kritischen Ansatz zu retten« (ebd., S. 109) Man kann Bauers Auflösungsforderung ohneweiteres zustimmen, wenn man mit ihm einen Augenblick über den Zustand einer befreiten Zukunftsgesellschaft spekulieren will, in der es keine Herrschaft des Menschen über den Menschen mehr gibt. Dort werden vermutlich alle Klassifikationen, die gegenwärtig Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse stützen oder gar begründen (Geschlecht, Sexualorientierung, Hautfarbe, Privateigentum, Sprache, Wohnort u.dergl.) außer kraft gesetzt oder »aufgelöst« sein. Wenn aber heutzutage im imperialistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem des Kapitalismus Intellektuelle wie Butler und Bauer mit sprachidealistischem Instrumentarium an der Demontage von Kategorien der Geschlechtskunde arbeiten und ihre Arbeit für politisch oder gar subversiv halten, dann können wir MaterialistInnen[11] dem nicht folgen. Zudem halten wir auch diese »dekonstruktiven« Bemühungen für bloße ideologische Reflexe einer gesellschaftlichen Entwicklung, die ohnehin vor unseren Augen abläuft und die, wie im letzten Abschnitt angedeutet werden soll, mit der »transitorischen Notwendigkeit« der kapitalistischen Produktionsweise zusammenhängt (vgl. dazu Graf/Steglitz 1974). Es ist leider noch viel schlimmer: die Entlarvung der Geschlechterkategorien als »Fiktion« ist vorallem eine Reverenz an Nietzsche, in dessen Schriften die »Fiction« der zentrale Vorwurf seiner Vernunft-, Religions- und Moralkritik ist. Der nationalsozialistische Nietzsche-Herausgeber R.Oehler hat die Stellen aufgelistet, in denen Nietzsche nicht nur Gott, sondern auch den Rest der Welt zur Fiktion erklärt. Das Subjekt, die Gattung, der Zweck (Der Wille zur Macht), der Mensch (Morgenröthe), das logische Denken (Die Unschuld des Werdens) und natürlich das Christentum (Götzendämmerung) – alles nur Fiktionen (Oehler 1943, S. 113). Hirschfeld erläutert seinen Gebrauch der »Fiktion« an der zitierten Stelle nicht, und soweit ich sehe, verwendet er den Begriff nur dort im Aufsatz über die »intersexuelle Konstitution«. Bedenkt man die zeittypische Faszination, die Nietzsches Schriften auch auf Hirschfeld ausgeübt haben und deren Spuren in Hirschfelds Gesamtwerk zu finden sind, dann haben wir es hier, in der »intersexuellen Konstitution«, wo Mann und Weib als Fiktionen erscheinen, mit einem spielerischen Umgang mit nietzschescher idealistischer Ausdrucksweise zu tun.[12] Und noch ein Beispiel für Hirschfelds Nietzsche-Rezeption: Wenn er sich im Band 1 seiner Geschlechtskunde zum Ursprung der Frauenunterdrückung äußert, bietet er ein weiteres Stück seines wissenschaftlichen Mythus. Er greift dann nicht, was bei seiner SPD-Mitgliedschaft und persönlichen Freundschaft mit August Bebel zu erwarten gewesen wäre, auf die Darstellung in Bebels Die Frau und der Sozialismus zurück, sondern übt sich in Genealogie à la Nietzsche: Der Mensch war »von jeher zu herrschsüchtig« um gleiche Recht und Freiheiten für Frauen und Männer zu verwirklichen; »der Wille zur Macht, zur Überlegenheit war in ihm zu stark, und so hat der Mann im Kampf der Geschlechter das Weib nicht nur erobert, sondern unterjocht, nicht nur erworben, sondern unterdrückt« (Hirschfeld 1926, S. 490). Eine gewisse Distanz zu Nietzsches Anschauungen kommt immerhin zum Ausdruck, wenn Hirschfeld einen von dessen Lieblingsausdrücken: »Wille zur Macht«, der die Zukunftsmoral seiner übermenschlichen Herrenrasse bezeichnen soll, kritisch übersetzt als Herrschsucht. Der herrschsüchtige Mensch, der sein Weib seit Jahrtausenden unterjocht, wird neuerdings von diesem bedrängt, weil es seine natürlichen Freiheiten und Rechte zurückgewinnen will. Die von wenigen Vorbehalten gehemmte Sympathie Hirschfelds für Nietzsche (und nicht für Bebel oder gar den Marxismus) lässt sich nahezu in seinem gesamten Werk nachweisen und war damals keineswegs ein Widerspruch zu seinem Engagement auf dem rechten Flügel der Sozialdemokratischen Partei. Eine gewisse ideologische Ähnlichkeit zu dem Nietzscheverehrer und irgendwie linken Gaullisten Michel Foucault, Butlers großem Lehrmeister, fällt hier auf: Wenn man das Adjektiv »postmodern« einen Augenblick beiseite lässt, kann man die beiden, Hirschfeld und Foucault, mit Jan Rehmann einem »Links-Nietzscheanismus« zuordnen (Rehmann 2004); sie haben auf der Suche nach einer Alternative zum Historischen Materialismus Nietzsche, den einflussreichsten bürgerlichen Denker des 20. Jahrhunderts, entdeckt. Der Nietzsche-Kult der beiden schwulen Anti-Materialisten unterscheidet sich aber in vielen Punkten, so in diesem: in Hirschfelds privatem Pantheon steht − anders als bei Foucault − nicht Nietzsche, sondern Goethe auf Platz Nummer Eins. Goethes Sentenz: »Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch« wird in Hirschfelds Schriften häufig zitiert.
6. Individualität. Individuelles Geschlecht. Vereinzelte Einzelne. Warenbesitzer Die von Marx unternommene Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems kommt unter anderm zu dem Ergebnis, dass dieses System der völlig neuartigen Entwicklung gesellschaftlichen Reichtums (und des Wohlstands der herrschenden Klasse) in mehrfacher Hinsicht die Voraussetzung für die Entstehung einer höheren Gesellschaftsform ist. Das Kapitalverhältnis ist quasi Motor des materiellen und zivilisatorischen Fortschritts: »Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht, das, wie der geistreiche Lichnowski sagt, keinen Datum nicht hat[13]. Nur soweit steckt seine eigene transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise. Aber soweit ist auch nicht Gebrauchswert und Genuß, sondern Tauschwert und dessen Vermehrung sein treibendes Motiv. Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist. Nur als Personifikation des Kapitals ist der Kapitalist respektabel.« (Marx 1968a, S. 618) Marx argumentiert sozusagen zweigeleisig: logisch-historisch. Aus der Logik des Tauschverhältnisses zweier Warenbesitzer wird die Entstehung des Geldes entwickelt und aus der Entstehungsgeschichte des doppelt freien Lohnarbeiters[14] das Kapitalverhältnis, die Verwandlung eines Geldbetrags in Kapital mittels Kauf der Ware Arbeitskraft und ihrer profitablen Ausbeutung. War die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation«, also die Trennung der Arbeitenden von den Arbeitsmitteln und die Aneignung dieser Arbeitsmittel durch die herrschende Klasse, ein durchaus gewalttätiger, terroristischer Vorgang, so funktioniert späterhin der Arbeitsmarkt und die Produktionssphäre unter dem falschen Schein der Freiwilligkeit und Gewaltfreiheit − ein ideologischer Effekt des von freien und gleichberechtigten Vertragspartnern ausgehandelten Arbeitsvertrags. Mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit und der Entwicklung von Maschinerie und Großindustrie entfaltet dieser ideologische Effekt eine Wirkung, die für die Totalität der bürgerlichen Gesellschaft von der Produktionssphäre bis zum Staatsapparat grundlegend ist: die Produktion des bürgerlichen Individuums. Jedes dieser Individuen kann sich als freier Bürger fühlen, dessen Freiheit sich auf dem Eigentum an Mitteln zur Produktion des eigenen Lebens gründet: die Werktätigen sind Eigentümer ihrer Arbeitskraft, die sie zeitweise verkaufen, um zu leben; die kapitalistischen Produktionsmittelbesitzer verkaufen auch nur die mittels gekaufter Arbeitskraft in ihren Unternehmen produzierten Waren. Sie alle erscheinen als vereinzelte Einzelne, die untereinander allein über ihre Beziehung zu den Waren und zur allgemeinen Ware, zu Geld, verbunden sind: »Es ist im Geld zuerst, und zwar in der abstraktesten, daher sinnlosesten, unbegreiflichsten Form – eine Form, in der alle Vermittlung aufgehoben ist − , worin die Verwandlung der wechselseitigen gesellschaftlichen Beziehungen in ein festes, überwältigendes, die Individuen subsumierendes gesellschaftliches Verhältnis erscheint. Und zwar ist die Erscheinung um so härter, als sie hervorwächst aus der Voraussetzung der freien, willkürlichen, nur durch die wechselseitigen Bedürfnisse in der Produktion sich aufeinander beziehenden, atomistischen Privatpersonen.« (Marx 1953, S. 928) Die atomistischen Privatpersonen, die auf dem Markt gegeneinander konkurrieren, um ihre Waren zu verkaufen und zu kaufen, entwickeln sich unter der Bedingung wachsender Produktivkräfte und wachsenden gesellschaftlichen Reichtums widersprüchlich: einerseits bedingt Produktivkraftentwicklung »keineswegs Entsagen vom Genuß, sondern Entwickeln von power, von Fähigkeiten zur Produktion und daher sowohl der Fähigkeiten, wie der Mittel des Genusses« (Marx 1953, S. 599), aber zugleich unterliegt die Wahrnehmung, die die Individuen von den gesellschaftlichen Verhältnissen haben, einer besonderen Verzerrung, die ihnen die Überzeugung nahelegt, dass nicht sie selbst ihre Geschichte machen, sondern vielmehr von den Dingen beherrscht werden, die unter ihren Händen Warenform angenommen haben; dass sie von ihren eigenen Produkten durch die Gesetzmäßigkeiten der Wirtschaft soweit entfremdet sind, als sei es zu einer »Verkehrung von Subjekt und Objekt« (Marx 1968b, S. 55) oder als würde ein »Kapitalfetisch« (ebd., S. 405) sie beherrschen.[15] Diese ideologische Mystifizierung der Klassenherrschaft begegnet uns wieder in der von den postmodernen NietzscheanerInnen wie Butler & Co. beschworenen »Macht«, der man sich durch Widerstand und Emanzipationskampf nur immer unentrinnbarer ausliefert (Foucault) oder die man durch läppische Geschlechtertauschkomödien »subversiv« dezentrieren kann ( Butler). Diese für das Bewusstsein der vereinzelten Einzelnen (Waren- und Geldbesitzer) im Kapitalismus charakteristische »Religion des Alltagslebens« (ebd., S. 838) funktioniert offensichtlich ähnlich wie eine traditionelle Religion: »Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eigenen Hand beherrscht.« (Marx 1968a, S. 649) Das fortschreitend vereinzelte, aber auch differenzierte und bedürfnisreiche Individuum im Kapitalismus wird sich selbst in seiner Entfremdung, Vereinzelung und Innendifferenzierung zum Gegenstand der Reflexion. Zunächst von den DichterInnen und bald darauf und parallel dazu von der Psychologie. (Bertolt Brecht kann man beispielsweise als einen poetischen Fortsetzer der Marxschen Konstruktionen des Zusammenhangs von Sein und Bewusstsein der Produzenten verstehen.) Ich möchte behaupten, Hirschfelds Idee, jedes menschliche Individuum sei ein einzigartiges und unwiederholbares Ensembel männlicher und weiblicher Eigenschaften und man könne daher »sehr streng wissenschaftlich genommen« nicht sagen, ein Mensch sei entweder Mann oder Weib, vielmehr sei jedes Individuum stets Mann und Weib −, diese Bild des sexuierten Unikums ist imgrunde eine Anwendung der Vorstellung vom vereinzelten Einzelnen, welche das kapitalistische warenproduzierende Gesellschaftssystem in den Köpfen der Individuen erzeugt, jedenfalls begünstigt. Betrachtet man wie Hirschfeld die atomistische Privatperson, die mit den anderen freien und gleichen, aber unverwechselbar einmaligen Warenbesitzern am Markt konkurriert, unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschlechtlichkeit, dann hat dies zur Voraussetzung, dass diese Vorstellung vom konkurrierenden Marktteilnehmer – vom »Einzigen« und seinem Eigentum − bereits einen festen Platz in der normalen Religion des Alltagslebens eingenommen hat. In der imperialistischen Militärdespotie Preußen-Deutschlands, in der das Kapitalverhältnis so gut wie alle Bereiche der Gesellschaft prägte, war dies zweifellos der Fall. Begünstigt wurde so auch die Idee der Emanzipation einzelner Bevölkerungsgruppen, die aufgrund vorkapitalistischer Moralvorstellungen in ihrer individuellen Persönlichkeitsentfaltung behindert wurden – behindert in der Teilnahme am Konkurrenzkampf um den Verkauf ihrer Arbeitskraft oder wie die Mittelklassen und Großunternehmer um die Realisierung der Marktpreise für ihre Waren. Hirschfeld selbst sieht seine theoretischen und politischen Bemühungen um sexuelle Emanzipation speziell der schwulen Männer in einem zeitgeschichtlichen Kontext mit einigen anderen, damals in den kleinbürgerlichen Mittelschichten aufkommenden Emanzipationsbewegungen und nennt namentlich (Hirschfeld 1926, S. 377): − die Jugendbewegung (Wandervogel) − die Bewegung gegen die Ächtung der Geschlechtskranken (Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten) − die Bewegung für Gleichstellung unehelicher Mütter und Kinder mit denen in bürgerlichen Familien (Bund für Mutterschutz) − die Bewegung gegen die Diskriminierung der weiblichen Prostituierten (Internationale abolitionistische Föderation) − die Frauenbewegung (1896 in Berlin der erste »Internationale Frauenkongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen«) All diese mittelständischen Sozialreformbewegungen kann man als Ausdruck fortschreitender Verfestigung einer Ideologie deuten, die die Entfaltung (»Selbstverwirklichung«) des Individuums verlangt; es wäre der ideologische Reflex jener doppelt bestimmten illusorische Bewusstseinsform (einerseits frei und gleich zu sein, andrerseits von den selbst produzierten Dingen beherrscht zu sein), zu der die kapitalistische Produktionsweise die Individuen disponiert. Was nun Hirschfelds Variante dieser Bewusstseinsform – jeder Mensch ist auch in seiner Geschlechtlichkeit von Natur aus einzigartig – betrifft, so fällt auf, dass sie bis heute nicht im Alltagsbewusstsein präsent ist wie die andern Vorstellungsinhalte zum vereinzelten Einzelnen. Von Anfang an gab es statt einer Rezeption einen polemischen Abwehrkampf, an dem sich neben Sigmund Freud nur wenige heute vergessene Autoren beteiligten. Und auch diese Abwehr richtete sich nicht gegen die Lehre von den sexuellen Zwischenstufen, sondern gegen einen Popanz, das Dritte Geschlecht, eine damals populäre Bezeichnung Homosexueller.[16] Hirschfeld zitiert zur Illustration dieser, die Auseinandersetzung verweigernden Polemik aus einer zeitgenössischen Tageszeitung den schönen Satz: »Es gibt nur zwei Geschlechter; das dritte Geschlecht ist die Erfindung verpesteter Gehirne und perverser Herzen.« (Hirschfeld 1905, S. 5) Dann referiert er einmal mehr vergeblich seine Zwischenstufenlehre und muss es geschehen lassen, dass dieselbe erst sechszig Jahre nach seinem Tod, in den 1990er Jahren eine zweifelhafte und eher klandestine »postmoderne« Renaissance erlebt – eher nicht bei J. Butler & M. Foucault, deutlicher schon bei M. Wittig & J. E. Bauer. Vermutlich ist das entscheidende Hemmnis, das der Verabschiedung von der Vorstellung »Mann oder Frau« entgegensteht, die Evidenz der alltäglichen Begegnung, die uns unwillkürlich das eindeutige Urteil aufdrängt: Dies ist ein Mann, diese aber eine Frau, und das Freud sehr eindringlich in seiner Vorlesung über die Weiblichkeit beschreibt: »Männlich oder weiblich ist die erste Unterscheidung, die Sie machen, wenn Sie mit einem anderen menschlichen Wesen zusammentreffen, und Sie sind gewöhnt, diese Unterscheidung mit unbedenklicher Sicherheit zu machen.« (Freud 1978, S. 92) Diese unbedenkliche Sicherheit, die uns ja auch den Eindruck vermittelt, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht, anstatt dass, wie die Wissenschaft behauptet, die Erde sich um die Sonne und um sich selbst dreht, wird dadurch bekräftigt, dass wir, anders als bei der Planetenbewegung, unsere Sexualobjekte nach der unbedenklichen Unterscheidung Mann oder Frau auswählen. Freud warnt hier, wo es, 1932, so scheint, als ob er die Lehre von den sexuellen Zwischenstufen nacherzählt, vor der Verwirrung der Gefühle: »Und dann sagt Ihnen die Wissenschaft etwas, was Ihren Erwartungen zuwiderläuft und wahrscheinlich geeignet ist, Ihre Gefühle zu verwirren. Sie macht Sie darauf aufmerksam, daß Teile des männlichen Geschlechtsapparats sich auch am Körper des Weibes finden, wenngleich in verkümmertem Zustand, und das gleiche im anderen Falle. Sie sieht in diesem Vorkommen das Anzeichen einer Zwiegeschlechtlichkeit, Bisexualität, als ob das Individuum nicht Mann oder Weib wäre, sondern jedesmal beides, nur von dem einen so viel mehr als vom andern. Sie werden dann aufgefordert, sich mit der Idee vertraut zu machen, daß das Verhältnis, nach dem sich Männliches und Weibliches im Einzelwesen vermengt, ganz erheblichen Schwankungen unterliegt.« (Freud 1978, S. 93) Die Auflösung des Geschlechterdualismus in der Religion des Alltagslebens wird uns, wenn überhaupt, die Zukunft bringen, ähnlich den anderen Fetischen, die zur Aufrechterhaltung der Normalität in der gegenwärtigen Gesellschaft unentbehrlich scheinen.
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(=MEW 25) Nietzsche, Friedrich (1931): Die Unschuld des Werdens. Der Nachlass. Ausgewählt und geordnet von Alfred Baeumler. 2. Band. Leipzig. Oehler, Richard (1943): Nietzsche-Register. Alphabetisch-systematische Übersicht über Friedrich Nietzsches Gedankenwelt. Nach Begriffen und Namen aus dem Text entwickelt. Stuttgart Proust, Marcel (1993, zuerst 1920): À la recherche du temps perdu. Sodome et Gomorrhe I et II. Texte établi, présenté et annoté par Françoise Leriche. Paris. Proust, Marcel (2001): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 6. Die Flüchtige. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel-Mertens; revidiert von Luzius Keller und Sibylla Laemmel. Frankfurt a.M. Rehmann, Jan (2004): Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. Hamburg. Reiche, Reimut (2004): Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche. Frankfurt/New York. Wittig, Monique (1990, zuerst 1979): Paradigm, in: Homosexualities and French Literature. 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[1]Butler empfiehlt den FeministInnen, ins Kino zu gehen und sich die zweifellos grandiose Komödie Female Trouble mit dem unvergesslichen Transvestiten Divine in der Hauptrolle anzusehen. (Butler 1991, S. 8) [2] Ein Übersetzerinnen-Witz am Rande: Butler zitiert diese Stelle aus Foucaults Herculine-Kommentar mehrmals, und stets ist da von dem karibischen Männertanz Limbo die Rede. Frau Menke übersetzt abwechselnd »Limbus«, was keinen Sinn ergibt, und »Limbo«. Dass Foucault mit dieser Tanzmetapher seinem Idol Nietzsche huldigt, interessiert Butler nicht und Menke schon gar nicht. [3] Der Gebrauch des seltenen Ausdrucks »Trope« ist wohl Butlers Beruf als Rhetorikprofessorin geschuldet. Die Aussage des Satzes bliebe gleich, würde die »Trope« weggelassen. [4] Ein nicht ganz unpassendes Zitat zum Spiegelstadium Lacans: »In gewisser Art geht’s dem Menschen wie der Ware. Da er weder mit einem Spiegel auf die Welt kommt, noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Erst durch die Beziehung auf den Menschen Paul als seinesgleichen, bezieht sich der Mensch Peter auf sich selbst als Mensch. Damit gilt ihm aber auch der Paul mit Haut und Haaren, in seiner paulinischen Leiblichkeit, als Erscheinungsform des Genus Mensch.« (Marx 1968a, S. 67) [5] Z.B. Kristeva 2007, S. 198: »Der Marxismus beharrt vor allem darauf, daß sich die Praxis an der äußerlichen, objektiven Wirklichkeit orientiert. Marx schreibt: ›Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis […] Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er faßt die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit.‹ Im selben Sinne stellt Lenin dem Hegelschen ›Schlusse des Handelns‹ die Vorherrschaft der logischen äußerlichen Wirklichkeit entgegen: ›[…] nicht in dem Sinne, daß die Figur der Logik ihr Anderssein in der Praxis hätte (=absoluter Idealismus), sondern daß vice versa die Praxis des Menschen sich dadurch, daß sie sich milliardenmale wiederholt, im Bewußtsein des Menschen als logische Figur einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) kraft dieser milliardenmaligen Wiederholung die Festigkeit eines Vorurteils und axiomatischen Charakter.‹ Mao Tse-tung übernimmt in seiner Schrift Über die Praxis Lenins Kommentare zu Hegel und betont das Materialistische an der Praxis sei die persönliche und unmittelbare Erfahrung. Davon ausgehend, daß die Aktivität in der Produktion jede praktische Aktivität bestimmt, fügt er dem Register der Praxis den Klassenkampf, das politische Leben, die wissenschaftliche und ästhetische Tätigkeit hinzu.« [6] Eine der Stellen, wo es um die Erinnerung der Gebärenden an die Inzestfantasien in der eigenen Kindheit geht und nicht um psychotische Lesben: »Die mütterlich-homosexuelle Seite: ein Taumel von Worten, der keinen Sinn, kein Sehen mehr birgt. Gefühl, Verschiebung, Rhythmen, Töne, Lichter und die phantasmierte Umarmung des Körpers der Mutter als Schutzschild vor dem Versinken … das verlorene Paradies der Frauen, doch gleichsam wie mit Händen zu greifen.« (Butler 1991, S. 130) Kristevas Originaltext: »Versant maternel-homosexuel: vertige des mots, plus de sens ni de vision, toucher, déplacements, rythmes, sons, lueurs et l’étreinte fantasmée avec le corps maternel comme paravent devant la plongée […] paradis perdu des femmes, mais comme à portée de la main.« (Kristeva 1975, S. 411) [7] »For women, Marxism had two results. It prevented them from being aware that they are a class and therefore from constituting themselves as a class for a very long time, by leaving the relation ›women/men‹ outside of the social order, by turning it into a natural relation, doubtless for Marxists the only one, along with the relation of mothers and children, to be seen this way, and by hiding the class conflict between men and women behind a natural division of labor (The German Ideology) […] On the practical level, Lenin, the party, all the communist parties up to now […] have always reacted to any attempt on the part of women to reflect and form groups based on their own class problem with the accusation of divisiveness. By uniting, we women are dividing the strength of the people […] This real necessity for everyone to exist as an individual, as well as a member of a class, is perhaps the first condition for the accomplishment of a revolution, without which there can be no real fight or transformation […] At this point, let us say that a new personal and subjective definition for all humankind can only be found beyond the categories of sex (woman and man) and the advent of individual subjects demands first destroying the categories of sex, ending the use of them, and rejecting all sciences which still use these categories as their fundamentals (practically all social sciences).« (Wittig 1992, S. 17 ff.) [8] Genderfuck is a politics of identity stemming from the identity politics movements of the 1950s and 1960s, a guiding principle of which is the idea that the personal is political. The term dates at least to 1979, when an article by Christopher Lonc, entitled »Genderfuck and Its Delights«, appeared in the magazine Gay Sunshine. Lonc wrote: »I want to criticize and poke fun at the roles of women and of men too. I want to try and show how not-normal I can be. I want to ridicule and destroy the whole cosmology of restrictive sex roles and sexual identification.« [9] Frau Menke übersetzt aus dem Amerikanischen: »Für uns gibt es nicht ein oder zwei, sondern viele Geschlechter, so viele Geschlechter wie Individuen.« [10] Kristeva (1978, S. 31) hat für die beiden ein kluges Lob bereit, das sie mit einer nützlichen Klarstellung verbindet: »[…] auch Deleuze und Guattari beharren zu Recht auf dem destrukturierenden und asignifikanten Strom der Schizophrenie, auf der begehrenden und asignifikanten Maschine des Unbewußten. Ihr Vorgehen wirkt angesichts der von Kommunikations- und Normativitätsideologen, die mehr oder weniger Anthropologie und Psychoanalyse versorgen, befreiend. Doch ist offenkundig, daß die für den ›schizophrenen Strom‹ gegebenen Beispiele hauptsächlich der modernen Literatur entnommen sind, einer Praxis also, in der der ›Strom‹ auf die Sprache gestoßen ist, um sich dort erst als Strom zu verwirklichen, wo er das Signifikante von der Seite her angreift, um sodann in ihm die heterogene Erzeugung der ›begehrenden Maschine‹ zu betreiben.« [11] Wir halten uns nämlich mit Antonio Gramsci für etwas Besseres: für organische Intellektuelle, die wert darauf legen, kritische Distanz zu den hegemonialen ideologischen Apparaten zu halten. [12] J.E.Bauer will Hirschfelds Zwischenstufenlehre nicht mit Nietzsche, sondern mit dem eine Generation früher ähnlich argumentierenden Max Stirner rückkoppeln. Stirners erkenntnistheoretisches Motto »Ich hab‘ Mein Sach‘ auf Nichts gestellt« erscheint als eine Vorwegnahme der Idee, die ganze Welt sei eine bloße Fiktion. [13] »Der reaktionäre schlesische Großgrundbesitzer Lichnowski ergriff am 31. August 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung das Wort und sprach sich gegen das historische Recht Polens auf selbständige Existenz aus. Dabei benutzte er mehrmals die oben zitierten Worte, worauf die Anwesenden jedesmal mit großem Gelächter antworteten.« (Marx 1968a, S. 858; Erläuterung der Herausgeber beim Institut für Marxismus-Leninismus der SED) [14] Zusammenfassend heißt es zu den Verhältnissen in Westeuropa: »So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert.« (Marx 1968a, S. 765) [15] Hier wäre eigentlich noch ein Exkurs über die entgegengesetzte Tendenz im Bewusstsein der kapitalistischen Warenproduzenten einzufügen: Als »entgegenwirkende Ursache« zum Konkurrenzkampf aller gegen alle erzeugt die große Industrie auch in ihrer gegenwärtigen postfordistischen Gestalt bei den Ausgebeuteten die Disposition zu Klassenkampf und Solidarität sowie zur Einsicht in die Notwendigkeit der sozialen Revolution, wenn der Transit in den Sozialismus gelingen soll. [16] Beispielsweise Freud 1919, S. 38 f.: »Die homosexuellen Männer, die in unseren Tagen eine energische Aktion gegen die gesetzliche Einschränkung ihrer Sexualbetätigung unternommen haben, lieben es, sich durch ihre theoretischen Wortführer als eine von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischenstufen, als ›ein drittes Geschlecht‹ hinstellen zu lassen [… Aber] diese beiden Festellungen [(1) Schwule fixierten ihre Liebesbedürfnisse anfangs an die Mutter, (2) »jedermann, auch der Normalste« ist der homosexuellen Objektwahl fähig] machen sowohl dem Anspruch der Homosexuellen, als ein ›drittes Geschlecht‹ anerkannt zu werden, als auch der für bedeutsam gehaltenen Unterscheidung zwischen angeborener und erworbener Homosexualität ein Ende.« |