Manfred Herzer

 

Debatte

Die Auflösung. Das Schweigen. Hirschfeld als Prophet

Nachklänge zu J. Edgar Bauers Hirschfeld-Deutung

 

Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.
Ursprünglich erschienen in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 33/34, 2002, S. 72-77.

 

Mit einem messia­nischen Ton, wie er selbst auf Kirchentagen schon lange nicht mehr gehört ward, ermannte der Kanzler die Men­ge, sich von den falschen Propheten aus Übersee nicht irre machen zu lassen, sondern, gelegen oder ungelegen, an den sittlichen Grundlagen Alteuropas festzuhalten. Sein „Hal­tet fest! Hal­tet fest!“ konn­te es, was die visionäre Codewirkung anbelangt, mit dem „Fürchtet euch nicht!“ des Papstes durchaus aufnehmen.

(Feuilleton der FAZ, Freitag, 30.5.2003, S. 33)

 

Undoubtedly there is some genuine fun. Here and there the rowdy animal spirit breaks through the barriers of con­vention and artificial gaiety. But for the most part I see no genuine enjoyment in the eyes of the young men and the young women whose vitality and whose passion are exhausted largely in the desperate attempt to make whoopee.

(American Revelry a Flight From Life and Reality, Says Hirschfeld,

Chicago Herald and Ex­aminer, February 2, 1931, S. 4)

 

 

Bauer hat sich, meiner Ansicht nach, mit seiner Hirschfeld-Deutung, die er seit 1997 in mehreren Anläufen unternimmt, insofern ein unbezweifelbares Verdienst erworben, als er in der Lehre von den sexuellen Zwischenstufen Hirschfelds bedeutendste wissenschaftliche Leistung erkannt und dieselbe zu rekonstruieren versucht hat. Jene Zwischenstufenlehre ermöglicht schon in ihrer ersten Formulierung von 1896 eine neue Sicht auf die menschliche Gattung und auf ihr Geschlechtsleben, weil in dieser Zwischenstufen-Perspektive die Menschen nicht mehr nur als Männer, Frauen und Zwitter, sondern als unwiederholbare Ensembles männlicher und weiblicher Eigenschaften erscheinen.

 

Neuerdings konnte Bauer zeigen, daß Hirschfeld in seiner Auseinandersetzung mit der Rassenideologie der Hitler-Faschisten diese individuierende Perspektive auch auf die Rassenfrage angewendet und so einen völlig neuen Ansatz zur Kritik jedweden Rassismus gewonnen hat (Bauer 2002, S. 89 f.)

 

Problematisch erscheint mir Bauers interpretatorisches Unternehmen jedoch immer dann, wenn er der Versuchung nachgibt, die Hirschfeldsche Perspektive zu verabsolutieren und wenn er Hirsch­felds sozialistische Sexualreformpolitik theologisch umdeutet in eine Spielart jüdischen Messianismus.

Die beiden in Bauers Interpretation enthaltenen starken Behauptungen:

(1) die Auflösung des Sexualbinomiums ist ein epochaler Effekt der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre

(2) das aus der Zwischenstufenlehre abgeleitete Sexualreformwerk ist von einem atheistisch modifizierten, der jüdischen Religion entnommenen Messianismus angetrieben

kann er aber nicht in den Schriften Hirschfelds selbst nachweisen. Sie werden über Hilfskonstruktionen und Übernahmen aus Texten anderer Autoren in Hirschfelds Sexualpolitik und Sexualwissenschaft hineininterpretiert, ohne daß auf diesem Weg wirklich neue Einsichten in die Logik und in die Historie der Zwischenstufenlehre gewonnen würden.

 

Dennoch hat dieses interpretatorische Bemühen offensichtlich ein Doppelziel: Dem Sexualforscher Hirschfeld soll erstens eine Art erkenntnistheoretischer Nihilismus imputiert werden, der etwa besagt, das menschliche  Individuum, das Objekt der wissenschaftlichen Forschung ist grundsätzlich der Erkenn­barkeit entzogen, wie es auch der sprachlichen Artikulation entzogen ist. In dieser nihilistischen Sicht ist nur eines erkennbar: die „Unsagbarkeit“ (Bauer 2002, S. 73). Hirschfelds wissenschaftliches Lebenswerk schnurrt zusammen auf die pessimistische Tautologie: das menschliche Individuum incl. Sex ist das menschliche Individuum und als solches der Erkennbarkeit entzogen, irgendwohin jenseits der „Grenzen des λόγος“ (Bauer 2002, S. 70) entrückt. Wenn es somit nichts mehr in der Sphäre des Individuellen und Einzelnen zu erkennen gibt, stellt sich zweitens die Frage nach der Gerechtigkeit neu, denn Hirschfeld wollte doch mit seiner scientia „vom Wesen der Liebe“ der justitia dienen. Bauers Radikalkur sieht für dieses Problem zuerst die Trennung von den alten sozialistischen Idealen und von der Sozialdemokratie vor, sodann die Rückkehr zu den Wurzeln, zur Religion der Väter, natürlich modernisiert, so daß Hirschfelds Kampf für gerechte humanitäre Sexualreformen und sein Traum vom „Erdballstaat“ zu einem „jüdischen Messianismus“ (Bauer 2002, S. 84) entpolitisiert und verharmlost wird.

 

Bauers gravierendster Denkfehler besteht meines Erachtens in der Schlußfolgerung, Hirschfeld habe mit seiner Aussage „Alle Menschen sind intersexuelle Varianten“  –  dies ist gewissermaßen die Quintessenz der Zwischenstufenlehre  –  bewirkt, „daß der herkömmliche Sexualdimorphismus [...] aufgelöst wurde“ (Bauer 2002, S. 69).

 

Selbst wenn man hier nicht die Abwegigkeit unterstellt, Hirschfelds Zwischenstufenlehre führe zum Verschwinden von Männern und Frauen aus der Realität, ähnlich wie im Märchen die neuen Kleider des Kaisers verschwinden, als ein Kind ausspricht, was alle sehen: der Kaiser ist nackt und trägt überhaupt keine Kleider;  –  selbst wenn man annimmt, diese Auflösung finde nur im Kopf Hirschfelds oder auf dem Papier des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen statt; selbst unter dieser Voraussetzung wird der Denkfehler offensichtlich, sobald man die vermeintliche Auflösung mit der Realität konfrontiert. Nach wie vor gibt es Männer und Frauen nicht nur im wirklichen Leben, sondern auch in den Texten Hirschfelds scharenweise. Von Auflösung keine Spur, allenfalls ein paar versprengte Individuen haben sich vollkommen ins Individuelle zurückgezogen, wie etwa Hannelore, schönstes Kind vom Hall’schen Tore (keiner je beweisen kann / ob du Weib bist oder Mann) oder jene ominöse „Hauptrepräsentantin der Transgender-Bewegung in Amerika“ (Bauer 2002, 70), Feinberg, die ja die Bauersche Auflösung am eigenen Leibe vollzogen zu haben scheint.

 

Ich vermute, Bauers Irrtum hängt damit zusammen, daß er Hirschfelds eigene Erläuterungen zum Status der Zwischenstufenlehre nicht zur Kenntnis oder einfach nicht ernst genommen hat. Zuerst in den Transvestiten und danach immer wieder äußert sich Hirschfeld zur Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Zwischenstufenlehre. Demnach handelt es sich „nur um ein Einteilungsprinzip“ (Hirschfeld 1910, S. 275). Bezweckt werde „nichts anderes als eine Systematisierung“, die Zwischenstufenlehre „will bekannte und verwandte Phänomene methodisch ordnen“ (Hirschfeld 1910, S. 293). Solche eher nüchternen Statuszuordnungen passen schlecht zu Bauers Emphase, die Zwischenstufenlehre zu einem „fundamentalanthropologischen Paradigmenwechsel“ aufzublasen und mit der allerdings imposanten Aufschrift „fundamentum inconcussum in sexualibus“ zu versehen (Bauer 2002, S. 77), um sie schließlich für die Enttarnung der beiden bislang als real existierend angenommenen Geschlechter als bloße Fiktionen, für deren „Auflösung“ einzusetzen. Das dritte Geschlecht, wenn es es denn jemals gegeben hat, wird im Zuge dieser Operation sogar „restlos“ aufgelöst (Bauer 2002, S. 77).

 

Was am Ende übrig bleibt, ist eine unendliche Menge von Individuen mit einem je einzigartigen No-Name-Geschlecht versehen, denen es ähnlich ergeht wie Max Stirners Ich, von dem Stirner, einer von Bauers Lieblingsschriftstellern, behauptet, daß für es „die armselige Sprache kein Wort hat“ (Bauer 1999, S. 70). Bauer behauptet, Hirschfeld habe seine Zwischenstufen zwar in seiner einschlägigen Lehre beschrieben und systematisch geordnet, aber irgendwie im Geiste des alten Stirner „ohne gleichzeitig den Anspruch darauf zu erheben, das als sexuiert gedachte Individuum unter den Begriff, der die vorgenommene Beschreibung zusammenfaßt, subsumieren zu können“ (Bauer 2002, S. 73). In diesem angeblichen Verzicht auf die Subsumtion der beforschten Individuen unter allgemeine Begriffe zeige sich Hirschfelds „Wissen um die Grenzen der Sprache“ (Bauer 2002, S. 70). Dieses Wissen komme auch in dem Motto zum Ausdruck, das Hirschfeld seinen Transvestiten voranstellte: „Es gibt mehr Empfindungen und Erscheinungen als Worte“, denn „die Unsagbarkeit, auf die Hirschfeld [mit diesem Motto] aufmerksam macht, ist eine prinzipielle und betrifft unmittelbar die von ihm erkannten Grenzen, auf die seine Begriffsbildungen und Beschreibungsstrategien stoßen“ (Bauer 2002, S. 70).

 

Was Bauer sich  –  vermutlich im Einklang mit seinem Stirner  –  unter den Grenzen der Sprache vorstellt, verrät er seinen Lesern nicht. Es liegt womöglich jenseits dieser Grenzen. Wenn er aber Hirschfeld unterschiebt, dieser sei mit seiner Begriffsbildung an die Grenzen seiner Sprache gestoßen und wolle mit seinem Transvestiten-Motto auf eben diese Grenzen hinweisen, dann ist dies eine ziemlich krasses Mißverständnis. Wenn Bauer etwas mehr auf den Kontext geachtet hätte, in den Hirschfeld sein Motto gestellt hat, dann wäre ihm aufgefallen, daß es hier gerade um die Durchbrechung überkommener Sprachgrenzen geht, indem der Sexualforscher Hirschfeld in seinem Buch mit dem schönen Motto erstmals „Empfindungen und Erscheinungen“ beschreibt und benennt, die bisher außerhalb der Erkenntnis und damit außerhalb der Sprache lagen, und die er sprachschöpferisch und grenzüberschreitend auf den Namen „Transvestiten“ taufte. Der erste Teil der Transvestiten, der überschrieben ist: „Casuistik und Analyse“, enthält eine Fallsammlung mit siebzehn Lebensbeschreibungen von Personen (sechzehn Männer und eine Frau), die Hirschfeld dann im Analyseteil unter die Kategorie „Transvestit“ subsumierte.

 

Sachverhalte wie diese können Bauer in seiner Überzeugung vom kategorial nicht subsumierbaren Individuum nicht irritieren, dies um so weniger als die antike Prämisse gilt: es gibt keine Wissenschaft vom Individuellen. In dieser schroffen Verabsolutierung gerät jene Prämisse natürlich zum Zerrbild, das ganz gut ins Kuriositätenkabinett von Stirners Einzigem paßt, nicht aber für die Methodenlehre wissenschaftlicher Forschung taugt. Vage scheint Bauer zu ahnen, daß seine extreme Ansicht vom kategorial nicht subsumierbaren Individuum und seiner „Unsagbarkeit“ nur mit Gewaltanwendung der Lehre und Forschungspraxis Hirschfelds überzustülpen ist. Daher könnte seine „asymptotische Annäherung an das sexuierte Individuum“ als Kompromißvorschlag gemeint sein: „Von daher [nämlich der Unsagbarkeit] ist die Sexualwissenschaft im Hirschfeldschen Sinne als eine asymptotische Annäherung an das sexuierte Individuum zu verstehen, das als solches sich jeder Verallgemeinerung stets entzieht und darum letztlich a-logisch  –  d.h. un-aussprechlich bleibt.“ (Bauer 2002, S. 73)

 

An dem aus der Mathematik entnommenen Bild der asymptotischen Annäherung kann man ziemlich gut ablesen, wie wenig Bauers Vorstellung mit der Wirklichkeit der Natur- und Gesellschaftswissenschaften zu tun hat. Eine Asymptote ist eine Gerade, der sich eine Kurve in immer kleinerem Abstand anschmiegt, ohne sie je zu berühren oder zu schneiden. Sie läßt sich in folgender Formel darstellen:

 

Im Unterschied zu diesem mathematischen Gebilde finden aber im wissenschaftlichen Forschungsprozeß permanente „Berührungen“ zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt, zwischen Sexologen und „sexuiertem Individuum“ statt. Die Resultate dieser Prozesse sind wissenschaftliches Wissen oder relative Wahrheiten über das Forschungsobjekt. Diese relativen Wahrheiten verhalten sich aber zur absoluten, zur ganzen Wahrheit nicht wie Asymptoten zur unberührbaren Kurve, sondern jede neue wissenschaftliche Erkenntnis enthält Momente der ganzen, der, wenn man so will, absoluten Wahrheit. Daß es bei dieser Produktion von wissenschaftlichem Wissen nicht haarscharf („asymptotisch“) an der Wahrheit des Objekts vorbei geht, sondern mitten hinein, wird sozusagen bewiesen durch die gesellschaftliche Praxis, in der sich die Wahrheit als wahr erweist, indem sie sich praktisch bewährt. Dies ist nun einmal die Logik der Forschung  –  oder in den Worten eines Dialektikers aus dem 19. Jahrhundert: „[D]ie Wahrheit lag nun im Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aber jemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrig bleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen.“ (Engels 1962, S. 267)

 

Ich möchte also mit Friedrich Engels der Bauer/Stirnerschen Auffassung widersprechen, das Individuum, speziell das menschliche Individuum sei prinzipiell dem wissenschaftlichen Wissen entzogen, es sei unbeschreiblich, „unaussprechlich“, „ineffabile“, und „nur deiktisch“ oder „asymptotisch“ sei auf es zu verweisen. Als Kriterium für den Wahrheitsgehalt wissenschaftlicher Aussagen möchte ich nochmals mit Friedrich Engels die Bewährung in der Praxis betonen: „Daneben gibt es aber noch eine Reihe andrer Philosophen, die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten. Zu ihnen gehören unter den neueren Hume und Kant [...] Die schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich das Experiment und die Industrie. Wenn wir die Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs beweisen können, indem wir ihn selbst machen, ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn obendrein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so ist es mit dem Kantschen ‚Ding an sich‘ zu Ende.“ (Engels 1962, S. 276) Daß es auch mit dem unaussprechlichen Stirnerschen Ich und den ineffabelen Bauerschen Zwischenstufen zu Ende ist, möchte ich mit dem Hinweis auf die seit Engels und Stirner stattgehabten Fortschritte der Psychologie und Sexologie begründen. Zudem war auch das Erkenntnisinteresse, das Hirschfeld seinen Zwischenstufen entgegenbrachte in der Tatsache begründet, daß diesen Menschen Unrecht, Beleidigung und Erniedrigung angetan wurde, wovon sie im sexualpolitischen Kampf „auf sexualwissenschaftlicher Grundlage“ zu befreien sind. Dieser sexualpolitische Kampf war die Praxis, in der sich die Zwischenstufenlehre zu bewähren hatte, und sich, wie wir im Lichte unserer Erfahrung hinzufügen dürfen: glänzend bewährt hat (vgl. dazu Herzer 2002). Die „Grenzen der Sprache“ in einer bestimmten historischen Situation stehen wohl in einem Zusammenhang mit den gleichzeitigen Begrenzung der Befreiungspotenziale.

 

Ein Nebenaspekt sei noch erwähnt, daß nämlich die Grenzen der sexualwissenschaftlichen Sprache enger gezogen sein können als die Grenzen der belletristischen Sprache. Auch wenn es dem Sexologen um das Aussprechen der Wahrheit in praktische Gerechtigkeit schaffender Absicht geht, bleibt stets ein Rest. Wo etwa „ein in Subjektivität eingesperrtes, ein privates Erlebnis“ verbalisiert werden soll, kann sich „das Moment Unaussprechlichkeit“ einstellen, weil „diese Erfahrungen sich im Horizont einer lebensgeschichtlichen Umwelt konstituieren“. Um dergleichen Unwiederholbares zur Sprache zu bringen, um die „Intersubjektivität der Verständigung“ herzustellen, eignet sich womöglich besser als die  formalisierte Wissenschaftssprache die Sprache der belletristischen Literatur. (Habermas 1969, S. 104 f.)

 

Eine Stelle in dem bekannten Brief, den Sigmund Freud an den Dichter Arthur Schnitzler zu dessen sechzigsten Geburtstag am 14. Mai 1922 schrieb, benennt eben diesen Grenzverschiebungen mittels „Sprachkunst“: „Verehrter Herr Doktor [...] So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition  –  eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung  –  alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe. Ja ich glaube, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und unerschrocken wie nur je einer war, und wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt und Sie zu einem Dichter weit mehr nach dem Wunsch der Menge gemacht [...]“ (Freud 1968,  S. 356 ff.)

 

Hirschfelds Fallsammlungen und forensische Gutachten, die ja einen breiten Raum in seinen sexologischen Schriften einnehmen, waren solche Versuche, der Wahrheit des Individuums auf die Spur zu kommen, ohne daß er über die Sprachkunst und Gestaltungskraft eines Dichters verfügt hätte.

 

* * *

Wenn ich Bauers Argumente zu der Frage Revue passieren lasse, ob Hirschfeld von den Propheten Israels inspiriert wurde und seine praktisch orientierte Sexologie irgend etwas mit jüdischem Messianismus zu tun hat, tauchen bei mir Zweifel an der Relevanz dieser Thematik auf. Bauer glaubt zwar, Hirschfelds Œuvre sei „neben Marxismus und Zionismus“ (Bauer 2002, S. 84) sozusagen ein Drittes, eine Art dritter Weg zur „Umdeutung des jüdischen Messianismus in der Moderne“, und es wäre vielleicht interessant und ästhetisch reizvoll, beispielsweise den Marxismus als Umdeutung irgendeines jüdischen Mes­sia­nismus zu entschlüsseln. Nicht die Philosophie Hegels und die Französische Revolution wären dann für Karl Marx der Ausgangspunkt, sondern die Bibel; für Hirschfeld wars nicht Bebel (Die Frau und der Sozialismus), sondern auch die Bibel. Abgesehen davon, daß die Schriften von Marx und Hirschfeld eine solche Lesart einfach nicht hergeben (vielleicht im Wege einer Deleuzeschen Schizoanalyse?), legt Bauer die Intentionen nicht offen, die ihn veranlassen, Hirschfeld und seine Sexologie ins Inventar einer „wesentlich undogmatischen, dialogischen Wesensart der jüdischen Geistigkeit“ einzusortieren (Bauer 2002, S. 85). Dieses Manöver verhilft zu keinem besseren Verständnis der Zwischenstufenlehre oder des politischen Menschen Hirschfeld, es ist ähnlich irrelevant wie es der Nachweis einer Betätigung Hirschfelds in einer Freimaurerloge wäre oder seine Vorliebe für Schokoladenpralinen. Mehrmals vergleicht Bauer Hirschfeld mit Heinrich Heine, der wohl einmal notiert haben soll: „Niemals von jüdischen Verhältnissen sprechen.“ (Bauer 1999, S. 76) Heine hat aber keineswegs „niemals“ von den jüdischen Verhältnissen seiner Herkunft gesprochen, sondern hat diese in seinen späten Jahren offensiv verleugnet, weil sie für ihn offensichtlich eine zentrale und lebenslängliche Problematik darstellten: „Auch – hier stockte Heine etwas – war er [Platen] schrecklich arrogant; ich ließ ihm einige Male sagen, er möge mich keinen Juden nennen, ich sei keiner, am allerwenigsten einer in seinem Sinne, er blieb aber störrisch wie Don Quixote“ (Kertbeny 2000, S. 29). Das Gespräch, von dem Kertbeny hier berichtet, fand 1847 in Heines fünfzigstem Lebensjahr statt. Mehr als zwanzig Jahre früher, 1825, war er der evangelischen Kirche beigetreten, doch vorher hatte er sich durchaus sprachmächtig und wortreich im neu-israelitischen Tempelverein in Hamburg und im Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden in Abwehr des sich damals formierenden Antisemitismus betätigt (vgl. Höhn 1997, S. 32 ff.) Ein Vergleich der beiden Schriftsteller Heinrich Heine und Magnus Hirschfeld könnte gewiß reizvoll und ergiebig sein, betrachtete man etwa die Ähnlichkeit ihrer Ansichten von den Zusammenhängen zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit, Philosophie und sozialer Revolution (Heine), Sexologie und Humanisierung des Strafrechts (Hirschfeld). Hingegen vermag ich in der Art, wie sich beide mit ihrer jüdischen Herkunft und den zeitgenössischen judenfeindlichen Milieus auseinandersetzen mußten, überhaupt keine Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit zu erkennen. Hirschfeld sah sich als junger Mann siebzig Jahre nach Heine ebenfalls vor die Aufgabe gestellt, sich von der Religion seines Elternhauses zu emanzipieren und sich in einer mehr oder weniger judenfeindlichen Umgebung zu behaupten. Aber in diesen siebzig Jahren hatte sich die gesellschaftliche und politische Lage der Juden in Preußen derart radikal verändert, daß die Problematik der beiden jüdischen Jünglinge – Heine um 1820 und Hirschfeld um 1890 – eigentlich unvergleichlich ist. Könnte es nicht sein, daß es bei Hirschfelds Selbstbefreiung von der religiösen Sozialisation einfach deshalb nichts zu verschweigen gab, weil dies kaum problematisch und ohne nennenswerte Konflikte ablief? Die Konflikte machten sich erst später bemerkbar, als etwa seit der Eulenburg-Affäre Hirschfelds politische Feinde den Antisemitismus als Propagandawaffe gegen ihn entdeckten (vgl. Herzer 1985). Zu einer Renaissance religiösen Empfindens führten diese bitteren Erfahrungen der nachträglich und gewaltsam rückgängig gemachten Assimilation bei Hirschfeld jedoch nicht.

 

Abschließend möchte ich noch eine andere Parallele zwischen Heine und Hirschfeld oder eher zwischen den Schriftstellern Max Brod und J.Edgar Bauer andeuten: 1934 erschien in Amsterdam eine von Max Brod verfaßte Heine-Biografie, die als Antwort auf die Verfehmung des Dichters in Nazi-Deutschland eine Heimholung des Juden Heine ins Judentum unternahm und sein Werk als Ausdruck jüdischer Frömmigkeit interpretierte. Es kommt mir so vor, als ob Bauer über die Konstruktion eines jüdischen Messianismus mit Hirschfeld etwas Ähnliches vorhat wie Brod seinerzeit mit Heine. Die äußeren Umstände sind heute natürlich vollkommen andere als 1934 und auf die Problematik der diesbezüglichen Spurensuche im Lebenswerk Hirschfelds habe ich hingewiesen. Daß die Lektüre der Texte Hirschfelds als jüdisch-messianistische Botschaften sonderlich ergiebig wäre oder neue Forschungsperspektiven öffnen würde, kann ich nicht sehen. Andrerseits besteht auch kein Grund zur Aufregung, denn es ist allemal sympathischer, wenn Hirschfeld mit den Propheten Israels in Verbindung gebracht wird als wenn er „der ideologischen Vordenkerschaft des Faschismus“ überführt wird, wie dies leider auch so maßvolle Autorinnen wie Marita Keilson-Lauritz anstreben (Keilson-Lauritz 1997, S. 7). Auf der Potsdamer Hirschfeld-Konferenz im Mai 2003 artikulierte sich jene Vordenkerschaft-des-Faschismus-Theorie erfreulicherweise nur noch sehr dezent und verhalten. Ich fürchte aber, dieser angenehme Potsdamer Eindruck ist trügerisch. Den jüngsten Versuch, Hirschfeld als Nazi-Ideologen zu entlarven, unternahm im vorigen Jahr Florian Mildenberger, (...in der Richtung der Homosexualität verdorben, Männerschwarmverlag) indem er die Eugenik-Diskussion, die in West- und Mitteleuropa sowie in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wurde und an der sich Hirschfeld beteiligte, zu einer Art Vorbereitungsmaßnahme für NS-Großverbrechen umdeutet.

 

 

Literatur

 

Bauer, J.E. (1999): Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 29/30, S. 66-80.

Bauer, J.E. (2002): Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 33/34, S. 68-90.

Engels, F. (1962, zuerst 1888): Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 21, S. 259-307.

Freud, S. (1968): Briefe 1873-1939. Hrsg. von E. & L.Freud. 2. Aufl. Frankfurt am Main.

Habermas, J. (1969): Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘. 2. Aufl. Frankfurt am Main.

Herzer, M. (1985): Eulenburg, der Schmutz und die Juden, in: Berlin von hinten. Ausgabe 1985, S. 15-27.

Herzer, M. (2002): Was hat uns Magnus Hirschfeld, die Mutter der Schwulenbewegung, heute noch zu sagen? in: Capri Nr. 33, Dezember, S. 31-39.

Hirschfeld, M. (1910): Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb mit umfangreichem casuistischen und historischen Material. Berlin.

Höhn, G. (1997, Hrsg.): Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. 2. Aufl. Stuttgart & Weimar.

Keilson-Lauritz, M. (1997): Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene. Berlin.

Kertbeny, K.M. (2000): Schriften zur Homosexualitätsforschung. Hrsg. von M. Herzer. Berlin.

Mildenberger, F. (2002): ... in der Richtung der Homosexualität verdorben. Hamburg.