Manfred Herzer

 

Magnus Hirschfeld

 

Leben und Werk eines jüdischen,

schwulen und sozialistischen

Sexologen

 

Zweite, überarbeitete Auflage

 

Ursprünglich erschienen in: Bibliothek rosa Winkel, Band 28,
Schriften der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Band 10,
MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg, 2001, ISSN 0940-6247, ISBN 3-935596-28-6.
Die Erstauflage erschien 1992 im Campus Verlag, Frankfurt am Main.
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

 

 

Inhalt

 

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Judentum

Sozialdemokratie

Homosexualität

Psychoanalyse

Das Institut für Sexualwissenschaft

Exil und Tod

Chronik von Hirschfelds Leben

Abbildungen

Literatur

 

 

Magnus Hirschfeld und eine seiner Schwestern, Agnes oder Jenny, vor dem Denkmal der Stadt Kolberg für seinen Vater Hermann Hirschfeld. (Magnus Hirschfeld ließ sich von einem unbekannten Fotografen vor dem Denkmal ablichten, das die Stadt Kolberg 1886 zum Andenken an seinen Vater Hermann Hirschfeld errichtet hatte. Die Frau an seiner Seite ist unbekannt. Vielleicht ist es seine Schwester Agnes, vielleicht seine Schwester Jenny. Unklar ist auch der von Hirschfelds Hand stammende Vermerk am unteren Rand: »Brl. 3/VII 30.« Bezeichnet er Ort und Tag, an dem Hirschfeld das Foto einem Unbekannten schenkte? Bezeichnet er den Tag der Aufnahme? Drei Jahre später wurde das Denkmal von der NS-Stadtverwaltung zerstört und Hirschfeld begriff, dass seine Weltreise tatsächlich eine Flucht vor seinen nazistischen Todfeinden war. Das Foto wurde der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft von der vermutlich letzten noch lebenden Verwandten Hirschfelds, seiner Großnichte Frau Ruth G. Cohen, zur Verfügung gestellt. Frau Cohen, die 1938 mit ihrer Familie aus Berlin nach Melbourne, Australien emigrierte, ist im Juni 2001 zu einem Besuch in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hat bei dieser Gelegenheit dieses und andere Familienfotos mitgebracht.)

 

 

 

Vorwort zur 2. Auflage

Hirschfeld-Forschung in den neunziger Jahren

 

Das Manuskript der ersten Auflage habe ich vor etwa zehn Jahren beendet. Die Erträge der Hirschfeld-Forschung, die seither vor allem im Umkreis der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und des Schwulen Museums stattfand, muss man leider als eher bescheiden bezeichnen. Einige Mosaiksteinchen konnten in manche der vielen weißen Flächen unseres Hirschfeld-Bildes eingefügt werden. Zu mehreren Personen, die in Hirschfelds Leben eine Rolle spielten, glückten interessante Entdeckungen. Eine neue Sicht der Dinge oder eine neue Gewichtung und Deutung der Tatsachen war daraus jedoch nicht zu gewinnen.

     Allein J. Edgar Bauers Neuinterpretation der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre bildet hier eine Ausnahme, indem sie »die eigentliche utopische (präziser: messianische) Dimension Hirschfelds« erörtert.1 Bauer entnimmt den Texten Hirschfelds eine Art Emanzipationsprogrammatik, »dass einst jeder Mensch nicht nur sich als eine irreduktible sexuelle Variante begreift und verwirklicht, sondern auch dieselbe individuelle Differenz in der Sexualkonstitution aller anderen Menschen anerkennt und respektiert. So gesehen ist Hirschfelds angeblich bescheidene ›Lehre‹ in der Konsequenz utopisch anspruchsvoller als Freuds ›psychoanalytische Theoriebildung‹, die bei allem argumentativen Raffinement mit einer unkritisch angenommenen Teleologie der Heterosexualität operiert. Erst die geduldige Arbeit des ›Kompilators‹ Hirschfeld konnte die Grundlage seines epochalen Bruches mit dem Sexualdimorphismus des adamitischen Menschen liefern, dessen Wirkungsgeschichte von der Bibel bis hin zu Sigmund Freud reicht.« (S. 38) Dass diese Deutung der Zwischenstufenlehre bisher nahezu völlig unbeachtet blieb – Zustimmung gab es überhaupt nicht und ein paar Einwände wurden nur von mir vorgebracht2 –, muss wohl als Symptom für das weitgehende Desinteresse an einer Auseinandersetzung mit Hirschfeld gewertet werden. Volkmar Sigusch, der zur Zeit schärfste Kritiker Hirschfelds, kann die von ihm kassandramäßig angekündigte »Hirschfeld-Renaissance« als eine selfdestroying prophecy verbuchen.3 So schlimm, wie er befürchtete, ist es bisher nicht gekommen. Immerhin gab es aber die erwähnten interessanten Entdeckungen, von denen ich einige hier referieren möchte.

 

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Die Untersuchung von Marita Keilson-Lauritz über die literarischen und literaturkritischen Texte in Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen und in Adolf Brands Der Eigene beeindruckt durch die Fülle an bisher unbekannten Details aus der Frühgeschichte der Schwulenbewegung. Keilson-Lauritz analysiert die ästhetischen und politischen Ideale der Autoren beider Periodika äußerst differenziert und richtet ihre Aufmerksamkeit besonders auf die komplizierten Wechselwirkungen zwischen Schwulenästhetik und -politik einerseits und den Traditionen, Normen und Werten des eher nicht-schwulen Rests der Welt andererseits. Irritierend erscheint mir dabei jedoch, dass Hirschfeld umstandslos in einen Schuldzusammenhang zu den nationalsozialistischen Verbrechen gestellt wird. Siguschs Hirschfeld-Kritik dient zur alleinigen Begründung für eine ominöse Verbundenheit Hirschfelds mit den Untaten der Hitlerfaschisten: »So bleibt Hirschfeld über seinen biologischen Determinismus der ideologischen Vordenkerschaft des Faschismus verbunden, auch wenn er und seine Lebensleistung zugleich dessen Opfer wurde.«4 Sätze wie dieser rufen in mir neuerdings ein Gefühl der Ratlosigkeit hervor, weil die Argumente, die ich in der Einleitung zur Erstauflage des vorliegenden Buchs gegen eine behauptete Komplizenschaft oder Verbundenheit Hirschfelds mit den NS-Großverbrechern entwickelt habe, soweit ich sehe, noch nicht widerlegt oder auch nur entkräftet wurden. Auch Siguschs Bemühen, seinem Vorwurf gegen Hirschfeld die Schärfe zu nehmen, indem er Hirschfeld vom konzeptiven NS-Ideologen zum Mitläufer der Nazi-Vordenker herabstuft, (»Er schwamm in einem biologisch-somatologisch-eugenischen Diskurs mit, der lange vor den Nazis begann, von den Nazis nach ihren eigenen Opportunitäten benutzt wurde«5) ändert für meinen Geschmack nichts an der Fragwürdigkeit dieser Zuordnung.

     In der grundlegenden »Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland« von Weingart u. a. wird Hirschfeld zwar ohne nähere Begründung zu »einer wichtigen Persönlichkeit in der späteren Berliner Eugenik« erklärt, bemerkenswerter erscheint mir aber, dass für diese Autoren als »der eine entscheidende Punkt« in den nationalsozialistischen Gesetzen über die Unfruchtbarmachung von Angehörigen bestimmter Bevölkerungsgruppen »die Frage der Freiwilligkeit bzw. des Zwangs bei Sterilisationen« gilt.6 Die zwangsweisen Sterilisationen bestimmter Menschen durch die ärztlichen Helfer des NS-Staates waren allerdings Vorstufen zu den nazistischen Massenmordaktionen seit Ende der dreißiger Jahre, und Hirschfeld befand sich mit seinem strikten Beharren auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung in den Fragen der Eheberatung, Empfängnisverhütung und Sterilisation in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu Theorie und Praxis der Nazis sowie übrigens auch zu verblüffend ähnlichen Zwangsgesetzen in den meisten Staaten Europas und Nordamerikas jener Zeit. Die Ausnahme, die hier vielleicht erwähnt werden sollte, ist aber bei näherem Hinsehen keine, sondern nimmt das bundesdeutsche Recht vorweg, das im zuletzt 1998 geänderten »Gesetz über die freiwilllige Kastration und andere Behandlungsmethoden« vom 26. 1. 1969 festgelegt ist. Hirschfeld schreibt in Kapitel 20 seiner Geschlechtskunde (Band 3, S. 47 f.): »Die Zwangssterilisation sollte nur in ganz besonders schweren Fällen erlaubt sein, namentlich wenn die Betreffenden selbst geistig so verblödet sind, daß sie außerstande sind, über sich zu verfügen. In allen anderen Fällen müßte nicht nur die Zustimmung, sondern eine tatsächliche, auf Einsicht beruhende Bereitschaft die unbedingte Voraussetzung dieses Eingriffs sein.« In Paragraph 3 des Kastrationsgesetzes wird die Zwangsmaßnahe unter der Bedingung erlaubt, dass ein staatlich bestellter »Betreuer« zustimmt: »Ist der Betroffene nicht fähig, Grund und Bedeutung der Kastration voll einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen, so ist die Kastration nur dann zulässig, wenn [. . .] der Betroffene einen Betreuer erhalten hat, zu dessen Aufgabenbereich die Angelegenheit gehört, und dieser in die Behandlung einwilligt.«

 

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Gerd Wilhelm Grauvogel hat mit seiner Dissertation über den Theologen Theodor von Wächter, der von 1890 bis zu seinem »Ausgetretenwerden« 1895 SPD-Mitglied war, ein besseres Verständnis von August Bebels Gesinnungswandel in der Schwulen- und Lesbenfrage während der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts ermöglicht.7 Im gleichen Jahr 1895, als Eduard Bernsteins Berichte über den Londoner Oscar-Wilde-Prozess in der Neuen Zeit erschienen, sah sich Bebel mit »Verfehlungen« des Genossen von Wächter konfrontiert, und schlimmer noch, von Wächter wollte seine Verfehlungen (er hatte sich »in einer nur onanistischen Weise« mit einem Mann »vergangen«) in einer Berliner Volksversammlung »offen bekennen«. Bebel erklärte ihm nach dieser Ankündigung:

     »›Sie sind verrückt, wenn Sie das thun. Sie müssen daneben bedenken, daß Sie im Lande noch immer als Parteigenosse gelten. Man weiß nicht, daß wir sofort, nachdem wir Ihre Verfehlung erfuhren, Sie ›kaltgestellt‹ haben.‹ – Ich erklärte dann: ›Gut, ich will auf die Partei nichts fallen lassen, ich werde also, so schwer es mir wird, zugleich mit meinem Bekenntniß meinen Austritt aus der Partei erklären.‹ Bebel antwortete: ›Das erwarten wir bestimmt von Ihnen. Wir haben mit Ihnen nichts mehr zu schaffen. Sie werden überhaupt, wenn Sie die Versammlung abhalten, für die gesammte Oeffentlichkeit ein todter Mann sein. Wir werden Sie mit allen Mitteln bekämpfen.‹«8

     Hier zeigt sich die enge Grenze, über die Bebels schwulenpolitisches Engagement als Erstunterzeichner von Hirschfelds Petition gegen § 175 und als recht ambivalenter Reichstagsredner zur gleichen Sache nicht hinauskam. Schwule in der eigenen Partei, noch dazu solche, die sich »offen bekennen«, waren ihm und wohl auch der Mehrheit der Genossen und Genossinnen ein Greuel. Die relative Unbefangenheit, mit der sich Bernstein zur rechtlichen und moralischen Seite der konträren Sexualempfindung äußerte, blieb Bebel bis an sein Lebensende und seiner Partei noch viele Jahrzehnte darüberhinaus fremd.

 

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»Hirschfeld's Scrapbook« ist die Bezeichnung für ein Konvolut von Dokumenten, die seit den fünfziger Jahren im Kinsey-Institut in Bloomington, Indiana unbeachtet lagerten. Erst 1998 konnte mit deren Auswertung begonnen werden,9 wobei sich herausstellte, dass die Papiere ganz offensichtlich aus dem Besitz von Carl Theodor Hoefft (1855–1927) stammen. Der Name Hoefft tauchte zwar einige Male im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen auf, wo in den Jahrgängen 1902 und 1903 Hoeffts vergebliche Bemühungen, in Hamburg ein »Subkomitee« des Wissenschaftlich-humanitären Komitees zu gründen, erwähnt werden; im Jahrgang 1922 wird mitgeteilt, dass auf der Jahresmitgliederversammlung des WhK »der langjährige verdiente Obmann Herr Dr. phil. C. Th. Hoefft-Hamburg zum Obmann auf Lebenszeit ernannt« wurde (S. 99). Alles Weitere zu Hoeffts Leben und Tätigkeit konnte jedoch erst seinen nachgelassenen Papieren aus Bloomington und Recherchen im Hamburger Staatsarchiv entnommen werden.

     Ein großer Teil der Dokumente in »Hirschfeld's Scrapbook« enthalten Protokolle von Sitzungen und Versammlungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees in Berlin und der Subkomitees in München, Leipzig und Frankfurt am Main. Die Lektüre gewährt einen einzigartigen Einblick in das Innenleben des WhK der Jahre 1902 bis 1908 und ermöglicht es, einige Lücken zu ergänzen, die in den gedruckten Monatsberichten des Wissenschaftlich-humanitären Komitees unbemerkt blieben.

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Die Recherchen, die den urnischen und nicht-urnischen Damen im Wissenschaftlich-humanitären Komitee galten, führten bisher zu wenig befriedigenden Ergebnissen. Hirschfeld war von Anfang an bemüht, bei seiner Homosexuellenforschung und -politik beide Geschlechter, Sappho und Sokrates, im Auge zu behalten, was in seinem schönen Satz zum Ausdruck kam: »Der homosexuelle Mann und die homosexuelle Frau stehen in naturgemäßer Verwandtschaft zu einander und gehören thatsächlich zu einem III. Geschlecht, das den beiden anderen gleichberechtigt, wenn auch nicht gleichartig gegenübersteht.«10 Dies war weitgehend verlorene Liebesmüh und die Frauen waren im WhK wohl nicht mehr als Randerscheinungen.11 Um so reizvoller erschien es, mehr über »Frau Reg.-Rat Dr. Martha Marquardt, Berlin« zu ermitteln, zumal dieser Name nicht nur über mehrere Jahre unter den Beitragszahlern des WhK verzeichnet ist (z. B. Jahrbuch 6, 1904, S. 735), sondern auch in Adolf Brands Liste der Gründungsmitglieder seiner Gemeinschaft der Eigenen steht.12 Die Schriftstellerin Martha Marquardt (1873–1956) ist offensichtlich nicht die Gesuchte, denn sie arbeitete damals in Frankfurt am Main als Sekretärin des bekannten Serologen Paul Ehrlich. Das ergibt sich aus der Paul-Ehrlich-Biografie, die sie nach Ehrlichs Tod verfasste. Da es im wilhelminischen Staatsapparat wohl ausgeschlossen war, dass eine Frau Regierungsrat werden konnte und da es damals kaum Frauen gab, die den Doktortitel führten, ist Folgendes wahrscheinlich: Unsere Martha Marquardt war die Ehefrau des 1897 zum Regierungsrat, 1908 zum Geheimen Regierungsrat und 1911 zum Senatspräsidenten im Reichsversicherungsamt ernannten Dr. Wilhelm Marquardt. Da in den Akten des Reichsversicherungsamts (Bundesarchiv R 89/10622) nichts über den Familienstand des Regierungsrats Dr. Marquardt und auch nicht der Name seiner Gattin verzeichnet ist, bleibt ein Rest Ungewissheit. Und das Phänomen einer preußischen Regierungsratsgattin, die sich in der Umgebung von Adolf Brand und Magnus Hirschfeld engagiert haben soll, bleibt weiterhin rätselhaft und faszinierend.

 

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Vor kurzem gelang der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft eine wunderbare Entdeckung. Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach lagerte seit vielen Jahren so gut wie unbeachtet ein Dokument, das gewöhnlich als »Hirschfelds Gästebuch« bezeichnet wird, obwohl es eher eine Art Poesiealbum ist, in das Menschen, denen Hirschfeld in seinen letzten beiden Lebensjahren begegnete, kurze Widmungstexte, Gedichte und dergleichen eintrugen. Ferner sind etwa achtzig Fotos eingeklebt, die meist Hirschfeld in Gesellschaft derer zeigen, mit denen er erst in Paris und später in Nizza zusammentraf. Es gibt aber auch Fotos wie jenes, unter dem handschriftlich vermerkt ist: »Karl G. und Tao L. vor unserem Berliner Institut«. Tatsächlich sieht man Karl Giese und Tao Li im Vorgarten des Instituts für Sexualwissenschaft, was auf eine bisher nicht bekannte Reise der beiden nach Berlin schließen lässt, die irgendwann zwischen April 1932 (Ankunft Hirschfelds und Tao Lis in Wien) und Mai 1933 (Zerstörung des Instituts) stattgefunden haben muss.

     In der ersten Auflage des vorliegenden Buches habe ich ohne einen Beleg behauptet, dass Karl Giese Frankreich »nach Hirschfelds Tod« verlassen habe und zwar unfreiwillig, weil er, wie Kurt Hiller schrieb, aus Frankreich »wegen einer Badeanstalts-Affäre ausgewiesen« worden sei. Im »Gästebuch« finden sich nun zwei Hinweise darauf, dass Giese Frankreich bereits im Oktober 1934 verlassen musste: Unter einem Foto, das Hirschfeld mit seinem freimaurerischen Logenbruder Dr. Edmond Zammert sowie Giese und eine unbekannte Frau vor einem Auto stehend zeigt, liest man den Eintrag: »Abreise von K. G. am 26. 10. 34.« Schließlich hat Giese unter eine Eintragung, in der die Stadt Paris als Paradies bezeichnet wird, die Worte geschrieben: »Aber eins aus dem man auch vertrieben werden kann. Paris 11. Aug. 34. Karl Giese«. Dass er 1935 nicht mehr in Frankreich war, geht auch aus Hirschfelds auf den 10. Januar 1935 datiertem Testament hervor, wo es zu Giese heißt: »Seine jeweilige Adresse wird bei Dr. Karl Fein, Advokat in Brünn (Brno). S. R., 6 Masarykowa, zu erfahren sein.«13

     Die wohl anrührendste Seite im »Gästebuch« enthält einen eingeklebten undatierten, aber vermutlich aus dem Jahr 1934 stammenden Zeitungsausschnitt mit der Überschrift »Dr. Hirschfeld-Kolberg.« und den handschriftlichen Zusätzen »Von meinem Vater« und »Die Heimat, wie sie war und wie sie ist.« Wir haben hier nicht nur erstmals eine Beschreibung des Denkmals, das die Stadt Kolberg für Hermann Hirschfeld einige Jahre nach dessen Tod errichten ließ (Obelisk aus schwarzem Marmor, umfriedet von einem Eisengitter), wir erfahren hier zudem, dass Hermann Hirschfeld »Vorstand der Kolberger jüdischen Gemeinde« gewesen ist. Einen Extremfall an rabenschwarzer Poesie des Schreckens und des anscheinend erzwungenen Understatement bietet indes der Satz, der die Begründung für die Denkmalszerstörung referiert: »Begründet wird dieser Schritt damit, daß der Magistrat damit einem langgehegten Wunsch der nationalsozialistisch empfindenden Bevölkerung der Stadt Kolberg nachgekommen ist.«

 

Einen gewissen Aufschwung erfuhr in den neunziger Jahren die Forschung zu Leben und Werk eines der sozusagen treuesten Mitarbeiters Hirschfelds, des Juristen und Schriftstellers Kurt Hiller. Zwei materialreiche Aufsatzsammlungen14 und einige Briefeditionen15 bieten eine Fülle bisher kaum beachteter Details und Aspekte zu Hillers Lebenswerk. Die Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft zwischen Hiller und Hirschfeld ist dort aber allenfalls beiläufig erwähnt; eine genauere Rekonstruktion der durchaus wechselvollen Beziehung bleibt weiterhin Desiderat.

 

Karl Giese und Tao Li stehen offensichtlich im Vorgarten des Instituts. Die belaubten Bäume lassen vermuten, dass die Berlin-Reise der beiden im Sommer 1932 stattgefunden hat. Der Fotograf ist unbekannt. Das Foto ist in »Hirschfelds Gästebuch« eingeklebt, das sich heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet.

 

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Im Herbst 1988 veranstaltete das Stadtarchiv Bamberg eine Ausstellung »Joseph Schedel (1856–1943). Ein Bamberger als Apotheker und Sammler in Ostasien«. Robert Zink hat in dem von ihm verfassten Begleitheft zur Ausstellung einen ersten Überblick über Schedels Leben vorgelegt und dafür Schedels nachgelassene Papiere ausgewertet, die bis dahin unbeachtet im Bamberger Stadtarchiv lagerten. Schedels Verbindung mit Hirschfeld wird immerhin am Rande gestreift16, seine führende Rolle im Münchener Subkomitee des WhK bleibt hingegen unerwähnt. Womöglich gibt der Schedel-Nachlass dazu nichts her und die Protokolle des Münchener WhK im Kinsey-Institut sind die einzige heute erhaltene Quelle zu dieser Thematik. Die »Entdeckung« der Arbeit Zinks für die Hirschfeld-Forschung verdanken wir übrigens der Aufmerksamkeit von Marita Keilson-Lauritz. Sie beabsichtigt auch, demnächst eine Analyse des Schedelschen Nachlasses in Bamberg unter schwulenhistorischen Gesichtspunkten zu unternehmen.

 

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Zeitungsausschnitt aus »Hirschfelds Gästebuch« Ende 1934, mit handschriftlichen Anmerkungen von Hirschfeld.
Foto: Deutsches Literaturarchiv, Marbach.

 

Trotz alledem bleibt unser Hirschfeld-Bild eigenartig blass und fragmentarisch. Hirschfeld als Privatperson verschwindet so gut wie vollständig hinter der quasi offiziellen Fassade, die er in seinen Büchern mit den vielen eingestreuten autobiografischen Episoden und Anekdoten zeigt. Wir kennen inzwischen mehr als zweihundert Briefe und Postkarten von Hirschfelds Hand. Das ist sehr wenig und gewiss nur ein winziger Bruchteil der Briefe, die er im Laufe seines Lebens geschrieben hat. Briefe an die Eltern, Geschwister, intimere Freunde oder Freundinnen befinden sich nicht darunter, so dass auch hier kaum etwas von dem lebendigen Menschen hinter der Repräsentationsoberfläche zu spüren ist. Manchmal vermitteln die Quellen und Zeugnissen seines Lebens den Eindruck, als ob es dahinter nichts gibt, eine bloße Leerstelle, und als wäre die Person Hirschfeld vollkommen identisch mit den Rollen und Posen, deren Abglanz wir heute auf der Suche nach dem wirklichen und wahrhaftigen Hirschfeld mit mäßigem Erfolg zu deuten versuchen. Ich glaube zwar, dass dieser Eindruck falsch ist, dass es zumindest eine mit nahezu verbissener Sorgfalt und Ängstlichkeit vor den neugierigen Zeitgenossen und leider auch vor den noch viel neugierigeren Biografen abgeschirmte private Sphäre gegeben hat. Wenn man von den spärlichen Auskünften absieht, die die wenigen Zeitzeugen, die ich befragen konnte, über ihre Jugendzeit zu geben bereit waren (Bruno Balz, Dr. Hanns Grafe, Dr. Erhart Löhnberg, Günter Maeder, Bruno Vogel), dann scheinen tatsächlich alle Spuren verwischt zu sein, die in diesen verborgenen Lebensbereich Hirschfelds führen könnten.

     Es ist immer legitim, und in der eher desolaten Angelegenheit Hirschfeld in besonderem Maße, wenn man sich dem Verständnis historischer Persönlichkeiten oder Ereignisse mit künstlerischen Mitteln zu nähern versucht. Der historische Roman, das Theaterstück, der Film können den Wahrheitsgehalt von geschichtlichen Abläufen oft erstaunlich präzise offen legen. Sie machen die Arbeit der Historiker zwar nicht überflüssig, können sie aber in glücklichen Fällen ergänzen.

     Rosa von Praunheims Hirschfeld-Spielfilm Der Einstein des Sex, der im Frühjahr 2000 erstmals in den Kinos zu sehen war, funktioniert ungefähr in diesem Sinn. Er bietet eine glaubwürdige und vielschichtige Charakterstudie des schwulen Sexologen mit jüdischer Herkunft und sozialdemokratischen Neigungen, indem er die von der Forschung hinterlassenen Lücken durch fiktionale Erzählungen füllt. Dass der Film die gesicherten Fakten teils recht großzügig behandelt, beeinträchtigt indes die psychologische Wahrhaftigkeit des Porträts nicht.

     Beispielsweise wird die weitgehend unbekannte Herkunft des Geldes, mit dem Hirschfeld den Kauf der beiden Gebäude für sein Institut für Sexualwissenschaft finanzierte, als märchenhaft hohes Arzthonorar erklärt, das er von einem ebenso märchenhaft reichen orientalischen Potentaten für die Geschlechtsumwandlungsoperation bekam, die er an einem Hermaphroditen aus der Orientalenfamilie erfolgreich ausführte; der Transvestit Dorchen assistierte Hirschfeld bei der Operation im Hotel Adlon. Das ist, wie mehrere andere Episoden im Film, frei erfunden. Die Erfindungen passen aber sehr gut in die Psychologie des Hirschfeld-Porträts, das der Film entwirft, so dass der paradoxe Effekt eines gesteigerten Wahrheitsgehalts eintritt, obwohl die Fakten nicht stimmen.

     Dass die Fakten stimmen müssen, ist nun leider die erste Bedingung für die ganz unkünstlerische Erforschung des Hirschfeldschen Lebenswerks, Lebensgefühls und Lebenslaufes durch die Geschichtsschreibung. Und hier haben wir es, wie bereits beklagt, mit allzu vielen dunklen Stellen und offenen Fragen und viel zu wenigen gesicherten Tatsachen zu tun, um ein so schönes rundes Bild zeichnen zu können, wie es der freien Fantasie des Filmemachers erlaubt und geglückt ist.

 

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Von verschiedenen Seiten wurde meine Ansicht beanstandet, dass Hirschfelds Werk schon in den dreißiger Jahren zu veralten begann und heute nur noch ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte repräsentiert. Es geht dabei unter anderem um die alte Glaubensfrage, die Hirschfeld nahezu lebenslänglich bewegte, ob die Homosexualität und alle anderen geschlechtlichen Wünsche und Praktiken an- oder eingeboren oder sonstwie ererbt sind oder nicht.

     Wenn man nun aber annimmt – und bei oberflächlichem Hinsehen wird man leicht zu dieser Ansicht verleitet –, Hirschfelds Lebenswerk sei nichts weiter als eine Suche nach den biologischen Gründen für die sexuellen Orientierungen, dann findet man schnell Beispiele aus den letzten Jahrzehnten, wo Naturwissenschaftler behaupten, sie hätten die biologischen Ursachen speziell der Homosexualität gefunden. Das kann man dann als Fortsetzung und Aktualisierung des Hirschfeldschen Œuvres ansehen. In den sechziger Jahren erlangte etwa Günter Dörner aus der DDR internationale Beachtung mit seiner These, Homosexualität entstehe durch hormonell bedingte Prozesse im Gehirn des Ungeborenen. In den USA scheinen derartige Forschungen zurzeit eine bescheidene Konjunktur zu haben. Ralf Dose wies mich kürzlich auf einen Aufsatz in der Zeitschrift Nature hin, in dem kalifornische Forscher beweisen wollen, es gebe einen hormonell bedingten Zusammenhang zwischen der lesbischen Liebe und dem Längenwachstum mancher Gliedmaßen bei Lesben17. Ihn erinnerte das an anthropometrische Forschungen, wie sie Arthur Weil im Institut für Sexualwissenschaft vornahm und wie sie von Hirschfeld unentwegt als Beweis für das »Angeborensein der Homosexualität« angeführt wurden.

     Demgegenüber ist zweierlei zu bemerken: Erstens hat Hirschfeld niemals selbst Ursachenforschung betrieben, wohl aber hat er einschlägige Arbeiten von Männern wie Alfons Goldschmidt, Eugen Steinach und auch Arthur Weil mit eifrigem Bemühen nach Beweisen für seinen Glauben an das Angeborensein beobachtet und teilweise auch direkt angeregt. Fand er dabei Brauchbares, zögerte er nicht, sich als Propagandist und Popularisator dieser Entdeckungen zu betätigen. Hirschfeld hätte es gewiss geliebt, wenn er den bewunderten Steinach für die Mitarbeit an seinem Institut für Sexualwissenschaft hätte gewinnen können. Und dass Steinach lieber in seiner »Biologischen Versuchsanstalt der Akademie der Wissenschaften in Wien« blieb und später (vielleicht aus antihomosexuellem Ressentiment) mit Moll gemeinsame Sache machte, gehört vermutlich zu den großen Enttäuschungen in Hirschfelds Leben. Die Vorstellung, Hirschfeld hätte die Bio-Forschungen von Dörner und von heutigen US-Amerikanern so begeistert begrüßt, wie seinerzeit Steinachs Transplantationen, mag vielleicht zutreffen. Über Hirschfelds eigene wissenschaftliche Leistungen ist damit aber überhaupt nichts gesagt, denn sein Glaube an das Angeborensein der Homosexualität gehört jedenfalls nicht zu diesen Leistungen. Diesen Glauben hat er auch nicht erfunden, sondern aus dem neunzehnten Jahrhundert übernommen. Vermutlich hat der französische Arzt Claude François Michéa diese Idee erstmals 1849 in die medizinische Diskussion eingeführt18, und Ulrichs weist immer wieder darauf hin, dass bereits Aristoteles eine angeborene Naturneigung zum Liebesgenuss männlicher Individuen erwähne.

     Zum Zweiten ist zu bedenken, dass das Forschungsgebiet, auf dem Hirschfeld seinerzeit bahnbrechend wirkte, die Empirie der gesellschaftlichen Erscheinungsformen der Homosexualität des Mannes und des Weibes gewesen ist. Reichtum und Präzision, mit der er die Liebeswirklichkeit der urnischen Menschen und bald auch der unendlich vielen anderen sexuellen Zwischenstufen beschrieb, blieben lange Zeit einzigartig und unübertroffen. Der in diesem Zusammenhang mehrmals von Hirschfeld geäußerte Gedanke, dass im Grunde alle Menschen sexuelle Zwischenstufen sind, auf einzigartige und unwiederholbare Weise aus männlichen und weiblichen Anteilen zusammengesetzte Individuen – dieser Gedanke ist im Gegensatz zur Zwischenstufenlehre als Einteilungsschema keineswegs Hirschfelds Schöpfung. Er findet sich bei Autoren des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und wurde unter anderem auch von Hirschfeld eher beiläufig erwähnt19. Bei der Anwendung von Methoden der empirischen Sozialforschung wie Fragebogenerhebung und qualitative Beschreibung von sexuellen Subkulturen leistete Hirschfeld jedoch wirkliche Pionierarbeit, an die, wie bereits erwähnt, Kinsey anknüpfen konnte. Das Einteilungsschema, das er sich für die Gliederung der enormen Stofffülle konstruierte, hat er in seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen begründet und dabei stets betont, dass es sich hierbei nicht um eine Theorie handele, die die Ursachen der beschriebenen Phänomene zu erklären beanspruche. »Deskriptor, Empiriker« nannte ihn Kurt Hiller in seinem Nachruf von 1935 und benannte damit zugleich Hirschfelds Größe und Grenze.

     Die Deskription der Sexualitäten seiner Epoche veraltete und verlor ihre Gültigkeit in dem Maße, wie diese Epoche im Strom der Geschichte versank. Was von ihr bleibt, ist vielleicht nur das Ethos des unerschrockenen empirischen Forschers mit seiner heißen Liebe zur Wahrheit und zur Gerechtigkeit – und das ist nichts Geringes.

 

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Der hier vorgelegte biografische Versuch über Magnus Hirschfeld verdankt sein Zustandekommen der tatkräftigen und beratenden Hilfe von Manfred Baumgardt, Ralf Dose, Egmont Fassbinder, Erwin J. Haeberle, Gert Mattenklott, Arno Schmitt, Siegfried Tornow, Gert Weymann (alle Berlin) sowie James D. Steakley (Madison, Wisconsin) und Hubert Kennedy (San Francisco, California). Ihnen und den Zeitzeugen sowie der einzigen Zeitzeugin, Frau Dr. Bækgaard, die Hirschfeld persönlich gekannt haben und mir darüber bereitwillig Auskunft gaben, sei hier ausdrücklich Dank gesagt.

Die vorliegende zweite Auflage der immer noch einzigen deutschsprachigen Hirschfeld-Biografie entspricht im Wesentlichen dem Text der ersten; kleinere Korrekturen und Zusätze schienen jedoch erforderlich, ferner wurde das Literaturverzeichnis aktualisiert.

 

Berlin-Kreuzberg, im Mai 2001

 

 

Einleitung

 

Meint man nicht, man hörte den lieben Herr Gott reden in den Propheten oder in den Psalmen?

                                               Ein Gemüt das zum Guten bewegt ist, und sich der Elenden annimmt, und die Gefallenen aufrichtet, ein solches Gemüt zieht nämlich das Ebenbild Gottes an, und fällt deswegen auch in seine Sprache.

                                                                                                     Johann Peter Hebel,

                                                                                 Einer Edelfrau schlaflose Nacht

 

Sucht man nach Gründen, warum Magnus Hirschfeld heutzutage so gut wie vergessen ist, dann liegt es nahe, an die Nazis und ihr barbarisches Zerstörungswerk zu denken. Hirschfeld und alles, was er repräsentierte, waren für sie von Anfang an ein bevorzugtes Hassobjekt. 1920 verübten Rechtsradikale in München auf offener Straße ein Attentat, das Hirschfeld nur schwer verletzt überlebte, und im gleichen Jahr benutzte Hitler erstmals in seinen Volksversammlungen den Namen Hirschfelds als besonders geeignetes Beispiel für die jüdische Rasse, die es zu vernichten gelte. Als Hirschfeld 1930 Deutschland endgültig verließ, war dies durchaus eine Flucht vor der wachsenden nazistischen Bedrohung, obwohl zunächst nur eine Vortragsreise durch die USA geplant war. Die Zerstörung seines Instituts für Sexualwissenschaft, das Verbieten und Verbrennen seiner Bücher, nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren – man könnte der Ansicht sein, dies habe genügt, um das wissenschaftliche Werk aus dem Gedächtnis der Nachwelt zu löschen.

     Bei näherem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass Hirschfelds Werk, sein Konzept einer Geschlechtskunde oder Sexologie, seine Antworten auf die sexuellen Probleme der modernen Zivilisation schon in den dreißiger Jahren zu veralten begannen und spätestens mit dem Erscheinen der Kinsey-Reports 1949 und 1953 nur noch ein abgeschlossenes Kapitel aus der Geschichte der Sexualwissenschaft repräsentierten.

     Die beiden großen Themen der sexuellen Frage im 20. Jahrhundert, die Befreiung der Homosexuellen und die Emanzipation der Frauen, formulierte Hirschfeld in einer Weise, die sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in der westlichen Welt als nicht länger brauchbar erwies. So hat Charlotte Wolff in ihrem Hirschfeld-Buch (1986) recht eindrücklich gezeigt, wie sehr Hirschfeld trotz allem Engagement für Frauenrechte einem Frauenbild anhing, das sich von den patriarchalischen und frauenverachtenden Vorstellungen der Konservativen, Christen und Nazis beiderlei Geschlechts nicht genügend unterschied.

     Wenn es gewiss nicht übertrieben ist, Hirschfeld als die maßgebliche Kraft im Befreiungskampf der Homosexuellen im ersten Jahrhundertdrittel zu bezeichnet, dann ist doch immer wieder die Begrenztheit dieses Engagements zu registrieren; nur selten vergaß er, Homosexualität als einen Fluch der Natur zu bezeichnen, und den Wunsch vieler Homosexueller, heterosexuell zu empfinden, hielt er stets für »gewiss berechtigt«. Die Verwirklichung gleichen Rechts und gleicher Lebenschancen für alle Geschlechter und sexuelle Orientierungen stieß damit auch an eine subjektive Schranke und scheiterte nicht nur an den politischen Verhältnissen in Deutschland.

     Nicht nur Hirschfelds Sexologie ist schnell veraltet: Die Werke seiner berühmten Zeitgenossen und Kollegen wie Auguste Forel in der Schweiz, Henry Havelock Ellis in England oder Albert Moll, Iwan Bloch und Max Marcuse in Deutschland traf das nämliche Schicksal. Dass sie, die man einst als geradezu revolutionär und grundlegend für eine zukünftige neue Wissenschaft von der Sexualität empfand, schon eine Generation später von den Umwälzungen der Sexologie überholt wurden, mag hauptsächlich mit zweierlei zusammenhängen. Zum einen war diese alte Sexualwissenschaft nahezu vollständig von der Biologie und speziell vom Darwinismus dominiert, verstand sich im wesentlichen als eine biologische Unterdisziplin. Soziologische und historische Perspektiven vernachlässigte man mit extremer Konsequenz oder biologisierte gesellschaftliche Prozesse. Andererseits vollzogen sich der soziale Wandel, die Auflösung und Transformation überkommener Normen zur Regulierung der Sexualität mindestens seit dem Ersten Weltkrieg mit einer geradezu dramatischen Beschleunigung. Die avanciertesten Formulierungen der »sexuellen Frage« aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg waren eigentlich schon in den zwanziger Jahren obsolet, und nach dem Zweiten Weltkrieg stürzten die westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften in eine bis dahin unbekannte Dynamik moralischen und zivilisatorischen Wandels, der das Geschlechtsleben völlig neuen Regulierungen unterwarf und der Frauen- und Homosexuellenemanzipation bis dahin ungeahnte Dimensionen eröffnete. Die Biologisierung sexualpolitischer Probleme hatte so gut wie jeden Sinn eingebüßt, überdauerte jedoch außer in einflusslosen Nischen in dem einzigen sexualtheoretischen Ansatz, dessen Wirksamkeit und Verbreitung nach dem Tod seines Schöpfers noch weiter wuchs, der Freudschen Psychoanalyse und ihren Spielarten. Die Biologie in den psychoanalytischen Modellen vom gesunden und kranken Geschlechtsleben oder, wie Freud das nannte, »die chemischen Eigentümlichkeiten der Sexualvorgänge«1, gehörte nicht zur ihrer Substanz und konnte schon bald einem »szientistischen Selbstmissverständnis«2 der Psychoanalyse zugerechnet werden, die sprachliche und kommunikative Vorgänge, aber eben nicht biochemische zu erforschen und zu erklären beansprucht. Die biologisch begründete Idee einer einzigen gesunden und »reifen«, weil die Erzeugung von Nachkommen ermöglichenden, menschlichen Sexualität ist indes in den diversen psychoanalytischen Schulen selbst heute durchaus noch virulent. Biologische Annahmen über das menschliche Geschlechtsleben waren natürlich auch in der neuen behavioristischen Sexologie in der Nachfolge Kinseys stillschweigend eingeschlossen, doch gehörten sie, ähnlich wie bei der Psychoanalyse, nicht zum sozusagen harten Theoriekern, so dass eine Abkehr von der biologischen Orientierung der Vorkriegszeit sich durchsetzte.

     Eine heutige Lektüre der Hauptwerke Hirschfelds, der Geschlechtskunde, der Sexualpathologie oder der Homosexualität des Mannes und des Weibes, macht zwar deutlich, in welch hohem Maß die Überzeugung von einer alles erklärenden und alles begründenden Sexualbiologie vorherrscht, doch ist es nicht gut möglich, Hirschfelds Sexologie auf bloße Biologie zu reduzieren. Es bleibt ein nicht unbeträchtlicher Rest, den Kurt Hiller, ein Mitarbeiter Hirschfelds über mehrere Jahrzehnte, in einem Nachruf im Jahre 1935 recht zutreffend charakterisiert:

     »Er war in Forschung und Denkung, was seine Generationsgenossen in Kunst und Dichtung nicht durchweg mehr waren: Realist, Tatsachenkopf, Mann der direkten Methode, Deskriptor, Empiriker. Seine Stärke lag nicht dort, wo etwa Sigmund Freuds Stärke liegt: in der Deutung von Tatsachen (der magischen Werfung des Strahls unter den Wasserspiegel): Sie lag in der Aufzeigung von Tatsachen. Man hat ihn zum Kompilator verkleinern wollen: unrichtig, er entdeckte sich alles selbst. Aber Tiefenforscher der Seele war er freilich nicht: Kein Seher – ein Aufklärer war er: ein Aufheller des Spiegels der Erscheinungen: ein unermüdlicher und erfolgreicher Sammler, Beschreiber und Ordner von Tatsachen, auf die bis dahin der Blick gemeinhin nicht fiel noch fallen mochte.«3

     In der Tat war es diese, alle damaligen Maßstäbe und Tabuschranken überschreitende sexologische Empirie, die den Wert und das Verdienst der Werke Hirschfelds ausmacht. Diese Empirie war von einem anderen Typ als die auf ihre Art nicht weniger bahnbrechende der psychoanalytischen Autoren. Die Methode und die theoretische Deutung waren konventionell – neu und auf der Höhe damaliger Wissenschaftsentwicklung waren Umfang, Detailreichtum und Genauigkeit der Beschreibungen. Damit war aber zugleich die enge Zeitgebundenheit, das schnelle Veralten des gebotenen Stoffes vorgegeben, und es mag der halbkünstlerischen sprachlichen Gestaltung zu verdanken sein, dass ein Werk wie die Geschlechtskunde dem Dichter Arno Schmidt als Materialsammlung für seinen Roman Zettels Traum dienen konnte4.

 

* * *

 

Das Vergessen war also keineswegs total. Einige Erinnerungsfäden reichen trotz alledem bis in die Gegenwart, doch lassen sie kaum etwas von dem einstigen Ruhm erahnen, den Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft in der Zeit der Weimarer Republik genossen und der sie als geradezu repräsentativ, jedenfalls aber typisch für die Kultur jener zwanziger Jahre erscheinen lässt, so wie das Theater Bertolt Brechts, Die Weltbühne Carl von Ossietzkys oder die Filme des Regisseurs Fritz Lang.

     Nach dem Ende der Nazidiktatur waren es eigentlich nur die beiden überlebenden Mitarbeiter Hirschfelds, der Schriftsteller Kurt Hiller und der englische Sexologe Norman Haire, die sein Gedächtnis zu bewahren trachteten. Eine medizinhistorische Dissertation, die erste Monographie, die es überhaupt zum Thema gab, verfasste 1969 Ralf Seidel in München5. Bedauerlicherweise kam sie nicht in den Buchhandel, bildete aber die Grundlage für den sehr angemessenen Hirschfeld-Artikel in der Neuen Deutschen Biographie6. Seidels Buch war der erste Versuch, Hirschfelds anthropologische Spekulationen über die Natur der menschlichen Sexualität zu würdigen und aus der geistigen Situation seiner Zeit heraus zu verstehen, blieb jedoch ebenso wie sein Aufsatz »Zum 100. Geburtstag von Magnus Hirschfeld«7, den er in der medizinischen Fachpresse publizierte, ohne Resonanz und Folge.

     An dieser Stelle ist der eigentümliche Umgang der westdeutschen Nachkriegs-Sexologie mit dem Werk Hirschfelds zu erwähnen. Er zeichnet sich in den ersten Jahrzehnten durch ein ziemlich vollständig tabuierendes Schweigen aus, was offensichtlich mit dem Umstand zusammenhängt, dass es sich bei den beiden maßgeblichen Köpfen dieser Disziplin, den Psychiatern Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, um ehemalige Nationalsozialisten handelte8. Sie setzten nach 1945 eine Richtung der in Nazi-Deutschland praktizierten Sexualwissenschaft fort, die sich unter dem Einfluss von Phänomenologie, Gehlenscher Anthropologie und Heideggerscher Existenzphilosophie von dem mehr biologisch orientierten Rest der nazistischen Sexologie abzugrenzen trachtete9. Die von beiden aufgebaute Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, das Frankfurter Institut für Sexualforschung und die Schriftenreihe Beiträge zur Sexualforschung waren die institutionellen Orte, die für die Durchsetzung des Tabus sorgten. Eine »Eingabe an die Gesetzgebenden Organe des Bundes in Bonn«, die Giese 1950 in seiner Zeitschrift für Sexualforschung verbreitete und die eine Reform des § 175 verlangte, enthält die Beteuerung, dass ein »Wiederaufleben der mit Hirschfeld verbundenen Intention« keinesfalls gewollt sei; Gieses Institut sei »weder eine Fortsetzung noch eine verborgene Wiederholung jener Tradition«10. Dass statt der Hirschfeldschen Tradition die behutsam an die Nachkriegsverhältnisse angepasste nationalsozialistische fortgesetzt werden sollte, blieb freilich unausgesprochen.

     Eine betont lapidare, aber doch bezeichnende Einordnung Hirschfelds reicht Giese 1955 in seinem Handbuch Die Sexualität des Menschen nach: Hirschfelds sexualwissenschaftliche Forschungsmethode sei heute abgeschlossen und schon seinerzeit »zweifellos auf dem Wege, unwissenschaftlich zu werden«; dann aber seien nicht etwa die Nazis gekommen, um das vermeintlich unwissenschaftliche Werk Hirschfelds zu zerstören, vielmehr habe eine Arbeit in der Stille begonnen: »Die Sexualforschung [. . .] ist dann aber in die Stille der einzelnen Forschungsstellen zurückgekehrt, aus der sie um die Jahrhundertwende herausgetreten war. Diese Rückkehr in die Stille verdient besonders bemerkt zu werden, weil sie einerseits anzeigt, dass die Frage nach der Sexualität des Menschen keine Frage der breiten Öffentlichkeit ist, und weil sie andererseits die Wissenschaft, die sich dieser Frage annimmt, rehabilitiert.«11 Es mag sein, dass die Ungeheuerlichkeit einer solchen nachträglichen Abfertigung eines Opfers der Nazis und die Verklärung der nazistischen Sexualforschung als eine Rückkehr in die Stille nicht so sehr einem moralischen Defekt des einstigen Nazis Gieses geschuldet ist, sondern in den fünfziger Jahren in Westdeutschland zu den normalen Formen des Umgangs mit den Exilierten und Verfolgten der NS-Zeit gehörte. Bürger-Prinz, der selbst in der »Zeit der Stille«, 1940, noch gegen Hirschfelds Theorie der Transvestiten polemisiert hatte12, demonstriert in seinem Beitrag zu Gieses Buch seine große Distanz zu »z. B. Schrenk-Notzing, Hirschfeld usw.«, deren Darstellungen durch eine sachlichere Betrachtung »zurechtgerückt« worden seien13. Er schreibt tatsächlich: »zurechtgerückt« – eine fast schon poetische Umschreibung der nazistischen Zerstörungen; und die Nennung Hirschfelds in Verbindung mit dem falsch buchstabierten Namen des Spiritismus-Forschers Schrenck-Notzing ist zweifellos nicht ohne Bedacht erfolgt.

     Die sozusagen zweite Generation westdeutscher Sexologen betrieb etwa ab 1970 eine neue Variante der Vergangenheitsbewältigung. Demnach sei es Hirschfeld gewesen, der den Nazis die Begründung für Homosexuellenverfolgungen, Zwangskastration und vielleicht auch Massentötung von Geisteskranken vorformuliert habe, weil seine womöglich gut gemeinte These von der angeborenen Homosexualität dazu geeignet gewesen sei, ins böse Gegenteil umzuschlagen und den Nazis als Rechtfertigung habe dienen können, als sie darangingen, »das Kranke, Abartige auszurotten«14; es habe bei den Nazis eine »eugenische Legitimation der Homosexuellenverfolgung« gegeben, und Hirschfelds Theorie »nährte diesen Wahn«15; schließlich habe er vorweg, lange bevor die Nazis ihre Menschenvernichtung betrieben, diese »wissenschaftlich und ethisch begründet«.16

     Demnach waren die Verfolgung Hirschfelds durch die Nazis und ihr Versuch, sein Werk zu vernichten, nach der Logik dieser westdeutschen Sexologen ein Irrtum, so wie wohl die führenden Repräsentanten der westdeutschen Nachkriegs-Sexologie nur irrtümlich in der Nazipartei reüssieren konnten? Wenn Stellen aus Hirschfelds Werken zur Eugenik zitiert werden, um ihn als Vordenker und Ideenlieferanten nazistischer Gewaltpolitik zu kennzeichnen, dann wird stets der entscheidende Unterschied verschwiegen, der ihn, abgesehen von seiner jüdischen Herkunft, für eine Indienstnahme durch die Nazis von vornherein unbrauchbar machte: seine strikte Betonung der Freiwilligkeit und die Ablehnung staatlichen Zwanges. Der vielleicht fatalste Effekt einer Zuordnung Hirschfelds zu den nazistischen Eugenikern und Rassenideologen besteht in einer Verharmlosung von Zwang und Gewalt, dieses wesentlichsten Elements nazistischer Bevölkerungs- und Sexualpolitik. Das Tabu über der nazistischen Vorgeschichte der westdeutschen Sexologie scheint in einer solchen Uminterpretation Hirschfeldscher Theorien zur pränazistischen Ideologie seine noch unrühmlichere Kehrseite zu besitzen.

     Die Frage nach dem Grund für die furchterregend erscheinende Vielfalt der Abweichungen von der für natürlich gehaltenen Norm der Sexualität gehört zu den großen Themen aller Sexologien seit dem 19. Jahrhundert. Der Streit der Schulen und Theorien war stets auch ein Konkurrieren der Techniken und Methoden zur Beseitigung dieser Vielfalt, zur Normalisierung der Perversen und Invertierten. Ob die Furcht vor dem Formenreichtum menschlichen Geschlechtslebens und der Drang nach Behandlung überhaupt legitim sind; ob das Unglück und das Leiden der Abweichler wirklich aus ihrem Sex oder nicht vielleicht aus dem Druck des Moralsystems resultieren – diese Fragen sind bei Hirschfeld zumindest vorbereitet und leiten mit dem Erscheinen der Kinsey-Reports eine Wende in der sexologischen Perspektive ein, die bis heute noch nicht vollendet ist. Die Frage, warum ein Mensch dieses oder jenes Sexualverhalten bevorzugt, warum ihn diese oder jene Wünsche und Fantasien erfüllen, beschäftigt und fasziniert noch immer manche Sexologen weitaus stärker als das Problem der Humanisierung der sexuellen Moral. Die Frage nach der »Genese der Homosexualität« beispielsweise, ob Hormone, präödipale Fantasien, kindliche Lernprozesse oder sonst irgendwelche Faktoren die sexuellen Praktiken und Wünsche determinieren, bewegt manche sexologischen Gemüter so, als ob dies aktuelle Probleme wären und nicht Themen aus der Geschichte der Sexualwissenschaft.

     In dieser Hinsicht lässt sich der zivilisatorische Fortschritt seit Hirschfelds Zeiten allenfalls daran ablesen, dass Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit verloren gingen, mit denen früher Kuren und Techniken zur Normalisierung propagiert wurden. An diese Stelle trat ein mehr verhaltenes Meditieren darüber, wie denn der Sex »nicht nur individuell, sondern auch kollektiv aufhebbar« zu machen sei, oder ob hormonale Normabweichungen in der Schwangerschaft zu sexuell unnormalen Nachkommen führen könnten. Die Hoffnung erscheint deshalb nicht ganz unberechtigt, dass eine Wiederkehr des alten Normalisierungs- und Behandlungseifers, der psychoanalytisch und hormonell in der Nazizeit traurige Triumphe erlebte, immer unwahrscheinlicher wird und der sexologische Paradigmenwechsel sich vollendet.

 

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Man mag es missbilligen, dass Hirschfeld im folgenden als schwul bezeichnet wird, und man könnte auf Hirschfeld selbst verweisen, der – wie mündlich überliefert ist – diese Bezeichnung heftigst abgelehnt haben soll. Dies sei ein Schimpfwort, das die »Normalen«, benutzen, um »uns« zu beleidigen und herabzusetzen; deshalb müssen »wir« dieses schlimme Wort jedenfalls vermeiden. Das soll Hirschfeld im Jahre 1920 dem damals 17-jährigen Bruno Balz gesagt haben, als dieser naiv in seinem Berliner Idiom sich selbst als »schwul« bezeichnet hatte, weil zumindest in Berlin diese Bezeichnung keineswegs nur pejorativ gebraucht wurde, vielmehr in der schwulen Welt der Großstadt als Selbstbezeichnung üblich war. Doch würde sich Hirschfeld wohl genauso nachdrücklich gegen die Bezeichnung »jüdisch« gewehrt haben, obwohl ihm Charakter und Mentalität so grundlegend durch das kulturelle Milieu des norddeutschen liberalen Judentums geprägt worden sind, wie etwa auch die »protestantische Ethik« des Elternhauses einen Menschen prägen kann, selbst wenn er schon längst keiner religiösen Doktrin mehr Glauben schenkt. So gibt es aus heutiger Sicht keinerlei Veranlassung für vermeintlich euphemistische Umschreibungen. Dass Hirschfeld sexuell zum gleichen Geschlecht hin orientiert war, lässt sich kaum präziser und unzweideutiger als mit dem Adjektiv »schwul« beschreiben.

     Wie in der Bezeichnung »jüdisch« stets auch die Geschichte der antisemitischen Verfolgungen aufgehoben ist und anklingt, so enthält das Wort »schwul« einen Widerstand gegen das Vergessen von homophober Verfolgung. In dem nur scheinbar neutral klingenden, klinisch-naturwissenschaftlich anmutenden Ausdruck »homosexuell« sind die Erinnerungsspuren an das Verfolgungsschicksal der Schwulen verblasst und das alte Unrecht zusätzlich verschleiert. Hirschfelds ältere Schwester Recha, die nicht aus Nazideutschland geflohen war, kam im Jahre 1943 im KZ Theresienstadt um. Die Vermutung ist nicht allzu fernliegend, dass auch Magnus Hirschfeld selbst, wäre er nicht schon im November 1930 aus Deutschland mehr oder weniger geflohen, ein ähnliches Schicksal ereilt hätte. Ob die nazistischen Mörder in seinem Fall mehr durch die jüdische Herkunft oder durch die gleichgeschlechtliche Sexualität ihres Opfers angereizt worden wären, ist wohl kaum zu entscheiden. Judentum und schwuler Sex haben Hirschfelds Lebenswerk auf je verschiedene Weise bestimmt; seine in der Studentenzeit einsetzende Orientierung an der Sozialdemokratie akzentuierte sein Engagement für die wohl kostbarste Errungenschaft der europäischen Aufklärung: das Menschenrecht der Selbstbestimmung und die Freiheit von staatlichem und religiösem Zwang.

 

Judentum

 

 

»Judaeus sum«, schrieb Hermann Hirschfeld 1848 in die Vita zu seiner Dissertation, mit der er an der Berliner Universität zum Doktor der Medizin promoviert wurde.1 Dieses Glaubensbekenntnis des Vaters ist der einzige überlieferte Hinweis auf die Religiosität der Familie, in der Magnus Hirschfeld am 14. Mai 1868 als siebtes von acht Kindern zur Welt kam.

     »Der Freiheits- und Fortschrittsmann vom Jahre 1848«,2 der sich mit seinem Lehrer und pommerschen Landsmann Rudolf Virchow »nicht nur durch sozialhygienisch-medizinische, sondern auch durch politisch-demokratische Ziele verbunden« fühlte:3 Solche Formulierungen gebrauchte Magnus Hirschfeld, wenn er sich öffentlich an seinen Vater erinnerte. An anderer Stelle heißt es: »Mein Vater war ein sehr angesehener und humaner Arzt, zu dem wir sieben Kinder wie zu einem höheren Wesen emporschauten.«4 Die jüdische Religion der Eltern, die doch dem Leben der Familie ein entscheidendes Gepräge gegeben haben muss, wird niemals erwähnt, so oft Hirschfeld auch über sein Elternhaus, sein »ausgezeichnetes Elternpaar«, seine Kindheit und Jugend berichtet. Die jüdische Herkunft ist ein Tabu, und die damit verbundenen Erfahrungen der Zurückweisung und des Außenseitertums sind der Reflexion, jedenfalls soweit es um das geschriebene Wort geht, nicht zugänglich und werden geradezu verleugnet. »Der Mensch hat vier Zugehörigkeiten: er gehört sich, der Familie, dem Vaterland und der Menschheit«; diesen Satz zitiert Hirschfeld aus Aufzeichnungen, die er als zwölfjähriges Kind notierte und die beweisen sollen, wie sehr seine »geistige Grundrichtung« seither dieselbe geblieben ist.5 Die Zugehörigkeit zur Kolberger Jüdischen Gemeinde bleibt demnach schon bei dem jungen Gymnasiasten unerwähnt, was damit zusammenhängen könnte, dass sich die Frömmigkeit der Familie Hirschfeld in eher engen Grenzen hielt. Der Vater mag sich als »deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, oder richtiger, jüdischer Tradition« empfunden haben, der »zwar mehr oder weniger an alten Sitten und Gebräuchen festhalten, sich auch als Jude fühlen, gleichzeitig aber doch fest in seinem Geburtslande, seiner wahren Heimat wurzeln« kann.6 Mit diesen Worten beschreibt Hirschfeld später die »jüdischen Assimilanten«, und es könnte sein, dass die Kolberger Familie Hirschfeld eher zu diesen Assimilanten gehört hat. Das einzige erhaltene Foto des Vaters (siehe unten S. 249), das um die Zeit der Geburt seines Sohnes Magnus aufgenommen sein dürfte, lässt jedenfalls keinerlei Symbole jüdischer Glaubenszugehörigkeit erkennen, keine Kopfbedeckung, eine durchaus modische Barttracht, die die Würde eines preußischen Sanitätsrats und dennoch immer zukunftsfrohen Reform- und Fortschrittsmannes des Jahres 1848 betont.

     Hermann Hirschfelds Fortschrittsgeist bestätigte sich in seiner Mitarbeit an der Kolberger Zeitung für Pommern, in der er dreißig Jahre lang eine »Politische Wochenschau« schrieb, ferner im Engagement für die technische Modernisierung der Stadt Kolberg. Ein regelrechter Kampf war erforderlich, um den Bau einer Wasserleitung und einer Kanalisation bei der konservativen Stadtverwaltung durchzusetzen. Magnus Hirschfeld hat seinen Vater deshalb später mit dem Helden in Henrik Ibsens Drama Ein Volksfeind verglichen. »Ein glückliches Lächeln verklärte sein Gesicht, als ich ihm wenige Tage vor seinem Tode das erste Glas Wasser aus der endlich Wirklichkeit gewordenen Kolberger Wasserleitung kredenzte.«7  Ein Jahr nach seinem Tod, 1886, wurde Hermann Hirschfeld zu Ehren auf der Kolberger Kurpromenade ein Denkmal errichtet, das die Nazis gleich nach ihrer Machtübernahme zerstörten.8

     Soziales Engagement, Fortschrittseifer und Religiosität kamen in einem anderen Projekt zur Geltung, an dem Hermann Hirschfeld maßgeblich beteiligt war, dem Jüdischen Kurhospital im See-, Sool- und Moorbade Colberg. Ein »Comitee zur Unterstützung armer jüdischer Badegäste« wurde 1864 »durch Sanitätsrath Dr. Hirschfeld, Rabbiner Dr. Goldschmidt und Kaufmann Moses Gronau hierselbst ins Leben gerufen«, und zehn Jahre später hatte das Comitee genügend Mittel gesammelt, um ein streng konfessionell geführtes jüdisches Kurhospital eröffnen zu können. Von Anfang an war Hermann Hirschfeld »dirigierender Arzt« der Anstalt, ein unbesoldetes Ehrenamt, in dem er sich neben seiner ärztlichen Praxis betätigte.9 Sogar diese Tätigkeit des Vaters für die armen jüdischen Badegäste erwähnt der Sohn niemals, so oft er sich auch über seine Kindheit und die Familie äußert.

     Noch viel dürftiger sind die Mitteilungen über die Mutter. Die wenigen Erwähnungen stehen immer im Zusammenhang mit Bemerkungen über den Vater. Sie hieß Friederike Mann, war eine Base des Vaters und stammte aus Bernstein an der Warte, lernte ihren künftigen Gatten um das Jahr 1850 in Berlin kennen; die Hochzeit fand in Bernstein statt; danach zog das junge Paar nach Kolberg, wo ihre acht Kinder zur Welt kamen und wo »Friedchen« ihren Gatten, der noch nicht sechzigjährig 1885 starb, um fast zwanzig Jahre überlebte. Es gibt weder ein Porträt von ihr, noch sind ihre Lebensdaten bekannt. Über die Großeltern beider Seiten wird bis auf den Umstand, dass »Vaters Vater und Mutters Großmutter Bruder und Schwester gewesen« waren, nie etwas berichtet;10 Hermann Hirschfeld erwähnt in der Vita zu seiner Dissertation lediglich, dass er aus der pommerschen Stadt Neustettin stammt und dass seine Eltern zu arm waren, um Gymnasium und Medizinstudium ihres Sohnes zu finanzieren, weshalb er einer Familie Josephian dankt, die an Stelle der Eltern seine Ausbildung bezahlte.11

     Nach dem Abitur 1887 am Kolberger Dom-Gymnasium begann Magnus Hirschfeld an der Universität Breslau Vergleichende Sprachwissenschaft zu studieren. Die Matrikeln der Universität verzeichnen in der Rubrik »Religion« die Eintragung »jüd.«, wohl der einzige heute bekannte Hinweis, dass sich zumindest der 19-jährige Studienanfänger der jüdischen Gemeinde zugehörig empfand. Er blieb nur ein Semester in Breslau und studierte dann in Straßburg, München, Heidelberg und Berlin Medizin. In den Akten all jener Universitäten ist nichts mehr über seine Religionszugehörigkeit vermerkt, und auch der Lebenslauf in der Dissertation, mit der er 1892 sein Medizinstudium abschloss, enthält hierzu keine Angaben. Demnach scheint zu Beginn oder im Verlauf der ärztlichen Ausbildung die Abkehr vom Judentum zugunsten einer atheistischen Position stattgefunden zu haben. Später erwähnt er, dass er in seiner Studentenzeit bei seinem ersten Aufenthalt in Paris den Arzt und Schriftsteller Max Nordau kennen lernte, »in dessen Haus ich in Paris damals [. . .] viel verkehrte. Heiß tobte damals der Meinungskampf über die Berechtigung der zionistischen Bewegung, die von den einen für die einzige Lösung der Judenfrage gehalten wurde, während die anderen sie als einen ›Reinfall auf den Antisemitismus‹ bezeichneten und eine Verschärfung der Gegensätze fürchteten.«12  Kann man annehmen, dass Hirschfeld sich zu jener Zeit mit den Ideen des Zionismus auseinandergesetzt hat und diese Auseinandersetzung zur Emanzipation von der Religion seiner Väter führte? Der wohl unvermeidliche Einfluss der Schriften Darwins, Nietzsches und Ernst Haeckels mag den jungen Medizinstudenten Hirschfeld gleichfalls in seinem weltanschaulichen Assimilationsbestreben beeinflusst haben; später finden wir ihn unter den Mitgliedern des Deutschen Monistenbundes.

     Das Deutsche Reich war nicht das Land, in dem die jüdische Herkunft eines Menschen, der sich öffentlich exponierte, ohne Bedeutung und gleichgültig sein konnte. Die politische Bewegung der Antisemiten war keineswegs nur eine Gruppierung von Sektierern und Außenseitern. Sie rekrutierte sich aus allen staatstragenden Bereichen, insbesondere aus den beiden großen christlichen Kirchen. Die Gegner Hirschfelds wussten dies durchaus zu nutzen, und sein beharrliches Schweigen zu den zunehmend aggressiveren antisemitischen Angriffen auf seine Person ist wohl eher Ausdruck der Hilflosigkeit, wenn nicht der Angst, und erweckt wenigstens aus heutiger Sicht nicht den Eindruck ungerührter Souveränität. Nur einmal bricht er dieses Schweigen und erwähnt kommentarlos einen Angriff, der im Gefolge der Eulenburg-Affäre und des damaligen Stimmungsumschwungs der öffentlichen Meinung gegen die Schwulenbewegung versuchte, Antisemitismus und Homophobie zu verknüpfen: »Vor der Tür unseres Hauses wurden Zettel verteilt (Einladungen zu einem antisemitischen Vortrag) mit der Überschrift: ›Dr. Hirschfeld eine öffentliche Gefahr – die Juden sind unser Unglück!‹«13

     Es lag nahe, diese beiden populären Ressentiments – gegen Juden und gegen Homosexuelle – in der politischen Propaganda zu verbinden. Und tatsächlich hatte der seinerzeit bekannte antisemitische Publizist Eugen Dühring bereits seit 1897 diese Verbindung propagandistisch benutzt, allerdings war bei ihm Hirschfeld unerwähnt geblieben. Gleich nachdem die Absicht bekannt geworden war, eine Petition gegen den § 175 an den Reichstag zu richten, begann Dühring in seinen Zeitschriften eine Kampagne gegen dieses vermeintlich jüdische Projekt. Dühring sah hier einen »Judenvorstoß, eine Action der Judenunsauberkeit, eine dreiste Brüskierung aller besseren sittlichen Gefühle«, worin »die bekannte jüdische, schon von Tacitus gegeißelte, bestialische Geschlechtsgier, die über jedes Objekt, ungeniert durch Gesetzesandrohung, herfallen möchte«, zum Ausdruck komme.14 Diese Polemik Dührings gegen die von Hirschfeld organisierte Schwulenbewegung beeindruckt durch ihren Umfang. Zwischen 1897 und 1912 erschienen mehr als ein Dutzend langer Artikel, die die Bestrebungen zur Schwulenemanzipation als Teil einer jüdischen Verschwörung zu entlarven trachteten. Hirschfelds Name wird zwar nie genannt, doch wird Benedict Friedlaender, ein Mitarbeiter und späterer Gegner Hirschfelds, zugleich ein Anhänger der ökonomischen Theorien Dührings, von diesem mit den abgeschmacktesten Beschimpfungen bedacht;15 die Sozialdemokratie, die »wesentlich ein Judengeschäft«16 ist, prangert Dühring als Unterstützerin mannmännlicher Unzucht an; der Sozialdemokrat Hirschfeld bleibt jedoch auch hier unerwähnt. Nur einmal ist in einer mehrteiligen Artikelserie Dührings unter dem Titel »Humanität von Hinten« von einem »hebräischen Arzt« die Rede, der »unter der Firma eines sich wissenschaftlich-humanitär nennenden Comités die Propaganda für eine besser sein sollende Bewerthung des im medicinischen Jargon homosexuell Benannten« mache.17 Die Taktik, die Person Hirschfelds zu schonen und die Sache anzugreifen, wurde nach 1907 aufgegeben, und andere als Dühring, der unter den Antisemiten eher eine Randfigur war, interessierten sich jetzt für die Person des »hebräischen Arztes« Magnus Hirschfeld. Es entstand die Parole: »Dr. Hirschfeld eine öffentliche Gefahr«, denn an zwei Gerichtsprozessen während der Eulenburg-Affäre hatte Hirschfeld als Sachverständiger teilgenommen und war dadurch ungewöhnlich bekannt geworden. Hochrangige Politiker und Militärs, die mit dem Kaiser persönlich befreundet waren, hatte der Journalist Maximilian Harden in seiner Zeitschrift Die Zukunft indirekt als homosexuell bezeichnet. Sie wurden daraufhin aus dem Staatsdienst entlassen, und einer von ihnen, der Berliner Stadtkommandant Kuno von Moltke, verklagte Harden wegen Beleidigung. In diesem Prozess war Hirschfeld als medizinischer Sachverständiger beteiligt, der Moltkes Homosexualität feststellte, diese Feststellung aber in einem zweiten Prozess widerrief, nachdem Hirschfelds Hauptzeugin, Moltkes geschiedene Ehefrau, ihrerseits ihre einschlägigen Aussagen widerrufen hatte. Die gesamte Presse berichtete über die Prozessverläufe und kommentierte Hirschfelds Auftritte vor Gericht.

     Für die Antisemiten war klar, dass die ganze Affäre eine jüdische Machenschaft sein musste. Harden, sein Anwalt Max Bernstein und Hirschfeld waren allesamt »Hebräer«, die christliche deutsche Männer, Freunde des Kaisers wie Eulenburg und Moltke, als homosexuell bezeichneten und damit nur zeigten, wie fremd den materialistischen und zynischen Juden die deutsche Sittenauffassung war, die »ideale Männer-Freundschaft«, das »Edelste, was wir Deutschen haben«.18 Diese absurde Gegenüberstellung von deutscher Freundschaft und jüdischer Sexualität gehört nicht nur zu den Doktrinen der Antisemiten. Philipp zu Eulenburg glaubte ebenso daran wie der Kaiser, der die »internationale Judenschaft« als Urheberin der Eulenburg-Affäre ausmachte.19  Zahlreiche Druckerzeugnisse erschienen nun, in denen Hirschfeld als Jude und Verteidiger der Päderastie angegriffen wurde, doch blieben zunächst noch die praktischen Konsequenzen aus. »Das Nest in Berlin, dem der homosexuelle Stunk entstammt, müsste einmal gründlich ausgeräuchert werden, da wäre wohl ein Ansteckungsherd von großer Gefährlichkeit beseitigt», heißt es in dem anonymen Traktat Semigothaismen in dem Kapitel, das »die Kreise um Dr. Hirschfeld« behandelt.20 Zu dieser Zeit erschienen die Gewaltfantasien der Judenhasser nur auf bedrucktem Papier, erst nach dem Weltkrieg, in den vermeintlich goldenen zwanziger Jahren, war die antisemitische Bewegung soweit erstarkt, dass ihre Agitation gegen Hirschfeld zur materiellen Gewalt drängte und mit ihren Drohungen ernst zu machen begann. Es sind mindestens drei Fälle vom Anfang jener zwanziger Jahre bekannt, wo es im Zusammenhang mit öffentlichen Vorträgen Hirschfelds zu Gewalttätigkeiten kam.

     Im März 1920 berichtete die Homosexuellenzeitschrift Die Freundschaft erstmals über solche Angriffe: »Hamburg. Allbekanntes Gesindel versuchte den vor kurzem hier gehaltenen Vortrag des Sanitätsrats M. Hirschfeld über ›Fort- und Höherpflanzung des Menschengeschlechts‹ zu sprengen. Trotzdem die Demonstranten mit Stinkbomben und Feuerwerkskörpern anrückten, wurde dieser terroristische Angriff auf die Versammlungsfreiheit dank vorheriger Warnung abgeschlagen. Unter tosendem Beifall rückten Sicherheitswachen in den Saal und verhafteten die Tumultuanten. Der Vortrag konnte hierauf zu Ende geführt werden.«21

     Im Oktober des gleichen Jahres störten »junge Hakenkreuzler« in München einen Vortrag Hirschfelds, indem sie Stinkbomben in den Saal warfen. Nach Ende der Veranstaltung überfielen vermutlich die gleichen »jungen Hakenkreuzler« Hirschfeld, als er sich auf dem Weg vom Vortragssaal, der Münchner Tonhalle, zu seinem Hotel befand. Sie schlugen ihn, bis er schwer verletzt und bewusstlos zusammenbrach. Keiner der Gewalttäter wurde verhaftet.22 Bald nach diesem Überfall kam auch Hitler nach München und kommentierte in mehreren öffentlichen Reden das Ereignis. Von einer dieser Reden, am 18. Oktober 1920 im Münchner Hofbräuhaus gehalten, existiert die Mitschrift eines Polizisten, der Hitlers Auslassungen über Hirschfeld so wiedergibt: »Auch den Fall Dr. Magnus Hirschfeld, den er des geistigen Mordes an Tausenden von deutschen Volksgenossen bezichtigte, streifte er [. . .] kurz. Ich kann es nicht verstehen, dass solche Leute nicht vor den Richterstuhl zitiert werden. Im Gegenteil, die Staatsanwaltschaft schützt solche Schweinejuden! Da muss sich das Volk selbst helfen und Volksjustiz ausüben. Wäre ich hier in München gewesen, so hätte ich ihm einige Ohrfeigen gegeben, denn das, was dieser Schweinejude feilbietet, bedeutet gemeinste Verhöhnung des Volkes.«23

     Die Nazis und in besonderem Maß ihr Führer hatten demnach von Anfang an in Hirschfeld ein geeignetes Symbol für alles, was sie hassten, ausgemacht. Ihr Kampf gegen ihn sollte von nun an nicht mehr aufhören, wenngleich körperliche Gewalt und Attentate anscheinend später ausblieben, jedenfalls ist darüber nichts überliefert. Es ist auch nicht bekannt, wie Hirschfeld, der seine öffentliche Vortragstätigkeit bis zuletzt, bis zu seinem Weggang aus Deutschland im November 1930 keineswegs einstellte, sondern eher noch steigerte, sich vor zu erwartenden Attentätern schützte.

     In dem letzten, kurz vor seinem Tod 1935 verfassten Text, einem autobiografischen Abriss für eine amerikanische Encyclopaedia Sexualis, stellt Hirschfeld diese Ereignisse jedoch anders dar: »[After 1929] the Nazis [. . .] continued his persecution relentlessly; they terrorized his meetings and closed his lecture halls, so that for the safety of his audiences and himself, Hirschfeld was not longer able to make a public appearance.«24 Es wird wohl so gewesen sein, dass der Nazi-Terrorismus gegen Hirschfeld in den letzten Jahren vor seinem Exil weiterging, dass aber die Ereignisse, die der soeben zitierten Äusserung zugrunde liegen, heute nicht mehr dokumentiert werden können, weil sie damals zu den alltäglichen Erscheinungen gehörten. Hirschfeld hat 1930 mindestens noch zwei öffentliche Vorträge in seinem Institut für Sexualwissenschaft angekündigt25, von denen allerdings nicht bekannt ist, ob sie tatsächlich stattfanden und ob es zu Störungen durch Nazis kam.

     Als gegen Ende der zwanziger Jahre die Nazibewegung zu einer machtvollen politischen Kraft herangewachsen war, ließen sich auch innerhalb der Schwulenbewegung Stimmen vernehmen, die sich bei ihren Angriffen auf Hirschfeld der zeitgemäßen antisemitischen Töne bedienten. Besonders die Gemeinschaft der Eigenen, eine Gruppe um den Berliner Schriftsteller Adolf Brand, druckte in ihren Veröffentlichungen des öfteren Äußerungen wie: »dass Hirschfeld Semit ist, soll und kann nicht der alleinige Grund zur Ablehnung sein«,26 Hirschfeld sei »als Jude der ungeeignetste Führer« einer Bewegung gegen den § 175,27 und er verkörpere die »orientalische Einstellung« zur Sexualität und Liebe.28  Hirschfeld antwortete auf all diese Angriffe nicht. Gegen die Nazi-Zeitschrift Der Stürmer erstattete er 1929 allerdings Strafanzeige, nachdem dort ein besonders hemmungsloser Hetzartikel gegen ihn, den »Apostel der Unzucht«, erschienen war. Die Anzeige scheint folgenlos geblieben zu sein. Es kam nie zu einem Prozess gegen den Stürmer, geschweige denn zu einer Verurteilung.29

     Schließlich versuchte er mit der einzigen Waffe, die ihm zur Verfügung stand, dem denkbar schwachen Mittel der rationalen Argumentation, gegen den Wahn des Rassismus und Antisemitismus vorzugehen. Im zweiten Band seiner Geschlechtskunde legte Hirschfeld seine Kritik an den damaligen Rassenideologien dar, wies auf die Unsinnigkeit solcher Begriffe wie »arische Rasse« und »Semiten« hin, auf die Unhaltbarkeit der These von der Schädlichkeit der Rassenvermischung und auf die Bedeutungslosigkeit der Rasse eines Menschen für seinen moralischen Wert und seine Leistungen; der vom Grafen Gobineau im 19. Jahrhundert behaupteten Ungleichwertigkeit der Menschenrassen sei endlich die Erkenntnis von der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrer Rassenzugehörigkeit entgegenzusetzen.30

     Hirschfeld scheint aber doch eine Ahnung von der Ohnmacht und Hilflosigkeit solcher eher erbaulicher und für ohnehin schon aufgeklärte Gemüter berechneter Belehrungen gehabt zu haben. In seiner Widerlegung des Rassismus, die 1928 in seiner Geschlechtskunde erschien, erzählt er nämlich die Geschichte von der Bekehrung eines Antisemiten als einen bloß wunderbaren und märchenhaften Vorgang, bei dem die Macht der Mendelssohnschen Musik, nicht aber die Macht des Wortes das Wunder bewirkte: »Eine Dame erzählte mir einmal, wie ihr Mann ›vom Antisemitismus kuriert wurde‹. Sie wohnte mit ihrem Gatten, der Studienrat an einem Berliner Vorortgymnasium war, der Beerdigung seines von ihm sehr verehrten Studiendirektors bei. Als der Sarg versenkt wurde, ertönten (wie in Berlin sehr üblich) die ergreifenden Klänge des Liedes Es ist bestimmt in Gottes Rat. Der Mann war aufs tiefste erschüttert. ›Wie wir nach Hause gingen‹, fuhr die Frau fort, ›unterbrach er unser Schweigen mit den Worten: ›Wenn ich einmal sterbe, soll diese herrliche Melodie auch erklingen.‹ Ich erwiderte: ›Du scheinst nicht zu wissen, dass sie von dem jüdischen Komponisten Mendelssohn ist.‹ ›Dann geht es natürlich nicht‹, antwortete er. Als wir am nächsten Morgen am Kaffeetisch saßen, kam er auf unser Gespräch vom vorigen Tage zurück. ›Ich habe es mir heute nacht noch einmal genau überlegt‹, sagte er, ›ich möchte doch mit Mendelssohns Lied in die Grube fahren. Ich bin nicht mehr Antisemit. Mendelssohn hat mich bekehrt. Da liegt schon mein Austrittsschreiben an die Deutsche Reformpartei.‹«31

     Der liberalen Idee von der widerspruchslosen Einheit des Menschengeschlechts und von der Macht der Vernunft, die allen Hass überwindet, alle Menschen brüderlich und schwesterlich versöhnt und den »Erdballstaat« zu errichten vermag, hat Hirschfeld zeitlebens angehangen. In jenem Märchen von der Überwindung des Judenhasses durch die Kunst des jüdischen Musikers gesteht Hirschfeld im Grunde genommen den Bankrott seines humanitär-wissenschaftlichen Aufklärungsideals. Durch Wissen zur Gerechtigkeit (»Per scientiam ad iustitiam«) – das Motto seines Strebens – erwies sich im Deutschland der späten zwanziger Jahre als hoffnungslos illusionär. Als kollektive Illusion der kleinen Schicht des liberalen deutschen Bürgertums und nicht nur als privater Irrtum Hirschfelds bildete er eine Voraussetzung für dessen Wehrlosigkeit und für den schließlichen Sieg der Nazis.
     Glücklicherweise brachte Hirschfeld dennoch genügend Realismus auf, um aus seinem Scheitern den einzigen richtigen Schluss zu ziehen und wenigstens sich selbst zu retten, indem er rechtzeitig, im November 1930, dem Land des künftig siegreichen Hitlerfaschismus entfloh. Diese Flucht war zunächst nur als Vortragsreise in die USA deklariert. Zwar gibt es keine Hinweise darauf, dass Hirschfeld seine Amerikareise von Anfang an als Emigration geplant hatte, doch wurde daraus eine Reise um die Erde, die quer durch die USA und durch Asien führen sollte, Afrika streifte und im April 1932 in Wien endete. Die vorletzte Station dieser Weltreise war Palästina, wo Hirschfeld sich, aus Ägypten kommend, im Februar und März 1932 aufhielt. Sein Buch Die Weltreise eines Sexualforschers, das 1933 in der Schweiz erschien, enthält mehrere Kapitel, in denen er seine Palästina-Eindrücke schildert und sich mit dem Zionismus auseinandersetzt. Dem »zionistischen Experiment« stehe er »unter gewissen Voraussetzungen durchaus wohlwollend gegenüber«, schreibt er, ohne auch nur anzudeuten, was jeder wusste: dass es ihn aufgrund seiner jüdischen Herkunft mehr betraf als alles andere, was er auf seiner Reise »das Glück hatte an Ort und Stelle studieren zu können.«
32 Indirekt kommt sein eigenes Judentum zur Sprache, wenn es um das Angebot geht, das zionistische Juden an ihn richteten, er solle doch in Palästina seinen Alterswohnsitz nehmen. »So außerordentlich viel mir die Menschen, die Natur, die Geschichte und die Zukunft dieses Landes bedeuten«, sieht er doch in der Entscheidung der Zionisten, die hebräische und nicht die englische Sprache zur Landessprache der Juden zu machen, den wesentlichen Hinderungsgrund. »Die Erfahrung hat gezeigt, dass sprachliche Isolierung alle nationalistischen und chauvinistischen Instinkte erheblich steigert«, und er teilt die Beobachtung mit, die ihn angesichts der damals schon explosiven Verhältnisse zwischen Zionisten und Mohammedanern in Palästina bedrückt: »Auch in Palästina habe ich bei Kindern, die hebräische Lieder sangen, Anzeichen beobachten können, die dafür sprachen, dass sich bei ihnen der Nationalstolz bereits dem so verhängnisvollen Nationaldünkel nähert denen gegenüber, die ›nicht einmal‹ Hebräisch verstehen.«33

     Hier deutet sich ein Gesichtspunkt an, der Hirschfelds konsequentes Schweigen über seine jüdische Herkunft etwas verständlicher erscheinen lässt: Das Judentum bedeutete für ihn in keiner Hinsicht eine Identifikationsmöglichkeit – weder konnte er als Atheist die Religion der Juden akzeptieren noch konnte er sich für die Ideen des politischen Zionismus begeistern.

     In der Berliner Staatsbibliothek befindet sich im dort aufbewahrten Nachlass Hans Blühers ein Blatt mit einem maschinenschriftlichen anonymen Text, der überschrieben ist: »Zitate aus den letzten Aussprachen mit Dr. Magnus Hirschfeld«. Es ist ungewiss, wie authentisch dieser Text ist, doch ist kein Motiv denkbar, einen solchen Text zu erfinden. In ihm liegt die einzige überlieferte Äußerung Hirschfelds zu seiner jüdischen Herkunft vor; sie verstärkt den Eindruck, der sich bisher andeutete, dass nämlich für Hirschfeld keinerlei Anlass bestand, sich mit dem Judentum zu identifizieren, dass er sich vielmehr als Opfer einer Zwangsidentifikation von seiten der Rassisten und Nazis empfand, gegen die er sich immer wehrte:

»Ich protestiere dagegen, jetzt Jude genannt und deswegen von den Nazischweinen geächtet und verfolgt zu werden. Ich bin ein Deutscher, ein deutscher Staatsbürger, genau so gut wie ein Hindenburg oder Ludendorff, wie Bismarck und der gewesene Kaiser! Ein ehrlicher Deutscher, in Deutschland von deutschen Eltern geboren! Und mit mir ist geschehen, was ungefähr jedem neugeborenen Kinde in ganz Europa geschieht: Sie werden von den Eltern in eine religiöse Zwangsjacke gesteckt, werden getauft oder beschnitten und sollen im Glauben ihrer Erzeuger großgezogen werden. Weil sich meine Eltern zum mosaischen Glauben bekannten, bin ich mit dem mosaischen Stigma bedacht worden! Werden die Kinder groß und wollen nichts mehr mit Kirchen und religiösen Dingen zu tun haben – das im Geburtsregister eingetragene Stigma werden sie nicht mehr los – das ist nun mein Verhängnis!«34

     Die Urne mit Hirschfelds Asche wurde in Nizza auf dem Friedhof Caucade bestattet. Nach Berichten in der örtlichen Presse fand dort vor der Leichenverbrennung am 21. Mai 1935 eine Totenfeier statt, die die Organisation Ligue Internationale contre l'Antisémitisme ausgerichtet hatte und auf der ein Rabbiner Schumacher oder Schumaker eine Gedenkrede hielt und Gebete sprach. Den Berichten zufolge war von Hirschfelds Familie mindestens einer seiner Neffen anwesend, und es kann sein, dass für die religiöse Ausrichtung der Feier Angehörige seiner Familie gesorgt hatten.35 In seinem Testament, das er vier Monate vor seinem Tod niederschrieb, werden zwei Schwestern, eine Nichte, ein Neffe, ein Großneffe und ein Großvetter erwähnt, deren jeweilige religiöse Bindung nicht bekannt ist.36

 

 

Sozialdemokratie

 

 

Hirschfeld war Mitglied der SPD vermutlich schon seit seiner Studentenzeit. Seinen Kampf für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage verstand er als sozialdemokratische Reformpolitik und Beitrag zum Fernziel eines demokratischen Sozialismus, was auch immer das für ihn bedeutet haben mag. Themen wie Lebensreform, Freiheitsrechte und Persönlichkeitsentfaltung des Individuums, die auf dem rechten Flügel der Partei vor der Jahrhundertwende diskutiert wurden, bilden den Hintergrund für Hirschfelds Vorstellungen von der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse im Interesse und zum Nutzen des Volkes – »per scientiam ad iustitiam«.

     Mit wissenschaftlichem Sozialismus im Sinne von Marx und Engels, mit Klassenkampf und sozialer Revolution hatte das jedoch so gut wie nichts mehr zu tun, folgte eher englischen Ideen von der Reformation des Lebens und der Kultur, wie sie besonders schön in Oscar Wildes Traktat The Soul of Man Under Socialism (1895, deutsch zuerst 1904) zum Ausdruck kommen. Eine Art sozialliberaler Philanthropie ohne christliche Beimengung, gespeist von reformerisch gezähmten Idealen der Französischen Revolution, begründete Hirschfelds parteipolitische Sympathien. Zum hundertsten Jahrestag der französischen Ereignisse von 1789 dichtete der zwanzigjährige Student seine Sehnsucht nach dem Verschwinden der Klassenkämpfe und der Kriege:

          »Soll denn nie der Tag erscheinen

          Wo die Menschheit sich erkennt,

          Wo die Völker sich vereinen

          Und den Krieg man Morden nennt?

          Wo der Klassenhass verschwindet,

          Scheu entweicht der Mucker Zunft
          Und man fest im Bunde findet:

          Menschenliebe und Vernunft [. . .]«1

 

     Diese Verse ließ Hirschfeld dreißig Jahre nach ihrer Entstehung drucken, um zu demonstrieren, dass die neue Ordnung, die jetzt, 1919, nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs entstand, mit den eigenen schon längst vertretenen Anschauungen übereinstimmte. Diese neue Ordnung sollte das sein, was sich Hirschfeld mit der Mehrheits-SPD darunter vorstellte. Im ersten Jahr des Weltkriegs hatte er zu den Gründern einer Vereinigung gehört, die sich Bund Neues Vaterland2 nannte und die überaus vorsichtig und ganz im Sinne der auf Vaterlandsverteidigung eingestimmten SPD für einen baldigen, irgendwie gerechten Frieden eintrat, ohne die herrschenden und den Krieg verantwortenden Mächte ernsthaft zu kritisieren. Dennoch war die Tätigkeit des Bundes im Februar 1916 von der Militärdiktatur verboten worden und konnte erst kurz vor dem Kriegsende wieder aufgenommen werden. Jetzt trat er mit der Forderung nach »Umgestaltung der deutschen Verfassung und Verwaltung im demokratischen Geiste, einer gesetzgebenden Nationalversammlung mit gleichem, geheimem und direktem Wahlrecht auch für Frauen3 und Soldaten« an die Öffentlichkeit.
Hirschfeld betätigte sich als Agitationsredner, der gleich nach dem 9. November verkündete: »Die freie deutsche Republik, sie lebe hoch!« und: »Wir wollen Völkerschiedsgerichte und ein Weltparlament. In Zukunft soll es nicht mehr heißen: Proletarier, sondern Menschen aller Länder vereinigt Euch!«
4

     Wir finden Hirschfeld jetzt – mutmaßlich das einzige Mal in seinem Leben – im parteipolitischen Wahlkampf engagiert. »Unser Vorsitzender«, schreibt das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, »entfaltete [. . .] eine außerordentlich rege Tätigkeit, indem er in und um Berlin zahlreiche Wahlreden im mehrheitssozialistischen Sinne hielt.«5 So trug er seinen Teil dazu bei, dass die SPD aus den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 als stärkste Partei hervorging.

     Außer der Treue zu seiner alten Partei, die jetzt, wo es erstmals in ihrer Geschichte um die Macht im Staat ging, besondere Unterstützung brauchte, spielte sicher auch Hirschfelds Hoffnung eine Rolle, dass eine siegreiche SPD das alte Homosexuellenstrafrecht abschaffen werde. Friedrich Ebert, der von der Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt wurde, und Philipp Scheidemann, den Ebert dann zum ersten Kanzler einer Regierung der Weimarer Republik ernannte, waren Mitglieder derselben Partei wie Hirschfeld, ebenso der erste Justizminister Otto Landsberg. Hirschfeld sandte ihnen Glückwunschschreiben zum Amtsantritt, in denen er zugleich daran erinnerte, dass die SPD vor dem Krieg Reformen des Sexualstrafrechts gefordert hatte, insbesondere sollte sogleich das Homosexuellenstrafrecht abgeschafft werden. Doch die zur Macht gekommenen Parteigenossen bereiteten Hirschfeld eine heftige Enttäuschung, indem sie sich zwar höflich für die Glückwünsche bedankten, eine Strafrechtsreform jedoch ablehnten. Was die SPD-Politiker als einflusslose Oppositionelle unter dem Kaiser gefordert hatten, sollte nun auf einmal nicht mehr gelten.

     »Einzelne Fragen aus dem Gesamtgebiet der Strafrechtsreform vorab gesetzlich zu regeln, möchte ich nach Möglichkeit vermeiden«, schrieb Justizminister Landsberg an Hirschfeld,6 und Reichspräsident Ebert vertröstete Hirschfeld mit ähnlichen Phrasen wie seinerzeit der kaiserliche Staatssekretär Nieberding: »Ich hoffe, dass Sie mich in meiner Tätigkeit durch entsprechende Aufklärung in allen Volksschichten nach Kräften unterstützen werden. Soll das neue Deutschland auf gesunder und dauerhafter Grundlage aufgebaut werden, so ist dazu auch eine moderne Reform unseres Strafrechts notwendig. Diese wird in Angriff genommen werden, sobald die politische Lage und die Arbeitsverhältnisse der Regierung das irgend gestatten. Gez. Ebert.«7

     Die Sozialdemokratie war offenbar entschlossen, die Frage auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben, und Hirschfelds Vorschlag einer sofortigen Amnestie für alle unter der Monarchie und der Militärdiktatur nach § 175 Verurteilten, den er gleich nach dem Machtwechsel im November 1918 den SPD-Politikern vorgetragen hatte, blieb natürlich ohne Wirkung.8

     Kurt Hiller, der parteilose linke »Aktivist« im neben den Arbeiter- und Soldatenräten gegründeten Politischen Rat geistiger Arbeiter, machte 1921, als feststand, dass die Novemberrevolution gescheitert und auch für die Homosexuellen folgenlos war, einen Vorschlag, der auf langfristige parlamentarische Reformarbeit angelegt war und die SPD als einzige politische Kraft ansah, die – trotz alledem – das Sexualstrafrecht zu verändern imstande sein würde: »Dr. Magnus Hirschfeld ist seit Jahrzehnten organisierter Sozialdemokrat. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sollte es sich vor den nächsten Wahlen zur Pflicht machen, zur Pflicht gegenüber einer ungerecht unterdrückten, einer sinnlos verfolgten Minderheit der Nation, dem berufenen Führer und Wortführer dieser Minderheit einen hervorragenden Platz auf ihrer Reichsliste zur Verfügung zu stellen.«9

     Natürlich dachte niemand in der SPD daran, diesen Vorschlag, Hirschfeld einen Sitz im Reichstag zu verschaffen, auch nur zu erwägen. Dabei wird nicht nur das auch unter Sozialdemokraten verbreitete Ressentiment gegen die Schwulen und gegen ihren Wortführer wirksam gewesen sein. Hinzu kam, dass Hirschfeld in der Partei, abgesehen von der kurzen Phase des Wahlkampfs zur Nationalversammlung, stets völlig passiv geblieben war. Das Zentralorgan der Partei, den Vorwärts, hatte er seit dem ersten Tag seines Erscheinens abonniert,10 und zuweilen erschienen dort aus seiner Feder Artikel zu sexualpolitischen Themen.11 Ein darüber hinausgehendes Interesse an der Parteiarbeit hat anscheinend nie bestanden.

     Was im Jahre 1918 »mehrheitssozialistisch« hieß, hatte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der SPD als Kritik am Marxismus und an der Klassenkampfidee begonnen und war von Eduard Bernstein zu einer neuen politischen Theorie, dem »Revisionismus«, ausformuliert worden. Bei diesem Flügel der Partei lag Hirschfelds Sympathie, seine politische Heimat. Zwei Gründe könnten zu dieser Orientierung im Spektrum der Parteirichtungen beigetragen haben: Zum einen das Konzept der Individualität, die Rolle, die die Revisionisten der Lebensweise des Einzelnen in Politik und Gesellschaft zumaßen, und zum anderen – damit eng zusammenhängend – die liberale, gleichsam »humanitär-wissenschaftliche« Einstellung der Revisionisten zur Sexualität und speziell zur Homosexualität.

     Hirschfeld war als Arzt, seit er 1894 in Magdeburg zu praktizieren begann, ein Anhänger der Naturheilbewegung. Von 1896 bis 1900 war er verantwortlicher Redakteur einer Wochenschrift für naturgemäße Lebens- und Heilweise, die unablässig die Eigenverantwortlichkeit für Gesundheit und Unversehrtheit betonte: Die Schäden, die die von den Arbeiterorganisationen tolerierten und geförderten Volksdrogen Tabak und Alkohol verursachten, seien von den unaufgeklärten Trinkern und Rauchern selbst verschuldet. Im März 1897 brachte Hirschfeld in seiner Zeitschrift einen Grundsatzartikel Naturheilmethode und Sozialdemokratie, in dem er sich kritisch absetzt von gewissen Grunddoktrinen der SPD, sowohl marxistischer als auch lassalleanischer Herkunft:

»Man kann der deutschen Sozialdemokratie den Vorwurf nicht ersparen, dass sie die große Masse der Arbeiter der Selbsthilfe abgeneigt gemacht hat, ihre Führer hoffen zu viel von Staatshilfe, stehen zum großen Teil der naturgemäßen Lebensweise teils gleichgültig, teils abgeneigt gegenüber, man scheint die ›verdammte Bedürfnislosigkeit‹ zu fürchten. Der Urheber dieser Anschauungen ist Ferdinand Lassalle, welcher in seiner Frankfurter Rede erklärt hat, dass mit einer Verminderung der Bedürfnisse auch der Lohn sinken müsse, es sei ein Fluch des deutschen Arbeiters, dass er so bedürfnislos sei; ›wenn ihr ein Glas Bier und ein Stück Wurst habt‹, sagte Lassalle wörtlich, ›so wisst Ihr gar nicht, dass Euch was fehlt‹.
Wie oft ist es uns nicht bei Vorträgen in Arbeitervereinen über die naturgemäße Lebens- und Heilweise begegnet, dass uns ein Sozialdemokrat entgegenhielt, das habe Alles keinen Zweck, solange die wirtschaftlichen Verhältnisse darniederliegen, im Zukunftsstaat wird alles anders sein. Nein und abermals nein, die Arbeiter sollen wissen, dass nicht allein die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse Ursache ihres Elends ist, sondern auch ihre eigene Schwäche und Unvollkommenheit, das ihnen zu sagen ist die heiligste Pflicht jedes Volksfreundes; nicht nur eine Reform des Staates und der Gesellschaft ist notwendig, sondern auch eine Reform der Lebensweise und des Charakters; mit dieser kann jeder Mensch sofort beginnen, daran hindert ihn keine Macht der Welt, außer seine eigene Schwäche. Ohne den Kampf gegen den Alkoholismus würde ich die Befürchtung nicht unterdrücken können, dass die verkürzte Arbeitszeit mit dem erhöhten Lohne auch eine erhöhte Frequenz der Wirtshäuser zur Folge haben wird. Alles Elend auf die Ungunst der Verhältnisse schieben, heißt die Notwendigkeit der Selbsterziehung leugnen. Selbsterziehung aber ist die Grundlage aller Reform des Lebens.«
12

     In dem Projekt »Reform der Lebensweise« war es besonders die Alkoholfrage, die Hirschfeld am Herzen lag, und gerade sie wurde damals von der SPD hartnäckig ignoriert. Auf dem Parteitag 1899 in Hannover bezeichnete der Vorsitzende August Bebel den Alkoholismus in der Arbeiterklasse noch als »Kleinkram, mit dem man die Partei nicht behelligen dürfe«, und erst im Jahre 1906, als die Antialkoholbewegung, in der Hirschfeld mitarbeitete, so weit angewachsen war, dass sie nicht mehr ignoriert werden konnte, änderte Bebel seine Ansicht. Auf dem Parteitag in Mannheim, der erstmals Beschlüsse zur Bekämpfung der Trunksucht fasste, korrigierte Bebel seine Fehleinschätzung, was Hirschfeld mit Befriedigung zur Kenntnis nahm.13

     Hirschfelds großes Thema, die gleichgeschlechtliche Liebe, war in der Sozialdemokratie längere Zeit zuvor – wenn auch nur sehr zweideutig und zaghaft – angeklungen. Von Engels, Bebel und Kautsky liegen hierzu Äußerungen vor, die ein beachtliches Maß an Vorurteilen und Unaufgeklärtheit erkennen lassen.

     Bei Engels, der gegen »die Widerwärtigkeit der Knabenliebe« eiferte,14 und bei Kautsky, der Sodomie und Tribadie für »die widernatürlichsten, Geist und Körper zerrüttenden Geschlechtsverhältnisse« hielt,15 wiegen solche Fehlurteile um so schwerer, als beide erwiesenermaßen Gelegenheit hatten, die damals avanciertesten Ideen zur gleichgeschlechtlichen Liebe sich anzueignen. Engels hatte mindestens ein Werk aus der Reihe Forschungen zur mannmännlichen Liebe von Karl Heinrich Ulrichs gelesen, was ihm aber nur als Anlass für eher einfältige Spötteleien über die Päderasten diente.16 Kautskys Bemerkungen sind in einer Polemik gegen ein Buch des Berliner Schriftstellers Roderich Hellmann enthalten, das radikale Sexualreformen, Abschaffung des bestehenden Ehe- und Familienrechts und Straffreiheit für Päderastie forderte.17           August Bebels Haltung zur Homosexualität entsprach anfangs der seiner Genossen Engels und Kautsky. Auch er erregte sich in seinem Buch Die Frau und der Sozialismus über die »Unnatur der Knaben- und Männerliebe«.18 Doch sollten Kautsky wie Bebel, womöglich unter dem Einfluss Eduard Bernsteins, im Jahre 1895 zu differenzierteren Positionen gelangen, während Friedrich Engels, der in diesem Jahr starb, die neuen Ideen Bernsteins nicht mehr erreichen konnten. Bernstein formulierte in zwei Artikeln in der SPD-Theorie-Zeitschrift Die neue Zeit einen in der Arbeiterbewegung völlig neuen Standpunkt zur Homosexualität.19 Er lebte damals in London und nahm den Prozess gegen Oscar Wilde zum Anlass, um seinen Genossen und Genossinnen zu erklären, dass der »widernormale Geschlechtsverkehr« weder moralisch noch strafrechtlich verurteilt werden sollte. Unbestimmt blieb er lediglich in der Frage, ob die Liebe zum gleichen Geschlecht nicht vielleicht doch – wie Professor Krafft-Ebing meinte – »pathologisch zu beurtheilen ist«; immerhin fand er sogleich auch einen treffenden Einwand gegen Krafft-Ebings Pathologisierung: »Andererseits ist indeß vor der Übertreibung der pathologischen Erklärung zu warnen. Schließlich lässt sich alles als pathologischer Zwang hinstellen, und gerade das Geschlechtsleben bietet dazu den besten Anlass.«20

     Nichts ist darüber bekannt, wie Bernsteins neue Auffassung in der Partei ankam. Eine Diskussion seiner Ansichten, wenn sie überhaupt stattgefunden hat, drang jedenfalls nicht an die Öffentlichkeit. Kautsky war, als Bernsteins Artikel erschienen, verantwortlicher Redakteur der Neuen Zeit, und die Tatsache, dass in den folgenden Jahren dort immer wieder Beiträge gedruckt wurden, die die Bernsteinsche Auffassung bekräftigen, lässt einen Gesinnungswandel bei diesem nach Engels' Tod maßgeblichen Theoretiker der Sozialdemokratie vermuten. Neben Bebel war Kautsky der einzige führende Sozialdemokrat, der gleich zu Anfang 1897 seine Unterschrift unter Hirschfelds Petition gegen den § 175 setzte.21 Bernstein kam erst später hinzu; er kehrte 1901 aus dem Londoner Exil nach Berlin zurück und suchte, wie Hirschfeld später schrieb, »alsbald unser Komitee auf, mit dessen Bestrebungen er seitdem in guter Fühlung blieb.«22

     Bernstein scheint vor dem Ersten Weltkrieg in der SPD der anerkannte Experte für die sexuelle Frage gewesen zu sein. Die einzige Druckschrift der Partei zu diesem Thema – abgesehen von einigen Broschüren über Verhütung von Geschlechtskrankheiten – hatte Bernstein zum Autor; unter dem Titel Der Geschlechtstrieb erschien 1908 ein Heftchen in der Reihe Arbeiter-Gesundheits-Bibliothek, das eine kurze und korrekte Wiedergabe der Ansicht Hirschfelds über die Homosexualität enthält, allerdings von Bernstein mit dem Zusatz versehen: »Dies die Theorie Dr. M. Hirschfelds, die aber in der Fachwelt noch vielfach bestritten wird.«23 Das war bereits das Maximum an Zustimmung, das Hirschfeld aus den Reihen seiner eigenen Partei erreichen konnte, soweit es seine wissenschaftliche Erklärung der Homosexualität betraf. Anders lagen die Dinge, wo es um den humanitären oder rechtlichen Aspekt ging. Hierzu heißt es in Bernsteins Massenbroschüre über den Geschlechtstrieb etwas gewunden: »Das Gesetz soll keine Handlungen unter Strafe stellen, in bezug auf die es nicht imstande ist, den Tätern die Überzeugung von der Notwendigkeit des Verbots beizubringen. Was zwei mündige Personen in freier Entschließung und in der Gewissheit tun, dass sie dadurch weder einander noch dritte schädigen, das werden sie nie als Unrecht empfinden.«24

     Die liberale Idee, dass dem Wollenden kein Unrecht geschieht und folglich der § 175 ein reaktionäres Ausnahmegesetz ist, akzeptierten wohl die meisten Sozialdemokraten, unabhängig davon, ob sie die Homosexuellen für krank oder gesund, für moralisch verwerflich oder für den Heterosexuellen gleichwertig hielten. Wäre auf einem Parteitag über diese Frage abgestimmt worden, hätte Bernsteins Ansicht wohl die Zustimmung der Mehrheit gefunden. Doch erst auf dem Kieler Parteitag 1927 kam es anscheinend erstmals zu einer Entscheidung in dieser Frage. Man beschloss, »Abschaffung der Bestrafung wegen Ehebruchs und widernatürlichen Verkehrs« zu fordern und begründete dies in einer Weise, die kaum irgendeinen Einfluss Hirschfelds erkennen lässt: »Wir halten es nicht für richtig, Krankheiten mit dem Strafgesetz zu bekämpfen.«25 Zugleich verlangte der Parteitag, einen neuen, von Hirschfeld stets abgelehnten Straftatbestand zu schaffen, einen »Schutz vor Missbrauch in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen« für Männer. Bezeichnenderweise hielt man es nur für nötig, die Männer vor sexueller Nötigung am Arbeitsplatz zu schützen, nicht aber die Frauen. Die Nazis haben dann 1935 diese Forderung der SPD in dem neuen § 175a zum geltenden Recht erhoben.
Zur Sozialdemokratie kam Hirschfeld nach seinen eigenen Angaben durch die Lektüre eines Buches und durch die persönliche Bekanntschaft mit dessen Autor: August Bebels Die Frau und der Sozialismus, das 1879 in der Schweiz erschienen war. »Ich selbst wurde von diesem Buch stark beeinflusst. Es führte mich bereits im Alter von zwanzig Jahren Bebel zu, dessen glühender Gerechtigkeitssinn mich von der mir angestammten demokratischen Gesinnung (mein Vater war ›Achtundvierziger‹) zur sozialdemokratischen Anschauung führte.«
26 Damals, als Zwanzigjähriger, hatte Hirschfeld gerade in Straßburg mit dem Medizinstudium begonnen, und vielleicht war Die Frau und der Sozialismus das erste Buch, in dem er eine ausführlichere Erörterung über den »Geschlechtstrieb« las.

     Auch Bebels Meinung über »erschreckende Thatsachen« der »Männerliebe« und des »Sapphismus« konnte der junge Medizinstudent zur Kenntnis nehmen:

»Die Zahl junger und alter Roués ist enorm und sie haben ein Bedürfnis nach besonderen Reizungen, weil durch Übermaß abgestumpft und übersättigt. Viele verfallen deshalb in die Widernatürlichkeiten des griechischen Zeitalters. Die Männerliebe ist heute viel verbreiteter, als die Meisten unter uns sich träumen lassen; darüber könnten die geheimen Akten mancher Polizeibureaus erschreckende Thatsachen veröffentlichen. Aber nicht blos bei den Männern, auch bei den Frauen leben die Widernatürlichkeiten des alten Griechenland in stärkstem Maße wieder auf [. . .] In Berlin soll ein Viertel der Prostituirten Tribadie treiben, aber auch in den Kreisen unserer vornehmen Frauenwelt fehlt es nicht an Jüngerinnen der Sappho.«27     Als Hirschfeld im Wintersemester 1891/92 nach Berlin kam, um hier sein Studium abzuschließen, lernte er den Autor von Die Frau und der Sozialismus persönlich kennen. Später schreibt er, dass er Bebels »persönlicher Freundschaft und Einführung in die Grundlehren des Sozialismus [. . .] unauslöschlichen Dank schulde.«28

     Dieser Freundschaft ist es wohl zu danken, dass Bebel zu den ersten vier Unterzeichnern der Petition gegen den § 175 gehörte. Die Homosexualität muss zwischen den beiden Männern ausführlich zur Sprache gekommen sein, wobei Hirschfeld jedoch nur sehr begrenzt Bebels Ansichten beeinflussen konnte. Bebel lernte immerhin die Beseitigung des Ausnahmerechts gegen schwule Männer als eine Aufgabe begreifen, an deren Lösung er sich persönlich und auch in seiner Rolle als Vorsitzender der größten sozialistischen Partei Europas zu beteiligen hatte. Neben den Gesprächen mit Hirschfeld wird auch die Lektüre der Aufsätze Bernsteins an den neuen Einsichten des Vorsitzenden mitgewirkt haben. Doch Bebel ging nicht so weit, dass er seine Einsicht in der SPD als mehrheitlich gebilligten Parteistandpunkt durchzusetzen versuchte. Bis zu dem Parteitagsbeschluss von 1927 scheint man die Meinung über die Homosexualität als Privatangelegenheit der einzelnen Mitglieder angesehen zu haben, wenngleich viele sich am öffentlich vertretenen Standpunkt des Vorsitzenden orientiert haben werden.

     So kam es, dass während einer Debatte im Reichstag zum § 175 ein sozialdemokratischer Abgeordneter einen anderen für seinen allzu schwulenfreundlichen Redebeitrag tadeln konnte, wohl um den Eindruck zu verwischen, dass dieser den Standpunkt der gesamten Partei vertrete: Nachdem der Abgeordnete Thiele ausgeführt hatte, dass er die Homosexualität weder für eine Krankheit noch für ein Verbrechen halte, erklärte sein Genosse von Vollmar, »dass Kollege Thiele wie jeder andere Kollege, der in dieser Angelegenheit spricht, ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit, in dieser Sache lediglich persönlich Stellung nimmt, und die Sozialdemokratie so wenig wie irgendeine andere Partei mit dieser Sache irgend etwas zu schaffen hat.«29 Vollmar sprach hier anscheinend die Kompromissformel aus, die es den Gegnern der Homosexuellenemanzipation in der SPD ermöglichte, stillzuhalten und die Aktivitäten Bernsteins, Bebels und Hirschfelds zu tolerieren. Zugleich brachte Vollmar seine und seiner Gesinnungsgenossen Angst zum Ausdruck, der politische Gegner könnte »diese Angelegenheit«, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagte, mit seiner Partei identifizieren – eine Angst übrigens, die mit der Bereitschaft zusammenhing, selber dem politischen Gegner, der herrschenden Klasse eine besondere Nähe zur Homosexualität anzudichten.

     So erklärt sich vielleicht, dass sich unter Hirschfelds Petition auffallend wenige Unterschriften von Sozialdemokraten befinden. Geht man die Namenliste durch, fallen an bekannten Namen nur Bebel, Kautsky und Bernstein auf. Dutzende damals führender Funktionäre fehlen, was wohl kaum mit einem taktischen Kalkül Hirschfelds erklärt werden kann, der etwa vermeiden wollte, dass die Petition als bloße SPD-Angelegenheit erschien. Unterschriften aus den anderen politischen Richtungen waren zur Genüge vorhanden, und Hirschfeld hatte wohl deshalb die vier Erstunterzeichner als bunte, aber sorgsam komponierte Mischung ausgewählt: der marxistische Sozialist August Bebel neben dem konservativen Ernst von Wildenbruch und zwei liberalen Professoren, dem Psychiater Richard von Krafft-Ebing und dem Juristen Franz von Liszt. Über den erwähnten Reichstagsabgeordneten Georg von Vollmar erzählt Hirschfeld ebenso wie über die Sozialdemokraten Wilhelm Liebknecht und Ludwig Viereck, dass er mit ihnen freundschaftlichen Umgang gepflegt habe, was anscheinend nicht ausreichte, um sie für die Unterstützung der Petition zu gewinnen.30

     Abgesehen von der Einsicht, dass der § 175 weg müsse, blieb auch Bebels Meinung zur Homosexualität zwiespältig. Statt sich Hirschfelds Standpunkt anzuschließen, scheinen ihn weitaus stärker einschlägige Schriften Krafft-Ebings beeindruckt zu haben, etwa dessen grundlegende Doktrin, dass es zwei Arten von Homosexuellen gebe, die unschuldigen Stiefkinder der Natur mit angeborener Neigung und die Perversen, die wegen Übersättigung an zu reichlich genossener Heterosexualität schwul oder lesbisch wurden und so etwas wie moralisch Entartete und Dekadente seien. Letztere erscheinen dann bei Bebel als die »jungen und alten Roués«, die auch noch in der 50. Auflage von Die Frau und der Sozialismus in diesem Sinne vorkommen. Für Bebel war mit den Krafft-Ebingschen »Roués« zudem noch ein Moment klassenkämpferischer Agitation verbunden, denn diese Übersättigungs-Homosexualität sei »gerade in den ›höheren‹ Gesellschaftsschichten« verbreitet und die lesbische Liebe besonders häufig »in den Kreisen unserer vornehmen Frauenwelt«.31

     Anfang des Jahres 1898 beriet der Reichstag über eine Verschärfung des Sexualstrafrechts, die sogenannte Lex Heinze, mit der erstmals die Zuhälterei strafbar und die Verbreitung »unzüchtiger Schriften« härter als bisher bestraft werden sollte. Bebel nahm diese Debatte zum Anlass, um seine Kritik am § 175 vorzutragen und seine Unterstützung der Petition Hirschfelds zu begründen. Obwohl der Polizei, sagte er, speziell in Berlin viele Männer bekannt seien, die gegen den § 175 verstießen, würden keine Verfahren gegen sie eingeleitet; vielmehr werde das Homosexuellenstrafrecht nur ausnahmsweise und völlig willkürlich gehandhabt. Falls allein die in Berlin begangenen Verbrechen gegen diesen Paragraphen tatsächlich gesühnt würden, müssten zwei neue Gefängnisse gebaut werden. »Mir ist aus bester Quelle bekannt, dass die hiesige Polizei die Namen von Männern, die das im § 175 mit Zuchthaus bedrohte Verbrechen begehen, nicht etwa, sobald sie dieses in Erfahrung bringt, dem Staatsanwalt nennt, sondern die Namen der betreffenden Personen zu den übrigen Namen hinzuschreibt, die aus dem gleichen Grunde bereits in ihren Registern enthalten sind.«32 Bebel irrte sich hier unter anderem in der Annahme, dass ein Schwuler, den die Polizei registrierte, auch schon gegen den § 175 verstoßen habe. Tatsächlich war es nur ausnahmsweise möglich, eine »beischlafähnliche Handlung« nachzuweisen, und viele Schwule, wie etwa der Fürst Eulenburg mit seinem Fischer vom Starnberger See, begnügten sich mit einer Art von Sex, die nicht strafbar war.

     Zehn Jahre später, als der Reichstag über die Eulenburg-Affäre debattierte, äußerte sich Bebel wiederum zum § 175, tadelte jetzt klassenkämpferisch, dass »zweierlei Maß« von der Justiz angewandt würde, je nachdem, ob sich ein Arbeiter oder ein Offizier beischlafähnlich betätigte – eine Behauptung, die Hirschfeld niemals aufstellte und die auch kaum zu belegen war. Er zog jedoch den richtigen Schluss, dass »der § 175 des Strafgesetzbuchs unhaltbar geworden ist«.33 Dieses Bekenntnis zu seiner alten Überzeugung von 1898 und letztlich zu Hirschfeld war um so bemerkenswerter, als jetzt, Ende 1907, auf dem Höhepunkt der Eulenburg-Affäre die öffentliche Meinung in extremer Weise gegen Hirschfeld und die Homosexuellen aufgebracht war. So mag es der unangefochtenen Autorität Bebels in seiner Partei zu danken gewesen sein, dass sich Gegner der Homosexuellenemanzipation und des Hirschfeldschen Komitees, die es in der SPD zweifellos gab, nicht zu artikulieren wagten und allenfalls in beredtem Schweigen ihren Dissens mit dem Vorsitzenden bekundeten.

 

* * *

 

Am 15. November 1902 erschien im Vorwärts, dem Zentralorgan der SPD, unter dem Titel »Krupp auf Capri« ein Artikel, der die Ansicht des Parteivorsitzenden zur Homosexualität an einem Beispiel demonstrierte:

»Der Geheime Kommerzienrat Krupp, Mitglied des preußischen Herrenhauses, der reichste Mann Deutschlands, dessen jährliches Einkommen seit dem Flottenvertrag auf 25 und mehr Millionen gestiegen ist, der über 50 000 Arbeiter und Angestellte in seinen Betrieben unterhält, in denen das Zentrum der völkermordenden Kriegstechnik liegt, – Herr Krupp, den die fremden Fürsten und Staatsmänner zu besuchen pflegen, wenn sie Deutschland durchreisen, gehört zu jenen Naturen, für die der § 175 eine stete Qual und Bedrohung bedeuten würde, wenn nicht auf diesem Gebiete die Gerechtigkeit in Anerkennung der Bedenklichkeit der gesetzlichen Bestimmung die Binde nur selten von den Augen nimmt. Unter dem Einfluss der kapitalistischen Macht kann eine unglückliche Veranlagung, die den Besitzlosen niederdrückt oder gar zerschmettert, zu einem furchtbaren Quell der Korruption werden, die dann aus einem persönlichen Schicksal eine öffentliche Angelegenheit gestaltet. Es ist bekannt, dass Herr Krupp seit einiger Zeit auf Capri, der Insel des Kaisers Tiberius, am Südeingang zum Golf von Neapel, eine Villa besaß [. . .] In seiner verschwenderisch ausgestatteten Villa – wir geben nur einige der notwendigsten Einzelheiten wieder, die unser italienischer Korrespondent uns berichtet – huldigte er mit den jungen Männern der Insel dem homosexuellen Verkehr [. . .]«34

     Wenn in diesem Artikel des Vorwärts nicht von »unglücklicher Veranlagung«, vom »Opfer eines verhängnisvollen Natur-Irrtums« und von »Beseitigung des § 175« die Rede wäre, müsste der Eindruck entstehen, als würde die Homosexualität so gehasst wie der Kapitalismus. Krupp erstattete Anzeige wegen Beleidigung, woraufhin Polizeiaktionen gegen den Vorwärts stattfanden, und eine Woche später war Krupp »infolge Gehirnschlags« tot, höchstwahrscheinlich hatte er Selbstmord begangen. Damit war von der SPD der Weg über Leichen beschritten worden.

     Dieses Schlagwort vom »Weg über Leichen«, das der Sexologe Albert Moll geprägt hatte, bezeichnete damals in der Schwulenbewegung ein Konzept zur Beseitigung des § 175, das durch Entlarvung von Prominenten, die ihre Veranlagung verheimlichen, die Unhaltbarkeit dieses Paragraphen für jedermann sinnfällig machen sollte. Der auf diese Wiese Entlarvte würde dann gewissermaßen dem Ziel geopfert, § 175 zu Fall zu bringen. Hirschfeld und das WhK hatten diese Taktik ausdrücklich abgelehnt, und es ist auch nicht recht einzusehen, wie die öffentliche Enthüllung der Homosexualität prominenter Stützen der Gesellschaft und des Staates einen Sinneswandel beim Gesetzgeber bewirken soll. Die Denunziation des homosexuellen Krupp blieb jedenfalls ohne jede Wirkung auf die Strafrechtsreform, und als der Schriftsteller Adolf Brand im Jahre 1907 den Reichskanzler Bülow in einem Flugblatt als homosexuell bezeichnete, hatte das lediglich die Verurteilung Brands zu einer achtzehnmonatigen Gefängnisstrafe wegen Beleidigung zur Folge.
     Der SPD-Presse ging es bei ihrer Berichterstattung über Krupp vorgeblich um die Beseitigung des § 175. Tatsächlich aber verband sich hier der Klassenkampfgedanke mit dem Ressentiment gegen »Sexualperverse« auf eine fatale Weise, die beiden Zielen gleichermaßen schadete. Denn der § 175 konnte so nicht im geringsten in Frage gestellt werden, und die Begeisterung für den Sozialismus wurde ebenfalls kaum gefördert, als die Arbeiter erfuhren, dass es auch unter den Kapitalisten Homosexuelle gibt. »Wir wollten an dem Falle eines besonders bekannten Namens die Notwendigkeit der Aufhebung jenes § 175 erweisen«, schrieb der Vorwärts ein wenig heuchlerisch nach Krupps Beerdigung. Krupps Witwe beantragte die Einstellung des Verfahrens gegen die SPD-Zeitung, damit »der Streit um den Verstorbenen in der Öffentlichkeit möglichst zur Ruhe komme«.
35

     Sicher war die Heuchelei bei denen, die die Macht im Staate besaßen und am § 175 festhielten, obwohl er sogar Krupp und – wie sich bald herausstellen sollte – auch andere intime Freunde des Kaisers bedrohte, viel ausgeprägter als bei den sozialdemokratischen Redakteuren. Nur mit einem Höchstmaß an pompösem Aufwand, mit mehreren Kaiserreden an die Krupp-Arbeiter und einer Denkmalsenthüllung, gelang es, den Skandal um das Geschlechtsleben des mächtigen Krupp zu ersticken.

     Es ist jedoch erstaunlich, dass, anders als fünf Jahre später bei der Eulenburg-Affäre, durch den Krupp-Skandal keine Steigerung der antihomosexuellen Stimmung in der Öffentlichkeit eintrat. Im Gegenteil konnte Hirschfeld eine recht günstige Bilanz ziehen, als er rückblickend die Ereignisse um Krupps Tod bewertete: »In vielen tausend Zeitungsartikeln, in zahlreichen Broschüren wurde auf den § 175 Bezug genommen, und als sehr bemerkenswert müssen wir konstatieren, dass, so nahe die Gelegenheit lag, von ganz verschwindenden Ausnahmen abgesehen, keine Zeitung, keine Partei – selbst nicht das Centrum – auf die Beibehaltung des § 175 Wert legte oder dieselbe forderte. Sehr viele Blätter, die das Vorgehen des Vorwärts aufs schärfste missbilligten, traten energisch für die Abschaffung des Strafparagraphen ein.«36 Anscheinend brach durch den plötzlichen Tod Krupps die Ereigniskette zu früh ab, so dass Gerichtsprozesse mit spektakulären Beweisaufnahmen über das Geschlechtsleben der Beteiligten, mit Schwüren und Meineiden über Normalität und Widernatürlichkeit ausblieben und die Stimmung nicht umschlug.

     Hirschfeld verhielt sich gegenüber sozialdemokratischer Homosexuellenfeindlichkeit, wie sie im Krupp-Artikel des Vorwärts zum Ausdruck kam, stets völlig passiv. Dass er niemals öffentlich ein kritisches Wort gegen solche Tendenzen in der SPD äußerte, hängt wohl nicht so sehr mit seiner Loyalität zur Partei zusammen, denn in anderen Fragen wie Naturheilkunde und naturgemäße Lebensweise hielt er sich mit seiner Kritik durchaus nicht zurück. Vielleicht vermied er in der Homosexuellenfrage deshalb jede Kritik an seiner Partei, weil er in ihr trotz allem die verlässlichste und stärkste Verbündete im Emanzipationskampf sah. Als die Eulenburg-Affäre das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee in eine existenzbedrohende Krise stürzte, konnte Hirschfeld am Ende seines Berichts über die Ereignisse schreiben: »Ich möchte diese Zeilen nicht schließen, ohne Einigen meinen Dank auszusprechen. Zunächst danke ich den Herren von der Behörde, die trotz aller Scharfmacherei nicht das Vertrauen zu mir verloren [das heißt, er behielt seine Zulassung als Sachverständiger bei Gericht, M. H.], dann der Arbeiterklasse, deren Presse fast die einzige war, die mich mit gehässigen Angriffen verschonte.«37

     Den konservativen Gegnern beider Bewegungen, der Arbeiter- wie der Homosexuellenbewegung, entging diese Nähe nicht, und in ihrer Propaganda machten sie daraus eine Verschwörung von Schwulen und Sozialisten gegen »unsere Gesellschaftsordnung«. »Hinter dem Komitee stehen gleichfalls, und zwar geschlossen, die Führer der Sozialdemokratie. Diese aber erstreben den Zusammenbruch unserer sich auf der Ehe aufbauenden Gesellschaftsordnung«, heißt es 1907 in der eher liberalen Berliner Zeitung Der Tag.38 Und zwanzig Jahre später, als die Nazis dabei waren, sich ideologisch durchzusetzen, gehörte die unheilige Allianz von Schwulen, Sozialdemokraten und Juden gegen das »deutsche Volk« zu den gängigen Propagandaklischees; nachdem die SPD 1927 für die Reform des § 175 votiert hatte, sagte der Nazi-Abgeordnete Frick im Reichstag zu den Sozialdemokraten gewandt: »Einen Beitrag zur sittlichen Erneuerung des deutschen Volkes glaubt wohl Ihr Parteitag in Kiel dadurch leisten zu sollen, dass er die Aufhebung des § 175 und die Aufhebung der Strafe für Ehebruch verlangt hat [. . .] Natürlich sind es Juden, Magnus Hirschfeld und seine Rassegenossen, die auch hier wieder führend und bahnbrechend wirken, wie ja überhaupt die ganze jüdische Moral das deutsche Volk geradezu verwüstet.«39

 

* * *  Im Mai 1897 veröffentlichte Hirschfeld in der von ihm redigierten Wochenschrift Der Hausdoctor einen »Programmentwurf für die deutsche Naturheilbewegung«. Im Abschnitt »Sittlichkeitsfragen« findet man eine Forderung, die ein in der damaligen Sozialdemokratie sehr umstrittenes Thema berührt: »9. Bekämpfung schädlicher Präventivmaßregeln (coitus interruptus)«.40 In den Streit, ob überhaupt empfängnisverhütende Sexualität empfohlen werden soll, mischt sich Hirschfeld hier noch nicht ein; er lässt offen, ob denn wenigstens unschädliche Präventiv-Maßregeln propagiert und damit die Proletarierfrauen in die Lage versetzt werden sollen, über Mutterschaft und Kinderzahl selbst zu bestimmen. Er fordert zwar »gewissenhafte Aufklärung der Jungfrauen und Jünglinge nach Eintritt der Reife über das sexuelle Gebiet« und »keuschen Lebenswandel vor der Ehe« für beide Geschlechter, nicht aber die Vermittlung von Verhütungswissen. Zu der Kontroverse, in der Kautsky den »präventiven geschlechtlichen Verkehr« befürwortete, während Bebel in der Nachfolge von Friedrich Engels den »widernatürlichen Präventivverkehr« ablehnte,41 äußerte sich Hirschfeld erst nach dem Weltkrieg. Möglicherweise ist Hirschfeld durch seine Freundschaft mit Iwan Bloch, der in seinem epochalen Werk Das Sexualleben unserer Zeit den Präventivverkehr propagierte, Befürworter von Empfängnisverhütung und Geburtenregelung geworden. Er geriet damit in Gegensatz zu Repräsentanten des linken Flügels der SPD, die zwar die Homosexuellenfrage geflissentlich ignorierten, wohl aber einen eifrigen Kampf gegen den so genannten Neomalthusianismus, gegen die Propagierung von Empfängnisverhütung und Geburtenregelung führten. Rückblickend beschreibt Hirschfeld eine Begegnung mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, zwei besonders engagierten Streiterinnen für unbegrenzten Kinderreichtum der Proletarierinnen:

»Von denselben Gesichtspunkten wie die Regierungen lassen sich vielfach auch die Parteien, und zwar nicht nur die nationalistischen, sondern auch diejenigen leiten, welche sich zur Erlangung ihrer Ziele auf die große Masse der Arbeiter (das ›Proletariat‹) stützen. Unvergesslich geblieben ist mir in dieser Beziehung eine der größten Volksversammlungen, die ich jemals mitmachte. Im Saal der ›Neuen Welt‹ in der Berliner Hasenheide, der über 4000 Personen fasst, hielt ein bekannter sozialistischer Arzt einen Vortrag über den ›Gebärstreik‹, in dem er die Arbeiter aufforderte, durch empfängnisverhütende Mittel ›diesem‹ Staat möglichst wenig Rekruten zu liefern. Da standen zwei der berühmtesten Führerinnen der radikalen Arbeiter- und Frauenbewegung auf: Klara Zetkin und Rosa Luxemburg, und wandten sich mit ihrer eindrucksvollen Beredsamkeit gegen jede künstliche Beschränkung der Geburtenzahl, indem sie klarlegten, dass gerade die starke Vermehrung des Proletariats gegen das kapitalistische Zweikindersystem im sozialistischen Entscheidungskampf eine der wertvollsten Waffen sei.«42

     Nach dem Ersten Weltkrieg gehörten ungehinderte Aufklärung über Empfängnisverhütung, freier Verkauf von Präservativen und Reform des Abtreibungs-Paragraphen 218 zu den weitgehend akzeptierten Forderungen aller Arbeiterparteien. Die Linken, wie zum Beispiel Clara Zetkin, hatten ihren Irrtum stillschweigend korrigiert und konnten jetzt mit Hirschfeld für unbeschränkte Geburtenkontrolle eintreten.

 

* * * In der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg entfaltete Hirschfeld, wie erwähnt, eine gesteigerte politische Aktivität. Enttäuscht zog er sich schon bald zurück, da seine Partei offensichtlich nicht bereit war, ihre neu errungene Macht für die Reform des Familienrechts und Sexualstrafrechts zu nutzen. Auch musste er erleben, dass die staatliche Zensur unter der neuen Bezeichnung ›Jugendschutz‹ mit Billigung der SPD unverändert fortbestand und seinen Aufklärungsfilm über die Homosexualität Anders als die Andern nach kurzer Laufzeit ebenso verbot wie den Aufklärungsfilm Die Prostitution, an dem Hirschfeld beratend mitgewirkt hatte. Ausgerechnet aus den Kreisen der linken Sozialdemokratie kam scharfe Kritik an seinen Aufklärungsfilmen. So schrieb Kurt Tucholsky in der USPD-Presse Artikel gegen Hirschfeld, die sich in ihrer aggressiven Polemik nicht allzu sehr von den rechtsradikalen und klerikalen Angriffen unterschieden. Die extremste Stelle in Tucholskys zweitem Artikel, in dem er das Münchner Attentat auf Hirschfeld kommentierte, lautet:

»Die Persönlichkeit des Doktor Hirschfeld ist vielen von uns nicht allzu angenehm. Sein allzu hitziges und nicht immer geschmackvolles Eintreten für die Homosexuellen hat es jahrelang fast unmöglich gemacht, die Aufhebung des § 175 zu betreiben, weil sich die Materie unter seinen Händen langsam in ein Moorbad verwandelt hatte. Eine ziemlich üble Mischung von kitschiger Sentimentalität, falscher Romantik und einer Schein-Wissenschaftlichkeit, die mancher männlichen Jungfer einen Ersatz für das Leben bot, zeichneten Werke und Wirken dieses Mannes aus. Seine Aufklärungsfilme waren entsprechend.«43

     In Tucholskys Nachlass ist der Brief erhalten, den Hirschfeld nach Erscheinen dieses Artikels an Tucholsky geschrieben hatte. Er wehrt sich darin zunächst gegen die Vorwürfe, die zuerst aus kirchlichen und deutsch-völkischen Kreisen gegen ihn gerichtet worden waren und die diese nun wieder bestärken: »Wie nahe liegt es (u. es ist auch tatsächlich geschehen), dass deutsch-völkische Hakenkreuzler ihre Untaten damit entschuldigen u. weiter propagieren, indem sie sagen: so wird dieser Mann selbst in Kreisen seiner eigenen Parteigenossen (der Sozialisten u. Pazifisten) beurteilt [. . .]« Schließlich macht Hirschfeld den Vorschlag einer persönlichen Aussprache,44 von der wir nicht wissen, ob sie tatsächlich zustande kam.

     Jedenfalls hat es Tucholsky seitdem unterlassen, Hirschfeld anzugreifen, und acht Jahre später war es sogar möglich, ihn zu einem relativ freundlichen Beitrag zu der Festschrift für Hirschfelds 60. Geburtstag und zu Äußerungen gegen den § 175 zu veranlassen,45 was ihm 1920 angeblich wegen Hirschfelds »Schein-Wissenschaftlichkeit« und »kitschiger Sentimentalität« »fast unmöglich gemacht« worden war. Als dann in Preußen 1929 Hirschfelds Zeitschrift Die Aufklärung mit Hilfe des preußischen Gesetzes zur Bekämpfung von Schund- und Schmutzschriften verboten werden sollte, kommentierte Tucholsky diese dann doch nicht geglückte Zensurmaßnahme sehr differenziert:

»Es ist eine Dreistigkeit sondergleichen, einen Wissenschaftler wie Hirschfeld auf eine Schmutzliste zu setzen. Ich stimme mit diesem Mann in vielen Punkten nicht überein; über die Art seiner Propaganda lässt sich manches sagen – aber doch immer mit dem Hut in der Hand, doch immer mit der Anerkennung: Hier hat sich einer für eine vernünftige Sache gegen seine Zeit und die Schande des Strafgesetzentwurfs gestemmt. Wenn ein Landesjugendamt die Schrift eines solchen Mannes, dessen Lebenswerk und Name eine gute Gewähr sind, auf eine Schundliste setzt, so kann es das nur getan haben, weil ihm die dort vorgetragenen Lehren nicht in seinen Kirchenkram passen.«46

 

* * *

 

Es gab noch einen dritten Bereich, in dem Hirschfeld erfahren musste, dass seine Partei eine sozialistische Umgestaltung gar nicht anstrebte, sondern die bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse bewahren und konservieren wollte. Hirschfeld hatte einen Plan zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens entworfen, der die alte sozialistische Idee einer kostenlosen gesundheitlichen Versorgung für alle – ähnlich wie die Volksschule für alle Kinder – praktisch verwirklichen sollte. Niemand in der sozialdemokratischen Regierung dachte jedoch im Ernst daran, solche Vorschläge gegen die Interessen althergebrachter Ärzteorganisationen und der Heilmittelindustrie durchzusetzen. Hirschfelds Vorschlag beruhte auf einer beträchtlichen Verkennung des Charakters und der Ziele seiner Partei, die sich zudem schon bald aus den soeben eroberten Machtpositionen verdrängen ließ.

     In der Sexualpolitik der Nachkriegszeit kam mit der Gründung der Kommunistischen Partei ein ganz neuer Faktor zur Geltung. Die deutschen Kommunisten orientierten sich auch in der sexuellen Frage an ihren russischen Genossen, die gleich nach Eroberung der Staatsmacht das alte Strafrecht außer Kraft setzten und damit die Strafbarkeit von Abtreibung, Homosexualität, Ehebruch und einigen anderen traditionellen Tatbeständen abschafften. Demzufolge war dann auch die KPD und nicht die SPD die Partei, die Hirschfelds Vorstellungen von Sexualreform im Reichstag ohne Vorbehalt vertrat, wenn auch aus einer ähnlichen Position wie die SPD vor dem Krieg, nämlich der einer gesetzgeberisch faktisch ohnmächtigen Minderheit. Die kommunistische Reichstagsfraktion beantragte im Juni 1924 die Abschaffung des § 175 und eine Amnestie für alle Verurteilten. »Es ist in der Geschichte unseres Kampfes immerhin bemerkenswert, dass hier zum ersten Male ein ausdrücklicher Antrag auf Außerkraftsetzung des § 175 von einer politischen Partei gestellt wird», kommentierte Hirschfeld diese Initiative der KPD. Zugleich war ihm aber klar, dass ein Erfolg nicht zu erwarten sei, allein schon wegen der Isoliertheit und zahlenmäßigen Schwäche der Kommunisten.47

     Im Sommer 1926 reiste Hirschfeld »als Gast der russischen Regierung« nach Moskau und Leningrad, um die Neuregelung des Sexuallebens in Sowjetrussland dort zu studieren. Nach seiner Rückkehr berichtete er in mehreren öffentlichen Vorträgen über die vorbildlichen Reformen, soweit sie das Eherecht, die Geburtenregelung, die unehelichen Kinder und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten betrafen. In all diesen Punkten, »in denen sich in Deutschland gegenüber früher fast nichts verändert hat«, begrüßte er die Befreiung vom Einfluss kirchlicher Moral, die – wie er das nannte – Überwindung des »theologischen Geistes« durch den biologischen. Die Grenzen der sowjetrussischen Reformen konnte Hirschfeld jedoch schon 1926 spüren, denn die bolschewistische Moral war doch nicht allzu weit von der kirchlichen entfernt, so dass ihm eine kritische Distanz zu den deutschen wie zu den russischen Kommunisten geboten schien: »Allerdings ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Problem Homosexualität noch sehr zurückgeblieben und auch für homosexuellen Verkehr gilt die Auffassung, dass er ›unproletarisch‹ sei.«48 Ebenfalls galt der Verkehr mit Prostituierten als unproletarisch, doch war dies nur eine milde Vorstufe zu dem staatlichen Terror, den die russischen Kommunisten in den dreißiger Jahren entfalten sollten und der sich unter anderm auch gegen eine vermeintlich unproletarische Sexualität richtete.49 Eine Selbstorganisation von Lesben und Schwulen, wie sie Hirschfeld im WhK unternommen hatte, eine Artikulation ihrer Lebensweisen und Bedürfnisse in Presse und Literatur war in der Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt möglich, wurde immer konsequent unterdrückt. 1928 erhielt das WhK Informationen, dass Homosexuelle in Sowjetrussland zwangsweise in psychiatrische Kliniken gesperrt würden; auf eine entsprechende Anfrage antwortete die sowjetische Regierung ausweichend mit einem Hinweis auf das geltende Strafrecht.50 Im gleichen Jahr schrieb Anatol Lunatscharski, der Volkskommissar für das Bildungswesen in der sowjetischen Regierung, der mit Hirschfeld in freundschaftlicher Verbindung stand, über die Verwirklichung Hirschfeldscher Ideen in seinem Land: »Ich erachte es als Pflicht, zu bekennen, dass die Ideen Dr. Magnus Hirschfelds unbedingt progressiv sind und dass sie recht bald überall zur Verwirklichung gelangen werden. In unserer Sowjetunion sind sie bereits verwirklicht. In den meisten Fällen können radikale und entschiedene Reformen des Gesellschaftslebens erst nach dem Sturze der kapitalistischen Gesellschaft vollzogen werden«.51

     Lunatscharski hat hier geschönt, doch wurde wohl im sowjetischen Machtapparat immerhin kontrovers über die Frage einer »Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage« diskutiert, wobei sich die konservativen Befürworter der Sexualunterdrückung, die sich schließlich durchsetzten, auf die Autorität des unantastbaren Führers und Abtreibungsgegners Lenin berufen konnten. Lenin hatte schon frühzeitig in der Pravda Präventivverkehr und Abtreibung für »reaktionär« und »kleinbürgerlich« erklärt und für unvereinbar mit der »Mentalität des Proletariers«;52 und Clara Zetkin, die anscheinend bei den deutschen Kommunisten den »theologischen Geist« in der sexuellen Frage repräsentierte, berichtete über Äußerungen Lenins, die einer entschiedenen Ablehnung jeglicher Sexualreform gleichkommen. Sexualwissenschaft war für Lenin demnach »Herumwühlen im Sexuellen«, betrieben von »Intellektuellen« mit anomalem Sexualleben, so dass man von Glück für die schwulen Kommunisten in Deutschland sagen kann, dass Lenin die Homosexualität in seiner Verdammungsrede unerwähnt ließ.53

     So bereitete es dann auch dem Kommunisten Richard Linsert keine Schwierigkeiten, 1923 im WhK eine bezahlte Stelle als Sekretär anzunehmen und in den darauf folgenden zehn Jahren eine einzigartige Verbindung von Schwulenpolitik – zuletzt war er 2. Vorsitzender des Komitees – und kommunistischer Parteipolitik in seiner Person zu realisieren.
Dabei bewältigte er einigermaßen mühelos die ideologischen Probleme, die dem sexologisch Gebildeten die von Zetkin kolportierten Lenin-Worte bereiteten. Immerhin kann man aus Lenins Äußerungen eine gewisse Ambivalenz in der sexuellen Frage herauslesen, und Linsert war sicher froh, einen Satz wie den folgenden bei Lenin zu finden: »Der Kommunismus soll nicht Askese bringen, sondern Lebensfreude, Lebenskraft auch durch ein erfülltes Liebesleben.«
54 Zwar wird hier das erfüllte Liebesleben auf die ferne Zukunft des Kommunismus vertagt und es bleibt offen, ob auch Menschen mit »anomalem Sexualleben« diese Segnungen des Kommunismus zuteil werden sollen, dennoch waren solche Sentenzen geeignet, sexualreformerische Initiativen in der Partei ideologisch abzusichern und eine Kooperation mit dem Sozialdemokraten Hirschfeld zu begünstigen.

 

* * *

 

Im Staat und in der Gesellschaft der Weimarer Republik dominierten zunehmend die konservativen bis extrem rechten antidemokratischen Kräfte. Abgesehen von einer kurzen Episode nach der Novemberrevolution von 1918, als die Hegemonie der Konservativen in Frage gestellt schien und das Zugeständnis einer formal demokratischen Staatsform errungen werden konnte, war die Weimarer Republik eine »Demokratie ohne Demokraten«, in der sich die demokratischen Kräfte in eine weitgehend ohnmächtige Minderheiten- und Oppositionsrolle gedrängt sahen. Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise setzte dann jener Prozess der Zerstörung der Republik ein, an dessen Endpunkt die konservativen Parteien, allen voran die beiden größten, die katholische Zentrumspartei und die Deutschnationale Volkspartei, die Nazis an die Macht brachten und die Diktatur etablierten.

     Die Entwicklungslinien in der damaligen Sexualpolitik und speziell der Strafrechtsreform entsprechen ziemlich genau dem allgemeinen politischen Erosionsprozess. Immer mehr schwanden Hoffnung und Möglichkeiten, das überkommene Recht zu Ehe und Familie, zur Prostitution, Geburtenregelung und Homosexualität durch ein fortschrittliches zu ersetzen. Als 1925 die Reichsregierung einen »Amtlichen Entwurf« für ein neues Strafrecht vorlegte, der im Sexualstrafrecht fast alles vorwegnahm, was zehn Jahre später von den Nazis Gesetzeskraft erhalten sollte, reagierte eine Gruppe von Sozialde-mokraten, Kommunisten und Parteiunabhängigen, indem sie ein Kartell für die Reform des Sexualstrafrechts bildete und einen »Gegen-Entwurf« veröffentlichte. Unter der Leitung des Juristen Kurt Hiller hatten an diesem Gegenentwurf Hirschfeld und die beiden Kommunisten Linsert und Felix Halle mit einigen weiteren Ärzten und Juristen zusammengearbeitet; die einzige beteiligte Frau war die Schriftstellerin Helene Stöcker.55

     Der »Gegenentwurf« enthielt im wesentlichen das, was von einer demokratischen Reform des Sexualstrafrechts zu erwarten gewesen wäre. Zugleich symbolisiert er Ohnmacht und Einflusslosigkeit der Reformkräfte im Weimarer Staat. Sie waren derart zerstritten und bekämpften sich gegenseitig, dass die kommunistisch-sozialdemokratische Aktionseinheit bei der Erarbeitung des Gegenentwurfs eine seltene Ausnahme war, der keinerlei wirkliche Gemeinsamkeit der beiden großen Arbeiterparteien entsprach. Hinzu kam, dass der SPD viele Forderungen im »Gegenentwurf« viel zu weit gingen. Im Gegensatz zur KPD wollte sie weder den Abtreibungs- noch den Homosexuellenparagraphen ersatzlos streichen, sondern hielt an einer etwas gemilderten Bestrafung fest.56 Zu Beginn des Jahres 1931, als Hirschfeld Deutschland verlassen hatte und sich in den USA aufhielt, zog er resigniert und enttäuscht eine Bilanz seiner Sexualpolitik: »Ich muss aufgrund meiner Erfahrung feststellen, dass ich mit meinen Bemühungen, die Gesetzgebung des bürgerlichen Deutschlands in der Frage des Sexualstrafrechts im Sinne einer Beseitigung des sexuellen Bevormundungsrechts zu beeinflussen, gescheitert bin.«57 Die Gründe dieses Scheiterns analysiert er nicht, rügt seine Sozialdemokraten lediglich dafür, dass sie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien gegen den kommunistischen Antrag gestimmt hatten, Sexologen als Sachverständige im Strafrechtsausschuss anzuhören. Er lobt die Sowjetunion, dass sie wenigstens »gesetzgeberisch« die Sexualreform durchgeführt habe, und recht vage drückt er die Zuversicht aus, dass in Deutschland eines Tages die »werktätige Bevölkerung« eine Sexualreform herbeiführen werde, zu der »die politischen Parteien des Bürgertums« nicht bereit und fähig seien. Dieser Text ist dem Buch Geschlechtsleben und Strafrecht des Kommunisten Felix Halle als Vorwort vorangestellt. Halle stimmt zwar Hirschfelds Bilanz des Scheiterns zu, erklärt aber wie zum Trost, dass Sexualreform eigentlich gar nicht möglich ist, solange sie nicht »«innerhalb der sozialen Gesamtumwälzung im nationalen und internationalen Maßstab« durchgeführt wird. Die Weltrevolution und ihr vorläufiges Ausbleiben bemüht Halle hier, um sich und seinen kommunistischen Lesern den offensichtlichen Triumph der Reaktion im Sexualstrafrecht zu erklären.58        Hirschfeld war zu sehr sozialdemokratischer Reformer, als dass solche Erklärungen für ihn befriedigend sein konnten, doch mutet sein gesteigertes Engagement für die Sexualreform im internationalen Maßstab, in der Weltliga für Sexualreform, wie ein Ausweichen vor den Misserfolgen im eigenen Land an, wie ein fast schon größenwahnsinniges Beiseitedrängen der deutschen Misere und ein Hineinträumen in die Utopie einer globalen Sexualreform.

     Die Weltreise eines Sexualforschers, die ihn in den Jahren 1930 und 1931 durch vier Kontinente führte und mit der Sexualmisere und den Mühen einer Sexualreform in vielen Ländern bekannt machte, bedeutete für ihn vielleicht auch so etwas wie Trost und Flucht angesichts der hoffnungslosen Lage in der Heimat. Sein Traum vom »Erdballstaat« war 1919 durchaus noch eine optimistische Vision. Jetzt, ein Jahrzehnt später war wohl der kosmopolitische Impuls von damals noch immer lebendig. Doch die Situation in Deutschland war völlig verwandelt, wo die Hitler-Bewegung und ihre konservativen Verbündeten und Sympathisanten immer mehr die Oberhand gewannen und mit der Zerstörung all dessen beginnen konnten, was für Hirschfeld Lebens- und Arbeitsperspektive bedeutete. »Allerdings [. . .] reizt es mich auch nicht, im gegenwärtigen Deutschland unter 13 Millionen Hitlerianern zu arbeiten«, schrieb er nach Rückkehr von der Weltreise am 11. 4. 1932 aus Wien an den befreundeten Arzt Harry Benjamin.59 Anscheinend hatte die verstärkte Orientierung aufs Internationale den sich abzeichnenden Verlust der Arbeitsgrundlage in der Heimat zum Hintergrund.

     In der Weltliga für Sexualreform kooperierte Hirschfeld mit zahlreichen sozialdemokratischen und kommunistischen Wissenschaftlern, die hier wie Hirschfeld selbst sozusagen als Privatpersonen internationale Sexualpolitik machen wollten.
Die sowjetische Politikerin Alexandra Kollontai bildete eine gewisse Ausnahme. Obwohl sie nie an den Weltliga-Kongressen teilnahm, wird sie stets als Mitglied im »Internationalen Ausschuss« der Weltliga aufgeführt, und der Plan, 1932 einen Sexualreform-Kongress in Moskau zu veranstalten, war sicher in Absprache mit ihr entstanden.
60 Doch ungefähr parallel zur politischen Entwicklung in Deutschland vollzog sich  der Aufstieg Stalins zum unumschränkten Diktator und damit die Demontage aller fortschrittlichen Sexualreformen. Alexandra Kollontai, die seit 1930 Botschafterin ihres Landes in Schweden war, gehörte ebenfalls zu den von Stalin Entmachteten, so dass ihr Einfluss nicht mehr ausreichte, um den Kongress wie geplant in Moskau zu ermöglichen.

     Hirschfeld stellte auf dem Weltliga-Kongress 1930 in Wien in seiner Eröffnungsrede fest, dass die »offizielle Moral der meisten heutigen Kulturstaaten« in keiner Weise den Reformforderungen der Weltliga entsprach. Vielleicht zeichnete sich auch für ihn nun ab, dass die vorbildlichen Reformen in Sowjetrussland dem Zerstörungswerk der Diktatur anheimfielen. Terroristische Verfolgung von Homosexuellen, von abtreibungswilligen Frauen und anderen Dissidenten der Stalinschen Moral gehörten in den dreißiger Jahren zum sowjetischen Alltag. Wissenschaftler, die mit Hirschfeld zusammengearbeitet hatten und vor den Nazis in die Sowjetunion flohen, wie der Arzt Arthur Kronfeld61 und der Jurist Felix Halle, wurden dort auf ungeklärte Weise umgebracht und gelten als verschollen.

     Eine noch entschiedenere Abkehr von jedweder Parteipolitik charakterisiert Hirschfelds öffentliche Tätigkeit in den Jahren nach 1929. Nach der Enttäuschung über die Vertreter seiner SPD im Strafrechtsausschuss des Reichstags scheinen alle Verbindungen zur Partei abgebrochen zu sein. Nach den gleichfalls ernüchternden Erfahrungen mit dem Kommunisten Richard Linsert im WhK kamen nur noch wenige punktuelle Berührungen mit Kommunisten vor; Linsert und Halle traten noch auf dem letzten Weltliga-Kongress 1932 in Brünn auf, und 1933 im Exil in Paris kooperierte Hirschfeld höchstwahrscheinlich noch mit einem anderen ihm freundschaftlich verbundenen Kommunisten, mit Willi Münzenberg, bei der Zusammenstellung des Braunbuchs über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Das Braunbuch enthielt den ersten Bericht über die Zerstörung des Hirschfeldschen Instituts für Sexualwissenschaft durch Berliner Nazis.

     Seine Stellungnahmen gegen die Nazis veröffentlichte Hirschfeld jedoch nur noch in parteiunabhängigen antifaschistischen Organen wie den Prager Zeitschriften Die Wahrheit und Der Aufruf, Klaus Manns Amsterdamer Zeitschrift Die Sammlung sowie den Tageszeitungen Pariser Tageblatt und der im Saarland erscheinenden Deutschen Freiheit. Kein Wort der Sympathie für die jetzt von den Nazis verfolgten Arbeiterparteien findet sich in den Schriften der letzten Jahre, nur noch die alte Schwärmerei für die »Vereinigten Staaten der Erde«, für »Panhumanismus und Kosmopolitismus«; »nur Mensch sein, dieser scheinbare Rückschritt wäre der größte Fortschritt, die vorhandenen Gegensätze von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Land zu Land zu überwinden.«62 Solche politischen Empfehlungen und die ihnen zugrunde liegenden Analysen erscheinen als äusserst unbeholfen und flach angesichts der brutalen und effektiven Machtentfaltung der Nazis im Jahre 1935. Es sind gewissermaßen Betrachtungen eines Unpolitischen, der sich körperlich krank und seelisch gebrochen ins private Träumen zurückzieht.

     Beim besten Willen kann man aber nicht behaupten, dass die sozialdemokratischen und kommunistischen Exilanten über eine überlegenere oder gar über eine gegen die Nazis wirksame Analyse und Strategie verfügten. Sie alle waren wie Hirschfeld Besiegte. Die Nazis, ihre Todfeinde, hatten die Macht in Deutschland erobert, die antifaschistischen Flüchtlinge hatten nur ihr Leben retten können, und es war erst ein weiterer Weltkrieg erforderlich, um den Nazismus zu besiegen.

 

 

Homosexualität

 

 

Die Homosexualität des Mannes und des Weibes – so lautet der Titel eines seiner Hauptwerke – bildete den Mittelpunkt sowohl im Leben als auch in der Sexualwissenschaft Hirschfelds. Damit befand er sich von vornherein im gesellschaftlichen Abseits. Den Kampf um Respektabilität und Anerkennung trotz des sexuellen Makels hatte er lebenslang zu führen, letztlich ohne jeden wirklich gesicherten Erfolg. Dass er mitsamt seinem Werk nach seinem Tod im Jahre 1935 aus der allgemeinen Erinnerung ziemlich gründlich getilgt wurde, mag hierin einen Grund haben.

     1936 stellte Norman Haire, ein englischer Sexologe, den Hirschfeld in Berlin ausgebildet hatte, gemeinsam mit dem Schriftsteller Arthur Koestler ein Kompendium mit Auszügen aus verschiedenen Werken Hirschfelds zusammen, das nach dem Krieg auch in deutscher, französischer und holländischer Übersetzung erschien.1 Haire versuchte, Hirschfelds Werk vor dem Vergessen zu bewahren, jedoch um den Preis einer Verharmlosung und Entschärfung. Das Thema Homosexualität wurde in den von Haire herausgegebenen Büchern heruntergespielt und kam nur noch als untergeordnetes Nebenthema vor, das dem liberalen englischen Lesepublikum als eine schwer oder gar nicht zu heilende Krankheit dargestellt wird. Nach dieser Methode verfährt auch Max Hodann, ein heterosexueller Schüler Hirschfelds, der, nachdem er aus der KZ-Haft entlassen worden und aus Nazi-Deutschland geflohen war, in London das bis dahin einzige Werk zur Geschichte der Sexologie, eine History of Modern Morals, verfasste.
     Unter der Überschrift »Those who are different« referiert Hodann darin Hirschfelds Homosexuellenforschung, und in einem einzigen Satz wird auch deutlich, dass Hodann an Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft ausgebildet wurde: »Many homosexuals feel perfectly healthy and desire no ›cure‹ nore change of their condition; this is certainly adequate ground for leaving them in peace, and refraining from unwelcome advice or, of course, compulsion.«
2 Doch gleich im Anschluss daran berichtet Hodann von den Erfolgen der medizinischen Wissenschaft im Kampf gegen die Krankheit Homosexualität, von Harry Benjamin, der in New York mit »about fifty injections with male sex-hormone« einen Schwulen in einen Heterosexuellen verwandelt habe, und von Wilhelm Reich, der sogar zwölf schwule Männer mittels Psychoanalyse zu »spontaneous sexual desire for women« veranlasst haben will.3 Schließlich gibt Hodann noch seiner Hoffnung Ausdruck, dass die künftige Sexologie eine endgültige Methode zur Heilung der Homosexualität finden werde, die er sich als »combination of analysis and endocrine injections« vorstellt.

     Waren die dreissiger Jahre überall und nicht nur in Deutschland von einem gesellschaftlichen Klima geprägt, das die Bereitschaft zur Verfolgung der Homosexuellen und zum Ersticken aller Emanzipationsbestrebungen begünstigte, so kam es im Gegensatz dazu im nächsten Jahrzehnt mit den Forschungen des amerikanischen Biologen Alfred Kinsey zu einer Revolution der Sexualwissenschaft, die vollends zum Veralten Hirschfeldscher Sexologie und zum Verschwinden jedweden Bedarfs nach seinen Lehren führte. Die Frage nach biologischen oder sonst welchen Ursachen für sexuelle Orientierung und Verhalten, die Hirschfeld noch für die wichtigste und entscheidende hielt, wurde durch Kinseys großartigen Empirismus obsolet und blieb allenfalls für jene Mediziner interessant, die im Sinne Hodanns auf eine Methode zur Beseitigung der Homosexualität hofften. Kinsey hatte die Fragestellung der Juristen gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt und sich dafür interessiert, was denn die Menschen tatsächlich tun, wie ihr reales sexuelles Verhalten aussieht. Spekulationen darüber, ob dieses Verhalten vor der Geburt festgelegt, irgendwie konstitutionell bedingt oder auf erworbenen Eigenschaften begründet ist, verwies er in den Bereich der zu überwindenden Verabsolutierung der Biologie und der kirchlich deformierten Moral. Die Frage, ob denn dieses oder jenes Verhalten natürlich oder widernatürlich sei, hatte vor Kinsey Wissenschaftler wie Laien zu ebenso entschiedenen wie aus der Luft gegriffenen Parteinahmen veranlasst. Hirschfelds Forschungen und Sexualpolitik hatten aus diesem alles beherrschenden Glaubensstreit um Natur und Widernatur ihre historische Berechtigung gewonnen.

 

* * *

 

Am 25. Mai 1895 verurteilte ein Londoner Gericht den Dichter Oscar Wilde wegen seiner Homosexualität zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit. Hirschfeld praktizierte zu jener Zeit noch als Arzt für Naturheilverfahren in Magdeburg. Später erzählte er immer wieder, dass es der Prozess gegen Oscar Wilde gewesen sei, der ihn neben dem Selbstmord eines seiner homosexuellen Patienten zur politischen und sexologischen Auseinandersetzung mit der Homosexualität veranlasst habe. Einmal heißt es, dass er bei Wildes Verurteilung gemeinsam mit dem Berliner Theaterkritiker Leo Berg einen »flammenden Protest gegen das Justizverbrechen« verfasst habe, der zwar von den älteren Schriftstellern abgelehnt worden sei, »die ganze intellektuelle Jugend aber ging mit uns«.4 Merkwürdigerweise ist von dieser Protestaktion, von der Hirschfeld drei Jahrzehnte danach berichtet, heute keine Spur mehr zu ermitteln. Fest steht hingegen, dass er etwa ein Jahr nach Wildes Verurteilung von Magdeburg nach Charlottenburg bei Berlin übersiedelte und dort seinen ersten Text zur Homosexualität schrieb, eine sexologische Abhandlung und zugleich ein Manifest zur Schwulenbefreiung: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Der Verleger Max Spohr und ein befreundeter Arzt, der Geheime Sanitätsrat Dr. Baer, hatten Hirschfeld geraten, das kleine, 35 Seiten umfassende Werk unter Pseudonym erscheinen zu lassen – eine Vorsichtsmaßregel, deren sich Hirschfeld danach niemals mehr bediente.

     Eingeleitet wird Sappho und Sokrates mit einem Auszug aus dem Abschiedsbrief jenes Selbstmörders, der in Magdeburg von Hirschfeld wegen »einer tiefen seelischen Depression«5 behandelt worden war: »Nehmen Sie diesen Aufschrei eines Elenden, die Rechtfertigung meiner That, und zugleich die Ehrenrettung zahlloser Menschen, die gleich mir unter einem doppelten Fluch, dem der Natur und dem des Gesetzes, ihr Leben dahinschleppen. Möglich, dass auch meine Stimme wie die besserer Sachwalter, ungehört verhallen wird. Der Gedanke, dass sie dazu beitragen könnte, dass auch das deutsche Vaterland über uns gerechter denkt, verschönt meine Sterbestunde.«6 Kaum weniger pathetisch sind die Worte Oscar Wildes, mit denen er sich vor Gericht verteidigte, als ihn der Richter fragte, was für eine Liebe in dem Gedicht Two Loves gemeint sei. Hirschfeld zitiert: »Die Liebe, welche in diesem Jahrhundert nicht ihren Namen nennen darf, die große Zuneigung eines älteren Mannes zu einem jüngeren, wie sie zwischen David und Jonathan bestand, wie sie Plato zur Grundlage seiner Philosophie machte, und wie wir sie in den Sonetten Michel Angelos und Shakespeares finden, jene tiefe geistige Neigung, die ebenso rein wie vollkommen ist, und die großen Werke der Kunst eingibt, jene Liebe, welche in unserem Jahrhundert verkannt wird, so verkannt, dass ihretwegen ich jetzt da bin, wo ich mich heute sehe. Sie ist schönheitsvoll, sie ist herrlich, sie ist die edelste Form der Zuneigung.«7

     Dass diese namenlose Männerliebe eine bloß »geistige Neigung« sei, »ebenso rein wie vollkommen«, ist eine der Schutzbehauptungen, die damals üblich war und zumindest anfangs auch von Hirschfeld verwendet wurden. Die sexuellen Handlungen, die doch das eigentlich Anstößige und der Anlass für Ächtung und Diskriminierung waren, leugnete man, was um so paradoxer erscheint, als ja das Strafrecht, gegen das man sich in England wie in Deutschland wendete, nicht die »reine« Liebe zwischen Männern verfolgte, sondern gerade den körperlichen Vollzug. Hirschfeld behauptete tatsächlich unter Berufung auf Krafft-Ebing, dass jene »besonders häßliche Liebesbethätigung«, »derlei widerwärtige Akte [. . .] nur ganz ausnahmsweise [. . .] bei tiefstehender Moralität oder bei temporär oder dauernd krankhaft gesteigertem sexuellem Drang« unter Männern vorkommen, woraus er folgert: »Der Staat handelt ja sehr gegen sein eigenes Interesse, wenn er wertvolle Bürger um derartiger Wüstlinge willen schädigt und bedroht.«8 Das taktische Konzept, das solchen Aussagen zugrunde liegt, wird vielleicht durch die damals generell herrschende Scheu verständlich, Sex, und nicht nur schwulen Sex, zur Sprache zu bringen. Die Inkonsequenz, dass man bestimmte Formen der Sexualität verteidigte und zugleich bestritt, dass es sie überhaupt gebe, scheint damals niemand als störend empfunden zu haben. Behauptet man aber, dass »derlei widerwärtige Akte« so gut wie gar nicht vorkommen, kann man auch das gängige Werturteil ins Gegenteil verkehren und mit Oscar Wilde die Homosexualität als die »edelste Form der Zuneigung« preisen. Hirschfeld hat diese Apologie der gleichgeschlechtlichen Liebe, die ihr einen höheren Wert zumessen will als der heterosexuellen, später nicht mehr verwendet, vielmehr sah er sie als eine Liebe wie jede andere auch, nicht edler und auch nicht widerwärtiger. Andere Schwule, die schon bald in Opposition oder gar Feindschaft zu Hirschfeld standen, wie Adolf Brand und Benedict Friedlaender, verkündeten auch weiterhin im Sinne Oscar Wildes, dass ihre Liebe besser und schöner sei als die gewöhnliche. Hirschfeld schwankt in Sappho und Sokrates, zu Anfang seiner sexualwissenschaftlichen Laufbahn, einigermaßen konfus zwischen extremen, einander ausschließenden Bestimmungen der Homosexualität; mit Oscar Wilde ist sie »die edelste Form«, und mit dem eingangs zitierten Selbstmörder ist sie »Fluch der Natur«. Vielleicht empfand Hirschfeld beides als zutreffend und miteinander vereinbar, doch kam es ihm wohl vor allem auf eine dritte Bestimmung an, dass nämlich »die Natur« im Spiel sei. Deshalb wird gleich zweimal ein Aperçu eines damaligen Modephilosophen zitiert: »Was natürlich ist, kann nicht unmoralisch sein, sagt Friedrich Nietzsche.«9 Um das übliche Verdikt abzuwehren, es handle sich um widernatürliche Unzucht, wird zudem noch der andere populäre Philosoph des wilhelminischen Bürgertums, Arthur Schopenhauer, beschworen, der von der Päderastie geglaubt hatte, »dass sie irgendwie aus der menschlichen Natur selbst hervorgeht«.10

     Und das ist zugleich die Antwort auf die im Titel gestellte Frage: Die Liebe zu Personen des gleichen Geschlechts erklärt sich »irgendwie aus der menschlichen Natur selbst«. Die »unbekannte Schaffenskraft« bewirkt, dass sich aus der anfangs zweigeschlechtlichen Frucht im Mutterleib männliche und weibliche Individuen entwickeln, deren »Triebcentrum« später, nach der Pubertät, auf Männer, auf Frauen oder auf beide Geschlechter gerichtet ist. Zwar ist diese von der Natur geschaffene »conträre Sexualempfindung« nicht eigentlich eine Krankheit, aber die Vergleiche, die Hirschfeld hier einfallen, dürften kaum dazu geeignet gewesen sein, Gleichberechtigung oder gar Gleichwertigkeit von Homo- und Heterosexualität zu begründen: »Somit haben wir es bei den Abweichungen vom normalen Trieb nicht mit einer Krankheit im gewöhnlichen Sinn zu thun, sondern mit einer angeborenen Missbildung, welche anderen Hemmungen der Evolution, der Hasenscharte, dem Wolfsrachen, der Epispadie, der geteilten Gebärmutter, dem Nabelbruch etc. gleichartig an die Seite zu setzen ist.«11

     Mit solchen Einordnungen der Homosexualität war eigentlich nichts gewonnen, mit dem Hasenschartenvergleich hatte er sich nicht über den Standpunkt fortschrittlicher Irrenärzte jener Zeit, wie Albert Moll und Richard von Krafft-Ebing, hinausgewagt, was ihm anscheinend erst nach Sappho und Sokrates bewusst wurde. Um der Homosexualität den Status des Pathologischen, einer Art Missgeburt zuzuschreiben und damit die Forderung nach Straffreiheit, also nach Streichung des § 175 im Reichsstrafgesetzbuch zu begründen, wäre Sappho und Sokrates nicht nötig gewesen, denn das hatten die genannten Ärzte in ihren Schriften bereits getan. Sogar im Verlag von Max Spohr, der Hirschfelds erstes Werk herausgab, erschienen schon seit 1893 mehrere Broschüren, die eine soziale und rechtliche Neubewertung der gleichgeschlechtlichen Liebe forderten. Aber erst Hirschfelds kleiner Traktat sollte sozusagen das Gründungsmanifest der Schwulenbewegung werden. Vermittelt durch den Verleger Spohr nahm Eduard Oberg, ein 38jähriger Eisenbahnbeamter aus Westfalen, mit Hirschfeld Verbindung auf, nachdem er Sappho und Sokrates gelesen hatte. Am 1. Oktober 1896 besuchte er Hirschfeld in Charlottenburg, und in den folgenden Monaten entwickelte sich zwischen Oberg, Spohr und Hirschfeld »ein reger Briefwechsel [. . .], in dem wir uns berieten, was wohl geschehen könne und müsse, um das Los der Homosexuellen zu bessern«.12

     Im Februar des folgenden Jahres fuhr Hirschfeld nach Leipzig, um dort seinen Verleger persönlich kennenzulernen und ihm seine Idee einer Petition gegen den § 175 mitzuteilen. Spohr war »wie man zu sagen pflegt, Feuer und Flamme [. . .] Er erbot sich, um die für den Vertrieb der Petition notwendigen Mittel zusammenzubringen, sogleich an einige Herrn heranzutreten, bei denen er eine lebhafte Anteilnahme an unseren Ideen voraussetzen zu können glaubte. Ich wollte mich inzwischen bemühen, einige Namen von Bedeutung als erste Unterzeichner zu gewinnen.«13 Aus dieser frühen Phase der WhK-Gründung und des Einwerbens der ersten vier Petitionsunterzeichner sind bisher so gut wie keine Dokumente erhalten. Wir wissen von ihr fast nur aus später verfassten Berichten, die, wie etwa Hirschfelds Memoiren, bis zu fünfundzwanzig Jahre danach niedergeschrieben wurden und deshalb eine Rekonstruktion der Ereignisse in den ersten Monaten des Jahres 1897 nur sehr mangelhaft ermöglichen. Lediglich ein Brief Max Spohrs mit dem er Ernst von Wildenbruch zur Unterschrift veranlasste, konnte im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv aufgefunden werden. Weil er einen der wenigen Einblicke in die damalige Arbeit des späteren WhK vermittelt, sei er hier mitgeteilt:

 

»Max Spohr                                                                Verlag ›Kreisende Ringe‹

      Verlagsbuchhandlung

                                                                                           Leipzig, den 14. Mai 1897.

                                                                                                            Elisenstrasse 57.

 

Sehr geehrter Herr Legationsrat,

Im Auftrag eines zu diesem Behuf gebildeten wissenschaftlich= humanitären Comités unterbreite ich Ihnen die beifolgende Erklärung zur Prüfung und gefl. Unterschrift. Es handelt sich um die Beseitigung einer Strafbestimmung, die mit der fortgeschrittenen Wissenschaft nicht mehr vereinbar ist, um einen Akt der Gerechtigkeit, zu dem Sie, hochgeehrter Herr, Ihre Beihülfe nicht versagen werden. Das Comité wendet sich nur an Männer, deren Stimme für den Wert, den Ernst und die Lauterkeit ihrer Absichten bürgt. Wir bemerken, dass zu den ersten, die diesen Aufruf unterzeichnet haben, Geh.=Rat Franz v. Liszt, Professor der Rechte in Halle, und R. Freiherr von Krafft-Ebing, Professor der Psychiatrie in Wien, gehören. Im Falle des Nicht= Einverständnisses würden Sie uns durch Mitteilung Ihrer Gründe zu Dank verpflichten. Wenn Sie nur die Endforderung, nicht aber die Begründung billigen können, bitten wir dies zu bemerken.

      Mit ganz vorzügl. Hochachtung

      Das wissenschaftlich=humanitäre Comité

      I. A. Max Spohr.«14     Es gehört zweifellos zu den überraschendsten Ergebnissen dieser Unterschriftensammlung, dass es Spohr mit diesem Brief gelang, einen geradezu berüchtigt ultra-konservativen Schriftsteller wie Ernst von Wildenbruch für die Unterstützung einer solche Forderung zu gewinnen, die wohl die meisten seiner Gesinnungsgenossen für umstürzlerisch und sittenlos gehalt haben.

     Schließlich traf sich am 15. Mai 1897 Hirschfeld in seiner Charlottenburger Wohnung mit Spohr, Oberg und dem Schriftsteller Franz Josef von Bülow zu einer Art Gründungsversammlung: »Um unseren Anschriften mehr Nachdruck zu geben, die Grundlagen unseres Vorgehens zu kennzeichnen, Interessenten, vor allem die Homosexuellen selbst, zur ideellen und materiellen Unterstützung wach zu rufen, beschlossen wir, uns als Wissenschaftlich-humanitäres Komitee zu konstituieren [. . .] Zur Bestreitung der ersten Unkosten legte von Bülow 200, jeder von uns anderen je 100 Mark auf den Tisch, natürlich in soliden Goldstücken.«15 Bis zum Ende des Jahres, als man die Petition an die gesetzgebenden Parlamente Reichstag und Bundesrat einreichte, waren etwa 200 Unterschriften mehr oder weniger prominenter Männer gesammelt, und kurz darauf, am 13. Januar 1898, hielt Bebel im Reichstagsplenum jene Rede, in der er die Forderung der Petition aus seiner Sicht begründete. Pastor Schall, ein Abgeordneter der Zentrumspartei, erwiderte darauf einige Tage später mit Zitaten des Apostel Paulus und der Forderung nach neuen Gesetzen, die diese unnatürlichen Laster nach christlichen sittlichen Grundsätzen strafen sollten. Dann kam die Petition zur nichtöffentlichen Beratung in einen Reichstagsausschuss. Hirschfeld erfuhr nur, dass die Beratung dort »ein negatives Resultat« ergeben hatte.16 Noch im gleichen Jahr 1898 trat ein neu gewählter Reichstag zusammen. Ihm wurde sogleich die Petition zugestellt, die nun von fast tausend Männern unterzeichnet war und in einem Anhang »Christentum und Homosexualität« die Reichstagsrede von Pastor Schall widerlegte.

     Dieser zweite Versuch, mit einer Petition den § 175 zu beseitigen, blieb ebenso erfolglos wie alle, die noch folgen sollten. Im Jahre 1904 gab der Reichstag einen gedruckten Bericht der »Kommission für die Petitionen« heraus, der neben einer ausführlichen Begründung für das Festhalten am § 175 die einzige vollständige Liste der Namen aller 2020 Männer enthält, die bis dahin die Petition unterstützt hatten.17 Bei den anderen Petitionen, die das WhK in den Jahren 1907, 1922 und 1926 an den Reichstag richtete, sind nur die Namen von besonders prominenten Unterzeichnern und Unterzeichnerinnen veröffentlicht worden. Wieviele es insgesamt waren, ist heute nicht mehr feststellbar.18

     Nach dem Dezember 1897, als die Petition erstmals dem Reichstag vorlag, begann eine Zeit der Blüte und gerdezu üppigen Entwicklung dieser neuen Schwulenbewegung. Sie sollte zehn Jahre andauern und erst mit der Eulenburg-Affäre ein jähes Ende finden, als das WhK in eine Krise stürzte, von der es sich bis zuletzt, bis zu seiner Selbstauflösung im Juni 1933, nicht mehr erholte. Der vielleicht wichtigste Aspekt der frühen Blütezeit war die glückliche Zusammenarbeit zwischen Hirschfeld, der sich als überaus fruchtbarer Schriftsteller betätigte, und dem Verleger Max Spohr, der bereitwillig alles drucken ließ, was Hirschfeld ihm an Texten zur Homosexuellenemanzipation vorlegte. Nach Sappho und Sokrates, seine erstem einschlägigem Werk, erschien im Spohr-Verlag 1898 unter dem Titel: § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs. Die homosexuelle Frage im Urteil der Zeitgenossen Hirschfelds Analyse der ersten öffentlichen Reaktionen auf die Petition. Im gleichen Jahr gab er in leicht gekürzter und überarbeiteter Fassung19 sämtliche Schriften von Karl Heinrich Ulrichs zur Schwulenemanzipation neu heraus: die Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe. Ulrichs hatte in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in zwölf Broschüren eine Theorie der sozusagen natürlichen und angeborenen Homosexualität oder – wie er das nannte – des Uranismus und ein vollständiges Programm zur sozialen Emanzipation der Urninge entworfen, war aber an den widrigen Zeitumständen gescheitert, so dass Hirschfeld ihn als einen Vorläufer und Vordenker seiner eigenen Bestrebungen ehren konnte.20 Ulrichs war 1880, nachdem alle seine Bestrebungen für einen Urningsbund, eine Zeitschrift und die Legalisierung der mannmännlichen Geschlechtsliebe gescheitert waren, resigniert nach Italien ausgewandert; als 1907 über das WhK jene schwere Krise hereingebrochen war, begab sich Hirschfeld auf eine wallfahrtartige Reise nach Italien und besuchte Ulrichs' Grab in Aquila.21
Sogleich nach der Neuausgabe der Ulrichsschen Schriften nahm Hirschfeld zu Beginn des Jahres 1899 sein wohl imposantestes Projekt in Angriff: Wiederum im Verlag Max Spohr erschien der erste Band des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer Berücksichtigung der Homosexualität. Erst ab dem zweiten Band wird Hirschfeld auf dem Titelblatt als Herausgeber genannt, doch war es von Anfang an bis zum letzten, dem dreiundzwanzigsten Band das Forum, auf dem unter seiner Verantwortung eigene und fremde Forschungsergebnisse zur Homosexualität in die Öffentlichkeit gelangten. Den Ausdruck »Zwischenstufen« hatte schon Ulrichs verwendet, allerdings in etwas anderer Bedeutung als Hirschfeld. Für Ulrichs bezeichnet das Wort »Zwischenstufen« eine »Stufenleiter von Übergangsindividuen« zwischen den Extremen »Urning, dessen seelische und körperliche Natur weiblich angehaucht ist« und »echter, weibliebend geborener Mann«.22 Im Unterschied zu Ulrichs sind für Hirschfeld »Zwischenstufen« Männer und Frauen mit seelischen oder körperlichen Eigenschaften des jeweils anderen Geschlechts.23 Jeder Mensch soll demnach als eine Mischung aus weiblichen und männlichen Eigenschaften vorzustellen sein, weil Weibliches und Männliches, Ei und Samenzelle zu seiner Entstehung vereinigt wurden und der Embryo anfangs unbestimmten Geschlechts ist. Zwischen den idealtypisch gedachten Extremen »Mann ohne jede weibliche Eigenschaft« und »Frau ohne jede männliche Eigenschaft« gibt es zahllose, letztlich individuelle Mischungen, und jeder Mensch ist durch eine einzigartige mannweibliche Mischung von Eigenschaften charakterisiert, als sexuelle Zwischenstufe zwischen den Extremen »Vollmann« und »Vollweib«. Die als weiblich oder männlich definierten Eigenschaften bildet Hirschfeld auf einem System von vier Skalen ab, einem typologischen Ordnungsschema der menschlichen Gattung, die damit nicht mehr aus zwei, sondern aus einer unendlichen Vielzahl von Geschlechtern besteht.

–   Die grundlegende von Hirschfelds vier Skalen betrifft die Bildung der Geschlechtsorgane, die niemals »rein« männlich oder weiblich sind, weil normalerweise rudimentäre Organe des entgegengesetzten Geschlechts bei allen Menschen vorhanden sind. So denkt sich Hirschfeld die Klitoris als männliches Element im Geschlechtsorgan der Frau und den Uterus masculinus als weibliches Element in den Organen des Mannes.

–   Abgesehen von den Geschlechtsorganen sind auch alle anderen Körperbildungen in das Schema weiblich/männlich einzuordnen und auf einer zweiten Skala darzustellen. Haarwuchs, Form und Größe der Brustwarzen, der Muskulatur, des Skeletts usw. sind demnach Merkmale, die das Individuum einer bestimmten sexuellen Zwischenstufe zuordnen.

–   Eine weitere Skala betrifft das Geschlecht des begehrten Sexualobjekts, wobei wiederum zwischen den Extremen »Vollmann« und »Vollweib« alle Übergänge und Zwischenstufen vorkommen.

–   Für die psychischen Eigenschaften, Habitus, Charakter, auch die Handschrift – Hirschfeld glaubte an graphologische Lehren – gibt es schließlich eine vierte Skala.
     Spätestens hier, wo nach traditionellem Alltagsverständnis bestimmte Charakterzüge als männlich oder weiblich bezeichnet und der Biologie zugeschlagen werden, offenbart sich die unhistorische Naivität des Konzepts. Die starre Zuordnung aller menschlichen Eigenschaften zu einer naturalistisch vorgestellten ewig gleichen Männlichkeit und Weiblichkeit ermöglicht aber überraschenderweise eine höchst umstürzlerische Konsequenz, nämlich die Auflösung der überkommenen Einordnung in das binäre Muster Mann/Frau. Die menschlichen Eigenschaften sind für Hirschfeld stets eindeutig weiblich oder männlich; die realen Personen sind immer nur mehr oder weniger »intersexuelle Varianten«. Die Homosexuellen, Hermaphroditen, Androgynen und Transvestiten sind es mehr, die anderen, obwohl im Vollgefühl ihrer geschlechtlichen Normalität, sind es ebenfalls, die Unterschiede sind quantitativ.
24 Diese Konsequenz seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen hat Hirschfeld nie sehr deutlich betont. Das hätte wohl einen allzu provozierenden Angriff auf das Selbstverständnis der Majorität bedeutet, die einen Zweifel an der eigenen Geschlechtsidentität, ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu sein, nicht zulassen konnte. Hirschfelds Zumutung, die Homosexuellen als Kinder der gleichen schaffenden Natur zu sehen wie die Heterosexuellen, hätte womöglich die meisten überfordert. Andererseits fand die Idee, dass alle Menschen, Männer wie Frauen, aus weiblichen und männlichen Anteilen einzigartig zusammengesetzt sind, spätestens seit der deutschen Romantik unter den Gebildeten wachsende Zustimmung. Das Umstürzlerische an Hirschfelds Zwischenstufenlehre ist insofern nur die Fortführung einer Tradition, worüber er sich selbst durchaus im Klaren war. So zitiert er beispielsweise Schopenhauers Vorwegnahme seiner eigenen Lehre: »›Die Physiologen wissen, dass Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospadiäus sinkt, diese bis zur anmutigen Androgyne steigt; von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden.‹«25

     Offensichtlich besteht zudem eine nahe Verwandtschaft der Zwischenstufenlehre zu Konzepten der Bisexualität, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Autoren entwickelten und wie sie Sigmund Freud zu einer Grundlage seiner psychoanalytischen Sexualtheorie machte. Hirschfeld hat aber schon früh auf den eingeschränkten Status seiner Zwischenstufenlehre hingewiesen, die keine Theorie zu sein beanspruchen konnte, da sie keine kausale oder sonstige Ursachenerklärung für die Entstehung der Zwischenstufen, der Männlichkeit und Weiblichkeit bieten konnte. Sie war »nichts anderes als ein Einteilungsschema, das bekannte und verwandte Phänomene methodisch ordnen will«.26 Die bekannten Phänomene wurden jedoch neu bewertet, entpathologisiert. Zunächst kam es darauf an, die »Phänomene« überhaupt erst der Wahrnehmung zugänglich zu machen, das Leben der sexuellen Zwischenstufen so genau und umfassend wie möglich zu beschreiben, eine Empirie und Soziologie der sexuellen Zwischenstufen in Angriff zu nehmen, die mehr leisten konnte als die einschlägigen Krankengeschichten in den großen Werken Molls27 und Krafft-Ebings.
     Unter der Überschrift Die objektive Diagnose der Homosexualität veröffentlichte Hirschfeld im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen von 1899 die erste Fassung seines Fragebogens, dem vielleicht wichtigsten Instrument seiner Sexualforschung. Er enthält 85 Fragen, die schriftlich beantwortet werden sollten und den körperlichen und seelischen Zustand des oder der Befragten betreffen, die Lebensgeschichte und vor allem das Geschlechtsleben. Die ausgefüllten Bögen, von denen Hirschfeld im Laufe der Jahre mehrere tausend gesammelt haben dürfte, bildeten eine wesentliche Grundlage und Stoffsammlung für seine schriftstellerische Tätigkeit. Seine beiden wichtigsten Bücher aus der Anfangszeit des WhK, Der urnische Mensch (1903) und Vom Wesen der Liebe (1906), sind in weiten Teilen bloße Zusammenstellungen der oft sehr langen Antworten auf den Fragebogen, überwiegend von Homosexuellen. Spätere Fassungen, die immer umfangreicher wurden und ab 1915 den Namen Psychobiologischer Fragebogen erhielten, richteten sich mehr und mehr an Heterosexuelle, um Erkenntnisse für die Geschlechtskunde in ihrem ganzen Umfang zu gewinnen. Und auch hier ging es vor allem um Daten von solchen Menschen, die nicht wegen eines Leidens den Arzt aufgesucht hatten und folglich bis dahin den Forschungen der Sexologen verborgen geblieben waren. Hirschfeld leistete hier sexologische Pionierarbeit, denn die Erhebung von Daten über sexuelle Gewohnheiten und Eigenschaften mittels Fragebogen war damals völlig neu. In den Jahren 1903/04 ging er noch einen Schritt weiter und versuchte mit einem Fragebogen die Häufigkeit der Homosexualität unter Männern zu ermitteln. Im Dezember 1903 schickte Hirschfeld an 3.000 Studenten der Technischen Hochschule Charlottenburg einen Brief mit der Aufforderung, auf einer beigefügten Karte anonym mitzuteilen, ob ihr Geschlechtstrieb auf Männer, auf Frauen oder auf beide Geschlechter gerichtet sei. Im Februar des folgenden Jahres befragte Hirschfeld auf die gleiche Weise 5.721 Berliner Metallarbeiter. Mit beiden Befragungen hoffte er, den Anteil der Homo- und Bisexuellen an der männlichen Bevölkerung feststellen zu können.

     Von den Studenten antworteten etwas mehr als die Hälfte der Befragten (1696), von den Metallarbeitern etwas weniger (1912), und es ergab sich, gemessen an den damals herrschenden Vorstellungen über die Häufigkeit der Homosexualität, ein überraschend hoher Anteil an Männerliebhabern: 6,0 % der Studenten und 4,3 % der Metallarbeiter gaben an, dass ihr Trieb wenigstens zum Teil auf männliche Personen gerichtet sei; 1,5 % der Studenten und 1,1 % der Metallarbeiter brachten zum Ausdruck, dass sie ausschließlich schwul seien.28 Hirschfeld war nicht der Erfinder solcher Umfragen. Schon 1901 hatte der holländische Medizinstudent Lucien von Römer 595 Studenten der Universität Amsterdam in einem ähnlichen Verfahren befragt und ähnliche Resultate (1,9 % homo-, 3,9 % bisexuell) erzielt. Hirschfelds Umfrage setzte jedoch, was methodische Exaktheit und Umfang betrifft, neue Maßstäbe, die erst vier Jahrzehnte später von Alfred Kinsey überboten werden sollten. Von Anfang an kam die entschiedenste und militanteste Gegnerschaft zu Hirschfelds Projekt der Schwulenemanzipation aus dem Lager der christlichen Kirchen. Nicht nur wurde in zahllosen Traktaten und Artikeln der kirchlichen Presse gegen die unchristliche Homosexualität und ihre Ansprüche polemisiert, kämpferische Christen reichten 1899 dem Reichstag eine Gegenpetition ein, die die Beibehaltung des § 175 verlangte. Das Komitee reagierte darauf, indem es an alle Reichstagsabgeordneten Propagandamaterial verteilte, das die Vereinbarkeit von Schwulenemanzipation und christlicher Religion beweisen sollte.29
Jetzt, anlässlich der Unfrage unter den Charlottenburger Studenten war es ein Pastor Wilhelm Philipps aus Plötzensee, der zuvor schon die Gegenpetition organisiert hatte und der nun eine Protestversammlung gegen das Hirschfeldsche »Attentat auf die studentische Ehre«30 veranstaltete sowie fünf Studenten dazu veranlasste, Hirschfeld wegen »Beleidigung durch Verbreitung unzüchtiger Schriften« anzuzeigen. Tatsächlich kam es am 7. Mai 1904 vor dem Königlichen Landgericht in Berlin zum Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit und zur Verurteilung Hirschfelds zu 200 Mark Geldstrafe.31 Das Reichsgericht in Leipzig bestätigte in der Revisionsverhandlung das Urteil, doch konnte Hirschfeld die Umfrage und den Prozess als moralischen und politischen Erfolg buchen, da die meisten Zeitungen und nahezu alle juristischen und medizinischen Fachzeitschriften das Urteil als eine Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit rügten und die Berechtigung der Umfrage bejahten.32

 

* * *

 

Nachdem die Forderung des WhK nach Reform des Schwulenstrafrechts mit Hilfe der Petition und verschiedener Publikationen des Spohr-Verlages in der Öffentlichkeit bekannt geworden war, versuchte Hirschfeld, persönliche Gespräche mit Mitgliedern der Regierung zu führen, um ihnen auch auf diesem Weg die Forderungen des Komitees nahezubringen. Es kam jedoch lediglich zu einem Treffen mit dem Chef des Reichsjustizamtes, Staatssekretär Nieberding, der Hirschfeld immerhin ermunterte, mehr Propaganda für seine Ziele in der Bevölkerung zu machen. Aus dem Gespräch, das irgendwann im Jahre 1898 stattgefunden hat, berichtet Hirschfeld eine Äusserung des Staatssekretärs: »Bevor das Volk nicht weiß, daß es sich hier um ethische Forderungen handelt, nicht um eine sexuelle oder wissenschaftliche Marotte, kann die Regierung nichts in dieser Sache tun. Klären Sie die öffentliche Meinung auf, damit man weiß, worum es sich handelt, wenn die Regierung auf diesen Paragraphen verzichtet.«33 Immer wieder zitiert er diesen Ausspruch des Staatssekretärs, um die enormen diesbezüglichen Anstrengungen des WhK zu rechtfertigen:

»In Übereinstimmung mit diesem Ausspruch entfaltete das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee eine methodische Aufklärungsarbeit großen Stils. Es wurden in zehntausenden von Exemplaren Broschüren verbreitet, die in allgemeinverständlicher Weise das Wesen der Homosexualität erklärten, es wurden ferner in verhältnismäßig kurzer Zeit nicht weniger als 100 000 Aufklärungsschriften außer an den größten Teil der Presse, an sämtliche deutsche Justizministerien, Staatsanwälte, Richter, Anwaltskammern, Rechtsanwälte, Ärzte, Universitätsprofessoren, an viele Geistliche und Lehrer und sehr oft auch auf Wunsch Homosexueller an deren Verwandte und Bekannte versandt. Des weiteren wurde in hunderten von Zusammenkünften, teils regelmäßigen Sitzungen, teils öffentlichen Versammlungen, die homosexuelle Frage in lebhaften Diskussionen erörtert.«34   Erstmals 1901 erschien die erfolgreichste der Aufklärungsbroschüren unter dem Titel Was soll das Volk vom Dritten Geschlecht wissen? Für 20 Pfennige wurde sie überall verbreitet und sollte einem ähnlichen Zweck dienen wie Hirschfelds kleines Buch Berlins Drittes Geschlecht, das 1904 erschien und erstmals überhaupt die Subkultur der Schwulen und Lesben einer Großstadt beschrieb.

     Den Ausdruck »Drittes Geschlecht« verwendete Hirschfeld zu dieser Zeit aus mehreren Gründen gern und häufig: es war eine Bezeichnung für Schwule und Lesben gleichermaßen, die relativ bekannt war, ohne mit einem medizinisch-psychiatrischen oder pejorativen Nebensinn belastet zu sein. Auch eignete er sich zur Betonung der Einheit und Zusammengehörigkeit homosexueller Männer und Frauen. Hirschfeld war damals davon überzeugt, dass Lesben und Schwule gemeinsame Interessen hätten und deshalb zusammenarbeiten sollten: »Der homosexuelle Mann und die homosexuelle Frau stehen in naturgemäßer Verwandtschaft zu einander und gehören thatsächlich zu einem III. Geschlecht, das den beiden anderen gleichberechtigt, wenn auch nicht gleichartig gegenübersteht«; und was die Lesben betrifft, heißt es in dem gleichen Text aus dem Jahre 1902: »Wir hatten zuerst Anfang des Jahres 1902 begonnen, geistig hochstehende, namentlich urnische Damen für unsere Arbeit zu interessieren und sind dieselben seitdem ein fast unentbehrlich erscheinender Bestandteil aller unserer Veranstaltungen geworden. Sind der homosexuellen Frau in Deutschland keine gesetzlichen Beschränkungen auferlegt, so hat sie doch auch unter der Unkenntnis ihrer Natur in mannigfachster Weise zu leiden.«35

     Diese Idee der Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit von Schwulen und Lesben wurde tatsächlich niemals verwirklicht, blieb vielmehr eine illusionäre Hoffnung Hirschfelds, genau wie die Vorstellung, dass der Terminus »Drittes Geschlecht« allseits akzeptiert werden und die Entdiskriminierung der Schwulen und Lesben fördern könnte. Es mag zutreffen, dass Lesben, »urnische Damen« im Wissenschaftlich-humanitären Komitee zeitweise ein »fast unentbehrlich erscheinender Bestandteil aller unserer Veranstaltungen geworden« waren, doch blieben sie immer nur eine Randerscheinung. Ganz vereinzelt wagten lesbische Frauen, sich aktiv an der Arbeit der Organisation zu beteiligen, doch blieb das WhK im wesentlichen, was es von Anfang an war, eine Männerorganisation, die für die Verbesserung der Situation schwuler Männer kämpfte. Bereits der programmatische Titel von Hirschfelds erster einschlägiger Schrift Sappho und Sokrates täuscht etwas vor, das es in Wirklichkeit nie geben sollte: eine gleichberechtigte Kooperation von Lesben und Schwulen.

     »In unserer modernen Frauenbewegung steckt unbewusst ein gutes Teil Hermaphroditismus und Homosexualität«, heißt es in Sappho und Sokrates; und tatsächlich scheint es die Doppelbelastung der Lesben als Frauen und als Homosexuelle in einer patriarchalischen Gesellschaft gewesen zu sein, die sie in viel höherem Maß als die schwulen Männer zur sozialen Mimikry, zum Sich-Unsichtbarmachen und zum Rückzug in jene private Heimlichkeit veranlasste, die ihnen die Männergesellschaft einräumte. In der Liste der »Fondszahler«, also der WhK-Mitglieder, tauchen 1903 erstmals Namen von Frauen auf, und zwar ein »Fräulein M. B.«, eine »Frau Therese Eschholz, Berlin«, eine »Frau H. in Berlin«, eine »Frau F.-Lehmann, Berlin«, »Pauline S.«, »Gertrud Zucker, Friedenau« und eine »Frau Reg.-Rat Dr. Martha Marquardt, Berlin«.36
Letztere wird auch von Adolf Brand als einzige Frau erwähnt, die an der Gründung der Gemeinschaft der Eigenen beteiligt war.37 Erst 1910 erscheinen im vierzigköpfigen »Obmännerkollegium« des WhK die Namen zweier Frauen, Toni Schwabe und Gertrud Topf, letztere eine Beamtin im Berliner Polizeipräsidium.38 Ein Fräulein Margarete Dost kommt 1911 ins Obmännerkollegium. Als einzige Frau taucht sie auch nach dem Krieg 1923 als Beisitzerin im WhK-Vorstand auf.39 1912 wurden noch Hirschfelds alte Freundin, die Schriftstellerin Helene Stöcker,40 und 1914 die gleichfalls schriftstellerisch tätige Johanna Elberskirchen sowie ein Frl. Else Drumm ins Obmännerkollegium gewählt.41

     So war das Dritte Geschlecht vor allem ein Geschlecht von Männern, und auch für die Petition gegen den § 175 scheint man es gar nicht für sinnvoll erachtet zu haben, unter den politisch rechtlosen Frauen um Unterstützung zu werben. Erst nach dem Weltkrieg, als den Frauen einige Staatsbürgerinnenrechte gewährt worden waren, sammelten die Männer im WhK für ihre Petition auch die Unterschriften prominenter Frauen. Als sie im Jahre 1907 – zum letzten Mal vor dem Weltkrieg – dem Reichstag vorgelegt wurde, trug die Petition die Unterschriften von etwa 6.000 Männern42; nach dem Krieg wurde sie mit einem völlig veränderten Text noch zweimal, 1922 und 1926, an den Reichstag gerichtet. Die Zahl der jetzt gesammelten Unterschriften ist nicht genau zu ermitteln, doch dürfte die Vorkriegszahl kaum wieder erreicht worden sein. Unter den etwa 500 neuen Unterschriften, die das WhK und der nun so genannte »Aktionsausschuss für die Beseitigung des § 175 RStGB« veröffentlichten, stammen 17 von Frauen.

     Ungefähr parallel zu der Zahl der Petitionsunterschriften wuchs in den ersten zehn Jahren die Mitgliedschaft des WhK. Da die Organisation erst nach dem Krieg ein »eingetragener Verein« wurde und vorher eine nicht klar bezeichnete Gestalt hatte, gab es eigentlich überhaupt keine Mitglieder, sondern nur regelmäßige Beitragszahler in einen Fonds, den »Fonds zur Befreiung der Homosexuellen«,43 aus dem die Propagandatätigkeit finanziert und seit 1901 ein Sekretär für die Büroarbeit bezahlt wurde.44

     Die Zahl der Fondszeichner betrug 36 im Jahre 1898. Sie stieg bis 1902 auf 243 und erreichte 1907 mit »ca. 500« ihr Maximum.45 Wegen der Eulenburg-Affäre schrumpfte die Zahl im darauf folgenden Jahr »um mehr als die Hälfte«.46 Die Schwulenbewegung in der Kaiserzeit befand sich demnach auf einem quantitativ sehr niedrigen Niveau; maximal 500 Schwule waren in Hirschfelds Komitee organisiert; die Mitgliederzahlen in den beiden anderen Gruppen, im Bund für männliche Kultur und in der Gemeinschaft der Eigenen sind überhaupt nicht bekannt, dürften aber sehr viel kleiner als die WhK-Mitgliedszahlen gewesen sein, so dass die Zahl der organisierten Schwulen selbst in den besten Zeiten weit unter Tausend lag. Nur wenige in dieser Bewegung traten aus der Verborgenheit der Anonymität heraus, und im WhK hat sich anscheinend nur ein einziger der führenden Aktivisten, Hermann von Teschenberg,47 öffentlich als homosexuell deklariert. Teschenberg war aus seiner Heimat Österreich geflohen, weil er aufgrund des dortigen Homosexuellenstrafrechts verfolgt wurde. 1898 war er nach Berlin gekommen und hatte sich gleich am Aufbau des Komitees beteiligt. Nach seinem Tod im Jahre 1911 gedenkt Hirschfeld seines Freundes Teschenberg und erwähnt auch dieses »selbstlose Einsetzen seiner Person«:

»Vom Frühjahr 1898 bis zum Mai 1905 [als er nach Italien übersiedelte, M. H.] verging kein Tag, an dem er nicht mit der ihm eigenen Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit mit dem Glockenschlag 10 Uhr auf dem Büro des Komitees erschien, um mehrere Stunden der Befreiungsarbeit zu widmen, Tausende von Briefen schreibend, Aufklärungsschriften absendend, durch Wort und Schrift und namentlich auch die Tat viele von der Gerechtigkeit und Notwendigkeit dieses Kampfes zu überzeugen. Eine Tat selbstloser Aufopferung war es, dass er sein Bild in Frauenkleidern zur Veröffentlichung in den Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen zur Verfügung stellte, eine Tat, als er gelegentlich eines von mir in einer großen Volksversammlung gehaltenen Vortrages nach einem heftigen Angriffe auf meine Ausführungen auf die Tribüne trat, um in tiefster Erregung, dabei aber doch mit größter Schlichtheit und Sachlichkeit seine eigene Lebensgeschichte vorzutragen. Durch das selbstlose Einsetzen seiner Person für eine gerechte Sache, das er in diesen und vielen anderen Fällen bewies, machte er stets einen tiefen Eindruck und überzeugte viele.«48

     Im Gegensatz zu Teschenberg vollbrachten Hirschfeld und die anderen Komitee-Mitglieder einen eigentümlichen Balanceakt der Selbstdarstellung, indem sie Kämpfer für die Befreiung der Urninge sein wollten und zugleich betonten, dass sie nichts mit der Homosexualität zu tun hätten, sondern nur aus Gründen der Wissenschaftlichkeit und der Humanität für die ungerecht Verfolgten einträten. Hirschfeld deklarierte sich selbst als Arzt mit humanistischen (oder humanitären) Idealen, die ihn zum Engagement für die »Enterbten des Liebesglücks« drängten. Dass hier ein moralisches Problem lag, wenn man die Öffentlichkeit in taktischer Absicht täuschte und Glaubwürdigkeit und Ehrbarkeit zu erhöhen trachtete, indem man den Eindruck normaler Heterosexualität erweckte, scheint man im WhK geahnt zu haben. Es war keineswegs nur Hirschfeld allein, vielmehr versuchten fast alle Aktivisten dieser Schwulenbewegung ihre Geschlechtsnatur zu verheimlichen. In dieser Frage war man nicht bereit, dem Vorbild und Vordenker Karl Heinrich Ulrichs zu folgen, der sich selbst von Anfang an öffentlich als Urning bezeichnet hatte. Eugen Wilhelm, ein Jurist, der immer nur unter dem Tarnnamen »Numa Praetorius« im Jahrbuch und im Komitee tätig war, räsonierte im Jahre 1902 über diese Frage: »Würden alle Homosexuellen ihre Homosexualität offenkundig machen, dann wäre ein Weiterbestehen des § 175 bald unmöglich.«49

     Vermutlich waren die meisten Mitglieder im WhK genau so schwul wie der Vorsitzende Hirschfeld, und es ist heute leider nicht mehr feststellbar, welche Ängste es waren, die sie davon abhielten, dem Vorbild des Freiherrn von Teschenberg zu folgen. Strafbar waren damals allein bestimmte Arten von Sex zwischen Männern, die das Reichsgericht als »beischlafähnliche Handlungen« definierte. Völlig straflos war es hingegen, homosexuell zu sein und dies öffentlich zu bekunden. Das moralische und politische Problem, das in der öffentlichen Selbstverleugnung lag, drängte von Zeit zu Zeit zur Erörterung einer »Massenselbstdenunziation«. Die taktische Verleugnung der eigenen Homosexualität hätte man allenfalls mit den errungenen Erfolgen rechtfertigen können. Aber diese Erfolge blieben aus. Das Petitionieren und die »wissenschaftlich-humanitäre« Propaganda hatten keinerlei Auswirkung auf die Strafrechtsreform und kaum eine spürbare auf die öffentlichen Vorurteile. So lag der Jahresversammlung des WhK im Oktober 1905 erstmals ein entsprechender Antrag vor: »Es sollten eine größere Anzahl (1000) Homosexueller sich gemeinsam selbst homosexueller Handlungen öffentlich bezichtigen. Es würde sich dann die Unhaltbarkeit des Paragraphen erweisen. Nach eingehender Besprechung war man fast übereinstimmend der Meinung, dieses Agitationsmittel nicht zu akzeptieren.«50  Ein anderer gut durchdachter Plan, der das Risiko für den Einzelnen verringern sollte, wurde ebenfalls übereinstimmend abgelehnt:

»Ein gemeinsamer Strafantrag von einigen tausend Personen gegen sich selbst würde die Staatsanwaltschaft nötigen, gegen alle Selbstdenunzianten strafrechtlich einzuschreiten. Die Unmöglichkeit der Beweisführung seitens der Behörde jedoch, wenn die Veranlasser der Anklage – wie selbstverständlich – außer der Selbstbezichtigung keinerlei Aussagen über die Person des Partners, über Ort, Zeit und Art der inkriminierten Handlung machen, würde eine Verurteilung der Angeklagten ausschließen.
Irgend eine Gefahr würde also diesen Propagandisten der Tat aus ihrer Maßnahme nicht erwachsen. Dadurch aber, dass gerichtsnotorisch festgestellt würde, dass Tausende sich gegen den § 175 vergehen, ohne dass ihnen die Staatsgewalt etwas antun kann, würde der Agitation die wirksamste Unterlage, die der erwiesenen Absurdität des Gesetzesparagraphen geschaffen«
51

     Kurt Hiller, der 1908 dem WhK beigetreten war, hat später erneut dieses Projekt der Massenselbstdenunziation vorgeschlagen, doch fügte er sogleich die Gründe hinzu, die diese seine »Lieblingsidee« undurchführbar erscheinen ließen: »Ich weiss, dass tausenderlei gegen den Plan spricht; vor allem das Fehlen jeder Kampflust, jedes Opfermuts, jeder Idealität und Solidarität; der totale Mangel an Pflichtgefühl, und die Hypertrophie dreckigster Geldgier«.52 Als der Plan zuerst aufkam, fand er in dem Wiener Schriftsteller Karl Kraus einen begeisterten Befürworter, allerdings mit dem Vorbehalt, dass er sich beteiligen würde, wenn er homosexuell wäre, was aber leider nicht der Fall sei. In seiner Fackel schrieb Kraus dazu: »Ich bin nämlich der Ansicht, dass nur dann ein Sieg über den menschenmörderischen Paragraphen in Deutschland und Österreich zu erringen sein wird, wenn die namhaftesten Homosexualen sich öffentlich zu ihrem Verhängnis bekennen [. . .] Ich würde keinen Augenblick zögern, mich zu homosexualer Anlage zu bekennen, da ich mir davon eine Wirkung gegen Gesetze verspräche, die es verwehren, sich zu einer homosexualen Handlung zu bekennen. Keinen Augenblick!»53 Für Homosexuelle in vielen bürgerlichen Berufen wäre es indes mit einer erheblichen Existenzgefährdung verbunden gewesen, hätten sie sich an einer solchen Massenselbstdenunziation beteiligt. Ein besonderes Maß an »Opfermut« und »Idealität« im Sinne Hillers – der sich zu Lebzeiten niemals als Homosexueller deklarierte – wäre erforderlich gewesen. Für Hirschfeld hätte es ziemlich sicher eine Berufsverbot durch die ärztliche Standesorganisation zur Folge gehabt, hätte er sich zu seiner Homosexualität bekannt.

 

* * *

 

Nicht die eigene, sondern die Homosexualität anderer zu enthüllen, wurde seit 1902 als alternative Taktik zum Aufklären und Petitionieren unter dem Schlagwort »Weg über Leichen« diskutiert – und verworfen. Streng genommen hatte ja auch die SPD im Fall Krupp nicht zuerst die Tatsache veröffentlicht, dass Krupp wegen seiner Homosexualität die Insel Capri verlassen musste; man hatte lediglich entsprechende Berichte aus der italienischen Presse übernommen.

     Der vermutlich heterosexuelle Arzt und Sexualwissenschaftler Albert Moll beschrieb zuerst in einem Aufsatz in Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft diesen »Weg über Leichen«:

»Den Homosexuellen wird manchmal, auch von Wohlmeinenden, der Vorwurf gemacht, sie agitirten zu viel. Was aber sollen sie thun? Wenn sie nicht agitiren, erreichen sie ihr Ziel niemals. Sie hätten dann höchstens noch einen anderen Weg: Sie müßten suchen, nach Art eines rücksichtslosen Feldherrn oder Politikers über einen Berg von Leichen ans Ziel zu kommen. Sie brauchten nur die Namen von Männern öffentlich zu nennen, deren Homosexualität notorisch und jeden Augenblick zu beweisen ist. Sicher würde da Mancher, der die Homosexualität aus tiefster Seele verabscheut, der aber Homosexuellen, ohne deren geschlechtliche Neigung zu kennen, nah steht, über die Enthüllungen erstaunt sein. Mancher hohe Beamte, mancher einflussreiche Politiker würde sich schließlich verwundert sagen: ›Ich glaubte stets, die Homosexuellen seien das elendste Pack der Welt, nun höre ich aber, dass mein Neffe, mein Sohn, mein Freund gleichgeschlechtlich verkehren. Und er ist doch ein so braver, ausgezeichneter Mensch. Wenn er auch so ist, dann muss man doch anders über die Sache denken.‹ Dieser Standpunkt wäre rücksichtslos und zahllose Existenzen würden dabei sozial vernichtet werden. Einflussreiche Personen aber würden dadurch unmittelbar für die Sache interessirt und ein schneller Erfolg wäre mehr als wahrscheinlich. Trotzdem wäre ein solches Vorgehen entschieden zu tadeln.«54

     Hirschfeld hat diesen Text Molls mehrfach, besonders in der Zeit der Eulenburg-Affäre, zitiert, um daran anschließend zu erklären, dass die Taktik des Wissenschaftlich-humanitären Komitees und auch seine eigene keinesfalls der »Weg über Leichen« sei. »Der langsamere Weg der wissenschaftlichen Forschung und Aufklärung führt auch zum Ziel.«55 Die Ereignisse der Jahre 1907/08, die Eulenburg-Affäre, die Hirschfeld treffend den »Kampf Hardens gegen den Fürsten Eulenburg« nannte,56 führte zwar nicht über Leichen, wohl aber bewirkte das von Harden gewählte Kampfmittel der sexuellen Denunziation eine geistige und moralische Klimaveränderung, die alles bisher auf dem »langsameren Weg« Erreichte – und das war in den zehn Jahren seit 1897 nicht allzu viel – zunichte zu machen drohte.

     Im Mai 1907 entließ der Kaiser drei führende Funktionäre des Staatsapparats aus dem Dienst, die beiden Generäle Graf Wilhelm Hohenau und Graf Kuno Moltke sowie den Botschafter Fürst Philipp zu Eulenburg, letzterer ein intimer Freund und Berater Wilhelms II. Der Anlass für diesen unerhörten Vorgang waren Andeutungen in Maximilian Hardens politischer Wochenschrift Die Zukunft, dass die drei homosexuell seien. Harden glaubte, es gebe am Hof des Kaisers eine schwule Clique, »eine mächtige Gruppe mit normwidrigem Geschlechtsempfinden«,57 deren Oberhaupt der Fürst Eulenburg sei; sie schade dem Vaterland, indem sie es an den Erzfeind Frankreich verrate und den Kaiser verderblich beeinflusse. Letzte Gewissheit, dass dies wirklich so sei, gewann Harden, als er von der Freundschaft Eulenburgs mit dem ebenfalls im Verdacht der Homosexualität stehenden Sekretär der französischen Botschaft Raymond Lecomte erfuhr.

     Als der Kaiser Eulenburg entließ, hatte Harden sein Ziel erreicht, doch klagte nun General Moltke gegen Harden wegen Beleidigung, und Harden musste vor Gericht beweisen, dass Moltkes Geschlechtsempfinden tatsächlich »normwidrig« war. Hierbei sollte Hirschfeld, der als Gerichtssachverständiger hinzugezogen wurde, in ein unglückliches Dilemma geraten: Die sachgerechte Bewertung aller Zeugenaussagen ließ ihm gar keine andere Möglichkeit, als die Homosexualität des Klägers festzustellen, aber mit dieser Feststellung unterstützte er indirekt Hardens politisch motivierte sexuelle Denunziation.

     Harden berief sich vor Gericht auf Moltkes geschiedene Gattin, die als Zeugin über ihre gescheiterte Ehe und das Verhalten ihres einstigen Ehemannes ausgesagt hatte. Aufgrund dieser Aussagen hatte Hirschfeld dem Gericht ein Gutachten über Moltkes Geschlechtsleben abzugeben. Er sagte, dass er »die wissenschaftliche Überzeugung gewonnen« habe, Moltke sei homosexuell, was diesem aber unbewusst geblieben sei, weshalb er »keusch« lebe.58 Daraufhin wurde Harden freigesprochen. Er hatte nicht beleidigt, sondern die Wahrheit geschrieben. Wenige Tage darauf annullierte jedoch Oberstaatsanwalt Isenbiel das schöffengerichtliche Urteil und erhob seinerseits Anklage gegen Harden wegen Beleidigung des Grafen Moltke. In diesem zweiten Moltke-Harden-Prozess revidierte die Hauptbelastungszeugin ihre Aussagen über ihren einstigen Gatten und entschuldigte sich im Kreuzverhör mit der Bemerkung: »Kann denn ein Mensch, der solche Nöte erlitten hat, noch objektiv sein?«, woraufhin Hirschfeld, der wiederum als Sachverständiger am Prozess beteiligt war, sein früheres Gutachten widerrief. Er konnte nun Moltkes »psychische Homosexualität nicht mehr als in foro erwiesen« bezeichnen. Harden hatte also doch beleidigt und wurde am 3. Januar 1908 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Sowohl Moltke wie auch der als Zeuge geladene Eulenburg hatten in dem Prozess unter Eid ausgesagt, dass sie weder psychisch noch sonstwie homosexuell seien und auch niemals schwulen Sex, »Schmutzereien«, wie Eulenburg das vor Gericht nannte, praktiziert hätten. Harden gelang es daraufhin, zwei Männer zu finden, die ebenfalls unter Eid erklärten, sie hätten zwanzig Jahre zuvor mit Eulenburg am Starnberger See gegenseitig Onanie getrieben.

     Die Staatsanwaltschaft ermittelte nun gegen Eulenburg wegen Meineidverdachts, doch gelang es Eulenburg, sich einem Strafprozess und einer Verurteilung zu entziehen, indem er seine zerrüttete Gesundheit als Grund für seine Prozessunfähigkeit anführte. Das Urteil gegen Harden wurde aufgehoben, doch unterließ es Harden, gegen Moltke Zeugen für dessen Homosexualität zu benennen. So wurde Harden schließlich in einem dritten Prozess im April 1909 wegen »übler Nachrede« zu 600 Mark Geldstrafe verurteilt. Anscheinend besaß Harden Beweise für Moltkes Homosexualität, verzichtete aber darauf, von ihnen Gebrauch zu machen, weshalb er von Moltke in einem außergerichtlichen Vergleich 40.000 Mark erhielt.59 Es spricht einiges dafür, dass Hirschfelds Gutachten über Moltkes Homosexualität zutraf, obwohl es vor Gericht keinen Bestand hatte. So erzählt etwa der damalige Leiter der sogenannten Päderastenabteilung der Berliner Polizei, Hans von Tresckow, in seinen Memoiren, dass er über Informationen verfügte, aus denen Kuno von Moltkes Homosexualität erweisbar war.60 Im September 1907, kurz vor Beginn des ersten Moltke-Harden-Prozesses, als die Homosexualität am Hof und in der Armee zum dominierenden Thema in der Presse geworden war, behauptete Adolf Brand, der Leiter der Schwulenorganisation Gemeinschaft der Eigenen in einem Flugblatt, das Oberhaupt der Regierung, Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow, sei homosexuell und habe gegen den § 175 verstoßen. Wie Harden wurde auch Brand wegen Beleidigung angeklagt; da aber seine Behauptungen über den Reichskanzler offensichtlich frei erfunden, jedenfalls nicht zu beweisen waren, verurteilte das Gericht Brand am 6. November 1907 zu einer achtzehnmonatigen Gefängnisstrafe.61 Brands Flugschrift und der Prozess gegen ihn waren die entscheidenden auslösenden Ereignisse für eine Welle aggressiven Homosexuellenhasses in der Öffentlichkeit von bis dahin unbekannter Heftigkeit und Intensität, der zu der erwähnten Krise der Schwulenbewegung führte. Brand hatte sich vor Gericht zu der offensichtlichen Lüge verstiegen, dass ihm alle Angaben über des Reichskanzlers Homosexualität von Dr. Hirschfeld geliefert worden seien und dass er als eine Art willenloses Werkzeug Hirschfelds gehandelt habe. In der Presse begann daraufhin die Vorstellung zu herrschen, dass »die Homosexuellen um Dr. Hirschfeld« führende deutsche Männer in den Schmutz der Homosexualität zu zerren versuchten, wodurch die Dreistigkeit und Gefährlichkeit dieser Abartigen für jeden Normalen erkennbar werde. Typisch für die damalige Stimmung ist eine Stelle aus einem Kommentar zum Bülow-Brand-Prozess, der in mehreren Tageszeitungen erschien:

 

»Welche Beweggründe aber auch den Dr. Hirschfeld bei seinem Vorgehen leiten mögen, sein Vorgehen muss einfach als gemeingefährlich bezeichnet werden. Nach dem System des Dr. Hirschfeld kann schließlich jeder für abnorm erklärt werden, während in Wirklichkeit nur das System des Herrn Hirschfeld oder gar er selbst [!] abnorm sind. Das Verhalten des Dr. Hirschfeld ist eine ständige Quelle allgemeinster Beunruhigung. Es ist nicht erwiesen worden, wie weit die Geschichten über den Grafen Kuno Moltke auf Herrn Hirschfeld zurückzuführen sind. In dem heutigen Prozesse erscheint die Rolle des Zeugen Dr. Hirschfeld denn doch sehr bedenklich. Ist Herr Dr. Hirschfeld als Leiter des ›humanitär-wissenschaftlichen Komitees‹ wirklich ein Quell all der schmutzigen Verleumdungen der letzten Monate gewesen, so muss ihm das Handwerk gelegt werden, und zwar gründlich. Wir können uns nicht wegen des Systems eines Dr. Hirschfeld vor dem Auslande blamieren lassen und die Unbilden dieser Skandalprozesse über das Ansehen des deutschen Volkes ergehen lassen.«62

     Etwa zur gleichen Zeit, als die Stimmung gegen die Schwulen nach der Verurteilung Brands einen Höhepunkt erreicht hatte, beschloss der Reichstag anlässlich der erneuten Erörterung der Petition nicht, wie bis dahin üblich, die Petition als Material für die Revision des Strafgesetzbuchs an die Regierung zu überweisen, vielmehr wurde in einer Entschließung die Verschärfung des Schwulenstrafrechts gefordert. Besonders sollte künftig die »Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen« als erschwerender neuer Tatbestand zum § 175 hinzugefügt werden.63 Das Reichsjustizamt der Regierung legte daraufhin einen Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch vor, der nicht nur der Entschließung des Reichstags folgte, sondern darüber hinaus, wie in Österreich, eine Kriminalisierung der Homosexualität unter Frauen vorsah.

     Während Mitgliederzahl und Aktivitäten des WhK infolge der Eulenburg-Affäre krisenhaft abnahmen, hörte die Gemeinschaft der Eigenen, eine wesentlich kleinere Schwulenorganisation, mit der Gefängnishaft ihres Leiters Adolf Brand zunächst überhaupt auf zu existieren. Die dritte der damaligen Organisationen, der Anfang 1907 als Sezession des Wissenschaftlich-humanitären Komitees gegründete Bund für männliche Kultur, existierte nach dem Selbstmord seines Initiators Benedict Friedlaender noch mindestens bis 1909; dann verlieren sich auch seine Spuren.64

 

* * *

 

So überstand das WhK die Eulenburg-Affäre zwar geschwächt und beschädigt, kämpfte aber auf bescheidenerem Niveau weiter für die alten Ziele. Diese Ziele waren jetzt freilich in noch weitere Ferne gerückt als ehedem. Hirschfeld versuchte, die psychischen Strapazen, die die hauptsächlich gegen seine Person gerichtete Pressekampagne für ihn bedeutete, im Frühjahr 1908 und 1909 auf zwei Italienreisen zu verwinden, sich »von körperlichem und seelischem Leid zu erholen«.65 Auf dem Weg in den Süden besuchte er Sigmund Freud in Wien und sein wissenschaftliches Tätigkeitsfeld erfuhr eine gewisse Umorientierung und Erweiterung: Der einige Jahre zuvor von Karl Vanselow so genannten »Sexualwissenschaft«66 und damit der Erweiterung seines Arbeitsbereichs über die Homosexuellenforschung hinaus galt nun sein Interesse. Das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen erschien im Jahre 1907 nicht, und der Monatsbericht, eine Art Zeitschrift, die das Komitee sechs Jahre lang herausgegeben hatte, erschien im Dezember 1907 zum letzten Mal. Im Januar 1908 lag dann das erste Heft der Zeitschrift für Sexualwissenschaft vor, ein Projekt, das Hirschfeld zusammen mit dem Leipziger Arzt Hermann Rohleder und dem Wiener Schriftsteller Friedrich Salomo Krauss nicht mehr nur der Homosexualität, sondern dem gesamten menschlichen Geschlechtsleben widmete. Doch schon zum Jahresende musste sie, vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen, nach zwölf Heften eingestellt werden. 1910 erschien Die Transvestiten, eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb; Hirschfeld führte mit diesem Buch den heute noch gebräuchlichen Begriff des Transvestitismus in die Sexualwissenschaft ein, der den »erotischen Verkleidungstrieb«, das Anziehen von Kleidern des anderen Geschlechts aus sexuellen Motiven, bezeichnen sollte.

     Spekulationen über die damals nur vermuteten Sexualhormone, die die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, die Entstehung von Männern, Frauen und sexuellen Zwischenstufen verursachen, stellte Hirschfeld 1912 in seinem Werk Naturgesetze der Liebe an. Doch auch hier ging es vor allem um die Bekräftigung und Neuformulierung seiner These, dass den Menschen die sexuelle Orientierung genau so angeboren sei wie die primären Geschlechtsmerkmale. Von der künftigen Erforschung der Sexualhormone, für die er im voraus die Namen Andrin und Gynäcin erfand, erhoffte er sich den endgültigen Beweis für das Angeborensein der Homosexulität.

     Trotz aller Ausweitung seines Interessen- und Forschungshorizonts blieb das alte Thema von Sappho und Sokrates weiterhin im Zentrum seiner Arbeit, und in dem Jahr, als der Weltkrieg begann, erschien als die Summe seiner bisherigen Homosexuellenforschung die tausendseitige monumentale Enzyklopädie Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Hirschfelds Glaube an die Biologie, die letztlich alles am menschlichen Geschlechtsleben einschließlich der Homosexualität erklären soll, hat sein gesamtes schriftstellerisches Werk in einer Weise geprägt, dass es heute veraltet und obsolet erscheint. Sein radikaler Biologismus hat ihn aber nicht gehindert, auch solche Aspekte der Sexualität wahrzunehmen, die sich beim besten Willen nicht auf Biologie zurückführen lassen. Strafrecht, Vorurteile, öffentliche Meinung, die »Sittengeschichte« waren auch nach seinen Vorstellungen gesellschaftlich produzierte Sachverhalte, die von historisch vergänglichen und veränderbaren Bedingungen abhingen, so dass sein Konzept von Sexualreform und Schwulenemanzipation eigentlich nichts mit der Biologie zu tun hatte.
     Die Homosexualität des Mannes und des Weibes ist in zwei etwa gleich große Abteilungen gegliedert: homosexuelle Männer und Frauen »als biologische Erscheinung« und »als soziologische Erscheinung«. Auf dem Titelblatt bezeichnet Hirschfeld sich als »Arzt für nervöse und psychische Leiden in Berlin«, und nicht nur aus heutiger Sicht erscheint das 23. Kapitel, in dem er seine Methode einer Psychotherapie für homosexuelle Männer und Frauen entwickelt, als sein bedeutendster Beitrag.

     Da die Homosexuellen an sich nicht krank sind, entstehen die psychischen Schäden, unter denen viele von ihnen leiden, durch die falsche Bewertung, die sie von ihrer Umgebung erfahren und die sie sich ungerechtfertigterweise selbst zu eigen machen. Gegen diese Leiden verursachende Fehlanpassung an die Umgebung wendet Hirschfeld eine von ihm so genannte Adaptionsbehandlung, eine Art von gesprächstherapeutischem Verfahren an. Inhalt der Behandlung ist zunächst die Lebensgeschichte des Patienten, die dieser dem Arzt erzählt. Insbesondere wird der Patient ermutigt, über seine Schwierigkeiten zu sprechen, die mit seinem Geschlechtsleben in Zusammenhang stehen. Vom Arzt erhält der Patient im Gegenzug Aufklärung über die richtige Beurteilung dieses Geschlechtslebens, über die Möglichkeiten und Risiken der körperlichen Sexualbetätigung und des Umgangs mit der eigenen Homosexualität im Verkehr mit den heterosexuellen Mitmenschen.

     »Die Krankheit des Gemütes löset sich in Klagen und Vertraun am leichtesten auf«, schreibt Hirschfeld, Goethe zitierend, und trifft damit den entscheidenden Punkt seiner therapeutischen Methode. Indem der Arzt einfühlsam und zustimmend das Geschlechtsleben des homosexuellen Patienten im Gespräch erforscht, entsteht ein Vertrauensverhältnis, das eine neue bejahende Einstellung zur eigenen Sexualität und zu den Problemen, die der »Krankheit des Gemüts« Nahrung geben, ermöglicht.67 Das Verfahren geht natürlich nicht sonderlich in die Tiefe und erreicht bei schwereren psychischen Leiden sehr bald die Grenze seiner Wirksamkeit. Es wird sich aber für die »Krankheit des Gemüts«, unter der normalerweise Homosexuelle infolge der moralischen Ächtung zu leiden hatten, oft genug als hilfreich und heilsam erwiesen haben.

     Eine ähnlich günstige Wirkung schreibt Hirschfeld im besten Fall auch der Psychoanalyse zu, die – im Grunde nichts anderes als eine »talking cure« – auf homosexuelle Patienten wie die Adaptionsbehandlung wirkt. Eine 18-jährige lesbische Frau gab Hirschfeld im Psychobiologischen Fragebogen an: »Unterzog mich einer psychoanalytischen Behandlung, die mir das drückende Gefühl einer Schuld, die ich bisher in meiner Veranlagung erblickt hatte, absolut nahm.«68 Was bei der Psychoanalyse, die sich damals als Methode zur Beseitigung der Homosexualität empfahl, als unfreiwilliger Nebeneffekt eintrat, war für Hirschfeld das eigentliche Ziel der psychotherapeutischen Behandlung Homosexueller. Seine zunächst für leidende Homosexuelle gedachte Gesprächstherapie versuchte Hirschfeld später zu einer »Psychischen Milieutherapie« für psychisch gestörte Heterosexuelle auszudehnen. Auf dem Zweiten allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie 1927 in Bad Nauheim referierte Hirschfeld über sein Therapiekonzept, ohne dessen Herkunft aus der Homosexuellentherapie zu erwähnen. Dennoch wird hier besonders deutlich, dass die emanzipationspolitische Schwulengruppe als sozusagen therapeutische Selbsthilfe Bestandteil der Behandlung war: »Bei einem Leidenden kommt hier zunächst ein verständnisvoller Arzt in Betracht, der zwischen sich und dem Hilfsbedürftigen ein Vertrauensfluidum herzustellen weiss. Aber dieser Einfluss kann naturgemäß nur ein vorübergehender sein; deshalb muss eine Ablösung stattfinden durch Personen, bei denen der Leidende ein ähnliches Vertrauen und Verständnis findet wie bei seinem Arzt. Besonders gut eignen sich hierzu Leidensgefährten, die ihrem Schicksal gegenüber bereits eine höhere, freiere Stellung errungen haben [. . .] Sehr verstärkt wird dieser harmonisierende Milieueinfluss, wenn sich in dem genannten Kreise auch ein Mensch befindet, auf den der Leidende psychoerotisch ›überträgt‹. So sehr die äussere Bindung an eine erotisch inadäquate Person, vor allem auch innerhalb der Ehe, schwere Formen der Neurose und Hysterie hervorbringen kann [. . .], so sehr ist die bloße Anwesenheit einer erotisch anziehenden Person mit ihrer magnetischen Ausstrahlung geeignet, hochgradig neurotische und hysterische Zustände zum Abklingen zu bringen.«69

     Aus mündlichen Berichten einstiger Patienten Hirschfelds wissen wir, dass er in seinem Institut für Sexualwissenschaft schwulen Männern mit der Adaptionsbehandlung oder Milieutherapie geholfen hat; dabei kam es ihm darauf an  –  so erinnert sich einer der Patienten – den Schwulen ein »Lebensgefühl zu vermitteln«, das sie befähigte, sich in der Welt der Heterosexuellen zu behaupten. Die »Leidensgefährten, die ihrem Schicksal gegenüber bereits eine höhere, freiere Stellung errungen haben«, waren die WhK-Mitglieder, die sich im Institut trafen und dort ein »adäquates Milieu« boten.70

 

* * * Im 17. Band des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen erschien eine kurze Mitteilung über die »operative Behandlung der Homosexualität«. Professor Dr. E. Steinach, Wien, berichtet darin, dass es ihm gelungen sei, einen »schweren passiven Homosexuellen mit ausgesprochen weiblichen Geschlechtscharakteren« durch Implantation des Hodens eines Heterosexuellen »zu heilen« und »Auftreten völliger Normalität«, »vollständiges Abklingen der Homosexualität, Neuentstehen vom heterosexuellen Trieb« zu erzielen.71 Hirschfeld, der noch drei Jahre vorher die Umwandlung eines Homo- in einen Heterosexuellen für unnötig und unmöglich erklärt und so seine Adaptionsbehandlung gerechtfertigt hatte, bittet nun im Jahre 1917 die Leser des Jahrbuchs, sich für solche Umwandlungsexperimente dem Professor Steinach zur Verfügung zu stellen: »Da Prof. Steinach gegenwärtig Einpflanzungsmaterial von einem Manne hat, der wegen dauernd übernormalen virilen Triebs kastriert werden soll, so bittet er um Mitteilung, ob Homosexuelle (womöglich mit somatisch weiblichen Geschlechtscharakteren) umgestimmt werden und sich zu diesem Zwecke der betr. Operation unterziehen wollen.«72

     In den folgenden Jahren hat Hirschfeld mehrere Homosexuelle an Steinach und dessen Mitarbeiter weitervermittelt, die sich in der Hoffnung, heterosexuell zu werden, die Hoden abschneiden und durch andere ersetzen ließen. Der folgende Bericht des Berliner Chirurgen Richard Mühsam vermittelt eine Ahnung davon, wie schwach die Einflussmöglichkeit für die Adaptionsbehandlung in einer gleichsam totalitär auf Heterosexualität orientierten Umwelt gewesen sein müssen; der Satz: »Er empfand seinen Trieb immer als anormal und wünschte darum, von ihm befreit zu werden«, zeigt die Schranke, die in vielen Homosexuellen gegen ihre Emanzipation bestanden haben mag:

»Der dritte Fall betrifft ebenfalls einen 27jährigen Mediziner, den ich, wie Fall 2, der Überweisung des Herrn Magnus Hirschfeld verdanke. Der junge Mann hat, solange seine diesbezüglichen Erinnerungen reichen, nur homosexuell empfunden. Unser Kranker hat mancherlei Anfechtungen durch seinen Trieb durchgemacht, die ihn auch einmal zu einem Selbstmordversuch brachten. Mit Frauen hat er nie verkehrt, es fehlte ihm die Neigung und Erregung. Er empfand seinen Trieb immer als anormal und wünschte darum, von ihm befreit zu werden. Bei der ausgesprochen aktiven Homosexualität des Patienten war es erwünscht, ihm einen Hoden zu entfernen, und, da er auf den Vorschlag einging, nahm ich ihm am 28. 4. 20 den rechten Hoden fort und pflanzte ihm einen Leistenhoden eines gesunden Mannes ein.

      Glatter Wundverlauf.

Vom 5. Tage an wachte Patient mehrmals mit einer Erektion auf, seine Gedanken waren auf eine Frau gerichtet; auch fernerhin beschäftigte er sich in Träumen mit dem weiblichen Geschlecht und begreift seine frühere Neigung nicht mehr. Dann aber beobachtete er an sich, dass er zwar Freude am Anblick schöner junger Männer habe, dass dies aber nicht mit sexueller Erregung verbunden war. Gleichzeitig trat das Interesse für das weibliche Geschlecht immer deutlicher hervor. Die Gedanken bei Pollutionen waren auf das Weib gerichtet; er fasste eine platonische Zuneigung zu einem jungen Mädchen, kurz, es sind nach seinem Empfinden eine Anzahl von Erscheinungen vorhanden im Sinne einer Umstimmung. Wir werden den Kranken weiter im Auge behalten, um ein endgültiges Urteil über ihn zu gewinnen.«73      Abgesehen davon, dass diese Operationen sich schon bald als völlig wirkungslos erwiesen,74 ist die Kooperation Hirschfelds mit Steinach ebenso wie die freiwillige Bereitschaft schwuler Männer zur Normalisierung mittels chirurgischer Körperverletzung aus heutiger Sicht kaum zu verstehen. Wie verzweifelt muss ein schwuler Mann sein und wieviel Angst und Schrecken muss er ausgestanden haben, bis er sich freiwillig an Chirurgen ausliefert, die versprechen, ihn operativ in einen Heterosexuellen zu verwandeln! Nicht wenige Homosexuelle mögen damals spontan mit Verzweiflung, Panik, Selbsthass und Selbstmordwünschen auf ihren Trieb reagiert haben, der so völlig gegen die herrschenden Anschauungen von Moral und Ehrbarkeit verstieß. So kam es, dass die Sehnsucht, ein »normaler« Mann oder eine »normale« Frau zu werden, oft unstillbar brannte, und Hirschfelds Adaptionsbehandlung wird wohl nur in sozusagen leichteren Fällen eine Besserung des Lebensgefühls bewirkt haben. Es ist ja noch heute so, dass Mediziner, die eine Beseitigung der Homosexualität versprechen, auf Schwule und Lesben verweisen können, die sich freiwillig in ihre Behandlung begeben, nur von dem einen Wunsch getrieben, um fast jeden Preis heterosexuell zu werden. In einer Zeit, als schwuler Sex ein Verbrechen war und nur einflusslose Minderheiten des liberalen Bürgertums und der Arbeiterbewegung wenigstens Toleranz forderten, muss dieser Wunsch wesentlich verbreiteter und heftiger gewesen sein als heutzutage, so dass vermutlich nur allzu oft Verzweifelte, denen durch Adaptionsbehandlung nicht zu helfen war, Hirschfeld mit ihrem Wunsch nach Normalisierung bedrängten. Er hätte dem natürlich nicht nachgeben müssen, sondern darauf beharren können, dass die Beseitigung der homosexuellen Triebrichtung mit einer ärztlichen Ethik genau so wenig vereinbar ist wie etwa die Amputation eines gesunden Körperteils.

     Hirschfeld kommt im zweiten Band seiner Sexualpathologie aus dem Jahre 1918 auf dieses Thema zu sprechen. Er erklärt hier zunächst, dass es bei Homosexuellen eigentlich nichts zu heilen gibt. Dies begründet er jedoch mit der mehr als seltsamen Vermutung, dass der Naturzweck der Homosexualität in der Verhütung von Degeneration liege, da Homosexuelle sich nicht fortpflanzen und somit auch keine »degenerierten« Nachkommen erzeugen könnten. Dann aber schreibt er in krassem Widerspruch dazu, so als wollte er es jedem recht machen: »Damit soll denjenigen, die seelisch besonders schwer unter ihrer homosexuellen Anlage leiden und das Verlangen haben, heterosexuell umgestimmt zu werden, nicht die Hoffnung genommen werden, dass es der sexualwissenschaftlichen Forschung im Verein mit der ärztlichen Kunst doch noch einmal möglich sein wird, das Triebleben durch Regulierung der inneren Sekretion völlig in die gewünschte Bahn zu lenken.«75 Hier zeigt sich die Grenze der Hirschfeldschen Auffassung von Schwulenemanzipation; er nimmt sein Konzept von Gleichheit und Freiheit für Homo- und Heterosexuelle in wesentlichen Teilen zurück und kapituliert gewissermaßen vor der übermächtigen Normalität. Bei den furchtbaren und sinnlosen Steinach-Operationen wird diese Kapitulation offensichtlich, vorhanden war sie eigentlich schon von Anfang an und auf eine merkwürdige unentwirrbare Weise mit dem Emanzipationsanspruch verquickt.76
An die Menschenexperimente Steinachs knüpfte sich für Hirschfeld die Hoffnung, dass nun endlich objektive naturwissenschaftliche Beweise für das Angeborensein der Triebrichtung erbracht würden. Doch schon bald ließ sich nicht mehr leugnen, dass die Behauptungen Steinachs und seiner Mitarbeiter falsch waren. Kein Schwuler wurde durch Hodentransplantation »umgestimmt«, sie blieben so schwul wie vorher, waren jetzt aber verstümmelt.

     Das Eingeständnis dieses Fiaskos wird recht kleinlaut und wie beiläufig im dritten Band der Geschlechtskunde aus dem Jahre 1930 mitgeteilt: Die Übertragung von Tierversuchen auf den Menschen habe »enttäuscht«; und einen Schwulen, der »Zuflucht und Verständnis im Institut für Sexualwissenschaft« gefunden hatte und von seinem Alkoholismus wie von seiner Homosexualität befreit werden wollte, lässt Hirschfeld berichten:

»Daher drang ich auf Kastration. Meine Frau wurde um ihre Einwilligung befragt, und unter Hinweis auf eine künftige Implantation eines Hodens eines Heterosexuellen wurde dann später von einem bekannten Chirurgen die doppelseitige Kastration ausgeführt. Die erwarteten tiefgehenden Folgen blieben jedoch zunächst fast ganz aus, da ich schon das vierte Lebensjahrzehnt hinter mir hatte. Weder die Stimme noch der Bartwuchs änderten sich, der Sexualtrieb verlor an Stärke, die Triebrichtung blieb unverändert. Nur die Haare auf dem Körper schwanden. Nach einem Jahr wurde mir in die Bauchhöhle ein Hoden eines Heterosexuellen eingepflanzt; die Körperhaare wuchsen wieder, schwanden jedoch nach einem weiteren halben Jahre; der Geschlechtstrieb wurde allmählich gleich Null; die Triebrichtung blieb weiter auf das gleiche Geschlecht gerichtet; meine Sucht, mich zu betäuben, ist verschwunden. Alkohol und sonstige Narkotika habe ich schon seit Jahren völlig gemieden. Der gewollte Erfolg ist also eingetreten. Allerdings bin ich als Mensch auch vernichtet, meine Aktivität, mein Wille ist gebrochen. Ich mache niemandem einen Vorwurf, ich habe ja die Maßnahme verlangt, aber vielleicht wäre die Befreiung vom Alkohol auch zu erreichen gewesen, nachdem einmal mein Minderwertigkeitsgefühl behoben war, durch sittliche und soziale Vorstellungen. Die Bedeutung der Steinachschen Drüsentransplantationen wurde jedoch damals auch in Ärztekreisen stark überschätzt. Es ist doch noch kein Fall von dauernder Nachwirkung der Transplantationen bei Menschen in der Fachliteratur bekannt, wie ich nachgeforscht habe.«77

     Hirschfeld unterlässt es, diesen Bericht, der doch auch seine Mitverantwortung an der ganz sinnlosen Beschädigung dieses Menschen beweist, zu kommentieren. Es bleibt hier ein dunkler Punkt in seinem Lebenskampf für die Homosexuellen, der auch dadurch nicht in milderem Licht erscheint, dass so viele Schwule damals zu fast allem bereit gewesen wären, wenn sie nur heterosexuell hätten werden können. Eine Unentschiedenheit, die Hirschfeld wahrscheinlich mit vielen seiner schwulen Zeitgenossen teilte, ein Schwanken, ob denn die Homosexualität »ein Fluch der Natur« oder »eine Liebe wie jede andere auch« sei, blieb damals anscheinend unüberwindbar. Obwohl er sich so weit wie kaum einer seiner Zeitgenossen von der üblichen Ächtung und Verurteilung der Homosexuellen emanzipiert hat, ist ihm dies doch nicht restlos gelungen.

 

* * *

 

Am 24. Mai 1919 fand im Apollo-Theater in Berlin die Uraufführung des Spielfilm Anders als die Andern statt. Der Regisseur Richard Oswald hatte hier in Zusammenarbeit mit Hirschfeld zum ersten Mal überhaupt das Thema Homosexualität auf die Kinoleinwand gebracht, und dies geschah in einer Weise, dass vor allem das Elend und die Verzweiflung der Schwulen gezeigt wurde, so dass der Eindruck entstehen musste, als sei die einzige Alternative zum Selbstmord – der Film zeigt einen schwulen Violinspieler, der sich nach Erpressung und Verurteilung wegen § 175 selbst tötet – die Beseitigung der Triebrichtung mittels Steinachscher Hodenverpflanzung. Der Film war natürlich für ein heterosexuelles Publikum gedacht und sollte Mitleid mit den ungerecht leidenden und verfolgten »Zwischenstufen« erwecken, doch bringt er sicher auch das Lebensgefühl vieler damaliger Schwuler zum Ausdruck, die von sich glaubten, »unter einem doppelten Fluch, dem der Natur und dem des Gesetzes ihr Leben dahinschleppen« zu müssen.78

     Andererseits gab es sicher in reichem Maß die Erfahrung schwulen Liebesglücks, und der Sexualwissenschaftler Albert Moll, einer der aggressivsten Gegner und Rivalen Hirschfelds, der sich auch für das Verbot von Anders als die Andern einsetzte, kritisierte an dem Film gerade das Fehlen dieses Aspekts schwulen Lebens: »In einem homosexuellen Film wird gezeigt, wie ein homosexueller Musiker einen jungen Mann unterrichtet, ihn zum Künstler ausbildet. Es wird aber nicht geschildert, was die beiden in den Pausen machen und in der Zeit, wo sie zusammen sind, ohne dass musiziert wird. Die gegenseitige Onanie, den Coitus inter femora, die so häufige Einführung des Gliedes in den Mund, das zeigt uns weder der Film, noch zeigen es die Verfechter der idealen Homosexualität.«79 Diese Kritik Molls, die zwar zu Recht auf der Realität des schwulen Sex insistiert, ist schon deshalb ungerecht, weil ein Film, der auch nur Andeutungen von schwulem Sex gezeigt hätte, unter den strengen Zensurbestimmungen der Weimarer Republik – und das gilt auch bereits für das Jahr 1919 – gar nicht erst in die Kinos gelangt wäre. Sogar Anders als die Andern wurde trotz seiner Harmlosigkeit ein Jahr nach der Uraufführung verboten.80

     Zudem war Hirschfeld sicher nicht vorzuwerfen, dass er Verfechter der »idealen Homosexualität« sei und dass er den Sex, um den es bei der Homosexualität und ihrer Bekämpfung schließlich geht, leugnete. Eines seiner ständig wiederholten Argumente gegen den § 175 war die Ungerechtigkeit, die darin bestand, dass 99,998 % aller strafbaren sexuellen Handlungen gar nicht bestraft wurden. Diese Zahl gewann er aus dem Vergleich der Kriminalstatistik mit den Angaben, die Schwule bei der Beantwortung des Psychobiologischen Fragebogens über ihren Sex gemacht hatten; 81,2 % der homosexuellen Männer machen etwa 74mal im Jahr Sex; 60 % dieser Akte seien »beischlaf-ähnliche Handlungen« im Sinne des Gesetzes.81 Er leugnet also keineswegs, dass Schwule ein Geschlechtsleben haben. An der Propaganda eines asexuellen »Freundschaftseros«, den die Gemeinschaft der Eigenen zeitweilig für sich reklamierte, hat er sich nicht beteiligt. Er konstatiert lediglich, dass 18,8 % der von ihm Befragten »sehr selten oder nie sexuellen Verkehr« haben und, aus welchen Gründen auch immer, keusche »Edeluranier« zu sein scheinen.

     Die Frage nach Hirschfelds eigener Sexualität stellt sich hier, und sie spielt immer wieder, obwohl von ihm selbst strengstens tabuiert, eine Rolle in den öffentlichen Auseinandersetzungen. Erstmals scheint dies anlässlich der Eulenburg-Affäre der Fall gewesen zu sein, als es im Prozess gegen Maximilian Harden zu jener Szene kam, die die Vossische Zeitung so beschrieb: »Der Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel erhebt sich wieder, kündigt an, er werde nötigenfalls Mitteilungen über Herrn Dr. Hirschfeld machen, die ihm vielleicht nicht erwünscht seien«, woraufhin Hirschfeld sein Sachverständigengutachten, in dem er Moltke als homosexuell bezeichnet, widerruft.82 Bei dieser Drohung des Oberstaatsanwalts ging es anscheinend um Hirschfelds Homosexualität. Ein Zeitzeuge wie Thomas Mann hat das jedenfalls so verstanden. Seinem Bruder Heinrich berichtet er in einem Brief vom 6. Februar 1908 über den Prozess, bei dem der Staatsanwalt und der Vorsitzende die Zeugen mit allen Mitteln eingeschüchtert hätten, »und dem Dr. Hirschfeld (der selbst homosexuell ist) drohte der Staatsanwalt mit ›sehr unangenehmen‹ Fragen für den Fall dass etc.«83 Zu seinen Lebzeiten blieb Hirschfelds Homosexualität immer nur ein Gerücht, das vor allem durch die enge Verbindung seines Namens mit der Schwulenemanzipation Nahrung fand und das besonders in der antisemitischen Propaganda als ausgemachte Tatsache hingestellt wurde. Es sei »gerichtsnotorisch, dass Hirschfeld selbst homosexuell veranlagt ist«, heißt es zuerst 1914 in einer einschlägigen Hetzschrift, die noch folgendes Detail zum besten gibt: »Herr Dr. Magnus Hirschfeld ist übrigens, wie glaubwürdig versichert wird, auch dem sogenannten ›Stiefel‹-Fetischismus verfallen, d. h. er betrachtet es als höchste Wollust, die von seinen Lieblingen verunreinigten Stiefel abzulecken!«84 Diese Behauptung wird nicht nur in den folgenden Jahren in verschiedenen Druckerzeugnissen der Nazis wiederholt, sie taucht auch in einem ganz überraschenden Zusammenhang erneut auf: Der Schriftsteller Joseph Wortis berichtet in seinem Buch Fragments of an Analysis with Freud, dass Sigmund Freud ihm 1934 erzählt habe, Hirschfeld würde mit männlichen Prostituierten sexuelle Rituale veranstalten, bei denen die Füße, schmerzhaftes Auf-die-Zehen-Treten eine Rolle spielen soll; Freud will dies von einem seiner Patienten gehört haben.85

     Im Staatsarchiv in Merseburg wird heute ein sozusagen amtliches Dossier über Hirschfelds Geschlechtsleben aufbewahrt. Mit Datum vom 24. Juli 1920 gibt ein Beamter der Abteilung IV im Berliner Polizeipräsidium dem Minister für Volkswohlfahrt unter anderem zu Protokoll:

»Dann haben die Ermittlungen über Hirschfeld noch folgendes ergeben: Er gilt nach allgemeiner Ansicht als homosexuell veranlagt; doch haben ihm strafbare Handlungen aus § 175 des St. G. B. bisher nicht nachgewiesen werden können. In den letzten Jahren haben drei verschiedene Strafverfahren gegen ihn geschwebt:

1. die Akten der St. A. I 13. J. 828/15 betreffen ein umfangreiches Strafverfahren gegen Hirschfeld, das auf Anzeigen mehrerer während des Krieges als Päderasten und Transvestiten in Schutzhaft genommenen Personen beruht. Von ihnen wollen zwei mit Hirschfeld gleichgeschlechtlich verkehrt haben. Die Vernehmungen haben ergeben, dass sie nachgewiesenermaßen minderwertige Personen sind und ihr Zeugnis deshalb als unzureichend angesehen wurde. Daneben war die Beschuldigung erhoben worden, Hirschfeld habe eine Anzahl von Personen durch entgeltliche Ausstellung von falschen Zeugnissen vom Heeresdienst befreit. Die Beschuldigungen sind widerlegt. Außerverfolgungssetzungsbeschluss der Strafkammer vom 31. 10. 16.

2. Die Akten der St. A. I. 13. J. 378.16 hängen mit den vorigen Akten insofern zusammen, als darin behauptet wird, Hirschfeld habe die Anzeigenden, die ihre Angaben zum Teil zurückgenommen haben, bestochen und Aussagen von ihnen erpresst. Die Anzeige ist gänzlich haltlos. Das Verfahren ist eingestellt.

3. Die Akten 13 J. 514.20 sind infolge der Beschuldigungen, die in dem ›Deutschen Wochenblatt‹ vom 10. 3. 20 enthalten sind, entstanden. Diese Beschuldigungen betreffen: Kuppelei, Befreiung vom Militärdienst, Ausstellung unrichtiger Atteste zum Zweck der Ehescheidung, Bestechung jeder Art, unwissenschaftliche Handhabung der ärztlichen Praxis und Belästigung jugendlicher Postboten. Das Material des Zeitungsartikels ist von dem übel beleumundeten Franz Hanno, der in dem Hause Hirschfelds als Patient verkehrte, beschafft worden. Er hat sich seiner Vernehmung durch den Untersuchungsrichter bisher zu entziehen gewusst. Am 9. Juli 1920 ist der Beschuldigte aus dem tatsächlichen Grunde mangelnden Beweises durch Beschluss der 9. Strafkammer außer Verfolgung gesetzt worden. In dem letzten Verfahren ist der Beschuldigung der Verführung jugendlicher Postboten nicht nachgegangen worden; doch habe ich mir die hierüber beim Postamt NW 40 entstandenen Verhandlungen eingefordert und daraus ersehen, dass Hirschfeld im Mai 1918 zwei jugendliche Telegrammbesteller, die seine Wohnung dienstlich betraten, nach deren Angaben in sein Schlafzimmer gelockt, sie dabei unsittlich berührt und ungehörige, auf das Geschlechtsleben bezügliche Bemerkungen zu ihnen gemacht hat. Auf einen energischen Vorhalt des Postamts sandte Hirschfeld folgendes Entschuldigungsschreiben: An das Kaiserliche Postamt NW. 40 Lehrter Bahnhof

                   z. Hd. des Herrn Postdirektors Wanke.

Ihre geschätzte Mitteilung vom 21. 5. bestätigend, erwidere ich, dass ich dafür Sorge tragen werde, dass Ihren Wünschen aufs Peinlichste entsprochen werden wird. Zur Sache selbst bemerke ich, dass eine belästigende Absicht in keiner Weise vorgelegen hat und ich daher eine irrtümliche Auffassung diesseitigen Verhaltens durch die Besteller annehmen muss. Ich hoffe, dass das gute Einvernehmen, das mich seit Jahren mit dem von mir ganz besonders geschätzten Postamt NW. 40 verbindet, durch diesen bedauerlichen Zwischenfall, den ich wohl mit obiger Erklärung für erledigt ansehen darf, keinerlei Trübung erfährt.

             Mit vorzüglicher Hochachtung

             gez. Dr. Magnus Hirschfeld.

Ich habe Anlass genommen, wegen dieses Vorfalls nochmals bei dem Herrn Untersuchungsrichter vorstellig zu werden. Auf die Beschuldigungen, die auch sonst noch aus homosexuellen Kreisen gegen Hirschfeld in der letzten Zeit erhoben worden sind, gehe ich nicht weiter ein, da die in Betracht kommenden Zeugen eine zu geringe Glaubwürdigkeit besitzen und sie sämtlich den Einwirkungen des in homosexuellen Kreisen herrschenden Gemeinsamkeitsgefühles unterliegen, sodass es fast aussichtslos erscheint, wirklich ausreichendes Material gegen Hirschfeld zu beschaffen.

      I. V. Moll.«86

     Aus mündlichen Überlieferungen wissen wir, dass Hirschfeld etwa zu der Zeit, als dieses Dossier über sein Geschlechtsleben verfasst wurde, den Mann kennenlernte, der in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens sein Geliebter sein sollte: Karl Giese, ein zwanzigjähriger kaufmännischer Angestellter, hatte einen öffentlichen Vortrag Hirschfelds über Homosexualität gehört und sich daraufhin an ihn gewandt, weil er »auch so« sei.87 Seitdem teilte er mit Hirschfeld die Wohnung, gab seinen Job auf und arbeitete als Archivleiter im Institut für Sexualwissenschaft. Als Hirschfeld im November 1930 Deutschland verließ und sich auf seine Weltreise begab, begleitete ihn Karl Giese nicht, sondern blieb bis zuletzt mit der Verwaltung des Instituts beschäftigt. Als dann die Nazis im Mai 1933 ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, folgte er Hirschfeld ins Exil nach Frankreich.

     Auf seiner Weltreise traf Hirschfeld in Shanghai den 23-jährigen Medizinstudenten Tao Li, der ihn nach Europa begleitete und bis zuletzt bei ihm blieb. Offensichtlich war auch er Hirschfelds Geliebter, doch ist im Bericht über die Weltreise nur von einem »idealen Schüler-Lehrer-Verhältnis«, das ihn mit Tao Li verband, die Rede.88

     Aus einem Brief vom 7. Mai 1934, den Max Hodann, ein heterosexueller Kollege und Mitarbeiter Hirschfelds, an das ihm befreundete Ehepaar Brupbacher schreibt: »Tante Magnesia hat wieder herrlichen Unfug in Paris angerichtet. Lebt jetzt mit beiden Flammen (Tao und Karlchen). Und das Schönste: beide sind auf den alten Knacker sooo eifersüchtig. Wenn das keine wahre Liebe ist?!«89

     Bemerkenswert an dieser Briefstelle ist weniger der spöttische und verächtliche Ton, in dem sich ein vermeintlich aufgeklärter und vorurteilsfreier Sexualwissenschaftler über seinen schwulen Kollegen und Lehrer hinter dessen Rücken äussert, vielmehr erhält man hier einen Eindruck davon, wie wenig Hirschfeld seine Homosexualität vor der heterosexuellen Umgebung verbarg. In seinem Testament nennt Hirschfeld seine beiden »Flammen« Karl Giese und Tao Li: »meine Schüler und Mitarbeiter«.90 Er mag sich wohl gewünscht haben, dass seine Lieblinge der letzten Jahre zugleich auch seine Schüler und die Fortsetzer seines Lebenswerks sein würden, doch fehlten den beiden hierzu anscheinend alle Voraussetzungen, allein schon was ihre intellektuelle Ausbildung betraf.

     Gewisse Ambitionen, Hirschfelds Lebenswerk nach dessen Tod fortzusetzen, bestanden offensichtlich auch bei Max Hodann. Hatte sich in der zitierten Briefstelle über Hirschfelds Liebesleben schon angedeutet, dass Hodann erhebliche Schwierigkeiten hatte, Hirschfelds schwulen Lebensstil hinzunehmen und als ein Moment seines sexologischen Lebenswerks zu verstehen, so kommt dies vollends in Bemerkungen zum Ausdruck, die er nach Hirschfelds Tod zu der Frage nach einer Fortsetzung des Hirschfeldschen Projekts fallen lässt:

»Wegen der Hirschfeld-Nachfolgearbeit habe ich mit Haire gesprochen [. . .] Ich hätte Lust, die Sache in die Hand zu nehmen. Man muss etwas Neues machen – die ›Weltliga‹ ist durch H's Namen leider kompromittiert.«91

 »Dagegen hätte es meines Erachtens erheblichen Wert, wenn wenigstens in bescheidenem Umfang eine wissenschaftliche Zentrale vorhanden wäre, die ohne das Odium des Hirschfeldschen Instituts dessen Aufgabe erfüllen könnte.«92
»Aber andererseits müssen die bisherigen Ergebnisse der Sexualwissenschaft gesichtet und von Grund auf kritisch gesiebt werden, man muss sie auch von dem spezifischen Hirschfeldschen Odium befreien.«93

     Zwei andere Homosexuelle, der englische Arzt Norman Haire und der Berliner Jurist und Publizist Kurt Hiller, könnten mit weitaus größerer Berechtigung als Hirschfelds Schüler und Nachfolger bezeichnet werden, hatten wohl auch weniger am »spezifischen Hirschfeldschen Odium« zu beanstanden, da sie sowohl eine Art sexologischer Ausbildung durch Hirschfeld erfahren hatten als auch ganz in seinem Sinne nach dem zweiten Weltkrieg für »Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage« engagiert blieben.94

 

* * *

 

Der Herbst des Jahres 1929 brachte für die Schwulenbewegung und für Hirschfelds Rolle als führender Aktivist dieser Bewegung eine bedeutsame Wende, die zu einer ähnlich schweren Krise führte wie die Eulenburg-Affäre zwanzig Jahre zuvor.

     Hirschfeld hatte nun schon seit mehr als drei Jahrzehnten den »Befreiungskampf zur Rehabilitierung homosexueller Männer und Frauen« geführt, ohne dass man diesem Ziel wesentlich näher gekommen war. Das liberalere gesellschaftliche Klima der Weimarer Republik hatte für die Homosexuellen keine grundlegenden Verbesserungen gebracht. Den sehr mäßigen Lockerungen des Presse- und Vereinsrechts, die auch den Homosexuellen zugute kamen, stand das immer bedrohlichere Anwachsen der Nazibewegung gegenüber, die das ohnehin schon übermächtige politische Lager der Christen und Nationalkonservativen an Homosexuellenfeindschaft noch überboten.

     Am 16. und 17. Oktober 1929 beriet der Strafrechtsausschuss des Reichstags über die Reform des Homosexuellenstrafrechts und traf Entscheidungen, die damals für folgenschwer gehalten wurden. Bald stellte sich aber heraus, dass infolge der zunehmenden Zerrüttung der parlamentarischen und ökonomischen Verhältnisse der Reichstag gar nicht mehr fähig war, den Beschlüssen des Strafrechtsausschusses Gesetzeskraft zu verleihen. Diese Beschlüsse entsprachen keineswegs dem, was Hirschfeld in seinen Petitionen gefordert hatte, vielmehr bedeuteten sie eine Mischung aus Verschärfung und Milderung des bisherigen Rechts. So sollte zwar der schwule Sex zwischen Männern, die älter als 21 Jahre waren, künftig straffrei sein, doch beschloss man einen § 297, der völlig neue Straftatbestände schuf und »Gefängnis nicht unter 6 Monaten« für »schwere Unzucht zwischen Männern« vorsah. Damit sollten künftig homosexuelle Prostitution, Sex mit einem »männlichen Minderjährigen« und »Missbrauch« von Abhängigen im Dienst- und Arbeitsverhältnis als neue Verbrechen definiert werden. Ferner war vorgesehen, nicht mehr nur »beischlafähnliche Handlungen«, sondern auch die von Gesetz und Rechtsprechung bisher ignorierte gegenseitige Onanie und sogar leidenschaftliche Küsse als »schwere Unzucht« zu bestrafen, wenn einer der beteiligten Männer jünger als 21 Jahre war.95
     Diese verschärfte Rechtsauffassung erlangte aber erst 1935 Gesetzeskraft, als die Nazis jenen § 297, der ganz ohne ihre Beteiligung geschaffen worden war, unter der Bezeichnung § 175a ins Strafgesetzbuch einfügten; dieser Nazi-Paragraph legt jedoch als Höchststrafe statt fünf Jahre Gefängnis zehn Jahre Zuchthaus fest und ergänzte die Liste der Tatbestände noch um die homosexuelle Vergewaltigung.

     Die Entscheidungen im Reichstagsausschuss über das künftige Schwulenstrafrecht empfanden Hirschfeld und die anderen Mitglieder des Wissenschaftlich-humanitären Komitees als Schlag gegen ihre bisherige Tätigkeit. Der Verbesserung in einem Punkt, der Straffreiheit für über Einundzwanzigjährige, standen mehrere Verschärfungen gegenüber, so dass das Ziel der strafrechtlichen Gleichstellung mit den Lesben und den Heterosexuellen in unabsehbare Ferne gerückt war. Die Einsicht in das Scheitern und die Vergeblichkeit der jahrzehntelangen Anstrengungen scheint im Komitee die Bereitschaft zur Rebellion gegen den, der als Mutter, Erfinder und Verantwortlicher des ganzen Projekts galt, gegen den Vorsitzenden Hirschfeld, so weit gesteigert zu haben, dass der offene Kampf ausbrach. Als Ergebnis dieses Kampfes, dessen Einzelheiten nur aus einem internen Pamphlet des damals erbittertsten Gegners Hirschfelds im Komitee, Richard Linsert, bekannt sind, trat Hirschfeld am 24. November 1929 vom Vorsitz zurück; das Komitee gab seine Büroräume im Institut für Sexualwissenschaft auf und vollzog so eine vollständige Trennung von Hirschfeld.

     In Linserts Anklageschrift, die vom Komitee-Obmann Max Hodann mitunterzeichnet war, wird Hirschfeld die Schuld an dem Abstimmungsergebnis im Strafrechtsausschuss gegeben, weil er gegen den Willen des übrigen Vorstands und ohne dessen Wissen mit dem Ausschussvorsitzenden Wilhelm Kahl Verbindung aufgenommen und diesem die Namen von Sachverständigen mitgeteilt haben soll, die möglicherweise vor dem Ausschuss zugunsten der Homosexuellen aussagen sollten. Dass schließlich überhaupt kein Sachverständiger vor der Abstimmung im Ausschuss gehört wurde, soll nach Linserts Ansicht Hirschfeld mit seinem Schreiben an Kahl bewirkt haben. Außerdem soll er sich unrechtmäßig am Geld des Komitees bereichert und seinen Namen zu Reklamezwecken für ein wirkungsloses Empfängnisverhütungsmittel zur Verfügung gestellt haben.96

     Anscheinend handelte es sich dabei um ein intrigantes Manöver Linserts, dessen Motiv indes unklar ist. Er erreichte zwar, dass Hirschfeld unter dem Eindruck der schlimmen Entscheidungen im Reichstagsausschuss vom Komitee-Vorsitz zurücktrat. Was das Empfängnisverhütungsmittel betrifft, so handelte es sich um eine Salbe mit dem Namen Patentex, die keimtötende Wirkung aufweisen sollte, damals schon seit Jahrzehnten im Handel war und um 1930 in der Werbung den Hinweis verwendete: »Unter dauernder biologischer Kontrolle des Instituts für Sexualwissenschaft, Berlin, Leiter San.-Rat Dr. Magnus Hirschfeld«. Die tatsächliche Wirksamkeit von Patentex ist heute kaum zu beurteilen. Sie war sicher geringer als die von einschlägigen Mitteln, die heute verwendet werden, andererseits gehörte Patentex nicht zu den damals angebotenen Präparaten, die Alfred Grotjahn, die seinerzeit maßgebliche Autorität in der Geburtenregelung als »wertlos« bezeichnet hatte. Dass es stets in Verbindung mit einem mechanischen Schutz, Pessar und Präservativ, verwendet werden sollte, hatte Hirschfeld stets betont, und noch auf dem Wiener Kongress der Weltliga für Sexualreform wurde bei der empfehlenden Stellungnahme zu Patentex auf die Notwendigkeit des »kombinierten Schutzes – Pessar + chemisches Mittel« hingewiesen, um eine sichere Verhütung zu erreichen.97 Hirschfeld hatte hier also nichts moralisch Verwerfliches getan; Patentex entsprach dem damaligen Entwicklungsstand der chemischen Empfängnisverhütungsmittel.

     Was die Frage der Sachverständigenanhörung im Reichstagsausschuss betrifft, so kam man wohl bald im WhK zu der Einsicht, dass auch bei jeder anderen Vorgehensweise keine Chance für andere Mehrheiten im Strafrechtsausschuss bestanden hätten. Drei Monate nach Hirschfelds Rücktritt, am 24. Februar 1930, notierte der Schriftsteller Paul Krische, der mit Hirschfeld befreundet war und dem WhK nahestand, in seinem Tagebuch: »Die Hauptversammlung des humanitär. Kom. am Sonnabend hat Magnus gelobt & zum Obmann gewählt. Der Angriff von Hodann-Linsert ist ganz rätselhaft.«98 Am 10. August des gleichen Jahres schickte Max Hodann einen Brief an diejenigen, die zuvor Linserts »Exposé« erhalten hatten, und korrigiert darin die Linsertschen Anschuldigungen:

»Sehr geehrter Herr Kollege,

wir sind heute zu einer Besprechung der Angelegenheit Hirschfeld/Linsert zusammengetreten. Hodann, der die Anklageschrift mit unterzeichnet hat, konnte sich davon überzeugen, dass die Vorwürfe teilweise auf Grund falscher Information seiner Person beruhen, teilweise nicht von dem Gewicht zu sein scheinen, das er ihnen ursprünglich beigemessen hat. Im übrigen ist eine endgültige Klärung in Bälde zu erwarten.

Hodann, Juliusburger, Klauber, Simmel, Levy-Lenz«.99

     Linsert hatte seit 1923 mit Hirschfeld zusammengearbeitet. Wie Giese war auch er kaufmännischer Angestellter gewesen, bevor er aus München nach Berlin kam und hier eine Anstellung als Sekretär des Wissenschaftlich-humanitären Komitees erhielt. Daneben betätigte er sich schriftstellerisch und war außerdem Funktionär in der Kommunistischen Partei und im paramilitärischen Rotfrontkämpferbund. Wir wissen nicht, was Linsert im Herbst 1929 veranlasst hat, einen derart absurden Kampf gegen Hirschfeld zu beginnen. Eine Mutmaßung hierzu lässt sich jedoch nicht ohne weiteres von der Hand weisen: Soweit bekannt, war Hirschfeld der einzige Sozialdemokrat im Komitee, und die Kommunistische Partei hatte kurz zuvor die SPD zum »sozialfaschistischen« Zwillingsbruder der Nazis und zum Hauptfeind erklärt. Obwohl parteipolitische Argumentationen in diesem Kampf gegen Hirschfeld anscheinend nicht vorkamen, da Parteipolitik mit dem Anspruch des Komitees, politisch neutral zu sein, nicht vereinbar gewesen wäre, könnte nichtsdestoweniger die Linie der KPD Linsert zur Entlarvung und zum »Sturz« des Sozialdemokraten Hirschfeld veranlasst haben. Dafür spricht auch, dass Hodann, sein anfänglicher Verbündeter, damals gerade aus der SPD ausgeschlossen worden war und sich der KPD annäherte, ohne ihr jedoch beizutreten. Als dann Mitte 1930 Hodanns Buch Sowjetunion gestern heute morgen erschien, bekämpften ihn die Kommunisten wegen vermeintlicher Verunglimpfung des Vaterlands der Werktätigen, so dass auch die Gemeinschaft mit Linsert nicht mehr gut möglich war.100 Hodann hat sich daraufhin Hirschfeld wieder angenähert und den oben zitierten Brief verschickt. »Hodann hat sich mit Magnus versöhnt«, notierte Paul Krische am 29. August 1930 im Tagebuch.

     Der Schwulenbewegung war Hirschfeld jedoch endgültig entfremdet. Dass man ihn im Februar 1930 wieder zum Komitee-Obmann wählte, führte nicht zu einer Wiederherstellung des alten Zustands. Linsert blieb bis zuletzt, bis zu seinem Tod im Februar 1933, im Wissenschaftlich-humanitären Komitee tonangebend. Hirschfeld lebte in den letzten Jahren, die ihm bis 1935, seinem Sterbejahr, blieben, als Homosexueller mit seinen beiden Geliebten Karl Giese und Tao Li in der Schweiz und in Frankreich, zuletzt in Nizza. Seine Homosexualität scheint er weniger denn je verborgen zu haben, an der von ihm so genannten »organisierten Bewegung gegen die Verfolgung der Homosexuellen« nahm er nicht mehr teil.

 

Psychoanalyse

 

 

Kinsey war ein großer Mann, aber nicht gerade Charakterolog; Freud wiederum, der das wahrhaft war, hat dem homoerotischen Ereignis ein dankenswertes Hochmaß an Toleranz, nein, an Anerkennung zuteil werden lassen, doch untersucht hat er es eigentlich nie.

                                                                                 Kurt Hiller, Eros, 1973, S. 148

Im Selbstverständnis der Beteiligten handelte es sich um zwei Bewegungen, die psychoanalytische und die homosexuelle, die immer wieder theoretisch, personell, praktisch-politisch zueinander in Verbindung traten und besonders in den Jahren 1905 bis 1911 sich wechselseitig beeinflussten, aber auch sehr früh schon polemische Abgrenzungen vornahmen, was dann schließlich zu einem Abbruch aller Verbindungen führte.

     Der Berliner Arzt Georg Merzbach sprach wohl 1902 als erster im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen von einer »homosexuellen Bewegung«;1 zuvor war vom »Befreiungskampf der Homosexuellen« die Rede, und Hirschfeld überschrieb 1914 das letzte Kapitel seines einschlägigen Hauptwerkes ganz in diesem Sinne: »Die organisierte Bewegung gegen die Verfolgung der Homosexuellen. Die geistigen Förderer des Befreiungskampfes«. Im gleichen Jahr veröffentlichte Sigmund Freud in seinem Jahrbuch der Psychoanalyse einen Beitrag »Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung«, in dem er sich mit den beiden größeren Sezessionen, der Adlerschen von 1911 und der Jungschen von 1913, auseinandersetzte.2 Anscheinend verwendeten die Anhänger der Psychoanalyse zu diesem Anlass erstmals die Selbstbezeichnung »Bewegung«, die sie bis in die dreissiger Jahre hinein beibehielten.

     Ziel und Charakter beider Bewegungen waren so unterschiedlich und letztlich unvergleichlich wie ihre Schicksale. Dennoch lassen sich Ähnlichkeiten und Verwandtschaften ausmachen, und immer wieder gab es Berührungen, die nicht nur aufgrund personeller Zufälligkeiten zustande kamen. Es gab sogar eine kurze Zeit des kooperativen und geradezu freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Hirschfeld und Freud. Zu den »geistigen Förderern des Befreiungskampfes« zählte Hirschfeld auch Sigmund Freud, von dem er Äußerungen aus einer Wiener Tageszeitung zitiert, die schon vorher mehrfach in der homosexuellen Literatur Erwähnung gefunden hatten, die aber nicht so recht zu Freuds sonstigen Veröffentlichungen passen wollten und wohl deshalb niemals autorisiert wurden. Anlass zu dem Interview aus dem Jahre 1905, das Freuds Aussagen nur »ungefähr« wiedergibt, war der Strafprozess gegen den Wiener Professor Theodor Beer wegen Sex mit Kindern:

»Prof. Dr. Freud, den wir in den Nachmittagsstunden aufsuchten, äusserte sich ungefähr folgendermaßen: ›[. . .] Ich verfechte gleich vielen Gelehrten den Standpunkt, dass der Homosexuelle nicht vor das Forum eines Gerichtshofes gehört. Ich bin sogar der festen Ueberzeugung, dass Homosexuelle nicht als Kranke behandelt werden müssen, denn der pervers Veranlagte ist deshalb noch lange nicht krank. Müßten wir dann nicht viele große Denker und Gelehrte aller Zeiten, von deren perverser Veranlagung wir Bestimmtes wissen und von denen wir gerade ihren gesunden Geist bewundern, als krankhafte Menschen bezeichnen? Homosexuelle Personen sind nicht krankhaft, sie gehören auch nicht vor den Gerichtshof! Sowohl bei uns in Oesterreich als noch in weit größerem Umfang in Deutschland ist eine mächtige Bewegung im Zuge, den Paragraphen des Gesetzbuches, der sich gegen die Perversen wendet, zu eliminieren. Der Bewegung haben sich bedeutende Gelehrte angeschlossen, und sie wird immer größere Kreise ziehen, bis sie zu einem endgültigen Erfolg gelangen wird. Anders verhält es sich jedoch in einem Falle wie dem des Prof. Beer, vorausgesetzt dass er schuldig ist. Der Angeklagte hat sich in diesem Falle an Kindern unter 14 Jahren vergriffen, und ein solcher Mensch muss vor dem Gerichtshof abgeurteilt werden [. . .]‹«3

     Die hier geäusserte Überzeugung, nach der Homosexuelle nicht als Kranke behandelt werden sollten, passt nur schlecht zu dem, was Freud und die psychoanalytische Bewegung sonst zum Thema äusserten. Was hingegen das Strafrecht in Österreich und Deutschland betrifft, so befindet sich jener Zeitungsbericht in voller Übereinstimmung mit den Psychoanalytikern wie mit den organisierten Homosexuellen. Der einverständige Sex zwischen Geschlechtsreifen habe straflos zu sein, während jedweder Sex mit Kindern unter 14 Jahren als Verbrechen zu verfolgen sei.4

     Jahrzehnte später, als schon längst alle Verbindungen zwischen Psychoanalytikern und organisierten Schwulen abgerissen waren, die homosexuelle Bewegung sich in Niedergang und Auflösung befand, während die psychoanalytische sich international durchsetzte, rang sich Freud für eine Umfrage zu Hirschfelds 60. Geburtstag den Satz ab: »Ich habe immer die Ansicht vertreten, dass der Lebenskampf des Dr. Magnus Hirschfeld gegen die grausame und ungerechtfertigte Einmischung der Gesetzgebung in das menschliche Sexualleben allgemeine Anerkennung und Unterstützung verdient.«5  Abgesehen von der Frage des Strafrechts, in der die Psychoanalytiker sich aber nicht sonderlich engagierten, bestanden zwischen beiden Bewegungen eigentlich von Anfang an vor allem Differenzen, die die Theorie der Homosexualität betrafen.

 

* * *

 

Die Homosexuellen spürten ziemlich schnell, dass sich in der Psychoanalyse ein völlig neues Modell zur Erklärung der menschlichen Sexualität entwickelte. Die Differenzen zu Hirschfelds Konzeption gestalteten sich deshalb anders und komplizierter, als dies bei anderen damals konkurrierenden Erklärungsmodellen und Theorien der Fall war. Im Juni 1905 brachte der Monatsbericht des WhK eine kurze Mitteilung: »Von Professor Dr. Sigm. Freud (Wien) erschien ein Buch: ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹ (Verlag von Franz Deuticke, Leipzig und Wien). Dasselbe enthält in seinen drei Kapiteln, 1) die sexuellen Abirrungen, 2) die infantile Sexualität, 3) die Umgestaltung in der Pubertät, zahlreiche für die Beurteilung der Homosexualität höchst wichtige, wissenschaftlich vertiefte Ausführungen.«

     Es war diese schmale und unscheinbare Broschüre, in der sich Freud erstmals öffentlich zu dem Hirschfeld und die homosexuelle Bewegung betreffenden Gegenstand äusserte. Der Monatsbericht vom September 1905 druckt dann kommentarlos eine enthusiastische Rezension von Willy Hellpach aus der Berliner Tageszeitung Der Tag nach, worin Freuds Ansicht zur Entstehung von »Inversion« und »Perversion« zusammenfassend zitiert werden: »Ein guter Teil der Abweichungen vom normalen Sexualleben ist durch die Eindrücke der angeblich sexualfreien Kindheitsperiode von Anfang an festgelegt. In die Verursachung teilen sich das Entgegenkommen der Konstitution, die Frühreife, die Eigenschaft der erhöhten Haftbarkeit und die zufällige Anregung des Sexualtriebes durch fremden Einfluss.«6 In diesem Satz aus den Drei Abhandlungen war bereits ein wesentlicher Dissenspunkt zwischen Freud und Hirschfeld benannt, aus dem schließlich die Unvereinbarkeit von psychoanalytischer und homosexueller Bewegung resultierte, denn für die Homosexuellen – auch wo sie in Opposition zu Hirschfeld standen – gehörte es zu den elementaren Doktrinen, an denen nicht zu rütteln war, dass die Natur selbst, was immer das heißt, die gleichgeschlechtliche Liebe hervorbringt, dass sie angeboren ist und dass Einflüsse in Jugend und Kindheit gar nichts daran ändern können. Homosexualität sei nicht nur unverschuldet, worin man sich mit den Psychoanalytikern einig war, sie sei vielmehr auch von Anfang an als angeborene Eigenschaft vorhanden.

     Freud und mit ihm die meisten seiner Schüler hielten ebenfalls in gewissem Maße an der Überzeugung von einer biologischen, angeborenen Grundlage der Homosexualität fest, etwa wenn Freud unter den »Verursachungen« für »Abweichungen vom normalen Sexualleben« auch »das Entgegenkommen der Konstitution« aufzählt. Doch ging es Freud gerade darum, eine »neue Psychologie«7 zu entwerfen, die zwar Behauptungen über die Biologie des Menschen als Randbedingung akzeptiert, sich aber nicht auf die Biologie reduzieren lässt. Der radikale Biologismus, die wohl auffälligste Eigenart der Sexualwissenschaft Hirschfelds, ist Freuds neuer Psychologie fremd. »Die Mitwirkung unbekannter konstitutioneller Faktoren« und schließlich die »konstitutionelle Bisexualität«8  blieben jedoch nie unerwähnt, wenn Freud eine psychoanalytische Erklärung der Homosexualität unternahm. Indem sich die Psychoanalyse so auf das Biologisch-Konstitutionelle bezog, war die Möglichkeit für eine vorübergehende Annäherung beider Bewegungen und beider Sexualtheorien eröffnet. In seinem Kommentar zu Freuds Arbeit über die Homosexualität Leonardos konnte Hirschfeld 1910 noch ein optimistisches Bild von der Annäherung und künftigen Vereinigung seiner eigenen mit der Freudschen Anschauung zeichnen: »Man kann so die Arbeit der Psychoanalytiker und Sexualbiologen mit der Tätigkeit von Tunnelarbeitern vergleichen, die von zwei Seiten ein Erdmassiv durchgraben. Haben beide die richtige Richtung eingeschlagen, so werden sie ungefähr in der Mitte einander begegnen müssen.«9

 

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Vor 1910 äusserte sich Hirschfeld überhaupt nicht öffentlich zur Psychoanalyse. Die Drei Abhandlungen unterzog Numa Praetorius (Eugen Wilhelm) im Jahrbuch von 1906 einer eingehenden kritischen Würdigung. Numa Praetorius teilte indes uneingeschränkt Hirschfelds theoretischen Standpunkt. Er lobte, dass Freud die Forschung auf »ganz neue Gebiete« ausgedehnt habe und dass damit, »möge man auch mit manchen Schlüssen nicht einverstanden sein, eine für die Analyse einer Anzahl von Sexualvorgängen wertvolle und wohl die bedeutsamste Sexualschrift aus dem Jahre 1905« vorliege.10

     Vor allem Freuds Einwände gegen die Idee vom Angeborensein der Homosexualität erregten Numas Widerspruch. Freud will drei »Klassen« von Homosexuellen unterscheiden, »absolute«, »amphigene« und »okkasionelle«.11  Er behauptet, dass besonders das Vorkommen der dritten Klasse, der Okkasionellen, die nur bei »Unzugänglichkeit des normalen Sexualobjekts« Befriedigung beim eigenen Geschlecht suchen, »schwer mit der Auffassung eines angeborenen Charakters zu vereinen« sei. »Daher die Neigung der Vertreter dieser Ansicht, die Gruppe der absolut Invertierten von allen andern abzulösen, was den Verzicht auf eine allgemein gültige Auffassung der Inversion zur Folge hat. Die Inversion wäre demnach in einer Reihe von Fällen ein angeborener Charakter; in anderen könnte sie auf andere Art entstanden sein.«12 Numa Praetorius erwidert hierauf: »Bisexualität und Angeborensein sind keine Gegensätze, im Gegenteil, denn im Hinblick auf die bisexuelle Uranlage liegt gerade die Annahme des Angeborenseins der Bisexualität sehr nahe, während die okkasionelle Inversion nur eine Unterart der Bisexualität bildet und sich aus der latenten homosexuellen angeborenen Anlage erklärt.«13 Im übrigen sei eine Antwort auf die Frage nach dem Angeborensein amphigener und okkasioneller Inversion in Albert Molls Theorie vom Eingeborensein der Reaktionsfähigkeit auf bestimmte Reize zu finden; Moll werde aber von Freud völlig ignoriert. Die eigentlich neuen und schließlich epochalen Behauptungen, die Freud in seinem Text aufstellt, dass nämlich die Sexualität des Kindes »polymorph-perversen« Charakters sei und der Geschlechtstrieb anfangs unabhängig von seinem Objekt, später erst wie eine »Verlötung« mit diesem sich verbinde, sind für Numa Praetorius »völlig unhaltbar«, denn, so meint er, es sei dann ganz unerklärlich, warum so viele unterschiedliche Sexualcharaktere existieren, obwohl alle Menschen in der Kindheit »den gleichen Einflüssen ausgesetzt« seien – er schreibt tatsächlich, dass »sowohl Heterosexuelle, als Homosexuelle als Perverse den gleichen Einflüssen ausgesetzt sind«!14 Zwar räumt Freud mehrfach ein, dass »die angeborene Verschiedenheit der sexuellen Konstitution« für die Entwicklung eines Menschen wesentlich sein mag, und am Ende bekennt er, wie unbefriedigend seine Theorie sei, weil »wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen der Sexualität besteht, lange nicht genug wissen, um aus unseren vereinzelten Einsichten eine zum Verständnis des Normalen wie des Pathologischen genügende Theorie zu gestalten«,15 doch kann das alles Numa Praetorius nicht beeindrucken; mit dogmatischer Strenge verwirft er Freuds Überlegungen als dem Standpunkt des Angeborenseins abträglich.

     Dennoch findet die völlig neue Konsequenz seine Zustimmung, mit der Freud alle Objektwahl, auch die normalste, als Resultat von Entwicklungsprozessen in Kindheit und Jugend ansieht, und nicht, wie sonst üblich, einer natürlichen, nicht weiter erklärungsbedürftigen Normalität die problematische und wegzutherapierende Homosexualität gegenüberstellt. An der Unterscheidung des Normalen vom Kranken im Geschlechtsleben hält Freud dennoch fest und lässt zumindest offen, wie denn die Invertierten in dieser Zweiteilung unterzubringen seien. Eine so klare Stellungnahme zur Homosexualität wie in dem erwähnten nicht autorisierten Interview in der Wiener Tageszeitung Die Zeit würde man in den Drei Abhandlungen vergeblich suchen. Diese Unbestimmtheit, die sich dann letztlich doch als neue Form der Pathologisierung herausstellen sollte, mag zu dem ablehnenden Endurteil in der Rezension von Numa Praetorius beigetragen haben.

     In der Sitzung der Mittwochs-Gesellschaft, dem Kern und Ausgangspunkt der psychoanalytischen Bewegung, hat Freud am 17. Oktober 1906 lediglich mitgeteilt, dass in Hirschfelds Jahrbuch jene »ausführliche Besprechung der Sexualtheorie« erschienen sei, ohne dass dies kommentiert worden wäre.16

 

* * *

 

Anscheinend gleichzeitig, im Jahre 1896, begann bei den beiden Ärzten Hirschfeld und Freud in Berlin und in Wien die theoretische Auseinandersetzung mit der Homosexualität. Jedenfalls legte Hirschfeld im Sommer 1896 Sappho und Sokrates, seine erste Veröffentlichung über diesen Gegenstand, vor, und Freud schrieb einschlägige Bemerkungen in Briefen an seinen Freund, den Berliner Arzt Wilhelm Fließ: »Die Vermutung geht dahin, dass das eigentlich verdrängende Element stets das Weibliche ist, und wird dadurch bestätigt, dass die Frauen sowohl wie die Männer leichter die Erlebnisse mit Frauen hergeben als mit Männern. Was die Männer eigentlich verdrängen, ist das päderastische Element.«, heißt es in einem Brief vom 25. 5. 1897, und schon am 6. 12. 1896 hatte er geschrieben: »Für die Entscheidung, ob Perversion oder Neurose, helfe ich mir mit der Bisexualität aller Menschen.«17 Das »päderastische Element« und die »Perversionen« werden in diesen frühen Briefen noch nicht weiter unterschieden – erst 1905 wird die Unterscheidung von Perversion und Inversion getroffen – , doch ist hier die Vorstellung wichtig, dass alle Menschen in dem Sinne Bisexuelle sind, dass die anfänglich auf beide Geschlechter gerichteten sexuellen Wünsche im Normalfall durch Verdrängung auf das entgegengesetzte Geschlecht eingeengt werden. Missglückt die Verdrängung der gleichgeschlechtlichen Wünsche, ergeben sie die Grundlage für Hysterie und Neurosen, oder es kommt aus nicht geklärten Gründen zur Inversion. Von einem hereditären Moment, das über Neurose oder Inversion entscheidet, ist in den Briefen an Fließ noch nicht die Rede, klar ist aber schon das Angeborensein der »Bisexualität«. Um so deutlicher betont Hirschfeld von Anfang an, »dass die Anlage jedes Individuums eine zwitterhafte ist und der seelische Drang ursprünglich beide Geschlechter in gleicher Stärke umfasst«, dass ferner der Trieb zum eigenen Geschlecht, der die Urninge charakterisiert, »rudimentär und schwach« bei allen Menschen vorhanden sei.18

     Bei Freud wie bei Hirschfeld wird die Homosexualität auf eine merkwürdig ambivalente Art beschrieben. Hirschfeld beanspruchte, eine »rein biologische, nicht pathologische (krankhafte) Auffassung der Liebe zum eigenen Geschlecht« zu vertreten, und behauptete dennoch, sozusagen im gleichen Atemzug, Homosexualität sei eine »angeborene Missbildung«, die anderen »Hemmungen der Evolution« wie Hasenscharte, Wolfsrachen und Nabelbruch vergleichbar sei; schließlich betonte er immer wieder, Homosexualität sei ein »Fluch der Natur«. Freuds Bestimmungen der Homosexualität sind auf eine verwandte Art zwiespältig und unentschieden. Er behauptet von der Inversion, »dass es sich um Störungen handelt, welche den Geschlechtstrieb in seiner Entwicklung betreffen«, dass ein »Schaden« vorliege und dass in der Inversion wie in jeder fixierten Abirrung vom »normalen« Geschlechtsleben »ein Stück Entwicklungshemmung und Infantilismus« zu erblicken sei.19 Freud und Hirschfeld haben diese Zweideutigkeit im Werturteil über die Homosexualität bis zuletzt bewahrt. Einigen Schülern Freuds war es dann vorbehalten, von dieser Unentschiedenheit ausgehend einen psychoanalytischen Kampf gegen die Störung Homosexualität zu führen; von Hirschfelds Sympathie für die Hodenaustauschoperationen war schon die Rede. Für Freud wie für Hirschfeld war es offenbar unmöglich, sich der geradezu totalitären Macht des herrschenden patriarchalisch-familiären Sexualitätsideals zu entziehen; für Freud nicht, indem er es wie selbstverständlich praktizierte und so gesund und normal wie nur irgend möglich sich mit Ehegattin und zahlreichen Kindern versah; und für Hirschfeld auch nicht, der in der Familienlosigkeit der Homosexuellen nur Unglück und Nachteil sehen konnte.

     Unabhängig von solchen Bewertungsfragen teilten Freud und Hirschfeld die Überzeugung von der bisexuellen Anlage aller Menschen. Hirschfeld hatte diesen Gedanken in der Literatur gefunden; er zitiert in seiner Darstellung »zur Theorie und Geschichte der Bisexualität« Darwin, Ulrichs, Krafft-Ebing und Moll als Vorläufer.20 Freud hingegen hörte diese Idee anscheinend zuerst gesprächsweise von seinem Freund Fließ. In einem Brief an Fließ vom 30. 6. 1896 – die Briefe von Fließ an Freud hat dieser nach dem Ende der Freundschaft vernichtet – finden sich erstmals Andeutungen darüber, dass Fließ an die Bisexualität aller Menschen glaubte, und Jahre später, als die Freundschaft mit Fließ zerbrach und in einem spektakulären öffentlichen Streit endete, teilte Freud ihm mit, dass er ausgehend von der Bisexualitätsidee »bei jedem Neurotiker eine starke homosexuelle Strömung« gefunden habe.21

     Bei diesem Streit, der in den Jahren 1905/06 in der Presse und in mehreren Traktaten zum Austrag kam, ging es um die seltsame Frage nach dem Eigentums- und Prioritätsrecht an der Idee der Bisexualität. Im Mai 1903 war Geschlecht und Charakter, eine prinzipielle Untersuchung des 23-jährigen Wiener Autors Otto Weininger erschienen. Im darauffolgenden Jahr las Fließ dieses Buch und glaubte darin einen Diebstahl seines geistigen Eigentums entdecken zu können.

     Er schrieb an Freud:

»Lieber Sigmund, ein Werk von Weininger ist mir zur Kenntnis gekommen, in dessen erstem, biologischen Teil ich zu meiner Verblüffung die Ausführung von meiner Idee über Bisexualität und die daraus folgende Art der sexuellen Anziehung – weibliche Männer ziehen männliche Frauen an und vice versa – beschrieben finde. Ich ersehe aus einem Zitat dort, dass Weininger Swoboda – Deinen Schüler – gekannt hat (vor der Veröffentlichung von dessen Buch), und höre hier, dass die beiden Männer Intimi waren. Ich habe keinen Zweifel, dass Weininger über Dich zur Kenntnis meiner Ideen gekommen ist und dass von seiner Seite ein Missbrauch mit fremdem Gut getrieben wurde. Was weisst Du darüber? Ich bitte Dich herzlich um ein offenes Wort [. . .]«22
Nach anfänglichem Ausweichen gestand Freud, dass er mit Weininger, der kurz nach Erscheinen seines Buches Selbstmord begangen hatte, persönlich bekannt gewesen war und dass dieser wohl durch den erwähnten Swoboda, einen Patienten Freuds, von der Idee der Bisexualität gehört haben könne. Mit dieser Mitteilung endete die Freundschaft und Korrespondenz zwischen Freud und Fließ im Sommer 1904. Anfang 1906 erschien in Berlin eine Broschüre, von dem Bibliothekar Richard Pfennig verfasst und offenbar von Fließ in Auftrag gegeben, die die Behauptung enthält, »der Wiener Professor der Neurologie Dr. Sigmund Freud, der lange Jahre mit Fließ freundschaftlich verkehrte und von dessen Forschungen bis in alle Details unterrichtet war«, habe zu Weiningers geistigem Diebstahl Beihilfe geleistet.23 Es ist eigentlich nur eine Stelle in Weiningers Buch, die Fließ als sein geistiges Eigentum reklamierte, wo nämlich Weininger die lebenslange Doppelgeschlechtlichkeit aller Menschen, nicht bloß der körperlichen oder seelischen Zwitter, behauptet.24 Der etwas grotesk anmutende Kampf, den Fließ nun gegen Freud zu führen begann und der wohl nur als Spätfolge einer durch Rivalitäts- und Eifersuchtsgefühle in die Brüche gegangenen Männerfreundschaft verstehbar ist, gehört deshalb in den hier interessierenden Zusammenhang, weil Hirschfeld sich an dieser hauptsächlich in der Tagespresse geführten Auseinandersetzung beteiligte und daraufhin in eine persönliche Verbindung zu Freud eintrat.

     Am 7. Januar 1906 schickte Hirschfeld an das Berliner Tageblatt eine Stellungnahme zu dem tags zuvor gemeldeten Fließschen Prioritätsanspruch. Die Redaktion verweigerte jedoch den Abdruck und begründete dies sogar schriftlich: »Derartige die homosexuelle Frage behandelnde Themata können wir in unserem Blatte, das gerade in Familienkreisen sehr gelesen wird, nicht veröffentlichen.«25 Hirschfeld schildert im Monatsbericht den weiteren Verlauf des Streits:

»Inzwischen hatten wir an Prof. Freud geschrieben, von welchem in der Broschüre behauptet wird, dass er die Fließ'schen Entdeckungen an seinen Schüler Swoboda und durch diesen an Weininger weitergegeben habe. Wir gestatteten uns, Prof. Freud darauf hinzuweisen, dass er wohl die gegebene Persönlichkeit sei, in der Streitsache das Wort zu ergreifen. Dieses Schreiben kreuzte sich mit einem Brief von Prof. Freud, aus welchem wir folgende Stelle zitieren: ›Darf ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine Broschüre: Wilhelm Fließ und seine Nachdenker: O. Weininger und H. Swoboda von R. Pfennig, Berlin 1906, lenken? Es ist ein abscheuliches Machwerk, welches unter anderm auch mich mit einer absurden Verdächtigung bedenkt; ich hoffe Sie werden denselben Eindruck empfangen. Allein sachlich handelt es sich in ihr um die Prioritätsfrage in Sachen der Bisexualität. Ich meine, Ihr Jahrbuch wäre der geeignete Boden, auf dem eine unparteilichere Untersuchung und Darstellung der Entwicklung dieses bedeutsamen Gedankens und seiner Modifikationen erwachsen könnte. Ich würde mich sehr freuen, wenn diese Anregung Ihnen anwendbar erschiene. In kollegialer Hochachtung Ihr Dr. Freud.‹

Diesem Schreiben folgte 3 Tage später ein zweites, das auf unsern Brief Bezug nimmt:

›Hochgeehrter Herr Kollege! Unsere Briefe haben sich also gekreuzt, wie ich daraus schließe, dass Sie die Anerkennung der Geschlechtsübergänge erst erwarten, und während ich Ihnen schrieb, dass die von Pfennig aufgeworfene Prioritätsfrage wohl in die Interessen Ihres Jahrbuches falle, dachten Sie daran, dass ich die geeignete Person dazu sei, in dieser Frage das Wort zu ergreifen. Nun bin ich nicht geeignet dazu. Von allen anderen Momenten abgesehen, die mir gegenwärtig solche Arbeit unmöglich machen, tauge ich nicht für sie, weil ich in Folge der bei Fließ-Pf. gegen mich ausgesprochenen Verdächtigungen nicht mehr unparteiisch genug bin. Ich war früher geneigt, Fließ die Priorität wenigstens für eine bestimmte Modifikation des Gedankens der Bisexualität zuzugestehen und war, wie Sie aus dem bei Fließ-Pf. widerrechtlich abgedruckten Brief ersehen können, eigentlich überängstlich bemüht, den Schein, als wollte ich seine Priorität anzweifeln, von mir fern zu halten. Ich sehe es heute schon anders, nämlich ungefähr so, wie Sie es sehen, wie Moebius26 und wie ich selbst, ehe Fließ seinen Anspruch privatim bei mir angemeldet hatte. Ich möchte überhaupt in dieser Angelegenheit das Persönliche vom Sachlichen trennen. Ein persönliches Motiv zur Äusserung erwächst mir aus der Ihnen bekannten Beschuldigung, dass ich Weininger und Swoboda mit unveröffentlichten Fließ'schen Ideen versorgt, natürlich in der Absicht, den wirklichen Urheber zu schädigen. Allein dies ist so absurd, dass es wenige Gläubige finden dürfte. In Wirklichkeit handelt es sich hier um das Hirngespinst eines Ehrgeizigen, dem in seiner Vereinsamung der Maßstab für das was möglich, und für das was erlaubt ist, abhanden kam. Es ist auch garnicht schwer, den harmlosen Sachverhalt aus der in ihren Mitteln ebenfalls verwerflichen Streitschrift selbst zu erkennen. Ich will Ihnen nur zwei Daten herausheben. Wenn es eine Bisex: ›Marke Fließ‹ gibt, so ist es die in der Vorrede zu seinen Beziehungen zwischen Nase und Sexualorg. 1897 laut proklamierte. Meine Bekanntschaft mit Swoboda beginnt im Herbst 1900. Weininger habe ich zum ersten Mal gesehen, als er mir das Manuskript seines Buches vorlegte, und dann noch ein zweites Mal, als ich es ihm mit der ablehnenden Kritik zurückstellte. Es wäre also nicht schwer, die Anklage von Fließ zu widerlegen; aber es ist auch nicht angenehm, einem Menschen, mit dem man 12 Jahre lang intimste Freundschaft gepflogen hat, öffentlich harte Worte sagen zu müssen und ihn zu weiteren Mehrproduktionen zu veranlassen. Und da überdies Dr. Swoboda in seiner Verteidigung den Sachverhalt klarlegen wird, kann es wohl geschehen, dass der Redakteur des ›B[erliner] T[ageblatts]‹ vergebens auf meine Äusserung wartet. Man kann zwar nicht für sich einstehen. Diese meine Äusserung stelle ich Ihnen aber zur beliebigen Verwendung anheim, wenn Sie wie angedeutet die Absicht haben sollten, das Anrecht der Jahrbücher in der Prioritätsfrage öffentlich zu vertreten. Ich erinnere mich, dass ich selbst in der Anmerkung zur ›Sexualtheorie‹ die ›geschlechtliche‹ Auffassung der Bisexualität aus Ihrem Organ herangezogen habe. Ich danke Ihnen für Sappho und Sokrates, welche Schrift mir bereits bekannt war, herzlich. In vorzüglicher Hochachtung Ihr Dr. Freud.‹«27

     Was Fließ betrifft, so hatte er die zwischen Hirschfeld und Freud und auch in Weiningers Buch zur Sprache gebrachte »homosexuelle Frage« eigentlich nie direkt thematisiert. Der Bisexualität »Marke Fließ« geht es vielmehr um eine Art Metabiologie, nach der alle lebenden Organismen in einem postulierten »Soma-Geschlecht« zwei Stoffe oder Substanzen vereinen sollen, die den Ablauf des gesamten Lebens in zwei sich überlagernden Rhythmen von 23 und 28 Tagen bestimmen: Geburt, Tod, Krankheit, Arbeitsleistungen des Menschen und alle anderen Lebensvorgänge sollen von dem Doppelrhythmus dieser Stoffe zeitlich determiniert sein.

     Was Hirschfeld in seinem gegen die Fließschen Ansprüche geschriebenen Buch Vom Wesen der Liebe als »Sexualforschung«28 bezeichnete, interessierte Fließ zu der Zeit überhaupt noch nicht. Er sah sich in der Rolle eines Reformators der Biologie und betonte, dass er nur jenes Soma-Geschlecht erforsche, das allem Lebendigen zukomme und das nicht doppelgeschlechtlich, sondern doppelgeschlechtig sei.29

     Da keiner von denen, die er lautstark des Plagiats oder der Beihilfe dazu bezichtigte, die Fließsche Theorie für sich beanspruchte, und da ferner die Idee von der bisexuellen Anlage aller Menschen schon lange vor Fließ verbreitet war, eine Abgrenzung der Forschungsreviere also ohne weiteres gelang, beruhigte sich die Aufregung recht bald, und später, 1914, begegnen wir Fließ in der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik, die Hirschfeld zu ihren Vorstandsmitgliedern zählte. Er hatte dort einen Vortrag zum Thema »Männlich und Weiblich« gehalten, der im ersten Heft der von der Gesellschaft herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft erschien. Hirschfeld gibt an, dass er mittels Statistik die Fließsche Behauptung bestätigen könne, unter Homosexuellen fänden sich häufiger Linkshänder als unter Heterosexuellen.30 Schließlich finden wir Fließ nach dem Ersten Weltkrieg sogar unter den Unterzeichnern der Petition gegen den § 175.

 

* * *

 

Der WhK-Monatsbericht vom Dezember 1906 enthält folgende Mitteilung: »In Wien ist in diesen Tagen die Gründung eines ›Wissenschaftlich-humanitären Komitees‹ beschlossen, welches für Oesterreich die gleichen Zwecke und Ziele verfolgt, wie das unsrige. Die leitenden Herren sind Dr. Wilh. Stekel, Wien II, Castellezgasse 2, und unser dortiger Vertrauensmann Ingenieur J. Nicoladoni, Wien IV, Heumühlgasse 18, I. – Wir wünschen dem Institut in seinen Bestrebungen, die mit den unseren Hand in Hand gehen, die besten Erfolge.« Bereits am 24. Oktober 1906 war im Protokoll der Freudschen Mittwochs-Gesellschaft vermerkt worden: »Stekel teilt mit, dass auf Anregung Hirschfelds auch in Wien die Gründung eines wissenschaftlich humanitären Komitees zur Bekämpfung des ›homosexuellen‹ Strafgesetzesparagraphen geplant ist«,31 und noch einmal, im Juli 1907, werden »alle österreichischen Freunde unserer Bewegung« aufgefordert, sich zwecks Gründung eines Wiener WhK an den Psychoanalytiker Stekel zu wenden.32 Abgesehen davon, dass diese geplante Gründung wohl niemals stattfand, erhebt sich die Frage, warum nicht Freud, sondern Stekel in Wien Ähnliches leisten wollte wie Hirschfeld in Berlin. Immerhin wird Freud wenigstens einmal, im Mai 1907, mit 20 Mark als Beitragszahler für den Fonds des WhK aufgeführt.33 Auch von Isidor Sadger, einem anderen Arzt in der Mittwochs-Gesellschaft, hätte man die Beteiligung am Wiener WhK erwarten können, da er schon im Dezember 1905 im WhK-Monatsbericht einen Aufruf einrücken ließ, »dass sich Homosexuelle freundlichst bei ihm melden möchten behufs einer wissenschaftlichen Arbeit«.34 Warum es aber gerade Stekel war, der die Gründung eines Wiener WhK betrieb und warum diese Initiative schon bald wieder einschlief, ist unbekannt. Ein Jahr später wird Stekel derjenige in der Mittwochs-Gesellschaft sein, der als erster seine Gegnerschaft zu Hirschfeld äussert. In der Versammlung der Gesellschaft vom 15. 4. 1908 wird der Vorschlag Hirschfelds beraten, gemeinsam einen Fragebogen zu entwickeln; laut Protokoll sprechen sich alle Anwesenden, Freud, Sadger, Adler, Hitschmann, Steiner und Wittels, für die Zusammenarbeit bei der »Erforschung des Geschlechtstriebs« aus – mit einer Ausnahme: »Stekel ist gegen eine Verbindung mit Hirschfeld; aus persönlichen wie aus sachlichen Gründen.«35 Die Gruppe beschließt gegen Stekels Votum die Zusammenarbeit, und sie will bei Gelegenheit der Fragebogenverteilung zum ersten Mal an die Öffentlichkeit treten und sich zu diesem Zweck den Namen »Psychoanalytische Gesellschaft« geben.

     Hirschfeld hatte schon 1899 den Entwurf eines Fragebogens veröffentlicht,36 der der Exploration Homosexueller dienen sollte und der in den folgenden Jahren in mehrfach veränderter Fassung verbreitet wurde. Ein solcher Fragebogen lag der Mittwochs-Gesellschaft in Wien vor, die ihr Mitglied Eduard Hitschmann beauftragte, ihn im psychoanalytischen Sinne umzugestalten. Man diskutierte Hitschmanns Entwurf in der darauffolgenden Sitzung. Im Protokoll heißt es dazu: »Prof. Freud meint, dass im allgemeinen Fragebogen das Homosexuelle nur nebenbei erwähnt werden solle; denen, die sich dann als homosexuell erweisen, könne man dann einen zweiten Bogen schicken. – Er werde mit Verwertung der empfangenen Anregungen den Bogen selbst ausarbeiten.«37 Anscheinend ist es dazu nicht gekommen. Hirschfeld veröffentlichte stattdessen im Dezember 1908 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft unter dem Titel »Psychoanalytischer Fragebogen« eine nur wenig veränderte Fassung seines bisherigen Fragebogens. In einer Anmerkung dankt er mehreren Kollegen, die sich an der Ausarbeitung beteiligt haben, darunter die drei Psychoanalytiker Karl Abraham, Heinrich Koerber und Fülöp Stein.38  Diese Version erschien 1909 separat gedruckt,39 und wird mehrfach erwähnt im Briefwechsel zwischen Freud und Carl Gustav Jung, wobei Jung scharf und aggressiv die Zusammenarbeit mit Hirschfeld rügt, während Freud eher mäßigend auf Jung einzuwirken versucht.

     Jung schreibt an Freud am 12. Mai 1909: »Der ›psychoanalytische Fragebogen‹ ist schändlicherweise eine Tatsache, die ich jetzt mit eigenen Augen sehe. Ein ganz blödsinniges Machwerk, das Hirschfeld keine Ehre macht. Die Schändung des Wortes ›psychoanalytisch‹ finde ich unverzeihlich. Dass Abraham und Stein bei diesem traurigen Elaborat mitzeichnen, ist mindestens sehr bedauerlich. Ich hätte Lust zu protestieren, denn das ist doch eine unverschämte Irreführung des Publikums. In Zürich ist man allgemein gelinde entsetzt.«40 Zwei Wochen später schreibt er an Freud: »Ihr letzter Brief klang etwas ärgerlich, offenbar meines Affektes wegen, den ich über den unglücklichen Fragebogen ausgegossen habe.«41 In einem Punkt hatte Jung mit seiner Wut recht: Mit Psychoanalyse hatte der Fragebogen tatsächlich kaum etwas zu tun. Dennoch konnte er das Interesse der ärztlichen Psychoanalytiker auf sich ziehen, weil er unter anderem als eine Art anamnestisches Hilfsmittel bei der analytischen Kur brauchbar schien. Ob er wirklich angewendet wurde, wissen wir heute nicht, da die Papiere der Psychoanalytiker, soweit sie derzeit öffentlich zugänglich sind, hierzu nichts verlauten lassen. Hirschfeld ließ seinen Fragebogen 1915 in vierter Auflage erneut drucken, doch trug er jetzt einen Namen, der den Intentionen seines Autors besser entsprach: Psychobiologischer Fragebogen, herausgegeben und mit namhaften Seelenforschern ausgearbeitet von Dr. Magnus Hirschfeld.

     Im Frühjahr 1908 kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Hirschfeld und Freud. Hirschfeld machte auf der Reise nach Italien Zwischenstation in Wien, um Freud zu besuchen. Freud berichtet seinem Freund Jung darüber: »Magnus Hirschfeld war vor einigen Wochen hier zu Besuch; er sieht gutmütig und ungeschickt aus, ist offenbar eine ehrliche Haut. Hat sich angefreundet und wird unserem Gesichtspunkt fortan möglichst Rechnung tragen.«42 In dem Wort »möglichst« äussert sich ein nicht gerade unbegründeter Vorbehalt, denn die Rolle, die der angeborenen Konstitution bei der sexuellen Orientierung zukommt, wurde in Wien und Berlin recht konträr beurteilt, doch ging es zunächst um die freundschaftliche Kooperation zweier Bewegungen mit verwandten sexualpolitischen Zielen.

     Diese Kooperation bestand im Jahre 1908 in der Beteiligung führender Männer der psychoanalytischen Bewegung an Hirschfelds neuem Projekt, der Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Gleich im ersten Heft war der Meister selbst mit einem Aufsatz »Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität« vertreten.43 Das Thema war klug und wohlüberlegt gewählt, knüpft es doch an Freuds und Hirschfelds gemeinsames Engagement in der Bisexualitätsfrage an und behandelt zudem einen Aspekt, der Hirschfelds Zustimmung finden konnte, die Beobachtung, das Psychoneurotiker beiderlei Geschlechts in ihren hysterischen Phantasien und Handlungen verdrängte homo- und heterosexuelle Wünsche symbolisch zum Ausdruck bringen.    

     Isidor Sadger, einer der frühesten Mitarbeiter Freuds in Wien, vertritt in seinen Aufsätzen in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft und etwa gleichzeitig in Hirschfelds Jahrbuch die strittige Schlussfolgerung aus der psychoanalytischen Homosexualitätslehre, die davon ausgeht, dass Homosexualität nicht angeboren sei und der konstitutionelle Faktor nicht entscheidend sei, so dass mittels Psychoanalyse ein Homosexueller in einen Heterosexuellen verwandelt werden könne. Sadger war damals unter den Psychoanalytikern sozusagen der Spezialist für die Behandlung der Homosexuellen. Freud erwähnt ihn in späteren Auflagen seiner Drei Abhandlungen als einzigen, dessen Untersuchungen an Invertierten mit seinen eigenen übereinstimmten. Die militante und durchaus missionsartige Manier war neu, mit der Sadger den Anspruch auf Heilung der Krankheit Homosexualität vortrug; Psychoanalyse sei nachgerade die einzige wirksame Methode, um aus unglücklichen kranken Homosexuellen zufriedene und gesunde Heterosexuelle zu machen. So berichtet er von einem 21jährigen homosexuellen Patienten, der »nach viermonatlicher Behandlung überhaupt nur mehr für das Weib empfand und fortab regelmäßig den Beischlaf mit demselben ausübte, ohne Mahnung meinerseits, einfach aus innerer Nötigung heraus.«44 Zudem behauptet er, dass »mir sowohl wie Professor Freud noch weitere Heilungen Invertierter gelangen.«45 Die »Heilung« habe zur Voraussetzung, dass der Patient den ehrlichen und starken Wunsch habe, heterosexuell zu werden. Ist dieser Wunsch vorhanden, gelinge die Umkehrung jedenfalls. Sadger konnte damit an eine etwas verhaltenere Formulierung Freuds in seinen Drei Abhandlungen anknüpfen, wo es von der Inversion heißt, sie sei dann der »Beeinflussbarkeit durch Suggestivbehandlung oder Psychoanalyse« zugänglich, wenn der Invertierte seinen Sex als »krankhaften Zwang« empfinde.46

     Wiederum nimmt Hirschfeld hier eine merkwürdig entgegenkommende Haltung ein und billigt sowohl den heilungswütigen Analytikern wie den nach Normalität verlangenden Schwulen die Berechtigung ihrer Ziele zu. Homosexualität als »Fluch der Natur« – das war eine wichtige Facette in dem Bild Hirschfelds und vieler anderer Schwuler von ihrem Geschlechtsleben; die Psychoanalytiker konnten ähnlich wie vorher Moll47 und später Steinach mit ihren Heilungsversprechen an solche negativen Selbstbilder anknüpfen. In der Vorbemerkung zu Sadgers Aufsätzen schreibt Hirschfeld: »Da vielen der Homosexuellen der gewiss berechtigte Wunsch innewohnt, heterosexuell zu empfinden, müssen wir jedem Arzt dankbar sein, der neue Behandlungsmöglichkeiten aufweist. Nachdem die hypnotische Behandlung die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat, bemühen sich seit einiger Zeit Prof. Dr. Freud-Wien und seine Schüler, unter denen der Herr Verfasser obiger Arbeit eine hervorragende Stellung einnimmt, mittels der Psychoanalyse gegen die Homosexualität therapeutisch vorzugehen. Noch ist es natürlich nicht möglich, ein abschließendes Urteil über das neue Verfahren zu fällen, doch wollen wir nicht unterlassen, die Ärzte und die Homosexuellen auf Freuds analytische Methode hinzuweisen, die jedenfalls den Sexualstatus wesentlich tiefer und gründlicher angreift, wie die Hypnose.«48

     Höchstwahrscheinlich liegt den Therapie-Experimenten, die Freud und Sadger mit Homosexuellen anstellten, auch ein ehrliches Mitgefühl mit leidenden Urningen zugrunde. »Bedenkt man jedoch«, schreibt Sadger, »wie ungeheuer groß die Zahl der Selbstmorde unter Urningen ist, von welchen nur ein geringer Teil der Erpressung zur Last fällt und den Strafparagraphen, so kann ich nicht anders, als diesen Zustand entsetzlich zu finden.«49 Das psychische Elend vieler Urninge in der autoritären, militaristischen und von starren patriarchalischen Zwängen und Normen deformierten Gesellschaft des kaiserlichen Deutschland war sicher immens und die Lebenschancen für sexuelle Außenseiter minimal, so dass der Wunsch nach Anpassung an die Normalität, an die Wonnen der Gewöhnlichkeit oft genau so verständlich wie vergeblich gewesen sein wird.

 

* * *

 

Der Berliner Arzt Karl Abraham spielte seit 1907 die Rolle, die Hirschfeld nicht übernehmen konnte: Er war der Repräsentant der Psychoanalyse in Berlin. Wir wissen nicht, wie die Verbindung zwischen Abraham und Hirschfeld zustande kam – vermutlich durch Vermittlung Freuds oder durch das gemeinsame Interesse an der Antialkoholbewegung. Jedenfalls schrieb Abraham am 11. Mai 1908 an Freud: »Dr. Hirschfeld habe ich besucht und einen Eindruck empfangen, der weit besser ist als sein Ruf. Er bat mich u. a. bei der Umarbeitung eines Fragebogens mitzuarbeiten, den er auch Ihnen vorgelegt habe. Einige Tage nach meinem Besuch schickte er mir einen Homosexuellen zur Psychoanalyse zu.«50 Dieser Homosexuelle war wohl einer von denen, deren Wunsch nach Heterosexualität Hirschfeld für »gewiss berechtigt« hielt. Wir erfahren noch mehr über ihn in Abrahams Brief vom 19. Mai: »Die Analyse bei dem Homosexuellen geht ziemlich gut vorwärts und hat deutlichen Erfolg. Ob ich es freilich dahinbringe, dass er in der Ehe potent wird, ist mir zweifelhaft. Er ist bereits 40 Jahre alt und 8 Jahre verheiratet.«51 Hirschfeld überwies noch mehrere Urninge an Abraham, wie aus den bisher zur Veröffentlichung freigegebenen Teilen der Korrespondenz zwischen Abraham und Freud hervorgeht, nie aber ist von dem die Rede, was der großsprecherische Sadger behauptet: Verwandlung eines Urnings in einen Heterosexuellen mittels Psychoanalyse.

     Die Frage, ob solche Anstrengungen zur Beseitigung der Homosexualität seitens der Analytiker überhaupt moralisch zu rechtfertigen sind, ob der Hinweis auf die vielen Selbstmorde dafür ausreicht, stellte niemand in jener Zeit der Annäherung zwischen psychoanalytischer und schwuler Bewegung. Auch Hirschfelds Kritiker in den eigenen Reihen thematisierten dieses Problem nicht, und wenn sich später Skrupel im psychoanalytischen Lager zeigten, so waren das allenfalls skeptische und resignative Stimmen, die zu bedenken gaben, dass man sich mit dem anfänglichen Optimismus betreffs einer »Heilung« wohl geirrt hatte. Freud selbst scheint später im Gegensatz zu vielen seiner Schüler und Schülerinnen und vor allem im Gegensatz zu den geradezu hochstaplerisch heilungsoptimistischen Dissidenten Stekel, Adler, Schultz-Hencke usw. eine realistischere Sicht gewonnen zu haben. Sie kommt beispielhaft in einem Brief an die Mutter eines amerikanischen Homosexuellen zum Ausdruck, die sich nach den Chancen für eine »Heilung« ihres Sohnes erkundigt hatte: »In einer gewissen Anzahl von Fällen gelingt es uns, die verkümmerten Keime der heterosexuellen Tendenzen, die ja in allen Homosexuellen vorhanden sind, zu entwickeln, in der Mehrzahl der Fälle ist dies nicht mehr möglich. Es ist eine Frage der Charakterbeschaffenheit und des Alters der betreffenden Person.« Obwohl Freud in diesem Brief fast wie in jenem Interview von 1905 die Anwendung des Wortes »Krankheit« ablehnt (». . . kann nicht als Krankheit bezeichnet werden«), stellt er doch die Umwandlung in einen Heterosexuellen als Behandlungsziel nicht in Frage, im Gegenteil, nur ist er aufrichtig genug, einzugestehen, dass die Analyse in der Mehrzahl der Fälle vor ihrem eigenen Anspruch versagt, »gewisse Stockungen der sexuellen Entwicklung«, die die Homosexualität hervorrufen sollen, zu korrigieren.52

     Mit einiger Berechtigung lässt sich behaupten, dass das Jahr 1908 für die psychoanalytische wie für die homosexuelle Bewegung einen entscheidenden Wendepunkt markiert. Während sich das WhK und mit ihm die gesamte Homosexuellenbewegung von ihrer »schwersten Krise« infolge der Eulenburg-Prozesse nicht mehr erholen sollte und es mit der stetigen Aufwärtsentwicklung der ersten zehn Jahre vorbei war, begann für die Psychoanalytiker der Durchbruch zu fester internationaler Organisation und weltweiter Anerkennung. Natürlich gab es für die Schwulenbewegung in den folgenden 25 Jahren, die ihr bis 1933, dem Beginn der Naziherrschaft, noch blieben, durchaus Erfolge und Glanzpunkte, doch überwogen deutlich die Rückschläge; Krisen und Niederlagen häuften sich, so dass trotz einer gewissen populären Breitenwirkung in der Weimarer Republik eine Tendenz zum Niedergang, verstärkt durch Weltkrieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise, sich immer deutlicher durchsetzte. Die Psychoanalytiker verzeichneten trotz interner Krisen, wie den Abgängen Adlers, Jungs und Stekels, die je eine Sezessions- und Konkurrenzbewegung organisierten, einen ungebrochenen Siegeszug, den nicht einmal die Nazis beeinträchtigen konnten, da die Psychoanalyse im Gegensatz zur Schwulenbewegung 1933 längst international tätig und fest etabliert war und sogar in Nazi-Deutschland dank einer geschickten Anpassungsstrategie überdauern konnte.53

     Am 27. April 1908 fand in Salzburg der erste Kongress der Psychoanalytiker statt. Bald darauf, am 21. August, konnte Abraham an Freud schreiben: »Lieber Herr Professor, es geht nun vorwärts! Am 27. wird die Berliner Psychoanalytische Vereinigung zum ersten Male tagen. Folgende Herren (nur Ärzte) werden zunächst teilnehmen: Hirschfeld, Iwan Bloch, Juliusburger und Körber (Vorsitzender des Monistenbundes).«54  Über die Tätigkeit dieser Berliner Gruppe – nach der 1907 in Zürich gegründeten war sie die zweite außerhalb Wiens – in den ersten Jahren wissen wir kaum etwas; Abraham scheint zunächst der einzige praktizierende Analytiker in der Gruppe gewesen zu sein. Erst seit 1910, als die Internationale Psychoanalytische Vereinigung entstand und die nun so genannte »Ortsgruppe Berlin« im Correspondenzblatt dieser Internationale über ihre Sitzungen berichtete, hat Hirschfeld dort mehr oder weniger regelmäßig referiert, so am 31. 8. 1910 »Über die Symbolik im Fetischismus« und am 5. 1. 1911 über »Psychologisches über einen Sohn aus einem Inzestverhältnis von Vater und Tochter«.55 Ende März 1910 kam es in Nürnberg zu einer zweiten Begegnung zwischen Hirschfeld und Freud. Dort fand der zweite Kongress der Psychoanalytiker statt, bei dem am bemerkenswertesten, wenigstens aus der Sicht der Berliner Teilnehmer, die harmonische Stimmung war, wohl eine Art Gründungseuphorie, da man sich jetzt als »Internationale Vereinigung« konstituierte. Abraham schreibt hinterher, am 28. April, an Freud: »Lieber Herr Professor, ich nehme an, dass Sie von Nürnberg voll befriedigt zurückgekehrt sind. Mir selbst war die größte Freude die Stimmung, in der alle Teilnehmer den Kongress verließen. Ich fuhr mit Eitingon, Hirschfeld und Körber zurück, und wir hörten während der neunstündigen Fahrt nicht einen Moment auf, von den Eindrücken zu reden.«56

     Im Mai des gleichen Jahres erscheint Freuds Broschüre Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in der, ohne jedoch Hirschfeld beim Namen zu nennen, die Polemik gegen ihn, einen der »theoretischen Wortführer« der homosexuellen Männer, eröffnet wird:

»Die homosexuellen Männer, die in unseren Tagen eine energische Aktion gegen die gesetzliche Einschränkung ihrer Sexualbetätigung unternommen haben, lieben es, sich durch ihre theoretischen Wortführer als eine von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischenstufen, als ein ›drittes Geschlecht‹ hinstellen zu lassen. Sie seien Männer, denen organische Bedingungen vom Keime an das Wohlgefallen am Manne aufgenötigt, das am Weibe versagt hätten. So gerne man nun aus humanen Rücksichten ihre Forderungen unterschreibt, so zurückhaltend darf man gegen ihre Theorien sein, die ohne Berücksichtigung der psychischen Genese der Homosexualität aufgestellt worden sind. Die Psychoanalyse bietet die Mittel, diese Lücke auszufüllen und die Behauptungen der Homosexuellen der Probe zu unterziehen. Sie hat dieser Aufgabe erst bei einer geringen Anzahl von Personen genügen können, aber alle bisher vorgenommenen Untersuchungen brachten das nämliche überraschende Ergebnis. Bei allen unseren homosexuellen Männern gab es in der ersten, vom Individuum später vergessenen Kindheit eine sehr intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel an die Mutter, hervorgerufen oder begünstigt durch die Überzärtlichkeit der Mutter selbst, ferner unterstützt durch ein Zurücktreten des Vaters im kindlichen Leben. Sadger hebt hervor, dass die Mütter seiner homosexuellen Patienten häufig Mannweiber waren, Frauen mit energischen Charakterzügen, die den Vater aus der ihm gebührenden [!] Stellung drängen konnten; ich habe gelegentlich das gleiche gesehen, aber stärkeren Eindruck von jenen Fällen empfangen, in denen der Vater von Anfang an fehlte oder frühzeitig wegfiel, so dass der Knabe dem weiblichen Einfluss preisgegeben war. Sieht es doch fast so aus, als ob das Vorhandensein eines starken Vaters dem Sohne die richtige [!] Entscheidung in der Objektwahl für das entgegengesetzte Geschlecht versichern würde.«57

     Im folgenden Jahrzehnt wiederholt Freud die hier erstmals formulierte Zurückweisung der Hirschfeldschen Auffassung noch mehrmals.58 Hirschfeld verhält sich zunächst abwartend und zurückhaltend. Sein erwähnter Kommentar zu Freuds Leonardo-Aufsatz besteht fast nur aus zusammengestellten Zitaten aus dieser Schrift, wobei er neben der Kritik an den sexuellen Zwischenstufen jene Stellen hervorhebt, wo Freud etwas undeutlich und schwankend die Abgrenzung seiner Psychologie von der Biologie vornimmt und von der Beteiligung konstitutioneller Faktoren und einer organischen Grundlage der Homosexualität spricht.

     Zum Eklat kam es erst im darauffolgenden Jahr auf dem 3. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Weimar. Hirschfeld nahm wiederum teil, und Sandor Ferenczi, einer der Vortragsredner, stellte eine höchst merkwürdige Anerkennung der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre vor. Ferenczi berichtete von mehreren homosexuellen Patienten, die er einer Analyse unterzogen hatte und unter denen er manche als »eine wahre ›sexuelle Zwischenstufe‹ im Sinne von Magnus Hirschfeld und seiner Anhänger« zu erkennen glaubte.59 Er schlägt vor, die homosexuellen Männer in zwei Gruppen einzuteilen, in solche wahren Zwischenstufen, »echte Invertierte«, »Subjekt-Homoerotiker«, die sich in allen Beziehungen des Lebens als Weib fühlen, und andererseits in »Objekt-Homoerotiker«, die in jeder Hinsicht ein Mann sind und nur das Liebesobjekt des Mannes gegen ein gleichgeschlechtliches vertauscht haben. »Zwei im Wesen verschiedene Krankheitszustände« würden so repräsentiert, von denen die wahre sexuelle Zwischenstufe »als ein durch die Analyse (oder überhaupt durch irgendeine Art von Psychotherapie) nicht heilbarer Zustand anzusehen« sei. Die anderen, die Objekt-Homoerotiker seien hingegen allesamt »Zwangsneurotiker«, die Ferenczi, obwohl er selbst noch keinen zum Heterosexuellen umanalysiert habe, für ebenso heilbar hält wie andere Zwangsneurotiker auch. Es ist klar, dass diese überraschende Entdeckung sexueller Zwischenstufen durch die Psychoanalyse – der Freud später durchaus zustimmen wird60 – für Hirschfeld nicht akzeptierbar sein konnte, nicht nur, weil hier wieder einmal alle »Homoerotiker« zu Kranken mit unterschiedlichen Heilungschancen gestempelt werden, sondern weil Ferenczi sich zudem über die Objekt-Homoerotiker als »soziale Erscheinung« auslässt. Er sieht ihre Zahl wachsen, ein »Umsichgreifen der Objekt-Homoerotik«, ein steigendes »Überhandnehmen«, was mit der »zu stark übertriebene[n] Verdrängung der homoerotischen Komponente durch die Kulturmenschheit« zusammenhängen soll. Freud hatte übrigens schon 1908 angedeutet, dass auch er eine zunehmende »Ausbreitung homosexueller Befriedigung« befürchte.61

     Ob sich Hirschfeld auf dem Weimarer Kongress mit Ferenczis Ansichten auseinandersetzte, wissen wir nicht. Der Eklat bestand in einem verbalen öffentlichen Angriff Jungs auf Hirschfeld, der derart beleidigend gewesen sein muss, dass Hirschfeld ihn zum Anlass nahm, um aus der Psychoanalytischen Vereinigung auszutreten. Jones gibt zwar in seiner Freud-Biografie an, dass Hirschfeld aus Protest gegen eine beschlossene Erhöhung des Mitgliedsbeitrags ausgetreten sei,62 dem widersprechen aber je ein Brief Abrahams und Freuds. Am 29. 10. 1911 schreibt Abraham an Freud:

»Lieber Herr Professor, seit Weimar habe ich nichts von mir hören lassen. Aus der Einlage ersehen Sie, dass es inzwischen in unserer Ortsgruppe einen Konflikt gegeben hat. Hirschfeld hat seinen Austritt erklärt und ist bei diesem Entschluss trotz guten Zuredens geblieben. Auf seinen Wunsch sende ich Ihnen seinen Brief mit. Es handelt sich um Widerstände, die sich an einen äusseren Anlass knüpfen (Jungs Verhalten ihm gegenüber), aber keineswegs erst dadurch entstanden sind. In einer langen Mitgliedersitzung, in der wir über Weimar sprachen, legte er eine Unkenntnis in bezug auf die Psychoanalyse an den Tag, die geradezu erschreckend war. Ihn hat ja ganz anderes zu uns geführt. Tatsächlich ist es wohl nur die Hervorhebung des Sexuellen gewesen, die ihm die Analyse sympathisch machte, besonders in einer Zeit, da er wegen seiner Sexualforschungen angefeindet wurde.«63

     Drei Tage später teilte Freud diese Neuigkeit seinem Freunde Jung mit:

»In Berlin hat sich Magnus Hirschfeld aus unseren Reihen entfernt. Kaum ein Schaden, er ist so ein pulpöser unappetitlicher Kerl und schien nicht imstande, etwas zu lernen. Natürlich schiebt er die Bemerkung auf dem Kongress von Ihrer Seite vor; homosexuelle Gekränktheit. Keine Träne nachweinen!«64

     An mehreren Stellen in den Briefen Jungs kommt zum Ausdruck, dass er an nur schwer zu kontrollierenden Hassgefühlen gegenüber Homosexuellen litt. Nicht nur seine bereits zitierte Reaktion auf Hirschfelds Fragebogen zeigt ein Maß an feindseligem Gefühlsaufwand, das durch den Sachgehalt der Kritik allein nicht verständlich ist. »Er ist, wie alle Homosexuellen, keine Freude«, schrieb Jung beispielsweise über den ihm persönlich bekannten homosexuellen Arzt Lucien von Römer, den er als »Häuptling der Homosexuellen, der holländische Hirschfeld« apostrophierte.65 Letztlich haben aber Jungs Ausfälle gegen Hirschfeld wirklich nur »einen äusseren Anlass«, wenn auch sicher keinen nur zufälligen, für die Zuspitzung eines Sachverhalts geliefert, der sich früher oder später ohnehin offenbart hätte: die Unmöglichkeit eines Arrangements zwischen der psychoanalytischen und der Schwulenbewegung. Denn das, was Hirschfeld mit seiner biologischen Konzeption gelang, der Homosexualität einen moralisch gleichrangigen Status neben der Heterosexualität zuzuweisen, musste für die Analytiker, die an einer medizinischen und implizit moralischen Hierarchie der Sexualitäten festhielten und heterosexuelle Monogamie als obersten Wert seelischer Gesundheit betrachten, ganz unannehmbar bleiben. Die Homosexualität konnte ihnen immer nur als nicht »weltordnungsmäßig« (Ferenczi zitiert den Senatspräsidenten Schreber) erscheinen.

 

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Als den »Versuch, eine Brücke zu schlagen« zwischen der Lehre Freuds und der vom Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen repräsentierten, stellte Hirschfeld in seinem Jahrbuch von 1913 den Aufsatz Die drei Grundformen der Homosexualität des Berliner Schriftstellers Hans Blüher vor.66 Tatsächlich brachte Blüher darin seine vollständige Zustimmung zur psychoanalytischen Theorie zum Ausdruck und begründete zugleich seinen Widerspruch zu ihr in einem »sexuologischen Problem, gewisse Werturteile und Ableitungsformeln zur Inversion betreffend«. Sehr ähnlich wie Ferenczi – dessen Arbeit er damals wohl kaum kennen konnte – konstruiert Blüher Typen von Homosexuellen, den »Männerhelden« und den »Weibling«, Bezeichnungen, die er Homosexualitätstheorien des 19. Jahrhunderts, den Schriften Gustav Jägers und Karl Heinrich Ulrichs', entnimmt und die ziemlich genau Ferenczis Subjekt- und Objekt-Homoerotikern entsprechen. Das Werturteil Blühers ist aber konträr zu dem Ferenczis, der ja nur zwei unterschiedliche »Krankheitszustände« sehen will. Blühers »Männerheld« ist wie der »Weibling« weder zwangsneurotisch noch sonstwie pathologisch, sondern es liege eine »angeborene Triebrichtung«67 vor, die den Männerhelden nach dem »Musterbeispiel Sokrates«68 organisiere. Der Männerheld soll der ideale Erzieher junger Männer sein, die ihn aufgrund allgemeiner Bisexualität lieben, so dass er seine »sexuellen Wünsche immer von neuem wieder durchzusetzen« vermag, nichts entbehrt und deshalb auch nie in den Gesichtskreis der Psychoanalyse tritt. Freud beharrte dennoch in einem Brief an Blüher, den dieser zitiert, auf seiner Überzeugung, dass bei den Invertierten mit ihrer »Impotenz gegen das Weib« allemal Pathologisches vorliege: »Ich kann sie nicht voll normal nehmen, da sich das Stück Entwicklungshemmung in ihren Bedingungen leicht aufzeigen lässt.«69 Nicht voll normal und deshalb durch Psychoanalyse zu kurieren sind für Blüher die Invertierten der dritten Art, die »Latent-Invertierten«, Verfolgungstypen, von denen Freud die Extremform des Paranoikers in der Person des sächsischen Senatspräsidenten Schreber beschrieben hat. Unmittelbar vor seinem Aufsatz in Hirschfelds Jahrbuch erschien in Freuds Zeitschrift Imago Blühers Aufsatz über einen solchen LatentInvertierten, Niels Lyhne, einen Romanhelden des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen, und etwa gleichzeitig versuchte er in seiner Broschüre Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen die reale Existenz seiner Typologie am Beispiel dieser Jugendorganisation zu demonstrieren.

     Blühers Doppelbeziehung zu Hirschfeld und Freud war nur von kurzer Dauer. Zuerst trennte er sich von Hirschfeld und fügte der 1914 erscheinenden zweiten Auflage seiner Wandervogelbroschüre eine Art Abrechnung mit dem WhK bei, in deren recht grobe Anwürfe sich schon erste antisemitische Töne mischen, die dann in Blühers späteren Schriften vorherrschend werden. Der »jüdisch-liberalen Kulturanschauung« sind schon hier alle Mängel geschuldet, die Blüher an der Gruppe um Hirschfeld festgestellt haben will, ferner sei sie, was damit zusammenhängt, von »Rassenentartung durch eine überstarke Begabung an weiblicher Substanz gekennzeichnet«.70

     Numa Praetorius, der in Hirschfelds Jahrbuch als erster die Auseinandersetzung mit der Freudschen Sexualtheorie aufgenommen hatte, legte nun im Jahrbuch von 1914 auch eine Kritik der Blüherschen Theorie vor, deutlich betonend, dass hier keineswegs eine »Brücke« zwischen Freud und Hirschfeld geschlagen werde, sondern dass sich hier letztlich inkommensurable Ansichten gegenüberstehen. Dies habe seinen Grund, bemerkt Numa Praetorius zutreffend, in Blühers Begriff der Sexualität. Zum einen bestehe nahe Verwandtschaft zu Freuds Sexualitätskonzept, indem Sexualität nicht auf Genitalität reduziert werde; in seiner Kritik an Freud behaupte Blüher aber nicht nur die nicht-pathologische Gleichgeschlechtlichkeit, vielmehr glaube er darüber hinaus, einen entsprechenden Gedanken Gustav Jägers und Benedict Friedlaenders aufgreifend, dass seine invertierten Männerhelden die entscheidende Rolle beim Aufbau eines gesellschaftlichen Gebildes wie des Wandervogels oder der englischen Boy Scouts spielten; die griechische Antike, etwa Sokrates, solle dies ebenfalls beweisen. An diesem Punkt besteht Numa Praetorius auf der strengen Unterscheidung zwischen Freundschaft und grobsinnlicher Geschlechtlichkeit und kritisiert bei Blüher den Hang zur Schönfärberei: »Nur muss ich den Einwand erheben, dass Blüher in optimistischer Schwärmerei diesen sog. Männerhelden in Wesen, Charakter und Wirkung auf die geliebte Jugend allzu schönfärberisch schildert.«71

     Bald nach dem Bruch mit Hirschfeld scheint es auch zur Trennung von der psychoanalytischen Bewegung gekommen zu sein, denn Blühers zahlreiche Beiträge zu den Publikationsorganen der Psychoanalytiker erscheinen alle vor 1916, dann nicht mehr. 1917 begründete er seine Ansichten von Inversion und Männerheldentum umfassend in Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, einem Werk, das in dem spektakulären Aufsehen, das es seinerzeit hervorrief, am ehesten mit Weiningers Geschlecht und Charakter vergleichbar ist; der Männerheld ist nun nicht mehr nur die entscheidende Figur bei Wandervogel und Boy Scouts, ohne ihn würde es keine Ritterorden und Kirchen geben, und selbst der Staat funktioniert nur, weil invertierte Männerhelden in ihm am Werk sind.

     In der Internationalen Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse rezensiert M. J. Eisler 1920 Blühers Buch und sieht die Unvereinbarkeit zwischen Freud und Blüher in der generellen psychoanalytischen Auffassung der Homosexualität als einer Neurose. Damit war der Bruch mit der psychoanalytischen Bewegung noch einmal bekräftigt, und Blüher setzte seinen Weg als antisemitischer Schriftsteller, bald auch frommer Christ und Psychotherapeut nach einer selbst geschaffenen Behandlungsmethode jenseits von Psychoanalyse und Schwulenbewegung fort.72

 

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Nach dem Verlassen der psychoanalytischen Bewegung beginnt Hirschfeld seine Kritik an der Theorie Freuds zu formulieren. Zunächst 1912 in dem Buch Naturgesetze der Liebe, wo er – wie schon zuvor Numa Praetorius – den weitgefassten Sexualitätsbegriff Freuds ablehnt.73 Er nimmt dabei gewisse Unentschiedenheiten in seinem eigenen Begriff in Kauf, etwa wenn es ihm völlig abwegig erscheint, Sexualität von Kleinkindern anzunehmen, die sich bei Nahrungsaufnahme, Darmentleerung, Onanie und in der Beziehung zu Pflegepersonen äussern soll, er sich aber andererseits ein »urnisches Kind« vorstellen kann, bei dem allein der »Habitus« die spätere Homosexualität ankündigen soll, das aber nur »Keime« des Sexuellen an sich habe: »Wir können Freud folgen, wenn er in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie meint, ›dass der Prozess der Objektfindung im Kinderleben bereits vorgebildet sei‹, ferner, dass ›das Kind Keime von sexuellen Regungen mit zur Welt bringt‹, wenn er von ›infantilen‹, zur Pubertät aufgefrischten Andeutungen sexueller Neigungen des Kindes spricht. Aber es sind doch eben nur ›Keime‹, Andeutungen, leise Regungen in dem bis zur Reife im Latenzzustand befindlichen Sexualzentrum.«74

     Hirschfelds Sorge scheint bei seiner Kritik zu sein, dass sich die Unterschiede zwischen den Gefühlsarten verwischen, dass die Liebe zwischen Mutter und Kind als dasselbe angesehen wird wie der inzestuöse Koitus oder die Sympathie zwischen befreundeten Männern, als dasselbe wie mutuelle Masturbation. Dass aber Freuds Gleichsetzung in dem Begriff der Libido das Festhalten an Unterschieden gar nicht ausschließt, dass genitale Praktiken und nichtgenitale Sympathie bei aller inneren Verwandtschaft keineswegs als identisch zu setzen sind, war für Hirschfeld nie wirklich nachvollziehbar. Er selbst hatte den Begriff des Sexuellen niemals auf grobsinnliche Handlungen und Wünsche eingeschränkt. Nicht nur in seinem Gerichtsgutachten über den Stadtkommandanten Kuno von Moltke gibt es »Homosexuelle, deren Liebe einen ausgesprochen seelischen, ideellen, ›platonischen‹ Charakter trägt«. Er akzeptiert ebenso Freuds Konzept der Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten, dass sich also »unter der Ablehnung eines Geschlechts verdrängte Anlehnung, unter Abneigung unterdrückte Zuneigung verbirgt«.75 So unternimmt er mit seinem Konzept der »Keime« beim urnischen Kind, der ideellen Liebe bei Homosexuellen und der »verdrängten Anlehnung« eine Ausweitung des Begriffs des Sexuellen über die konventionellen Vorstellungen hinaus in die Nähe Freudscher Ideen.

     Letztlich geht es Hirschfeld bei seiner Kritik der Psychoanalyse um die Abwehr von auch nur behutsamen Einwänden gegen seine eigene Idee des Angeborenseins sexueller Objektwahl. Freuds Behauptung einer polymorph-perversen Organisation der Sexualität aller Kleinkinder, woraus sich unter Beteiligung der Umgebungseinflüsse die erwachsene Sexualität entwickelt, bedeutet eine solche Einschränkung des »Biologischen« durch das »Psychologische« und war eben deshalb für Hirschfeld nicht akzeptabel. Der Fetischismus jedoch, die sexuelle Lust an toten Objekten, bereitet der schlichten Zurückführung auf biologische, angeborene Ursachen einige Schwierigkeiten, denn Ulanenuniformen, Priesterkragen und Lackhalbschuhe sind auch für Hirschfeld als angeborene Sexualobjekte nicht denkbar, so dass er hier der Psychoanalyse ihren Platz einräumt: »Die Verfolgung der Ursachen solcher individueller Absonderlichkeiten bis an die Grenze des endogen Gegebenen geschieht am besten auf psychoanalytischem Wege.«76

     Im dritten Band seiner Sexualpathologie aus dem Jahre 1920 gibt Hirschfeld im Kapitel über die Sexualneurosen eine Darstellung der Psychoanalyse. Schließlich resümiert er darin die Differenz zu seiner eigenen Auffassung: »Hinsichtlich der Art, wie der Mensch seine Sexualität verarbeitet, und der Folgen dieser Verarbeitung auf das Nerven- und Seelenleben stimme ich in allem Wesentlichen mit Freud überein; die Sexualität aber als solche, vor allem ihre Richtung und Stärke beruht auf der eigenen Sexualkonstitution, die von den Geschlechtsdrüsen und ihrem Chemismus abhängig ist und fast nichts mit psychischen Ursachen, Komplexen und Infantilerlebnissen zu tun hat.«77 Diese Unterscheidung von verarbeiteter Sexualität und Sexualkonstitution ist der Psychoanalyse aber völlig unangemessen, und Hirschfelds Zustimmung zur verarbeiteten Sexualität unter Absehung von »Richtung und Stärke« kann bestenfalls auf ein Missverständnis hinausgehen, denn der Anspruch, wenigstens die »Richtung« aus den Schicksalen der frühen Kindheit zu erklären, ist für die Psychoanalyse grundlegend. Was bleibt, wenn man gerade davon absieht, ist nur noch eine Trivialität nach der Art, dass ein Mensch sein Geschlechtsleben seiner »Natur« gemäß gestalten müsse, wenn es nicht zu »Sexualneurosen« kommen soll. Schließlich kommt in Hirschfelds Kritik erneut die Verwandlung von Homo- in Heterosexuelle durch Psychoanalyse zur Sprache. Hierzu beschreibt er die Wirkung der Analyse auf Schwule:

»Fast übereinstimmend hörte ich von ihnen, dass sie in manchen Beziehungen, namentlich in der ersten Zeit der Behandlung, eine günstige Wirkung verspürten; es sei ihnen so gewesen – so drückte sich einer aus – , als wäre durch die Psychoanalyse ein Knoten in ihrer Seele gelockert und gelöst worden; von einer Umwandlung des homosexuellen Triebes in einen heterosexuellen konnte dagegen in keinem der mir persönlich zur Kenntnis gelangten Fälle die Rede sein.«78

     In der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik kam es im März 1916 in einer »Diskussion über die Freudsche Lehre« zwischen Hirschfeld und der jungen Analytikerin Karen Horney. Hirschfeld bemängelte, dass das Spezifische der psychoanalytischen Behandlungstechnik, etwa der Unterschied zur »Redekur (talking cure)«, nie dargestellt werde. Er äusserte die Vermutung, dass der praktische Nutzen der Psychoanalyse in der Aussprache des Patienten gegenüber dem Arzt als einer »Abreaktion« bestehe; das Gespräch mit einem verständnisvollen Arzt habe an sich schon die Wirkung eines Heilmittels; die Psychoanalyse jedoch »geheimnisse« in dieses Gespräch etwas hinein und vernachlässige im übrigen die entscheidende Bedeutung des kongenitalen und innersekretorischen Faktors – in der Tat ein Abgrund an Unverständnis zwischen Hirschfeld und der Psychoanalyse.79

 

* * *

 

In den Jahren des Ersten Weltkriegs entwickelten sich die homosexuelle und die psychoanalytische Bewegung geradezu gegensätzlich: Das WhK war als einzige der Schwulenorganisationen übrig geblieben und führte in den Kriegsjahren nur noch ein Schattendasein; »Seit Anfang des Krieges ist naturgemäß die homosexuelle Frage sehr in den Hintergrund getreten«, schrieb Numa Praetorius rückblickend 1918.80 Ganz anders entwickelte sich die Psychoanalyse: Der 5. Internationale Psychoanalytikerkongress 1918 in Budapest hatte die erfolgreiche Anwendung der Psychoanalyse in der Behandlung sogenannter Kriegsneurosen zum Thema, und die Teilnahme deutscher und österreichischer Regierungsvertreter am Kongress führte zu einer staatlichen Förderung der Psychoanalyse. Staatliche »Stationen zur rein psychischen Behandlung der Kriegsneurotiker« wurden in Österreich eingerichtet,81 und Freud erhielt den Titel eines »ordentlichen Professors« an der Wiener Universität.

     Nach Kriegsende verzeichnete jedoch auch die homosexuelle Bewegung wieder Aufschwünge, es gründeten sich mehrere neue Schwulen- und Lesbenorganisationen und so etwas wie eine schwule Massenpresse wurde erstmals geduldet, Wochenzeitschriften, die im Straßenhandel verbreitet werden konnten. Die Beseitigung der Militärdiktatur führte zu gewissen Lockerungen bei der Zensur und der Reglementierung des öffentlichen Lebens. So ist es vielleicht zu verstehen, dass der Berliner Filmproduzent und Regisseur Richard Oswald an Hirschfeld mit dem Vorschlag herantrat, an zwei Spielfilmen mit popularisierter sexualwissenschaftlicher Thematik mitzuwirken. 1919 entstanden die beiden Filme Die Prostitution und als filmisch-agitatorische Umsetzung der Ziele der homosexuellen Bewegung: Anders als die Andern. Schon im Krieg produzierte Oswald mit den Sexualwissenschaftlern Iwan Bloch und Alfred Blaschko den dreiteiligen Film Es werde Licht!, der über die Verhütung von Geschlechtskrankheiten aufklären sollte und vom Kriegsministerium finanziert wurde. Die beiden Filme, die danach unter Hirschfelds Mitarbeit entstanden, verbot die Nachkriegs-Zensurbehörde jedoch bald nach ihrer Uraufführung.82 Wie eng die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit in der Weimarer Republik gezogen waren, zeigt sich nicht nur an der Unterdrückung dieser beiden Filme. Als 1927 Teile des verbotenen Schwulenfilms in einen neuen Kultur- und Spielfilm: Gesetze der Liebe83 einmontiert wurden, kam es erst gar nicht zur Uraufführung. Die Zensurbehörde verbot die alten Teile aus Anders als die Andern, so dass nur eine verstümmelte Fassung gezeigt werden durfte.84 1922 konnte Hirschfeld mit der Kulturfilmabteilung der UFA einen Film Mann oder Weib? herstellen, der jedoch nicht fürs Kino, sondern »vorwiegend für Fachleute«85 bestimmt war und nur aus diesem Grund von der Verfolgung durch die Polizei verschont blieb.

     Ganz anders waren die Erfahrungen der Psychoanalytiker mit dem Film. Die Lehren Freuds hatten in Nordamerika nach dem Krieg eine solche Popularität erreicht, dass der Hollywood-Filmproduzent Samuel Goldwyn Sigmund Freud für die Mitarbeit an einem Film über »die berühmtesten Liebesgeschichten aller Zeiten« 100.000 Dollars anbot, was Freud jedoch ablehnte.86 Seine Berliner Schüler Hanns Sachs und Karl Abraham nahmen dann aber 1925 das Angebot der UFA zu einem »psychoanalytischen Film« an, den der Regisseur Georg Wilhelm Pabst unter dem Titel Geheimnisse einer Seele realisierte. »Die Verfilmung lässt sich so wenig vermeiden wie, scheint es, der Bubikopf. Aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden«, schrieb Freud damals, nahm es aber dennoch hin, dass seine psychoanalytische Bewegung den unvermeidlichen Film in ihre Dienste stellte.87 Geheimnisse einer Seele passierte unbehelligt die Zensur und wurde mit dem Prädikat »volksbildend« versehen. Die großen Themen der Psychoanalyse seit Freuds Drei Abhandlungen (1905) kamen aber in dem Film gar nicht erst vor, was der klugen Selbstzensur der psychoanalytischen Filmemacher zu danken war und den internationalen Erfolg des Films sichern half.

 

Das Institut für Sexualwissenschaft

 

 

Aus dem Sitzungsbericht der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik in Berlin vom 17. Mai 1918: »Zu Beginn weist der Vorsitzende Herr Iwan Bloch auf die Geburtstage zweier Vorstandsmitglieder hin: auf den 60. des Herrn Blaschko und den 50. des Herrn Magnus Hirschfeld, dem er ausführliche ehrende Worte widmet. Herr Hirschfeld dankt hierfür in launiger Weise und gibt zugleich die Gründung einer vom Minister des Innern genehmigten ›Stiftung für wissenschaftliche Sexualforschung‹ bekannt, als deren Grundstock Herr Hirschfeld aus eigenen Mitteln die Summe von 15 000 Mk. zur Verfügung stellt.«1

     Am 6. Juli 1919 wurde das Institut in einer großen alten Villa im Tiergarten, die Hirschfeld kurz zuvor für diesen Zweck gekauft hatte, mit einem Festakt eröffnet. Hirschfeld als Begründer und Leiter hielt eine Ansprache, in der er Einrichtung und Aufgaben des Instituts erläuterte. Der Leiter der »neurologischen Abteilung« Arthur Kronfeld sprach sodann »Über den gegenwärtigen Stand und die Ziele der Sexuologie«, wobei die Aufgabenbestimmung ein wenig tautologisch ausfiel: Sexualwissenschaft ist Sexualwissenschaft: »Erstens die wissenschaftliche Erforschung des gesamten menschlichen Geschlechts- und Liebeslebens sowie des Sexuallebens aller übrigen Lebewesen, zweitens die Nutzbarmachung dieser Forschung für die Gesamtheit.«2 Ein Jahr nach der Eröffnung erschien ein »Bericht über das erste Tätigkeitsjahr«, in dem alle Aktivitäten des Instituts beschrieben werden. Da solche Berichte für die folgenden Jahre leider nicht vorliegen3 und sich in der Gesamtheit der Veranstaltungen ein Bild von Hirschfelds Begriff der Sexualwissenschaft abzeichnet, seien sie hier aufgelistet:

–   »Die Anzahl der Beratungen, die in den verschiedenen Abteilungen stattfanden, belief sich im Berichtsjahr auf über 18 000 (davon über die Hälfte unentgeltlich), im Tage durchschnittlich 50–60. Diese verteilten sich auf etwa 3500 Personen, wovon 2/3 männlich, 1/3 weiblich. Ein nicht ganz geringer Teil hiervon (ca. 30 %) gehörte genau genommen allerdings weder dem einen, noch dem andern Geschlecht an, sondern den intersexuellen Varianten.«

–   Kastration von Pädophilen mit sogenanntem »Infantilismus«, »weil gewisse psychische Symptome dieser biologischen Entwicklungsstörung nicht selten zu kriminellen Verfehlungen führen (wiederholt konnten wir in derartigen Fällen bei vielfach vorbestraften Angeschuldigten Freispruch und Heilung auf operativem Wege erzielen; so zuletzt noch bei einem 48jährigen infantilen Pädophilen, der achtmal mit zusammen 11 Jahren Zuchthaus vorbestraft war).« Offensichtlich wurde in solchen Fällen mit dem Chirurgen Prof. Mühsam vom Virchow-Krankenhaus kooperiert.

–   Für Ärzte und Medizinstudierende veranstaltete Hirschfeld im ersten Quartal »klinische Demonstrationsabende, die von etwa 70 Medizinern regelmäßig besucht wurden.« –            Der gleiche Kreis konnte von Hirschfeld im zweiten Quartal »wöchentlich zweistündig sexualpathologische Klinik mit Demonstrationen« hören.

–   Der Psychoanalytiker Carl Müller-Braunschweig trug wöchentlich einstündig »Einführung in Freuds Psychoanalyse« vor.

–   Arthur Kronfeld las wöchentlich einstündig »Forensische Sexuologie«.

–   Professor Hans Friedenthal, der »bekannte Berliner Physiologe« hielt einen wöchentlich zweistündigen Kurs über die »Physiologie des Geschlechtslebens«.

–   Im dritten und vierten Berichtsquartal hielt Arthur Kronfeld wöchentlich zweistündig zwei Vorlesungen: »Einführung in die ärztliche Psychotherapie« und »Neurosenlehre«.

–   Dr. August Bessunger referierte über »Röntgenologische Hautkosmetik«.

–   Die Vorlesung des Arztes Ernst Burchard über »Die kulturelle Bedeutung der seelisch Abnormalen« konnte nur einmal stattfinden, da Burchard am 30. Januar 1920 verstarb.

–   Ein »gemischter Zyklus« umfasste Einzelvorträge zu unterschiedlichen Themen: Professor Nicolai sprach über »Geschlechtsleben und Gesellschaft«; Dr. Müller-Braunschweig, der Psychoanalytiker, sprach über »Geschlechtsleben und Seelenentwicklung«; Dr. Paul Bernhard sprach über »Geschlechtsleben und Nervenleiden«; Dr. Heinroth sprach über »Geschlechtsleben der Tiere«; Prof. Dr. K. F. Jordan sprach über »Geschlechtsleben der Pflanzen«; Dr. Saaler sprach über »Geschlechtsleben und Erziehung«

–   »Sexualwissenschaftliche Aufklärungsvorträge für Gebildete weiterer Kreise konnten aus räumlichen Gründen nur zu einem kleinen Teil im Institut selbst stattfinden. Kronfeld hielt als Dozent der Volkshochschule Schöneberg zwei Vierteljahrskurse ab: der erste behandelte die soziale, der zweite die hygienische Bedeutung der Geschlechtlichkeit. Dr. Hirschfeld sprach über Themen aus dem Gebiet der Sexualbiologie, Sexualethnologie, Sexualsoziologie und Pathologie, teilweise mit Lichtbildern, hauptsächlich in der Humboldthochschule (4 Zyklen in der Aula des Französischen Gymnasiums), im Volkskraftbund (Askanisches Gymnasium) und in der jungsozialistischen Vereinigung, im ganzen während des Berichtsjahrs vor mehr als 6000 Hörern und Hörerinnen.«

–   »Fast täglich« wurden für Einzelpersonen und Vereine aus fast allen Kulturländern Führungen veranstaltet, wobei die Einrichtungen und Lehrmittel des Instituts, die einzelnen Abteilungen und das Archiv erklärt wurden. Etwa 4.200 Personen nahmen im ersten Jahr an solchen Führungen teil.

–   Hirschfeld und Kronfeld waren für die »forensische Tätigkeit des Instituts« zuständig. Als Gutachter waren sie im Berichtsjahr in 96 größeren Strafsachen tätig. »Diese betrafen nicht nur eigentliche Sittlichkeitsverbrechen, sondern viele andere Delikte, wie Mord, Körperverletzung und Eigentumsvergehen aller Art, einschließlich solche kleptomanischen Charakters, die mit dem Geschlechtsleben in engerem oder loserem Zusammenhang stehen, bei denen allgemeine psychotische Grundlagen, wie Epilepsie, Alkoholismus, Schizophrenie, Paralyse oder Paranoia den Ausgangspunkt bilden. Fast stets entschieden Schwurgerichte, Strafkammern, Schöffengerichte, Kriegs- und Oberkriegsgerichte gemäß den gemeinsam abgegebenen Gutachten, dessen Klarlegungen sie sich in freier Beweiswürdigung anschlossen. Die Gesamtsumme der Jahre, die wir auf diese Weise durch objektive Feststellungen den Angeklagten an Gefängnis und Zuchthaus ersparen konnten, ist nicht unerheblich.«

–   Gutachterliche Tätigkeit zur ärztlichen Ehe- und Berufsberatung, »namentlich von Männern und Frauen, die ihre Ehetauglichkeit festgestellt wissen wollten. Vielfach wurden Gesundheitszeugnisse von Ehekandidaten verlangt, deren Beibringung ihnen von den Eltern des Mädchens aufgegeben war, mit dem sie sich verloben wollten.«

–   Gutachtertätigkeit in Ehescheidungsprozessen.

–   »In einem Falle nahmen wir bei einem ausländischen Ehepaar, das sich wegen Unfruchtbarkeit an uns wandte, im Verein mit dem Frauenarzt Dr. Helmboldt die künstliche Befruchtung vor.«

–   Sperma-Untersuchungen zur Vaterschaftsbestimmung und in Ehebruchsprozessen. »In drei Fällen von Alimentationsklagen konnte aus einem absolut negativen Samenbefund erwiesen werden, dass der Beschuldigte nicht als Kindesvater in Frage kommen konnte. Verschiedentlich mussten in Ehebruchsprozessen auch weibliche Wäschestücke auf das Vorhandensein von Samenflecken mikrochemisch untersucht werden.«

–   In der »Geschlechtskranken-Abteilung« des Instituts wurden über 5000 Beratungen und Behandlungen an über 700 Männern und Frauen vorgenommen.

–   Neun »Volontärärzte« waren »zwecks eigener Ausbildung sowie zur Unterstützung der Abteilungsleiter im Institut tätig, und zwar meist während mehrerer Monate.«

–   18 Studenten der Medizin und drei Studenten der Jurisprudenz waren »als Famuli beschäftigt oder auf ihr Ersuchen zu Arbeiten auf sexualwissenschaftlichem Gebiet angehalten unter Benutzung des reichlich vorhandenen lebendigen, literarischen und dokumentarischen (ca. 4000 Fragebogen) Quellenmaterials.«

–   »Unter Zuhilfenahme von Tierexperimenten an Ratten und Meerschweinchen [wurden] umfangreiche methodische Untersuchungen angestellt über die Wirkung der Röntgenstrahlen auf die Geschlechtsdrüsen und die sekundären Geschlechtscharaktere [. . .] Auch mit einer Zucht exotischer Seidenspinner (Attaccus orizaba und Actias luna) zwecks Bastardierung und Gewinnung intersexueller Varianten durch Kreuzung wurde erfolgreich begonnen, doch können alle diese Untersuchungen noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden.«

–   Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee war als selbständige Einrichtung im Institutsgebäude untergebracht. Viele, die sich in ihrer Bedrängnis an das Institut wandten, erhielten Hilfe vom Komitee, während das Komitee und seine Mitglieder die Einrichtungen, Lehr- und Heilmittel des Instituts nutzen konnten. »Dass der Leiter des Instituts, Dr. Hirschfeld, sich des Ausbaues des von ihm begründeten und als Vorsitzenden seit 23 Jahren geleiteten Komitees auch im neuen Hause mit Hingabe und Sorgfalt annahm, bedarf wohl kaum der Erwähnung.«

 

* * *

 

Wissenschaft und Forschung waren im Deutschen Reich zum größeren Teil staatlich finanzierte Angelegenheiten, das wissenschaftliche Personal der Hochschulen und Forschungseinrichtungen bestand vor allem aus Staatsbeamten. Andere Verhältnisse herrschten jedoch in der Sexualwissenschaft; hier gab es nur ausnahmsweise beamtete Forscher, meist Professoren der Psychiatrie und der Gerichtsmedizin, die nebenher auch das Geschlechtsleben irgendwie berücksichtigten.4 Seit etwa 1910 begann hier ein vorsichtiger Wandel; so hielt an der Berliner Universität der Geheime Medizinalrat Professor Albert Eulenburg eine Vorlesung über »sexuelle Psychologie und Pathologie«, womöglich die erste Lehrveranstaltung überhaupt, die an einer deutschen Universität das Sexualleben des Menschen zum ausschließlichen Gegenstand hatte und es nicht nur neben anderen abhandelte.5 Nach dem Weltkrieg richtete die Universität Königsberg einen Lehrstuhl für Dermatologie und Sexologie ein, dessen Inhaber Samuel Jeßner jedoch ausschließlich über Haut- und Geschlechtskrankheiten forschte und lehrte. Normalerweise waren die Sexualwissenschaftler der Generation nach Krafft-Ebing niedergelassene Ärzte, die sich in der Freizeit als Forscher und Schriftsteller betätigten. Hirschfeld lebte wie Moll, Bloch, Rohleder und die meisten anderen zeitgenössischen Sexologen von seinen Arzt- und Autorenhonoraren, die noch durch Vergütungen für gerichtliche Sachverständigentätigkeit aufgebessert wurden.

     Es ist eigentlich rätselhaft, wie Hirschfeld die finanzielle Anstrengung gelingen konnte, die die Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft bedeutete.6 Selbst wenn er wegen seiner relativen Berühmtheit Honorare fordern konnte, die über dem Durchschnitt lagen, kann sein Einkommen nicht ausgereicht haben, um auch nur die beiden Häuser zu kaufen, in denen das Institut arbeiten sollte. 1918 erwarb er die Villa In den Zelten Nr. 10, angeblich für 400.000 Goldmark,7 drei Jahre später das benachbarte Mietshaus In den Zelten Nr. 9a und zahlte dafür nach der Eintragung im Grundbuch 625.000 Mark. Mit den Kosten für Umbauten und Ausstattung waren für die Errichtung des Instituts für Sexualwissenschaft demnach weit über eine Million Mark aufzubringen. Dass anonyme Geldgeber an der Finanzierung des Instituts beteiligt waren, erscheint also sehr wahrscheinlich, wenngleich Beweise hierfür fehlen.

     Etwa gleichzeitig mit der Eröffnung des Instituts für Sexualwissenschaft genehmigte die preußische Regierung die Errichtung einer gemeinnützigen Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung, die von Hirschfeld mit einem Vermögen von 30 000 M. ausgestattet worden war und die »die wissenschaftliche Durchforschung des gesamten Sexuallebens, insbesondere auch seiner Varianten, Störungen und Anomalien« fördern sollte, wie es in § 2 der Stiftungs-Verfassung heißt. Im Bericht über die Tätigkeit des Instituts von 1924 wird das bei der Reichsbank mündelsicher angelegte Vermögen der Stiftung mit 105.000 M. angegeben, was immerhin darauf hindeutet, dass von anonymer Seite 75.000 M. den 30.000 M. Hirschfelds hinzugefügt wurden.8 In dem Bericht heißt es weiter: »Wie fast alle Vermögen in Deutschland fiel auch dieses der Inflation zum Opfer. Sein gegenwärtiger Wert dürfte wenig mehr als einhundert Rentenmark ausmachen.« Im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen wird dazu aufgerufen, mittels eines Mustertestaments sein Vermögen der Stiftung zu vermachen, doch wird nur ein einziger Spender im Bericht über das erste Tätigkeitsjahr namentlich genannt: Sanitätsrat Dr. W. Lewinstein, der in Schöneberg seine private Heil- und Pflegeanstalt Maison de santé auflöste und aus diesem Besitz »dem jungen Institut nebst anderen wertvollen Apparaten, Centrifugen und Thermostaten [. . .] eine große Elektrisiermaschine nach Wimshurst« schenkte.9 Ansonsten ist über Einkünfte und Gewinne des Instituts nichts bekannt, doch war die materielle Grundlage des Instituts offensichtlich so, dass die beiden ökonomischen Katastrophen der Weimarer Zeit, die Inflation und die Weltwirtschaftskrise, es nicht wirklich gefährden konnten.

     Die Gefahr, in eine isolierte Außenseiterposition abgedrängt zu werden, war jedoch selbst innerhalb der sich etablierenden Sexualwissenschaft vor allem aus zwei Gründen beträchtlich: Zum einen gehörte der »Befreiungskampf der Homosexuellen« zu den essentiellen Tätigkeitsfeldern des Instituts. Hirschfelds Idee einer Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage meinte stets, dass die Emanzipation der Schwulen wissenschaftlich zu begründen und zu unterstützen sei, was ihm aus dem Lager der homophoben und konservativen Mediziner sofort den Vorwurf eintrug, die wert- und zweckfreie Wissenschaft würde durch solche Instrumentalisierung verfälscht und missbraucht. Zum anderen erschien die, wenn auch nur diffuse politische Orientierung des Instituts an der sozialistischen Linken, die guten Beziehungen zur Sowjetunion und zur Kommunistischen Partei einschloss, stets als verdächtig.10 Das Verhältnis zur Sexologie außerhalb des Instituts, von der Medizin, der Psychiatrie und den angrenzenden Disziplinen ganz zu schweigen, war durch diese beide Charakteristika höchst prekär und erforderte ständig ein diplomatisches Management durch Hirschfeld, um den stets drohenden Verlust wissenschaftlicher Anerkennung und Ehrbarkeit abzuwenden.

     In der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg im November 1913 in Berlin gegründet worden war, versammelte sich die konservative, allen Forderungen nach Sexual- und Eherechtsreformen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehende Majorität sexologisch orientierter Ärzte und Wissenschaftler. Als Reaktion und Konkurrenzveranstaltung zur kurz vorher, im Februar 1913, entstandenen Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik unter der Führung von Moll und Marcuse gegründet, wurde die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung nach dem Krieg die dominierende sexologische Wissenschaftsgesellschaft, der es unter anderem gelang, die Zeitschrift für Sexualwissenschaft zu übernehmen und mit so berühmten Namen wie dem des Kölner Soziologen Leopold von Wiese, Eugen Steinachs und später auch Sigmund Freuds11 für sich zu werben. An den beiden Internationalen Kongressen für Sexualforschung, die die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung 1926 in Berlin und 1930 in London als Gegenunternehmen zu den Kongressen der Weltliga für Sexualreform veranstaltete, nahmen so prominente Mediziner wie Alfred Adler, Eugen Steinach und der führende britische Psychoanalytiker Ernest Jones teil.12 Als 1932 »infolge der ungünstigen Wirtschaftslage in Deutschland« die Zeitschrift einging, erinnerte noch immer der Vermerk auf dem Umschlag »Gegründet von Prof. Dr. A. Eulenburg und Dr. Iwan Bloch« an die putschartige Übernahme im Jahre 1919, denn Eulenburg und Bloch waren die Herausgeber zur Zeit der Ärztlichen Gesellschaft, und Albert Moll, der eifrigste und militanteste sexologische Kritiker Hirschfelds, war in der Internationale Gesellschaft für Sexualforschung tonangebend. Es ist daher kein Zufall, dass nach der Übernahme auch in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft Angriffe auf Hirschfeld zu lesen waren, die seine wissenschaftliche Qualifikation rundweg abstritten.

     Einer der Höhepunkte in der Tätigkeit des Instituts für Sexualwissenschaft war die 1. Internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage im September 1921. In Form eines Berichts über diese Tagung erschien im Novemberheft der Zeitschrift für Sexualwissenschaft eine Fundamentalkritik, die darin gipfelte, der Tagung den wissenschaftlichen Charakter abzusprechen. Der »wissenschaftliche Mantel« sei nur benutzt worden, um »einseitig« und »tendenziös« eine »politische und religiöse Verhetzung« zu betreiben.13 Hirschfeld hatte in seiner Eröffnungsansprache tatsächlich die Forderung erhoben, dass die traditionelle Vorherrschaft der Theologen bei der Beurteilung des menschlichen Sexuallebens zu beenden sei, und bei der Erörterung einer künftigen Sexualpädagogik wurde die Notwendigkeit einer religiösen Erziehung einfach bestritten. Dass sich die Redner und Rednerinnen der Tagung für eine ganze Reihe von Sexualreformen aussprachen, deren Verwirklichung nicht zuletzt an der Macht des organisierten Christentums gescheitert war – Straffreiheit für Abtreibung, männliche Homosexualität und Ehebruch; Erleichterung der Ehescheidung; Rechtsgleichheit für eheliche und uneheliche Kinder –, und dass schließlich gegen die damals aufsehenerregende Verurteilung des Lehrers und Schriftstellers Gustav Wyneken zu zwölf Monaten Gefängnis in einer Resolution protestiert wurde, all das »hat die Tagung rückhaltlos als eine Zweckveranstaltung ohne wissenschaftliche Grundlage entlarvt«. Am Schluss seiner Polemik gegen Hirschfeld und seinem Sexualkongress bemerkt der Autor, »dass die junge Sexualwissenschaft insgesamt um ihre Anerkennung ohnehin schwer kämpfen muss«.14 Damit benannte er die die Lage der damaligen Sexologie zutreffend und machte zugleich deutlich, dass bei dem regelrechten Kampf der Konservativen gegen Hirschfeld auch der Druck von außen, der durchweg alle Sexologen um Ruf und Ansehen als Wissenschaftler fürchten ließ, eine Rolle spielte. So steigerte sich die Bereitschaft, einen Abweichler in den eigenen Reihen, der mit der politischen Linken sympathisierte, wahrscheinlich homosexuell war und einen »Befreiungskampf der Homosexuellen« anführte, auszugrenzen und zu isolieren. 

     Das gelang natürlich nicht vollständig, zumal es zwischen den Positionen von Moll und Hirschfeld zahlreiche Zwischenstufen gab, die sich nicht in ein Pro-oder-contra-Hirschfeld-Schema fügten. Arthur Kronfeld, Paul Brandt und Numa Praetorius sind hier als bekanntere Sexologen zu nennen, die sowohl mit Hirschfeld als auch mit seinen wissenschaftlichen Gegnern kooperierten. Die beiden bedeutendsten »Verbündeten« Hirschfelds in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, Iwan Bloch (1872–1922) und Albert Eulenburg (1840–1917), verstarben zu jener Zeit, als Hirschfeld auf ihre Unterstützung besonders angewiesen gewesen wäre. So hatte sich seine Außenseiterrolle weiter ausgeprägt, und ein ziemlich hohes Maß an Isolation in der Gemeinde der Sexologen bezeichnet seine Stellung am Anfang seiner Tätigkeit als Leiter des ersten sexualwissenschaftlichen Instituts. Unter den Angriffen, denen er ausgesetzt war, gehörten die Polemiken eines Albert Moll oder die gerade zitierten des Dr. Finkenrath, die »nur« Hirschfelds wissenschaftliche und ärztliche Reputation zu erschüttern suchten, zu den harmloseren, die nichtsdestoweniger die Frontlinie des Kampfes der Sexologen gegen Hirschfeld markieren; die politische Hetze gegen Hirschfeld, wie sie sich in den schon zitierten frühen Hitler-Reden und in der christlich-konservativen und antisemitischen Presse artikulierte und den Boden für die Attentatsversuche gegen seine Person bereitete, war wegen des Gewaltpotentials, das sie freizusetzen half, weitaus bedrohlicher. Eine andere Form des Kampfes gegen Hirschfeld, die verleumderische Intrige mit dem Ziel, seine berufliche Existenz zu zerstören, wurde ebenfalls, wenn auch ohne Erfolg, von feindlich gesonnenen Ärzten unternommen. So verfasste ein Regierungs-Medizinalrat Schlegtendal am 21. Mai 1920 für den preußischen Polizeipräsidenten ein Dossier über das Institut für Sexualwissenschaft, in dem er die Ansichten zweier anonymer Ärzte offensichtlich zustimmend wiedergibt, die letztlich ein Berufsverbot für Hirschfeld fordern:

»[. . .] Der eine der befragten Ärzte (A) ist schon seit langen Jahren auf Grund mehrfacher Erfahrungen und Beobachtungen ein schroffer persönlicher Gegner Hirschfeld's gewesen [. . .] Der andere Arzt (B) hatte lange Jahre Hirschfeld gegenüber eine zum mindesten wohlwollend neutrale Stellung eingenommen, sich für die Errichtung des Instituts erwärmt, ohne dabei engere Beziehungen zu pflegen [. . .] Von dem, was mir die beiden Herren mitgeteilt haben, sei folgendes wiedergegeben: 1) Betreffs der Persönlichkeit Hirschfeld's. A. erklärt M. H. für zweifellos homosexuell. Hieraus sei ein Teil seiner Fehler und Schwächen zu erklären, so seine große Eitelkeit, sein weiches, weibisches, unmännliches Wesen, aber doch nur ein Trick! Für den Rest bezichtigt A. ihn der bewussten Unwahrhaftigkeit, Ausbeutungssucht, ja der verbrecherischen Erpressung. A. hat eine Dame, die in weibweiblichem Verkehr zum Ehebruch gelangt war, aus den Klauen Hirschfeld's befreit und für sie von Hirschfeld die erpressten Geldsummen und Pretiosen zurückgewonnen [. . .] Hirschfeld ist reklamesüchtig, nichts weniger als ein Charakter und Mann von Zuverlässigkeit, sein praktisches Handeln steht erweislich oft im Widerspruch mit dem, was er in wissenschaftlichen Aufsätzen usw. aufgestellt hat und verficht. Seine Gutachten sind zumeist nicht unparteiisch, sondern – zweifellos beeinflusst durch hohe, ja gewissenlos geschraubte Honorare – einseitig [. . .] B. erklärt in unserer ersten Besprechung ebenfalls Vieles als durch Hirschfeld's Homosexualität und seinen femininen Einschlag entschuldbar, bezichtigt ihn aber doch weiterhin im Punkt der Verführung Jugendlicher und des Vorwurfs der Kuppelei zum mindesten des groben Leichtsinns. Hirschfeld sei allmählich in seiner Lehre ganz einseitig geworden und habe die Verbindung mit der psychiatrischen Grundlage verloren. – Noch schärfer und vernichtender lauteten seine Urteile, nachdem B. das Institut besichtigt und dort auch mit Hirschfeld zusammengetroffen war. Er bezichtigt ihn der Beutelschneiderei, der Verführung Jugendlicher und der Kuppelei. Er hält es ferner für mindestens wahrscheinlich, dass Hirschfeld den homosexuellen Verkehr dort nicht nur selbst pflegt, sondern auch fördert, ferner dass er in seinem Privat-Sprechzimmer sich als voyeur betätigt, indem er Ehepaare und Andere in seinem anstoßenden Schlafzimmer sich nach Anweisungen betätigen lasse [. . .]«15

     Offensichtlich ist dieser Bericht lediglich Teil einer missglückten Rufmordkampagne ohne jeden Wahrheitsgehalt, denn die Straftatbestände, die Hirschfeld hier angedichtet werden, hätten zwangsläufig Ermittlungen durch Staatsanwalt und Polizei nach sich gezogen, wenn auch nur der Anschein eines Beweises bestanden hätte. So war Hirschfelds Position als Sexologe, Gerichtssachverständiger und Arzt zwar stets umstritten und gefährdet, aber doch niemals wirklich infrage gestellt. Dennoch konnten nicht alle Blütenträume reifen und mehrere Projekte kamen über Ansätze nicht hinaus:

–   Der Plan, künftig regelmäßig internationale Tagungen für Sexualreform abzuhalten, die zweite 1922 in Rom, konnte nicht verwirklicht werden; nach der Berliner Tagung von 1921 gab es eine Pause, die bis 1928 dauern sollte, als in Kopenhagen der erste Kongress der Weltliga für Sexualreform stattfand.  Das Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen erschien 1923 mit dem 23. Band zum letzten Mal, da infolge der Inflation die Herstellungskosten nicht mehr aufzubringen waren.16

–   Unter dem Titel Sexus begann 1921 eine Reihe von »Monographien aus dem Institut für Sexualwissenschaft in Berlin« mit drei Heften zu erscheinen, die ebenfalls vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen noch im gleichen Jahr wieder abgebrochen wurde. 1926 gab es dann noch einen Band 4 von Sexus, eine Aufsatzsammlung »Zur Reform des Sexualstrafrechts«, und 1931 und im Jahr der Zerstörung 1933 gab es je einen Versuch, eine Zeitschrift Sexus herauszugeben; doch kam es jeweils nur zu einer einzigen Ausgabe, so dass die wissenschaftlichen Publikationen des Instituts quantitativ eher bescheiden ausfielen.

     Im Gegensatz dazu stand Hirschfelds eigene schriftstellerische Produktivität auf ungebrochener Höhe. Nachdem 1917 bis 1920 seine dreibändige Sexualpathologie erschienen war, die Krafft-Ebings epochale Psychopathia sexualis auf einem aktuellen Erkenntnisstand fortführen wollte, kamen von 1925 bis 1930 die Lieferungen seines dreitausendseitigen Hauptwerkes Geschlechtskunde mit drei Textbänden, einem Bildband und einem Registerband heraus. Versucht man, das Spezifische der Geschlechtskunde zu benennen, das sie von berühmten Vorläufern unterscheidet – von Auguste Forels Die sexuelle Frage (1904), Iwan Blochs Das Sexualleben unserer Zeit (1906) oder dem Fragment gebliebenen Blochschen Handbuch der gesamten Sexualwissenschaft in Einzeldarstellungen –, so enthält sie zunächst einmal die erschöpfende Darstellung des sexologischen Wissens nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem die drei Themen Psychoanalyse, Steinachsche Experimente und Fragen der Empfängnisverhütung und Abtreibung rücken in den Vordergrund und werden in epischer Breite abgehandelt. Überhaupt zeichnet die Darstellungsweise eine sonst in der damaligen wissenschaftlichen Prosa nicht übliche Erzählhaltung aus, die durch ausgedehnte autobiografische Einschübe und ungewöhnlich detailfreudige Ausbreitung der Fallgeschichten manchmal einen geradezu romanhaften Eindruck erweckt. Hirschfeld verfolgt mit dieser Darstellungsmethode den Anspruch, der Aufklärung und der Volksbildung zu dienen. Der Titel der Geschlechtskunde könnte eigentlich lauten: Was soll das Volk vom Geschlechtsleben wissen?

     Mit der episch breiten Darstellungsweise wird offensichtlich eine didaktische Wirkung angestrebt, und der Zusatz zum Titel: »Auf Grund dreißigjähriger Forschung und Erfahrung bearbeitet« deutet bereits auf den autobiografischen Akzent, der die Sichtweisen und Ansichten des Autors in einer mehr persönlich-subjektiven Darstellungsform betont. Der Stoff, aus dem die Geschlechtskunde gearbeitet ist, war in den vorangehenden Jahrzehnten in Vorträgen und Volkshochschulkursen entwickelt worden.

 

»Um die Jahrhundertwende«, schreibt Hirschfeld im Vorwort zum ersten Band, »waren diese Vortragsreihen über das Geschlechtsleben die besuchtesten aller Volkshochschulkurse in Berlin; oft wiesen sie innerhalb eines Wintersemesters eine Hörerzahl von mehreren tausend Männern und Frauen auf [. . .] Vornehmlich aus diesen Vorlesungen an der Freien Hochschule und später an der Humboldt-Hochschule ist das vorliegende Werk erwachsen. Der ihm zugrunde liegende Stoff wurde im Laufe von drei Jahrzehnten in Dutzenden von Vortragsheften und vielen Tausenden von Fragezetteln gesammelt.

Immer wieder tauchte am Ende der Vorträge auch die Frage nach einem Leitfaden über das menschliche Geschlechts- und Liebesleben auf, welcher alle sexuellen Probleme in allgemeinverständlicher Weise zusammenfasst. In den ersten Jahren musste ich hierauf die Antwort schuldig bleiben, da noch kein geeignetes Buch vorlag. Erst vom Jahre 1904 wurde es anders. In diesem Jahre ließ nämlich August Forel Die sexuelle Frage erscheinen [. . .], ein ausgezeichnetes Werk, das bald einen Siegeszug durch die ganze Welt antrat. In der stattlichen Reihe von Übersetzungen, die mir der alte Forel zeigte, als ich ihn vor zwei Jahren besuchte, fehlt kaum eine Kultursprache. Einen fast ebenso großen Erfolg hatte das Sexualleben unserer Zeit [. . .], das nicht lange nach Forels ebengenanntem Buch Iwan Bloch herausgab.«17

     Allein schon aus Gründen des ungeheuren Umfangs, der üppigen Ausstattung mit Abbildungen und des dadurch bedingten Preises von 177 Reichsmark wurde die Geschlechtskunde kein Erfolg, jedenfalls war er bedeutend geringer als der der genannten Werke von Bloch und Forel. Die epische Breite der Darstellung hinderte zudem die Nutzung als »Leitfaden« oder volkstümliches Nachschlagewerk, so dass ihr die Popularität der genannten Werke Forels und Blochs versagt blieb. 1933 wurde sie in Werbeanzeigen zum Schleuderpreis von 88,75 Reichsmark angeboten, sie hatte sich offenbar als Ladenhüter erwiesen.18 Eine Übersetzung in eine andere Sprache gibt es nicht, dennoch hat die Geschlechtskunde Hirschfelds Ruf als führender Sexologe seiner Zeit gefestigt und sein Ansehen gesteigert.

     In gewisser Hinsicht kann man davon sprechen, dass sich Hirschfelds Ruhm und Popularität in den Jahren 1928 bis 1930, von seinem 60. Geburtstag bis zum Antritt der Weltreise und dem Beginn des Exils, auf einer zuvor und danach nicht wieder erreichten Höhe befanden. Es scheint so, als ob in diesen Jahren allein sein Name einen solchen Wert besaß, dass er zum Beispiel Büchern, die ihn als Mitarbeiter nannten, eine gesteigerte Aufmerksamkeit sicherten. So kam es, dass damals mehrere Werke erschienen, bei denen Hirschfeld offensichtlich nicht als Autor beteiligt war, sondern nur seinen Namen zur Verfügung stellte. Bei zwei Werken des Arztes und Schriftstellers Berndt Götz scheint dies der Fall gewesen zu sein (Das erotische Weltbild, Dresden 1929; Sexualgeschichte der Menschheit, Berlin 1929) wie auch bei der zweibändigen Sittengeschichte des Weltkrieges (Wien und Leipzig 1930). Bei letzterer wird Hirschfeld ohnehin nur als Herausgeber genannt, als Verfasser erscheint eine Gruppe von zehn Autoren, und die redaktionelle Bearbeitung leistete ein Dr. Andreas Gaspar. Anscheinend ging es bei solchen Projekten lediglich darum, den Namen Hirschfeld für kommerzielle Zwecke zu nutzen. Dies war anscheinend auch bei einigen Medikamenten der Fall, bei der schon erwähnten Empfängnisverhütungssalbe Patentex und zwei Mitteln gegen sexuelle Impotenz des Mannes, den Titus-Perlen und einem Präparat mit der Bezeichnung Testifortan, obwohl Hirschfeld selbst niemals pharmakologische Forschungen betrieben hat und außer seinem Namen nichts zu diesen Produkten beigetragen hatte.

     Wenn man in dieser Verwendung des prominenten und sozusagen zugkräftigen Namens für die Vermarktung von Büchern und Medikamenten ein moralisches Problem sehen will, sollte man die ökonomische Seite von Hirschfelds Existenz bedenken. Er konnte nicht, wie das beispielsweise Sigmund Freud ausgiebig tat, einen Professorentitel für die Festlegung seiner Arzt- und Autorenhonorare einsetzen; zeitlebens war ihm die Lehrtätigkeit an einer staatlichen Hochschule und die damit verbundene Einnahmequelle verwehrt. Die Verwendung des ärztlichen Namens und Titels für pharmazeutische Reklamezwecke war damals durchaus üblich; Dr. Max Marcuse warb in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft für ein »neues Spezifikum gegen sexuelle Insuffizienz« mit dem schönen Namen Hormin, und bei der Werbung für Testogan, ein Medikament in Tablettenform gegen »sexuelle Dyshormonie und Insuffizienz bei Männern«, wurde stets erwähnt, dass es »auf organ-chemotherapeutischer Grundlage nach Dr. Iwan Bloch« hergestellt werde.19

     Im Institut für Sexualwissenschaft scheint es aber Arthur Kronfeld gewesen zu sein, der bei der Behandlung von Patienten und Patientinnen mit »sexuellen Funktionsstörungen« mit der Anwendung chemischer Mittel experimentierte. Kronfeld publizierte 1922 und 1923 Berichte über seine Versuche, bei denen er vor allem die vielfältigsten psychotherapeutischen Techniken, von der Freudschen Psychoanalyse über Autogenes Training nach Schultz bis zu Hypnose und Suggestionsverfahren mit der Gabe von selbst entwickelten Präparaten kombinierte. Drei solcher Erzeugnisse, denen er die Namen Juvenin, Euandryl und Eufemyl gab und in denen Strychnin, Arsen und Yohimbin in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen mit Extrakten tierischer Keimdrüsen enthalten waren, hat er für die Impotenzbehandlung in Zusammenarbeit mit den Farbenfabriken Bayer und einer Sicco-Aktiengesellschaft Chemische Fabrik zu Berlin entwickelt. Er berichtet über 42 Männer und eine Frau, deren sexuelle Funktionsstörungen er am Institut für Sexualwissenschaft erfolgreich mit Juvenin behandelte,20 über 42 andere Männer, denen er ebenso erfolgreich Euandryl verabreichte, sowie über 26 Frauen, deren Menstruationsanomalien durch Eufemyl gebessert worden seien.21

     Ziemlich offen gibt Kronfeld zu, dass die Wirksamkeit der Medikamente auf Suggestion beruhe: »Man mag über die Wirksamkeit von Testesextrakten, soweit die bisherigen klinischen Erfahrungen reichen, mit Recht verschiedener Meinung sein. Allein einmal spricht, bei aller Zweifelhaftigkeit, nichts mit Sicherheit gegen die hormonalen Wirkungen von Testesextrakten; und zweitens wird ihre Anwendung in steigendem Maße vom Publikum selbst verlangt [. . .] Nimmt man hinzu, was oben über die arzneiliche Behandlung als Vehikel der Suggestion gesagt wurde, so lässt sich auch ärztlich gegen diesen Wunsch des Publikums nichts einwenden.«22 Kronfeld schied 1926 aus dem Institut für Sexualwissenschaft aus und eröffnete eine eigene Praxis. Der Arzt Bernhard Schapiro scheint sozusagen Kronfelds Nachfolger am Institut geworden zu sein. Er setzte die Experimente mit chemischen Impotenzmitteln fort, konnte als eine Art Weiterentwicklung der Kronfeldschen Mittel in Kooperation mit der Hamburger Chemiefabrik Promonta 1927 Testifortan gegen Impotenz und Präjaculin gegen vorzeitigen Samenerguss auf den Markt bringen.23 In Hirschfelds Buch über Mittel gegen Impotenz, das er 1930 zusammen mit Richard Linsert herausgab und das nicht zuletzt für Testifortan Reklame machen sollte, wurde Schapiro als »Leiter der Abteilung für Potenzstörungen am Institut für Sexualwissenschaft« bezeichnet.24

 

* * *

 

»Die Sexualität im Menschen ist das Internationalste und zugleich auch Überbrückendste, was es gibt. Deshalb muss auch der geistige Kampf für eine größere Geschlechtsfreiheit und bessere Geschlechtsordnung ein internationaler sein.«25 Mit diesen pathetischen Worten beginnt Hirschfeld am Ende seiner Geschlechtskunde die Beschreibung der Weltliga für Sexualreform, die sich am 3. Juli 1928 in Kopenhagen konstituiert hatte.26

     Wir wissen heute kaum etwas über die näheren Umstände dieser Gründung, doch scheint der Eindruck berechtigt, dass die Weltliga im wesentlichen Hirschfelds persönliches Werk war, etwa so, wie er im Wissenschaftlich-humanitären Komitee in den ersten drei Jahrzehnten die maßgebliche und prägende Kraft gewesen ist. In Kopenhagen wurde Hirschfeld neben Havelock Ellis und August Forel zu einem der drei Präsidenten der Weltliga gewählt. Da die beiden anderen lediglich ihre berühmten Namen zur Verfügung stellten und sich sonst nicht beteiligten, Forel wegen Krankheit und Alter, Ellis aus grundsätzlicher Abneigung gegen derartige Massenveranstaltungen, scheint Hirschfeld allein Spiritus rector und maßgeblicher Organisator der Weltliga gewesen zu sein, doch teilte er die Arbeit von Anfang an mit dem dänischen Sexologen Jonathan Høegh Leunbach und seinem englischen Kollegen Norman Haire, die beide 1931 ebenfalls zu Präsidenten ernannt wurden, während Forel und Ellis als »Ehrenpräsidenten« firmierten. Im Berliner Institut befand sich das zentrale Verwaltungsbüro der Weltliga, so dass sie spätestens mit der Zerstörung des Instituts durch die Nazis kein koordinierendes Zentrum mehr besaß. Leunbach musste kurz darauf konstatieren, dass sich »unter den vielen Kulturorganisationen, die der Hitlerfascismus rücksichtslos zerstört hat«, die Weltliga für Sexualreform befand, »die im Institut für Sexualwissenschaft ihre Zentralstelle hatte«; die internationale Tätigkeit der Weltliga war aber schon vorher, »seit dem letzten Kongress im Jahre 1932 fast völlig lahmgelegt«.27

     Die bemerkenswerteste Leistung der Weltliga waren wohl die vier internationalen Sexualreform-Kongresse, die sie nach dem Modell des Berliner Kongresses von 192128 in den Jahren 1928 bis 1932 veranstaltete:

–   in Kopenhagen vom 1. bis 5. Juli 1928

–   in London vom 8. bis 14. September 1929

–   in Wien vom 16. bis 23. September 1930

–   in Brünn vom 20. bis 26. September 1932.

     Drei umfangreiche Berichtsbände dokumentieren die Referate und Diskussionen auf den drei Kongressen in Kopenhagen, London und Wien, und man gewinnt den Eindruck, dass sich die Weltliga bis 1930 stetig wieterentwickelte. Der Kongress in Wien war, was Zahl und Vielfalt der Teilnehmer und behandelten Themen betrifft, offensichtlich der bedeutendste. Dann aber begannen aus Gründen, die durchaus im Dunkeln liegen, Niedergang und Zerfall der Weltliga. Wie Leunbach im Nachhinein zutreffend feststellte, war das Schicksal der Weltliga nicht nur durch die nazistischen Zerstörungen besiegelt worden, sondern »ebensosehr durch innere Schwäche als durch äussere Gewalt«.

     Nach dem Ende des Wiener Kongresses kehrte Hirschfeld nach Berlin zurück, um dort die letzten Vorbereitungen für seine Weltreise zu treffen. Am 15. November 1930 verließ er auf dem Schiff Columbus des Norddeutschen Lloyd Europa in Richtung New York und kehrte erst im März 1932, aus Palästina kommend, auf seinen Heimatkontinent zurück.29 Während seiner Abwesenheit scheint die Tätigkeit der Weltliga gänzlich unterbrochen gewesen zu sein; Planungen zu einem Weltliga-Kongress 1931 in Moskau und 1932 in Paris30 wurden nicht weitergeführt oder scheiterten.31 Folgt man dem Bericht Josef Weisskopfs über den Brünner Weltliga-Kongress, dann war es Hirschfeld persönlich, der im April 1932 nach seiner Rückkehr von der Weltreise die Planung und Vorbereitung dieses letzten Kongresses in Angriff nahm.32

     Überblickt man das gesamte Projekt einer Weltliga für Sexualreform von der Vorgeschichte, der Berliner Institutsgründung und dem 1921er Berliner Kongress, bis zu ihrer Auflösung kurz nach Hirschfelds Tod im Jahre 1935, drängt sich vor allem ein Eindruck davon auf, in welch hohem Maß das Ganze die Schöpfung Hirschfelds gewesen ist. Es wird kaum ein Zufall gewesen sein, dass die internationalen Aktivitäten der Weltliga sofort aufhörten, als Hirschfeld nach dem Wiener Kongress seine Weltreise antrat. Ein weiterer Kongress kam erst zustande, nachdem Hirschfeld anderthalb Jahre später zurückkehrte und in wenigen Monaten den Kongress in Brünn organisierte. Dieses Geschick in der Organisation der Sexualreformbewegung hatte seine Grundlage vor allem in seiner Fähigkeit, immer wieder neue, jüngere Kollegen für die eigenen Ideen zu begeistern und zur Mitarbeit zu motivieren. Nach einiger Zeit gingen diese jungen Kräfte dann zumeist eigene Wege, so dass man solche mit pädagogischem Genie gewonnenen Genossen wie Kurt Hiller, Arthur Kronfeld, Karl Abraham, Arthur Weil und Max Hodann – und was die Weltliga betrifft: Norman Haire und Jonathan Høegh Leunbach – nicht eigentlich als Schüler bezeichnen kann, wohl aber als Partner.

     Das Funktionieren solcher Arbeitspartnerschaften setzt noch eine andere Charaktereigenschaft Hirschfelds voraus, die Fähigkeit, gegensätzliche Standpunkte soweit zu vermitteln und in einer wenigstens vorübergehenden Balance zu halten, dass eine produktive, wenn auch zeitlich begrenzte Zusammenarbeit möglich wird. Im Wissenschaftlich-humanitären Komitee hatte sich diese Fähigkeit in drei Jahrzehnten bewährt, so dass es selbst bei so extremen Typen wie Hans Blüher und Adolf Brand wenigstens zu kurzen Phasen fruchtbarer Zusammenarbeit kam, mit dem Kommunisten Richard Linsert währte die Kooperation mehrere Jahre. Man kann auch die Weltliga für Sexualreform als eine solche für Hirschfeld typische Integrationsleistung disparater und letztlich unvereinbarer Positionen betrachten. Es waren ausgerechnet die beiden jungen Präsidiumsmitglieder Leunbach und Haire, die die Extreme in dieser Kontroverse vertraten, die dann noch in Hirschfelds Todesjahr die Auflösung der Weltliga besiegelte. Der äusserlich sichtbare Beginn der Spannungen liegt im Jahre 1930, als der österreichische Kommunist und Psychoanalytiker Wilhelm Reich auf dem Wiener Weltligakongress auftrat. Er behauptete in seinem Referat, dass Sexualreform im Kapitalismus eine Illusion sei und erst in einer sozialistischen Gesellschaft eine Chance habe. Bald danach begann Reich sein Konzept einer Sexualökonomie auszuarbeiten, das zu seinem Ausschluss sowohl aus der Kommunistischen Partei wie auch aus der Psychoanalytikerorganisation führte, das aber Leunbach zu einem Anhänger Reichscher Ideen werden ließ.

     In Reichs Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie, die er in seinem dänischen Exil herausgab, wurde 1935 die entscheidende Kontroverse zwischen Norman Haire und Leunbach/Reich ausgetragen und schließlich die Auflösung der Weltliga bekanntgegeben.33 Leunbach eröffnet den Streit mit einem Aufsatz unter dem programmatischen Titel: »Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik« und erzählt darin ein bezeichnendes Detail aus dem Innenleben der Weltliga: »Hirschfeld hat sich öfters darüber beklagt, dass von zwei Seiten versucht wurde, Kuckuckseier in das Nest der Weltliga für Sexualreform zu legen, nämlich von den Psychoanalytikern und von den Kommunisten. Die allergefährlichsten Kuckuckseier könnten also wohl von der Sexualökonomie herstammen, weil sie sozusagen die Psychoanalyse als Mutter und den Kommunismus als Vater hat.«34 Im März 1931 habe der Vorstand der Weltliga einstimmig die Forderung Wilhelm Reichs nach einem Bekenntnis zum revolutionären Kampf der Arbeiterklasse abgelehnt, jetzt aber, »nachdem die Reaktionswelle des Fascismus die Welt überschwemmt«, erkennt Leunbach, dass »Reichs Auffassungen eine wirkliche Sexualrevolution begründen« und dass die wissenschaftlichen Theorien Hirschfelds sich als bloße »Illusionen« entpuppen. Merkwürdigerweise hat dies auch Konsequenzen für den Punkt 6 im Programm der Weltliga, der eine »richtige Beurteilung der intersexuellen Varianten, insbesondere auch der homosexuellen Männer und Frauen« fordert. War damit im Sinne Hirschfeldscher »Illusionen« gemeint, dass Homosexualität auf einer angeborenen Konstitution beruhe, so glaubt Leunbach nun nicht mehr an die angeborene Konstitution, sondern hält mit Reich die Homosexualität für ein Produkt der Sexualunterdrückung, durch patriarchalische Familie und Klassengesellschaft erzeugt und in der kommenden sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgrund von »Prophylaxe« beseitigt.35

     Norman Haire wird gestattet, auf die Ausführungen Leunbachs im nächsten Heft der Reichschen Zeitschrift zu antworten. Er erklärt sowohl die Ansichten Hirschfelds wie auch die von Leunbach und Reich vertretenen über die Entstehung der Homosexualität und der Perversionen für »dogmatisch« und betont, dass das derzeitige Wissen nicht genüge, um eine endgültige Meinung über die Ursachen der Abwiechungen von der so genannten normalen Sexualität zu bilden. Den entscheidenden Einwand gegen die revolutionäre Gesinnung Leunbachs sieht Haire in den jüngsten Ereignissen in der Sowjetunion, der Einführung eines Sexualstrafrechts, das noch unmenschlicher sei als die Gesetze, die unter dem Zaren galten. »Es ist also klar, dass die gesetzliche Haltung gegenüber Homosexualität (und wahrscheinlich auch den anderen Perversionen) nicht davon abhängt, ob ein Land kapitalistisch oder kommunistisch ist, es hängt also nicht von ökonomischen Faktoren ab.«36 Die Kontroverse, die im Jahr der Auflösung der Weltliga an eine wenn auch begrenzte Öffentlichkeit drang, war sicher schon in den Jahren vorher geführt worden, doch ist hierüber, bis auf Hirschfelds Klage über kommunistische und psychoanalytische Kuckuckseier nichts überliefert.
     Die politischen Meinungsverschiedenheiten unter den Weltliga-Präsidenten sind aber offensichtlich nicht der Hauptgrund für Zerfall und Auflösung. Die Mitteilung Haires und Leunbachs über die Auflösung macht hierzu nur wenige Andeutungen: »Am liebsten möchten wir einen Kongress einberufen, um über die Zukunft der Weltliga für Sexualreform Beschluss zu fassen. Das scheint aber zurzeit aus denselben Gründen unmöglich zu sein, die verhinderten, einen neuen internationalen Kongress seit dem letzten in Brno 1932 abzuhalten. Die politischen und ökonomischen Verhältnisse in Europa haben nicht nur das Abhalten internationaler Kongresse, sondern auch die weitere Arbeit der Weltliga für Sexualreform in vielen Ländern unmöglich gemacht. Die französische Sektion existiert nicht mehr, die holländische hat jede Verbindung mit der Hauptorganisation gelöst, die spanische Sektion hat seit dem Tode Hildegarts
37 jede Tätigkeit aufgegeben, die Sektionen in den meisten anderen Ländern ebenso. Soweit wir feststellen können ist die englische Sektion die einzige, die noch aktiv funktioniert.«38

     Die hier erwähnten »politischen und ökonomischen Verhältnisse« sind sicher nicht zu unterschätzen, wenn man nach den Ursachen für das Ende der Weltliga fragt, denn die Sexualwissenschaft, die damals bekanntlich so gut wie gar nicht staatlich finanziert wurde und auch sonst kaum über ökonomische Ressourcen verfügte, musste besonders unter der Wirtschaftskrise leiden, die sich seit 1930 weltweit immer dramatischer verschärfte. Die Klage der Weltliga-Verwaltung über mangelnde Zahlungsmoral bei den Mitgliederbeiträgen nahm ständig zu, und schließlich musste festgestellt werden, dass der Kongress in Brünn ein finanzielles Desaster war, obwohl er mit einiger Unterstützung von seiten der Universität in Brünn zustande kam.39 Offensichtlich wurde nicht nur die Weltliga, sondern auch Albert Molls Internationale Gesellschaft von der Weltwirtschaftskrise in Mitleidenschaft gezogen, denn nach dem Londoner Kongress der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung von 1930 gab es keine weiteren Kongresse mehr, und auf das Ende der Zeitschrift für Sexualwissenschaft der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung »infolge der ungünstigen Wirtschaftslage in Deutschland« wurde schon hingewiesen. Da über die innere Geschichte der Internationalen Gesellschaft für Sexualforschung und die Umstände ihrer Auflösung noch weniger als über die Weltliga bekannt ist, können wir nur vermuten, dass auch sie schließlich an den politischen und ökonomischen Verhältnissen im Europa der dreissiger Jahre zugrunde ging.

 

Exil und Tod

 

 

Hirschfeld reiste im November 1930 in die USA, weil ihn eine deutsch-amerikanische Ärztegesellschaft eingeladen hatte, in New York einen Vortrag »Über den gegenwärtigen Stand der Sexualpathologie« zu halten. Vorbereitungen für eine Weiterreise nach San Francisco und von dort nach Japan, China, Indien, Ägypten und Palästina scheint er mindestens teilweise noch in Europa getroffen zu haben,1 doch wird er kaum geahnt haben, dass diese Weltreise der Beginn seines Exils sein würde und er niemals mehr nach Deutschland zurückkehren sollte. In Indien ereilte ihn die lebensbedrohende Krankheit Malaria, die einige Jahre später wahrscheinlich zu seinem relativ frühen Tod führte:

»Ende Oktober und in der ersten Novemberhälfte 1931 waren meine Fieberanfälle so hochgradig, und die Verbindung von Malaria und Diabetes mit einer tiefen Wunde am rechten Fussknöchel, die sich trotz sorgsamster Behandlung nicht schließen wollte, so beängstigend, dass meine Hoffnung, Deutschland jemals wiederzusehen, sich dem Nullpunkt näherte. Von meinem Krankenlager, in dem schön gelegenen Taj-Mahal-Hotel auf die herrliche weite Bucht von Bombay blickend, sagte ich damals zu meinem Begleiter und Pfleger Tao Li: ›Am Meer trat ich ins Leben und werde es wohl auch am Meer wieder verlassen.‹«2      Er genas wieder so weit, dass er die Reise, die vor allem durch ein umfangreiches Vortragsprogramm finanziert wurde – »176 Vorträge in rund 500 Tagen«3 –, wie geplant fortsetzen konnte und im Mai 1932 in die Schweiz kam, die erste Station seines Exils, wo er, in Ascona und in Zürich, ein Jahr bleiben sollte. Hier schrieb er seinen Bericht Die Weltreise eines Sexualforschers, der noch im verhängnisvollen Jahr 1933 in der Schweiz erschien. Ende März 1933 erhielt er einen Brief aus Berlin, der von drei Angestellten seines Instituts unterzeichnet war und der in seiner scheinbar harmlosen Formulierung die Schrecken des in Berlin herrschenden Nazi-Terrors ahnen lässt:

             »Berlin, den 29. März 1933.

             Herrn

             Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld

             Ascona/Schweiz

 

             Sehr geehrter Herr Sanitätsrat!

Im Augenblick des heftigsten Kampfes gegen die Hetznachrichten aus Deutschland sehen wir uns als Deutsche, die ihr Vaterland lieben, gezwungen, die Verbindung zu Ihnen und somit auch zu Ihren Freunden und Bekannten im Auslande zu benutzen, um Ihnen tatsächlich selbsterlebte Ereignisse mitzuteilen, die unseres Erachtens einen absoluten Gegenbeweis darstellen gegen die im Auslande verbreiteten Greuelnachrichten.

Wir sind in den Wochen seit der nationalen Erhebung hier im Institut für Sexualwissenschaft wiederholt von Beamten des Staates (Kriminalpolizei und Hilfspolizei) zwecks Haussuchung und Recherchen aufgesucht worden. Bei allen Gelegenheiten konnten wir zu unserer freudigen Genugtuung erleben und feststellen, dass von diesen Beamten in korrekter, sachlicher und höflicher Form gehandelt wurde, dass nicht einmal irgendwelche abfälligen Äußerungen gefallen sind.
Selbst als wir gelegentlich von scheinbar illegalen S.A.-Leuten, die keinerlei Ausweise vorzeigen konnten, Besuch erhielten, die nach Ihnen in Parteiangelegenheiten fragten, wurde uns weitgehendste Unterstützung von unserem zuständigen Polizeirevier gewährt.

Wir möchten ferner betonen, dass die Polizei während der Reichstagssitzungen dafür Sorge getragen hatte, dass die Absperrungen um die Krolloper so gelegt wurden, dass der ärztliche Betrieb in unserem Hause aufrechterhalten werden konnte. Nochmals bittend, diese unsere Beobachtungen im Freundes- und Bekanntenkreis mitzuteilen, verbleiben wir mit bestem Gruss Ihre ergebenen

Arthur Röser, Friedrich Hauptstein, Ewald Lausch«4

     Immerhin geht aus diesem Brief hervor, dass schon vor dem 6. Mai, dem Tag der endgültigen Plünderung und Zerstörung, »Beamte des Staates zwecks Haussuchung und Recherchen« das Institut heimsuchten, dass »S.A.-Leute« mehrfach ins Institut kamen, weil sie hofften, Hirschfeld verhaften zu können, und dass ferner wenigstens die drei Briefschreiber sich eine Chance ausrechneten, bei entsprechendem Wohlverhalten den Weiterbestand des Instituts unter dem NS-Regime sichern zu können. Andere Mitarbeiter des Instituts, wohl vor allem Karl Giese, scheinen aber aus den Haussuchungen und SA-Besuchen eine andere Konsequenz gezogen zu haben und so viel wie möglich von den Archiv- und Bibliotheksbeständen des Instituts in Sicherheit gebracht zu haben.5 Am Samstag, den 6. Mai war es dann so weit; alle Tageszeitungen berichteten ausführlich darüber, relativ detailfreudig der Berliner Börsen-Courier in seiner Samstagabendausgabe:

»Säuberung des Magnus-Hirschfeld-Instituts. Als Auftakt der von der Deutschen Studentenschaft in die Wege geleiteten Aktion zur Bekämpfung des undeutschen Schund und Schmutzes in der Literatur wurde heute vormittag gegen ½10 Uhr eine Säuberung des Instituts für Sexualwissenschaft des Professors Magnus Hirschfeld, In den Zelten Ecke Beethovenstraße vorgenommen. Ein großer Lastwagen, dessen Seiten mit Transparenten bedeckt waren, auf denen es u. a. hieß: ›Deutsche Studenten marschieren gegen den undeutschen Geist‹, ›Trutz dem undeutschen Schund und Schmutz‹, begleitet von einer Abteilung der Studenten der Hochschule für Leibesübungen in weissen Hemden, fuhr vor dem Haus vor, und die Studenten machten sich, nachdem Trompetensignale die Aktion angekündigt hatten, daran, eine Sichtung der Bibliothek der Magnus-Hirschfeld-Stiftung vorzunehmen. Ganze Arme voll Bücher, Broschüren, Bilder usw. wurden in den Lastwagen geworfen. Die Aktion der Studenten lockte eine zahlreiche Menschenmenge herbei. Nach Beendigung der Säuberung nahmen die Studenten der Hochschule für Leibesübung, unter denen sich auch zahlreiche S. A.-Leute befanden, im Halbkreis auf der Straße Aufstellung, und in Sprechchören wurde gegen den undeutschen Geist protestiert, der besonders in dem Institut Magnus Hirschfelds eine Stätte gefunden habe. Der Führer des Kreises 10 der Deutschen Studentenschaft, Gutjahr, richtete an seine Kommilitonen dann eine kurze Ansprache, in der er darauf hinwies, dieses Institut stelle ein Geschäftsunternehmen übelster Sorte dar, und die deutsche Studentenschaft lasse es sich nicht weiter gefallen, dass mit den ihr heiligen Begriffen üble Geschäfte gemacht würden. Zum Zeichen des Protestes zerschmetterte er eine Reklamefigur für ein ›Nervenstärkungsmittel‹, das man bei der Säuberungsaktion ebenfalls gefunden hatte. Die Kundgebung fand mit einem dreifachen ›Sieg Heil‹ auf den Reichskanzler Adolf Hitler und dem Gesang des Liedes ›Burschen heraus‹ ihren Abschluss.«

     Anscheinend war es nicht einfach so, dass alles erbeutete Material vier Tage später auf dem Hegel-Platz neben der Staatsoper verbrannt wurde. Die Zeitung Germania der katholischen Zentrumspartei teilte in ihrem Bericht über die Plünderung am 7.5.1933 mit:

»Die beschlagnahmten Bücher des Instituts für Sexualwissenschaft werden noch einer genauen Sichtung durch Sachverständige unterzogen, damit nicht Werke vernichtet werden, die für die medizinische Wissenschaft einen hohen wissenschaftlichen Wert besitzen [. . .] Auch das Bildarchiv des Instituts, in dem Hunderte von Diapositiven lagerten, wurde einer eingehenden Untersuchung unterzogen und alles Undeutsche vernichtet. Ein Teil der Bilder wurde sichergestellt und wird von medizinischen Sachverständigen noch einmal geprüft werden.«

     Schließlich meldeten im November 1933 ausländische Zeitungen, dass das zuständige Berliner Finanzamt eine Versteigerung von Sachen »aus dem Besitz des bekannten Sexualforschers Dr. Magnus Hirschfeld, unter anderem eine 3000 Bände umfassende wissenschaftliche und schöngeistige Bibliothek, ferner ärztliche Apparate, Instrumente, Möbel usw.« veranstaltete.6 Die Finanzbehörde hatte als Beitrag zur Bekämpfung des undeutschen Geistes der Magnus-Hirschfeld-Stiftung die Gemeinnützigkeit aberkannt, was bedeutete, dass mehr als 100 000 Reichsmark Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer nachträglich gefordert wurden und diese Forderung durch Versteigern der geraubten Gegenstände beglichen werden sollte.7 Für das Spektakel der Bücherverbrennung, das die Nazis am Abend des 10. Mai veranstalteten, scheinen sie nur zum geringeren Teil Material von der Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft, sondern vor allem beschlagnahmte Bücher aus den Berliner Volksbüchereien vernichtet zu haben. Nichtsdestoweniger zeigt das bekannte Foto von dem Fackelzug, der der Bücherverbrennung voranging, die bei der Institutsplünderung erbeutete Hirschfeld-Büste, die einer der Nazi-Studenten auf einen Stock gespießt mit sich führt, und Hirschfeld berichtet, dass er im Kino den Wochenschaubericht über die Bücherverbrennung sah und sich dabei bewusst war, dass hier sein Berliner Institut verbrannte.8

     Etwa zur gleichen Zeit, als die Nazis in Berlin sein Institut zerstörten, verließ Hirschfeld die Schweiz, um sich in Paris niederzulassen. Wir wissen kaum etwas über seine Unternehmungen in Paris, er war jedoch schriftstellerisch höchst aktiv und publizierte in französischen Zeitschriften einige Artikel zu sexologischen Fragen, schrieb zwei Bücher, die 1935 in dem Pariser Verlag Gallimard erschienen (L'âme et l'amour und Le sexe inconnu), sowie eine längere Abhandlung Phantom Rasse,9 in der er sich mit der nazistischen Rassenideologie auseinandersetzte. Den sogenannten Röhm-Putsch im Juni 1934, die Ermordung einer Reihe von führenden Nazis durch die eigenen Parteigenossen, nahm er zum Anlass, um die Verhältnisse in Nazideutschland unter der Überschrift »Männerbünde« im Pariser Tageblatt zu kommentieren. Er geht dabei auf das bemerkenswerte Phänomen ein, dass die Begeisterung für Hitler unter den deutschen Homosexuellen trotz der nazistischen Homophobie keinesfalls geringer war als sonst im deutschen Volk; der Mord an dem erwiesenermaßen homosexuellen Nazi-Führer Röhm muss allerdings die schwulen Nazis irritiert haben: »Hitler dürfte sich durch sein scharfes Vorgehen gegen die homosexuellen Jugendführer [Röhm war unter anderm auch die Hitler-Jugend unterstellt], bei dem er ›über Leichen ging‹, eine neue Gruppe von Gegnern geschaffen haben, die ziffernmäßig die der Juden in Deutschland übertrifft. Dieselben ›Urninge‹, die Hitler wegen seiner Toleranz gegen Röhm und Genossen nicht genug preisen konnten und deshalb scharenweise in sein Lager überliefen, fühlen sich nun schwer getroffen und enttäuscht«.10

     Sogar unter den Mitgliedern des WhK hatte es mindestens seit Anfang der dreißiger Jahre Mitglieder der Nazipartei gegeben, und unter den Angestellten des Instituts für Sexualwissenschaft entpuppte sich nach dem 31. Januar 1933 der Verwalter der Bibliothek, Erwin Lausch, als Mitglied der NSDAP.11 Solche Erfahrungen, dass die Begeisterung für die Nazis selbst die ergriffen hatte, für deren Menschenrecht Hirschfeld sich fast ein Leben lang engagiert hatte, müssen mehr als nur ernüchternd auf den Gemütszustand des Exilanten gewirkt haben, und natürlich war auch die Hoffnung vergeblich, dass die homosexuellen Nazis sich nach den Morden an den SA-Führern besinnen würden. Widerstand gegen die Nazis leisteten allenfalls Schwule aus dem Exil, etwa Klaus Mann, Kurt Hiller und Ludwig Renn. Die Daheimgebliebenen steigerten ihre Anstrengungen, sich zu tarnen und anzupassen.

     Es gibt Anzeichen dafür, dass solche deprimierenden Erfahrungen Hirschfelds Gesundheit zunehmend zerrütteten, doch widerstand er der Versuchung, zu resignieren und aufzugeben, unternahm sogar den Versuch eines Neuanfangs in Paris. An seinen New Yorker Freund, den Arzt Victor Robinson, schrieb er damals: »Mein lieber Herr Professor Robinson! [. . .] Meine Absicht ist es jetzt vorläufig in Paris zu bleiben, das außerordentlich viel geistige Anregung bietet, und den Versuch zu machen, in Verbindung mit einigen Freunden, vor allem meinem langjährigen Mitarbeiter in Berlin, Karl Giese, ein neues Institut für Sexualwissenschaft in kleinerem Rahmen zu errichten. Vor allem wollen wir auch wieder eine Fachbibliothek zusammenstellen, wenn es auch kaum möglich sein wird, die unersetzlichen Manuscripte und Originalien (Erstausgaben etc.) wieder zu beschaffen.«12 Kurz darauf verschickte er an seine Bekannten und die Mitglieder der Weltliga eine gedruckte Mitteilung, dass er mit dem französischen Arzt Dr. Edmond Zammert in der Pariser Avenue Charles Floquet Nr. 24 ein Institut des sciences sexologiques eröffnet habe. Außer dieser gedruckten Mitteilung und dem entsprechenden Briefbogen, auf dem Hirschfeld seit April 1934 seine Briefe schrieb, ist über die Tätigkeit des Instituts nichts bekannt. Es ist zu vermuten, dass auch nicht mehr als die formelle Institutsgründung stattgefunden hat. Zu Anfang des Winters ging Hirschfeld nach Nizza, weil er das mildere Mittelmeerklima besser zu vertragen hoffte. Vorher, am 23. Oktober 1934, schrieb er aus Paris an Victor Robinson über seinen Plan, nach Amerika auszuwandern: »Ich habe die Hoffnung, nach Amerika zu kommen (vielleicht im nächsten Frühjahr), noch immer nicht aufgegeben. Europa wird von Monat zu Monat unsicherer, unruhiger und streitsüchtiger. Es ist oft zum Verzweifeln. Nur die Arbeit hält uns aufrecht.«13

     Den letzten bekannten Brief schrieb er am 24. März 1935 aus Nizza an das Ehepaar Brupbacher nach Zürich. Er teilt darin mit, gesundheitlich gehe es ihm »leidlich« und er habe sich entschlossen, sich an der Côte d'Azur anzusiedeln; Tao Li, »den Sie ja auch kennen und ein wenig lieb gewonnen haben«, begebe sich in der nächsten Woche nach Zürich, um dort sein medizinisches Studium fortzusetzen und abzuschließen; »es ist mir eine große Beruhigung, wenn ich ihn unter Ihrem gütigen Schutz weiss.« Schließlich: »Mit großer Mühe konnte ich auf Umwegen noch einiges aus dem Berliner Institut retten und hoffe immerhin noch soviel an Material zu hinterlassen, dass sich vielleicht doch noch das Sprichwort erfüllt ›Und neues Leben blüht aus den Ruinen.‹«14

     Das Wort »hinterlassen« ist nicht zufällig gewählt. Zwei Monate vorher hatte er sein Testament gemacht und darin zu seinen alleinigen Erben Tao Li und Karl Giese eingesetzt, »und zwar mit der ausdrücklichen Auflage, ihren Erbteil nicht zum persönlichen Gebrauch zu verwenden, sondern lediglich für die Zwecke der Sexualwissenschaft im Sinne meiner sexualwissenschaftlichen Ideen, Arbeiten und Bestrebungen«.15

     Am 14. Mai 1935, dem Tag seines 67.Geburtstags, starb Hirschfeld. Im Totenschein ist eine Ursache nicht vermerkt; es ist zu vermuten, dass Diabetes und Spätfolgen der Malaria wesentlich beteiligt waren. Einen der vielen Nachrufe, die in der Presse außerhalb Nazi-Deutschlands erschienen, verfasste Kurt Hiller, der nach Karl Giese wohl am längsten mit Hirschfeld zusammengearbeitet hatte; über Hirschfelds Sterben heißt es dort: »Er starb als Geächteter, arm, in der Fremde. Aber er starb schön; einen leichten, fast heiteren Tod. Morgens nahm er noch fröhlich Geburtstagsglückwünsche entgegen, dann ging er spazieren, wollte einen erkrankten Kollegen besuchen; im Vorgarten des Hauses sank er bewusstlos zusammen, um nicht wiederaufzuwachen.«16 Der Wunsch, dass seine beiden Erben mit geretteten Materialien aus Berlin ein neues Institut begründen könnten, erfüllte sich nicht. Ihr weiteres Schicksal sollte solche Zukunftspläne vereiteln: Nach Hirschfelds Tod verließ Karl Giese Frankreich,17 lebte in Wien und Brünn aber in wirtschaftlich so schlechten Verhältnissen, dass er von Freunden, besonders von Norman Haire, finanziell unterstützt werden musste.
     Im Stockholmer Archiv der Arbeiterbewegung befinden sich einige Briefe,
18 die unmittelbar nach Hirschfelds Tod zwischen Karl Giese und Max Hodann gewechselt wurden und die desperate Situation der deutschen Sexologen im Exil beleuchten; ferner werden die Gründe etwas deutlicher, weshalb Hirschfelds testamentarischer Wille, dass seine Erben das Institut für Sexualwissenschaft wiedererrichten sollten, unverwirklicht blieb; am 27. Juli 1935 schrieb Hodann aus England an Giese in Brünn:

»Lieber Herr Giese [. . .] Ich habe die Befürchtung, dass nun, nach Hirschfelds Tod, seine ganze Arbeit nicht nur materiell, sondern auch traditionell zerfällt [. . .] Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir mitteilen würden, was aus dem wissenschaftlichen Nachlass Hirschfelds geworden ist, was und wo an Sammlungsresten noch etwas vorhanden ist [. . .] Vielleicht können wir einen kleinen Kreis von Menschen zusammenbringen, die an der Aufrechterhaltung der wissenschaftlichen Tradition des Instituts soweit interessiert sind, dass sie etwas dafür zu tun bereit sind [. . .]«

Giese antwortet am 2. August:

»Lieber Dr. Hodann! Eben erreicht mich Ihr Brief vom 27. 7. und auch Ihr Nachruf.19 Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie ihn mir geschickt haben, ebenso wie ich es außerordentlich erfreulich finde, dass Sie, der [Sie] doch auch in Schwierigkeiten stecken, sich um den Nachlass Dr. H[irschfelds] kümmern [. . .] Unglücklicher Weise ist mir doch der Aufenthalt in Frankreich unmöglich gemacht, sodass ich nicht nur nicht mehr [. . .] am Wiederaufbau und Erhaltung der Sache arbeiten konnte – von der persönlichen Trennung ganz abgesehen – sondern mir auch jetzt nicht die so notwendige Möglichkeit gegeben ist, mich an Ort und Stelle um die Erledigung dieser Sachen zu kümmern. Über mein privates Schicksal werden Sie wahrscheinlich zum mindesten in grossen Zügen unterrichtet sein, nämlich dass ich in Wien lebe und mich dort für das Abitur und den Dr. med. vorbereiten wollte, dass sich Dr. Haire und Ellen Bækgaard dafür materiell einsetzten, gemeinsam mit Dr. H. etc. Es war mir durch einen Zufall möglich, wenigstens auf dem letzten Gang Dr. H. begleiten und einige Abschiedsworte an seinem Grabe sprechen zu können [. . .] Ich möchte aber auf die sachlichen Fragen Ihres Briefes zurückkommen. Wie gesagt, leidet das Ganze jetzt darunter, dass allerlei formale Schwierigkeiten von seiten der Behörden sich eingestellt haben, die es vorläufig unmöglich machen auch nur zu übersehen, wie weit die Hinterlassenschaft Dr. H's materielle Möglichkeiten bietet, die vorgesehene Erhaltung und Weiterführung des Materials durchzuführen. Es wird von Seiten der Bank, bei der sich ein Safe unbekannten Inhalts befindet, ein Dokument verlangt, das eigentlich nur über die deutsche Botschaft zu erlangen ist, die wir zu umgehen alle Ursache haben [. . .] Zu allem Unglück sind in mir völlig unverständlicher Weise Dr. Haire und Ellen Bækgaard, die wie schon angeführt in edelmütigster Weise für meine Zukunft sorgen wollten, in dem Moment abgesprungen, als die Hilfe am notwendigsten war und zwar mit der theoretischen Begründung, dass mein Studium und Unterhalt aus dem Nachlass zu bestreiten wären. Wenn das merkwürdigerweise auch nicht testamentarisch vorgesehen war, so finde ich diesen Standpunkt ganz berechtigt, nur hätte man wenigstens warten können, bis dieses Erbe realisierbar ist. Bis jetzt lebe ich in aufregendster Weise von einem Pump zum andern, habe monatelang meine Wohnung nicht bezahlen können und kriege keine ausreichenden Nachrichten von dem Nizzaer Testamentsvollstrecker [. . .] Tao, der ja als in Honkong geboren englischer Staatsbürger ist, wird wahrscheinlich nach London gehen um dort zu studieren, da er ja keinerlei anderweitige Bindungen mehr an Europa hat. Allerdings ist es überhaupt in Frage gestellt, ob er nach alledem überhaupt in Europa bleibt. Auch ob er seinen Erbteil gemeinsam mit mir annimmt, ist noch sehr fraglich, da er befürchtet, sich damit für sein Alter zu sehr zu binden [. . .]«

Hodann an Giese, 8. 8. 1935:

»Lieber Giese, [. . .] Meine Pläne hängen in der Tat im Augenblick ganz davon ab, ob ich hier Geld für ein anspruchsloses Research-Centre auftreiben kann. Wie wir das dann ausbauen, wird die zweite Sorge sein. Ich bin aber sehr beglückt, dass wir vermutlich werden kollaborieren können, denn ich habe das bestimmte Gefühl, dass wenn wir es nicht machen, all die anderen Freunde nicht die Energie dieser Testamentsvollstreckung aufbringen werden [. . .]«

Giese an Hodann:

»Wien, den 24. September 1935. Lieber Dr. Hodann! [. . .] Kurz nach Ankunft Ihres Briefes ist mein Freund und Anwalt, Herr Dr. Karl Fein aus Brünn, den Sie wahrscheinlich auf dem Brünner Kongress zum mindesten flüchtig kennen gelernt haben, nach Nizza gefahren, da sich herausstellte, dass nach unserer Meinung die Sache dort nicht mit dem genügenden Elan angefasst wurde [. . .] Immerhin ist es auch Dr. Fein in den 5 Wochen, die er dort verbrachte (1 Woche war ursprünglich vorgesehen), nicht einmal gelungen, die Safeeröffnung und Feststellung des Besitzes zu erwirken. Noch immer ist ein diesbezügliches Gesuch unterwegs [. . .] Was das in Nizza liegende Material anlangt, so kann ich keine genaue Auskunft darüber geben, da ich es selbst nicht genau weiss. Unter dem zurückgekauften Material20 befindet sich vieles, was zwar in unserm Institut einen gewissen Wert hatte, aber so herausgerissen weniger wertvoll ist. Mappen sind nur sehr wenige gerettet, die meisten verbrannt etc. Das wertvolle ethnologische Material ist zur Zeit noch immer nicht ›disponibel‹, wie ich mal sagen möchte. Ich kann mich da nicht näher auslassen [. . .]«

     Schließlich ist noch ein Brief Gieses an Hodann vom Oktober 1935 erhalten, in dem überhaupt nicht mehr von gerettetem oder zurückgekauftem Material die Rede ist; Giese beantwortet hier nur noch Fragen zu Hirschfelds Lebenswerk, die Hodann ihm anscheinend für die Recherchen zu seinem Buch History of Modern Morals gestellt hatte. Dies Buch, das 1937 in London erschien, enthält eine Darstellung der Sexualreformbewegung und ihres Zentrums, des Hirschfeldschen Instituts in Berlin. Statt der zunächst erhofften Institutsneugründung war es Hodann anscheinend nur gelungen, eine Art Stipendium zu erhalten, mit dessen Hilfe er History of Modern Morals schreiben konnte.

     Über Gieses weiteres Schicksal ist fast nichts bekannt. Seine Lage dürfte sich jedoch eher noch verschlechtert haben, so dass er im März 1938 – über das genaue Datum gibt es unterschiedliche Angaben – in seiner Wohnung in Brünn Selbstmord durch Leuchtgas beging. Der Rechtsanwalt Dr. Karl Fein wurde sein Erbe, ist aber kurz darauf von den Nazis ins Konzentrationslager deportiert und dort anscheinend ermordet worden.21 Unbekannt ist auch das weitere Schicksal von Tao Li oder Li Shiu Tong, wie anscheinend sein richtiger Name lautete. Nach dem Krieg hat er wohl noch in der Schweiz gelebt und ist dann irgendwann in seine Heimatstadt Hongkong zurückgekehrt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er sich jemals im Sinne eines Schülers oder Erben Hirschfelds betätigt hat, wie überhaupt sein weiterer Lebensweg in völligem Dunkel liegt.

 

 

Chronik zu Magnus Hirschfelds Leben

 

1868          14. Mai: Magnus Hirschfeld wird als sechstes von sieben Kindern des Arztes Hermann und seiner Ehefrau Friederike Hirschfeld in der pommerschen Stadt Kolberg geboren.

1885          19. Juni: Tod des Vaters.

1887          Abitur am Dom-Gymnasium in Kolberg. Beginn des Studiums der »neueren Sprachen« an der Universität Breslau.

1888/89    Zwei Semester Medizinstudium an der Universität Straßburg.

1889/90    Zwei Semester Medizinstudium an der Universität München. Begegnung mit Henrik Ibsen. Freundschaft mit Donald und Frank Wedekind.

1890/91    Drei Semester Medizinstudium in Heidelberg.

Sommer 1890: Militärdienst beim »2. badischen Grenadier-Regiment Kaiser Wilhelm I ? 110.«

1891/92    Medizinstudium in Berlin. Freundschaft mit August Bebel.

1892          13. Februar: Promotion in Berlin

1893          27. August: Reise von Berlin in die USA.

1894          Rückkehr aus den USA (über Nordafrika).

29. März bis 5. April: Teilnahme am Internationalen Ärztekongress in Rom. Freundschaft mit Cesare Lombroso.

Eröffnung der Arztpraxis in Magdeburg-Neustadt

1896          Übersiedlung nach Charlottenburg bei Berlin und Eröffnung einer Arztpraxis dortselbst. Redakteur der Wochenschrift für naturgemäße Lebens- und Heilweise Der Hausdoctor (bis 1900).

August: Sappho und Sokrates, das Homosexuellen-Manifest, erscheint erstmals.

1897    15. Mai: Hirschfeld gründet in seiner Charlottenburger Wohnung zusammen mit Eduard Oberg, Max Spohr und Franz Josef von Bülow das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK).
Dezember: Die Petition gegen § 175 RStGB wird erstmals an den Reichstag und den Bundesrat gerichtet.

1898          Neuausgabe der Schriften von Karl Heinrich Ulrichs.

1899          Der erste Band des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen erscheint, darin die erste Fassung des Psychobiologischen Fragebogens.

1901          Die populäre Aufklärungsbroschüre Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen? erscheint erstmals.

1903          Dezember: »Charlottenburger Studentenenquete«: an 3.000 Studenten der Technischen Hochschule Charlottenburg wird schriftlich die Frage nach ihrer sexuellen Orientierung gestellt.

1904          Februar: »Metallarbeiter-Enquete«: an 5.721 Berliner Eisendreher wird die gleiche Frage gerichtet.

7. Mai: Hirschfeld wird zu 200 Mark Geldstrafe oder 20 Tage Gefängnis verurteilt. Fünf Studenten hatten ihn angezeigt, weil sie sich durch die Umfrage beleidigt fühlten.

1905/06    Auseinandersetzung mit Wilhelm Fließ und Sigmund Freud über die Urheberschaft der Idee von der menschlichen Bisexualität. Vom Wesen der Liebe, zugleich ein Beitrag zur Lösung der Frage der Bisexualität enthält die Darstellung der Kontroverse.

1907          Abspaltung einer »Secession des WhK« und Gründung des »Bundes für männliche Kultur« durch Benedict Friedlaender.

25. Oktober: Hirschfeld sagt im Beleidigungsprozess des Generals Kuno Moltke gegen Maximilian Harden als Sachverständiger aus, dass Moltke »unbewusst homosexuell« sei. Harden wird daraufhin freigesprochen.

16. Dezember: In einem zweiten Strafprozess gegen Harden in der gleichen Sache widerruft Hirschfeld sein Gutachten. Harden wird zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Hirschfeld ist am weiteren Verlauf der Eulenburg-Affäre nicht mehr direkt beteiligt.

1908          Hirschfeld ist Herausgeber der Zeitschrift für Sexualwissenschaft. Begegnung mit Sigmund Freud in Wien.

1908    Juli: Beginn der Freundschaft mit Kurt Hiller.
27. August: Mit Iwan Bloch, Karl Abraham, Otto Juliusburger und Heinrich Koerber Gründung der Berliner Zweiggruppe der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.

1910          Januar/Februar: Reise nach London, Edinburgh, Cambridge, Paris und Amsterdam.

30./31. März: Teilnahme am »2. Internationalen Psychoanalytischen Kongress« in Nürnberg.

Die Transvestiten erscheint.

Umzug von Charlottenburg nach Berlin. Dort Eröffnung einer Praxis als »Spezialarzt für nervöse und seelische Leiden«, nicht, wie später behauptet wurde, »Spezialarzt für seelische Sexualleiden«.

1911          Teilnahme am »3. Internationalen Psychoanalytischen Kongress« in Weimar. Dort Angriff C. G. Jungs, was Hirschfeld zum Austritt aus der Psychoanalytiker-Vereinigung veranlasst.

1912          Naturgesetze der Liebe erscheint.

Begegnung mit Ernst Haeckel in Jena.

1913          21. Januar: Gründung der »Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft und Eugenik« in Berlin. Albert Eulenburg ist Vorsitzender, Hirschfeld gemeinsam mit Iwan Bloch stellvertretender Vorsitzender.

Teilnahme am »14. Internationalen Medizinischen Kongress« in London.

Begegnung mit Eugen Steinach in Wien.

1914          Die Homosexualität des Mannes und des Weibes erscheint.

1917–20 Drei Bände Sexualpathologie erscheinen.

1919          24. Mai: Uraufführung des Homosexuellenfilms Anders als die Andern

6. Juli: Eröffnung des Instituts für Sexualwissenschaft

1920          4. Oktober: Bei einem Attentat »völkischer Rowdies« auf offener Straße in München wird Hirschfeld schwer verletzt.

1921          Hirschfeld wird Ehrenmitglied der »British Society for the Study of Sex Psychology« (englisches Pendant des WhK).
1921    15.–20. September: »1. Internationale Tagung für Sexualreform« in Berlin.

1922          19.–27. März: Vortragsreise durch Holland.

1926          Juni: Reise auf Einladung der Regierung der UdSSR nach Moskau und Leningrad.

1926–1930    Fünf Bände Geschlechtskunde erscheinen.

1927          Der Film Gesetze der Liebe wird verboten.

1928          1.–5. Juli: Gründung der Weltliga für Sexualreform in Kopenhagen. Nach dem Berliner Kongress von 1921 gilt der Kopenhagener Kongress als der zweite.

1929          9.–13. September: 3. Kongress der Weltliga für Sexualreform in London.

16./17. Oktober: Strafrechtsausschuss des Reichstags beschließt Reform des Homosexuellenstrafrechts.

24. November: Rücktritt vom Vorsitz des WhK.

1930          13.–20. September: 4. Kongress der Weltliga für Sexualreform in Wien.

Mit Andreas Gaspar Herausgeber der Sittengeschichte des Weltkriegs.

15. November: Beginn der Reise in die USA.

1931          »Weltreise« von den USA nach Japan, China, Indonesien, Indien, Philippinen, Ägypten, Palästina.

1932          2. April: Rückkehr von der Weltreise, Ankunft in Wien. Von dort Übersiedelung nach Ascona (Schweiz).

5. Kongress der Weltliga für Sexualreform in Brünn.

1933          6. Mai: Schließung und Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft durch die Nazis.

Reise von der Schweiz nach Paris.

8. Juni: Selbstauflösung des WhK in Berlin.

1934          Übersiedlung nach Nizza.

1935          14. Mai: Hirschfeld stirbt an seinem 67. Geburtstag in Nizza.
 

 

Abbildungen

 


Die einzige heute bekannte Porträtfotografie von Magnus Hirschfelds Vater Hermann Hirschfeld (* 31. Juli 1825 in Neustettin, gest. 17. Juni 1885 in Kolberg) Ein Porträt der Mutter Friederike Hirschfeld geborene Mann ist nicht auffindbar, ihre Lebensdaten sind unbekannt. Sie kam in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Bernstein an der Warthe zur Welt und starb etwa zwanzig Jahre nach ihrem Ehemann in Kolberg. Foto: Jewish National & University Library Jerusalem

 

 


Die Schriftstellerin Franziska Mann (* 9. Juni 1859 in Kolberg, gest. Dezember 1927 in Berlin) war eine der fünf Schwestern Magnus Hirschfelds. Von seinen beiden Brüdern Eduard (1865-1910) und Emanuel (1857-1925) sowie von den Schwestern Recha und Olga gibt es keine Porträts. Auch wissen wir nicht, ob die Dame auf dem Frontispiz-Foto Schwester Jenny oder Schwester Agnes ist. Olga soll 1943 im KZ Theresienstadt ermordet worden sein. Foto: Sammlung Ruth G. Cohen, Melbourne, Australien.

 

 


Hermann Freiherr von Teschenberg (* 6. Dezember 1866 in Teschenberg/Mähren gest. 1911 in Neapel). Hirschfeld schreibt über ihn in seiner Geschlechtskunde (Band 1, S. 357 f.): »Als Sohn eines österreichischen Ministers geboren, von einer Anmut, die alle entzückte, die ihn kennen lernten, schien ihm, dem Patenkinde und Liebling der Kaiserin Elisabeth von Österreich, eine glänzende Zukunft gewiss, bis ihn eines Abends sein Schicksal erreichte. Er wurde, wenig über 20 Jahre alt, im Wiener Prater ertappt, als er, auf einer Bank sitzend, einen Kaiserjäger küsste. Wäre es oder er selbst ein Dienstmädchen gewesen (was ihm, wie er versicherte, bei seiner weiblichen Wesensartung bedeutend lieber gewesen wäre als seine hohe Abstammung), hätte sich kein Mensch um den harmlosen Vorgang gekümmert. So wurde er ihm zum Verhängnis, er wurde aufgeschrieben und mit Schimpf und Schande aus der Heimat gejagt; möglichst heimlich und schnell, sagte man ihm, solle er, um den Skandal zu vermeiden, außer Landes gehen. Das erfordere die Rücksicht auf seinen Vater, den Minister, und seine Taufpatin, die Kaiserin. So saß er schon zwölf Stunden nach diesem Vorfall auf der Eisenbahn, um sich nach England zu begeben, wo er mit dem gleichgearteten Oscar Wilde Freundschaft schloss, dessen Werke er später ins Deutsche übertrug. Nach der unmenschlichen Verurteilung des großen englischen Dichters siedelte er nach Paris über und schließlich nach Deutschland, wo er sich schließlich ganz in den Dienst des Befreiungskampfes stellte, dessen Bedeutung ihn sein und Wildes Schicksal gelehrt hatte. Viele Jahre betrat er mit dem Glockenschalge zehn (aus der Messe der katholischen Kirche kommend) unser Büro, das er nach vierstündiger Arbeit ebenso pünktlich wieder verließ. Oft erzählte er mir, dass, nachdem er von seiner Mutter (es war seine Stiefmutter, die er ebenso zärtlich liebte, wie sie ihn) Abschied genommen hatte - für immer, denn er sah weder sie noch seine Heimat jemals wieder - , er sich eine Zigarette anzündete, mit der er zum >Kettenraucher< wurde. Denn von da ab brannte er sich eine Zigarette an der andern an, viele Dutzend am Tage, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, viele Jahre lang. Seine Finger verfärbten sich gelb, allmählich vergilbte auch sein Gesicht, der Herzmuskel wurde schwächer, der Geschlechtstrieb schwand. Als das durch Nikotin entartete und ermattete Herz seiner Aufgabe als Druck- und Saugpumpe nicht mehr gerecht werden konnte, schwollen die Beine wassersüchtig an. Das war der Anfang vom Ende. Aber erst, nachdem die Wassersucht auch auf den Leib übergegangen war, brachte er es fertig, dem Rat vieler Ärzte folgend, der Zigarette zu entsagen, doch da war es schon zu spät. Er sah bereits wie eine lebende Mumie aus, als er mit letzter Kraft und Hoffnung die italienische Sonne aufsuchte, unter deren Glanz und Wärme er in einem Spital zu Neapel verstarb.« Foto: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jahrgang 4, 1902.

 

 


Albert Moll (*4. Mai 1862 in Lissa, Posen gest. 23. September 1939 in Berlin) war einer der führenden Sexologen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Nach anfänglicher kollegialer Zusammenarbeit mit Hirschfeld und dem WhK entwickelte sich Moll zu einem der schärfsten und aggressivsten Kritiker seiner Homosexuellentheorie und -politik. Erstmals 1904 tadelte er in der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung Hirschfeld, weil dieser beweisen wollte, »dass die Homosexualität keine krankhafte Erscheinung sei.« Bald glaubte er, Hirschfeld und das WhK seien eine Gefahr für die gesunde deutsche Jugend, weil junge Männer besonders leicht dauerhaft mit Hilfe der Theorien Hirschfelds zur Homosexualität verführt werden. Molls Kampf gegen Hirschfeld wurde nicht bloß mit publizistischen Mitteln, sondern auch mit verleumderischen Denunziationen und ähnlichem geführt. In seinem oft gelobten Werk Ärztliche Ethik (Stuttgart 1902) hat er ethische Regeln bei Kampf der Ärzte gegeneinander bezeichnenderweise nicht erörtert. Foto: Sammlung Prof. Dr. Otto Winkelmann, Frankfurt am Main.

 

 


Die »Gemeinschaft der Eigenen«, eine im Mai 1903 von dem Schriftsteller und Verleger Adolf Brand (* 14. November 1874 in Berlin, gest. 26. Februar 1945 in Berlin) gegründete und geführte Schwulenvereinigung, kämpfte während der meisten Zeit ihres dreißigjährigen Bestehens gegen Hirschfeld und das WhK. Kurt Hiller charakterisierte Brand 1948 rückblickend recht treffend: »Was Brand anlangt, so strebte ich sehr bald zwischen ihm und Hirschfeld die Aussöhnung an. Sie gelang mir für einige Jahre, dann krachte es zwischen beiden Männern von neuem. Mehr durch Brands Schuld übrigens als durch die Hirschfelds; Brand war im tiefsten ein edler Mensch, aber von engem Horizont und ohne ausreichende Bildung. Er gehörte zu jenen in der >Bewegung< zu zahlreichen Dilettanten, deren Führungsanspruch zwar wohl durch Charakter und guten Willen zum Kampf, nicht aber durch intellektuelles Niveau und gute Kenntnisse gedeckt war. Brand zeigte anarchoide und deutschvölkische Züge, also ultralinke und ultrarechte, und das machte die Zusammenarbeit mit ihm innerhalb einer Bewegung, die konkrete Ergebnisse in der öffentlichen Meinung ihrer Zeit und in der zeitgenössischen Gesetzgebung erzielen wollte, oft zur Qual.« (HILLER in: Der Kreis 16, 1948, Nr. 5, S. 4)

 

 


Ferdinand Karsch-Haack (* 2. Februar 1853 in Münster, gest. 20. Dezember 1936 in Berlin) war von Beruf Kustos am Zoologischen Museum der Berliner Universität und als junger Mann mit Karl Heinrich Ulrichs befreundet. 1899 begann er seine äußerst fruchtbare Mitarbeit im WhK und am Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Mit zahlreichen grundlegenden historischen Studien über Heinrich Hößli, Johannes von Müller und viele andere gehört er zu den Schöpfern einer Forschungsrichtung, die man als schwule Geschichtsforschung bezeichnen könnte. Sein großer Literaturbericht Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker (München 1911) wurde 1970 erneut aufgelegt.

 

 


Der holländische Arzt Lucien Sophie Albert Marie von Römer (*23. August 1873 in Kampen/Holland, gest. 23. Dezember 1965 in Malang/Indonesien) brachte als einer der ersten internationale Verbindungen ins WhK. Ein Jahr vor Hirschfeld hatte er an der Amsterdamer Universität statistische Erhebungen über die Häufigkeit der Homosexuellen unternommen. Zahlreiche historische Studien aus seiner Feder erschienen im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. 1911 gehörte er zu den Gründern des Niederländischen WhK und ging wenige Jahre später in eine Art Exil auf die Insel Java in Niederländisch-Indien. Hirschfeld hat ihn auf seiner Weltreise 1931 dort besucht und ihn in seinem Weltreise-Buch porträtiert (HlRSCHFELD, Weltreise eines Sexualforschers S. 159 ff.)

 

 


Der Jurist und Schriftsteller Kurt Hiller (* 17. August 1885 in Berlin, gest. 1. Oktober 1972 in Hamburg) gehörte von 1908 an bis zu Hirschfelds Emigration zu dessen engen Vertrauten und Mitarbeitern, ohne jedoch manche Vorbehalte gegen Hirschfelds Sexualtheorie aufzugeben. »Es ist ohne Zweifel ein Verdienst der Ärzte, die Sexualwissenschaft begründet zu haben. Aber ob es ein Verdienst des Weltregiments war, die Sexualwissenschaft gerade durch Ärzte begründen zu lassen?« schrieb Hiller 1952 m seiner Aphorismensammlung Aufbruch zum Paradies.

Foto aus dem Jahre 1911: Letterkundig Museum Den Haag

 

 


Vom 2. bis zum 6. Juni 1914 veranstaltete der Deutsche Monistenbund in Jena für seine Mitglieder »Pfingstkurse«, eine Art Kongress mit populärwissenschaftlichen Vorträgen. Hirschfeld, der dem Deutschen Monistenbund wahrscheinlich seit seiner Gründung 1906 angehörte, referierte auf dem Pfingstkurs von 1914 über »Grundzüge der Sexualwissenschaft«. Das Foto zeigt Hirschfeld mit anderen Teilnehmern, in der Mitte den Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald, den damaligen Vorsitzenden des Monistenbundes. Foto: Ernst-Haeckel-Haus Jena

 

 


Heiligabend 1917 feierte Hirschfeld noch in seiner Wohnung In den Zelten 16. Im folgenden Jahr zog er in die gegenüber liegende Villa Joachim, In den Zelten 9a, wo er das Institut für Sexualwissenschaft eröffnete. »Ich habe Hirschfelds Heim in Erinnerung als etwas Kostbares, etwas Warmes, wo man hübsche Dinge fand, wo es, kurz gesagt, eine schöne Atmosphäre gab. Vom Weihnachtsabend 1917 habe ich noch immer eine Photographie. Obwohl er Jude war, feierte er Weihnachten wie alle anderen Familien in Berlin mit Weihnachtsbaum und allem, was dazu gehörte.« (Erika KWASNIK, Bei »Onkel Hirschfeld«, in: Mitteilungen der Magnus Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 5, 1985, S. 29)

 

 


Der Arzt und Physiologe Eugen Steinach (* 27. Januar 1861 in Hohenems, Vorarlberg, gest. 13. Mai 1944 in Territet, Schweiz) behauptete 1917, dass die Hoden homosexueller und heterosexueller Männer unterschiedlich seien und dass durch Hodentransplantation die Triebrichtung umgedreht werden könne. Hirschfeld hat sich von Steinachs Experimenten einen Beweis für das Angeborensein der sexuellen Orientierung erhofft, doch erwiesen sich Steinachs Annahmen als falsch; keiner der Homosexuellen, deren Hoden operativ ausgetauscht wurden, verwandelte sich in einen Heterosexuellen. Foto: H. MENG, Psyche und Hormon, Bern 1944.

 

 


Hirschfeld mit dem Ehepaar Paul und Maria Krische (sitzend) und zwei unbekannten Nackten auf dem Freikörperkulturgelände Motzener See südlich von Berlin um 1925.

Foto: Bilderbuch der Körperkulturschule Adolf Koch, Leipzig 1933.

 

 


Der Schriftsteller Richard Linsert (* 17. November 1899 in Berlin, t 3. Februar 1933 in Berlin) gehörte von 1923 bis 1933 zu den führenden WhK-Mitgliedern. Zugleich war er Mitglied der KPD. Vermutlich ist es seiner Überzeugungsarbeit zu danken, dass sich die KPD die sexualpolitischen Ziele des WhK zu eigen machte und im Strafrechtsausschuss des Reichstags durchzusetzen versuchte. Foto: Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Nr. 34, Sept. 1932 / Febr. 1933, S. 409.

 

 


Karl Giese (*18. Oktober 1898 in Berlin, gest. 17. August 1938 in Brünn) war Hirschfelds Lebenspartner in seinen letzten beiden Jahrzehnten. Seit 1919 wohnte er mit Hirschfeld im Institut für Sexualwissenschaft und arbeitete dort als Verwalter des Archivs. Foto: Schwules Museum Berlin

 

 


Hirschfeld mit seinem chinesischen Freund und Schüler Tao Li im französischen Exil um 1934.

Foto: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Berlin

 

 


Hirschfeld auf einer Party während des IV. Kongresses der Weltliga für Sexualreform in Wien im September 1930. Rechts hinter Hirschfeld stehend: Norman Haire, am Tisch mit gestreiftem Schlips: Karl Giese.

Foto: Archiv des Autors

 

 


Den Aufmarsch zur Zerstörung des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 zeigt dieses Foto, das erstmals in den fünfziger Jahren in einer nicht identifizierten Zeitschrift der DDR erschien. Der Dresdener Arzt Rudolf Klimmer (1905-1977) hat es dort ausgeschnitten und später dem Autor geschenkt. Es ist nicht übertrieben, wenn man Klimmers schriftstellerisches und sexualpolitisches Lebenswerk als die Wiederaufnahme des Hirschfeldschen Kampfes für Schwulenemanzipation in Ostdeutschland bezeichnet. Die dortigen politischen Verhältnisse erlaubten ihm zwar nicht, eine Organisation ähnlich dem WhK zu gründen. Dass aber 1968 »bei­schlafähnliche Handlungen« unter erwachsenen Männern in der DDR straffrei wurden, ist zu einem erheblichen Teil den unentweg­ten Interventionen Klimmers bei den gesetzgebenden Institutionen der DDR zu danken. Zu Klimmer vgl. G. GRAU, Ein Leben im Kampf gegen den Paragraphen 175, in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste, Berlin 1998, S. 46-64.

 

 


Nach der Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft erließ das Geheime Staatspolizeiamt am 18. November 1933 eine »Einziehungsverfügung«, die das Institutsgebäude zum Eigentum des »Preußischen Staats, vertreten durch den Preußischen Finanzminister« erklärte. Im letzten Kriegsjahr wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff vollständig zerstört. Das Foto von der Ruine hat die Tiergartener Baubehörde 1948 unmittelbar vor der Beseitigung der Trümmer aufnehmen lassen. Heute befindet sich auf dem Grundstück eine Parkanlage als Teil des Tiergartens. Foto: Schwules Museum Berlin

 

 

 

Literatur

 

 

Bækgaard, E.: Das sexualwissenschaftliche Institut in Berlin, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 5, 1985, S. 32–35

Bauer, J. E.: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste, hg. von Manfred Herzer. Berlin 1998, S. 15–45

Baumgardt, M.: Hirschfelds Testament, in: Dokumentation der Vortragsreihe Homosexualität und Wissenschaft. Berlin 1985, S. 181–186

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–    Max Spohr, Adolf Brand, Bernhard Zack – drei Verleger schwuler Emanzipationsliteratur in der Kaiserzeit, in: Capri Nr. 11, Juni 1991, S. 15–30

–    Zu einem Brief Sigmund Freuds an Magnus Hirschfeld vom 2. November 1911, in: Capri Nr. 19, Juli 1995, S. 30–33

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–    Adolf Brand und Der Eigene, in: Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Berlin 1997, S. 49–53

–    Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 28, 1998, S. 45–56

–    Hirschfeld und das Unaussprechliche, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 31/32, 2000, S. 47–50

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–    Rückschritte in der Sowjetunion, in: Sozialistische Warte, 1936, S. 326–331 –               Persönliches über Magnus Hirschfeld, in: Der Kreis (Zürich) 16, 1948, Nr. 5, S. 3–5

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Hirschfeld, H.: De effectu Chloroformi. Med. Diss. Berlin 1848

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–    Sappho und Sokrates. Leipzig 1896 u. ö.

[Die 1. Auflage erschien unter dem Pseudonym Th. Ramien]

–    Naturheilmethode und Sozialdemokratie, in: Der Hausdoctor 8, 1897, S. 249–251

–    Ein Programmentwurf für die deutsche Naturheilbewegung, in: Der Hausdoctor 8, 1897, S. 319 f., 329 f., 339 f., 349 f., 359 f.

–    § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs. Die homosexuelle Frage im Urteile der Zeitgenossen. Leipzig 1898

–    Fragebogen, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1, 1899, S. 26–35

–    Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen? Leipzig 1901 u. ö.

–    Der urnische Mensch. Leipzig 1903

–    Berlins drittes Geschlecht. Berlin und Leipzig 1904 u. ö.

–    Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den Prozentsatz der Homosexuellen, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 6, 1904, S. 109–178

–    Vom Wesen der Liebe, zugleich ein Beitrag zur Lösung der Frage der Bisexualität, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 8, 1906, S. 3–284.

–    Die Hofaffäre, in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 6, 1907, S. 126–134

–    Zur Klärung, in: Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 6, 1907, S. 229–242

–    Aus der Zeit, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1, 1908, S. 509–512

–    Die Gurgel Berlins. Berlin und Leipzig 1908

–    Jahresbericht 1906/08, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 9, 1908, S. 623–663

–    Psychoanalytischer Fragebogen. Berlin 1909 Hirschfeld, M.

–    Leonardo da Vinci, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 10, 1910, S. 421–426

–    Die Transvestiten. Leipzig 1910

–    Hermann Freiherr von Teschenberg †, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 12, 1912, S. 243–247

–    Naturgesetze der Liebe. Berlin & Leipzig 1912

–    Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914

–    Diskussion über die Freudsche Lehre, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 3, 1916/17, S. 95 f.

–    Sexualpathologie. Band 1–3. Bonn 1917–1920

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–    Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Berlin 1919

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–    (Hg.): Zur Reform des Sexualstrafrechts. Kritische Beiträge. Bern und Leipzig 1926

–    Geschlechtskunde. Band 1–5. Stuttgart 1926–1930

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–    Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr, in: Die Wahrheit (Prag) 13, 1934, Nr. 44–52 und 14, 1935, Nr. 1–15

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Monatsbericht des des Wissenschaftlich-humanitären Komitées, Charlottenburg – Berlin, hg. von Magnus Hirschfeld. Jg. 3, 1904 – Jg. 6, 1907

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–    Der Wert von selbstverfassten Lebensbeschreibungen geschlechtlich Verirrter, in: Die Umschau, 1913, S. 814–816

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–    Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe. 2. Aufl., hg. von M. Hirschfeld. Leipzig 1898

von Wächter, Th.: Meine Stellung zur Sozialdemokratie, in: Die Kritik (Berlin) 1895, S. 2269–2283

Waldecke, St. Ch.: Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Warum ist es zu bekämpfen und sein Wirken schädlich für das deutsche Volk? Berlin 1925

Weeks, J.: Coming Out. London u. a. 1977 Weil, A. (Hg.): Sexualreform und Sexualwissenschaft. Vorträge gehalten auf der 1. Internationalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaflicher Grundlage in Berlin. Stuttgart 1922

Weingart, P. u. a.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main 1992

Weininger, O.: Geschlecht und Charakter. Wien u. a. 1903

Weisskopf, J.: Der Brünner Sexualkongress, in: Sexus Nr. 1, 1933, S. 26–33

Weltliga für Sexualreform: Sexualnot und Sexualreform. Bericht des 4. Kongresses. Wien 1931

Williams, T. J. u. a.: Finger-length rations and sexual orientation, in: Nature Nr. 6777, 2000, S. 455 f.

Witte, E.: Wider das Juden- und Kynädenregiment. Berlin-Friedenau 1914

Wolff, Ch.: Magnus Hirschfeld: A Portrait of a Pioneer in Sexology. London 1986

Wortis, J.: Fragments of an Analysis with Freud. New York 1954

Zeh, B.: Hans Giese und die Sexualforschung der 50er Jahre, in: Homosexualität und Gesundheit, hg. von U. Gooss und H. Gschwind. Berlin 1989, S. 99–111

Zetkin, C.: Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957

Zink, R.: Joseph Schedel (1856–1943). Ein Bamberger als Apotheker und Sammler in Ostasien. Bamberg 1988

 

 

 Ungedrucktes Archivmaterial

 

–    Humanities Research Center, University of Texas, Austin, TX:
       BSSSP-Collection und George Ives Collection

–    Archiv der Magnus Hirschfeld-Gesellschaft Berlin:

Tagebuch Paul Krische.

–    Staatsbibliothek zu Berlin, Handschriften-Abteilung:

Nachlass Blüher

–    Deutsches Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum

Marbach am Neckar:

 Nachlass Kurt Tucholsky; »Hirschfelds Gästebuch«.

–    Staatsarchiv Merseburg:

Rep. 76–Vc Sekt. 1. Tit. 8 Nr. 23; Rep. 76–VIII B Nr. 2076.

–    Bayerisches Hauptstaatsarchiv München:

Sammlung Personen 4227

–    Staatsarchiv Potsdam:

Rep. 30 Bln. C Nr. 17625

–    Goethe- und Schiller-Archiv Weimar:

Nachlass Ernst von Wildenbruch, GSA 94/258, 24

–    Schweizerisches Sozialarchiv Zürich:

Nachlass Fritz und Paulette Brupbacher

 

 

Mündliche Auskünfte von Zeitzeugen

und einer Zeitzeugin

 

Bruno Balz, Berlin

Dr. Ellen Bækgaard, Kopenhagen

Dr. Hans Grafe, Berlin

Dr. Hans Lehfeldt , New York City

Dr. Erhart Löhnberg, Berlin

Günter Maeder, Berlin

Bruno Vogel, London

 



1) J. E. Bauer, Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Berlin 1998, S. 15–45, hier S. 37.

2) M. Herzer, Hirschfeld und das Unaussprechliche, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 31/32, 2000, S. 47–50.

3) V. Sigusch, Albert Moll und Magnus Hirschfeld, in: Zeitschrift für Sexualforschung, Jg. 8, 1995, S. 121–159, hier S. 130.

4) M. Keilson-Lauritz, Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen und der Zeitschrift Der Eigene. Berlin 1997, S. 7 (vgl. auch ebd. S. 148).

5) Sigusch, Albert Moll und Magnus Hirschfeld S. 127 f.

6) P. Weingart u. a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main 1992, S. 189 und 594 f.

7) G. W. Grauvogel, Theodor von Wächter – Christ und Sozialdemokrat. Ein soziales Gewissen in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten. Stuttgart 1994; Besprechung von M. Herzer in: Capri Nr. 21, März 1996, S. 41 f.

8) Th. von Wächter, Meine Stellung zur Sozialdemokratie, in: Die Kritik (Berlin), 1895, S. 2269 f.

9) F. Pfäfflin – M. Herzer, Monatsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees aus den Jahren 1902 und 1903, in: Capri Nr. 26, Juni 1998, S. 2–21; M. Keilson-Lauritz – F. Pfäfflin, Die Sitzungsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees München 1902–1908, in: Capri Nr. 28, Juli 2000, S. 2–33.

10) Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 4, 1902, S. 975.

11) M. Herzer, Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, in: Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Berlin 1997, S. 37–48, hier S. 47.

12) M. Herzer, Adolf Brand und Der Eigene, in: Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung. Berlin 1997, S. 49–53, hier S. 50.

13) M. Baumgardt, Hirschfelds Testament, in: Dokumentation der Vortragsreihe Homosexualität und Wissenschaft, Berlin 1985, S. 181–186, hier S. 184.

14) R. von Bockel – H. Lützenkirchen (Hg.), Kurt Hiller. Erinnerungen und Materialien. Hamburg 1992; W. Beutin – R. Schütt (Hg.), »Zu allererst antikonservativ« Kurt Hiller (1885–1972). Hamburg 1998).

15) Zuletzt: H.-G. Klein, Kurt Hiller und die „Schmach“ des 20. Jahrhunderts. Anmerkungen zu zwei Briefen an Erich Ritter 1948, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 31/32, 2000, S. 40–46.

16) R. Zink, Joseph Schedel (1856–1943). Ein Bamberger als Apotheker und Sammler in Ostasien. Bamberg 1988, S. 21.

17) T. J. Williams u. a., Finger-length rations and sexual orientation, in: Nature Nr. 6777, 2000, S. 455 f.

18) M. Herzer, Der Ursprung des Angeborenseins, in: Capri Nr. 1, 1987, S. 20–24.

19) Belege in: M. Herzer, Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 28, 1998, S. 54–56.

1) S. Freud, Gesammelte Werke 11, S. 331; vgl. auch 17, S. 108: »Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen.«

2) Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main 1968, S. 300–332: »Das szientistische Selbstmissverständnis der Metapsychologie. Zur Logik allgemeiner Interpretation.«

3) K. Hiller, Der Sinn eines Lebens. In memoriam Magnus Hirschfeld, in: Die Wahrheit (Prag) 14, 1935, Nr. 17, S. 7.

4) M. Chrapkowski, AS & der »arme Hirschfeld« (ZT 1324ru), in: Bargfelder Bote. Lfg. 46–48, 1980, S. 40 ff.

5) R. Seidel, Sexologie als positive Wissenschaft und sozialer Anspruch. Zur Sexualmorphologie von Magnus Hirschfeld. Med. Diss. München 1969.

6) C. Helfer, Magnus Hirschfeld, in: Neue Deutsche Biographie 9, 1972, S. 226 f.

7) R. Seidel, Sexuelle Zwischenstufen als anthropologische Varietäten. Zum 100. Geburtstag von Magnus Hirschfeld, in: Medizinische Klinik 63, 1958, S. 812–815.

8) Vgl. dazu K. H. Roth, Großhungern und Gehorchen. Der Aufstieg des Psychiaters Hans Bürger-Prinz, in: Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Hamburg 1984, S. 130 ff.; B. Zeh, Hans Giese und die Sexualforschung der 50er Jahre, in: Homosexualität und Gesundheit. Berlin 1989, S. 99–111.

9) B. U. Hergemöller, Hans Giese und Martin Heidegger, in: Capri Nr. 12, 1991, S. 13–27.

10) H. Giese, Zweck und Sinn der Eingabe, in: Zeitschrift für Sexualforschung 1, 1950, S. 313. – Um das Jahr 1949 scheint es eine kurze Episode der Zusammenarbeit Gieses mit Kurt Hiller und Hermann Weber gegeben zu haben. Weber, der schon in der Weimarer Republik die Frankfurter WHK-Ortsgruppe geleitet hatte, versuchte 1949 erneut ein Frankfurter WHK zu gründen, und Giese beteiligte sich an diesem Projekt, über dessen schnelles Ende ich leider nichts ermitteln konnte. Vgl. P. H. Richter (Hg.), Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees e. V. in Frankfurt a. M. Nr. 1, 1949.

11) H. Giese, Vorwort S. V, in: H. Giese (Hg.), Die Sexualität des Menschen. Stuttgart 1955.

12) H. Bürger-Prinz, Über den Transvestitismus bei Männern, in: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform 31, 1940, S. 139–143; Hirschfeld-Polemik S. 141.

13) H. Bürger-Prinz, Psychopathologie der Sexualität, in: Die Sexualität des Menschen, hg. von H. Giese. Stuttgart 1955, S. 546.

14) »Magnus Hirschfeld führte diesen Kampf für die Homosexuellen in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gegen ein Vorurteil, oder besser ein Vernichtungsurteil, das die Homosexuellen als moralisch zerrüttet, die Homosexualität als bekämpfbar und bekämpfenswert darstellte. Sein entscheidendes Argument war, dass das, was Natur sei, nicht nach moralischen Kriterien beurteilt werden könne. Spätestens im Faschismus wurden die Homosexuellen drastisch belehrt, wie wenig ein solches Argument verschlägt, ja in sein Gegenteil umschlagen kann. Denn wenn die Homosexualität als naturgegeben, als angeboren aufgefasst wird, konnte das und kann es unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen nur dazu führen, sie als Anomalie, letztlich als Verkrüppelung anzusehen. Soll – auf der Ebene einer Blut- und Boden-Ideologie – die normale, nicht verkrüppelte Natur ›gesund‹ bleiben, ist das Kranke, Abartige auszurotten.« (M. Dannecker – R. Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle. Frankfurt a. M. 1974, S. 27; Hervorhebungen von mir, M. H.).

15) M. Dannecker, Vorwort in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Auswahl aus den Jahrgängen 1899–1923. Frankfurt a. M. 1983, S. 10.

16) V. Sigusch, »Man muss Hitlers Experimente abwarten«, in: Der Spiegel 1985 Nr. 20, S. 244–250, hier S. 246.

1) H. Hirschfeld, De Effectu Chloroformi. Berlin, Med. Diss. 1848, S. 29.

2) M. Hirschfeld, Von einst bis jetzt. Berlin 1986, S. 154.

3) M. Hirschfeld – F. Mann, Zum 100. Geburtstag von S.-R. Dr. Hermann Hirschfeld. Kolberg 1925, S. 9.

4) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 153. – Als achtes Kind wurde 1872 Olga Hirschfeld geboren, die noch im Kindesalter starb.

5) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 154.

6) M. Hirschfeld, Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr, 11. Fortsetzung, in: Die Wahrheit (Prag) 14 (1935), Nr. 5 S. 8.

7) Hirschfeld – Mann, Zum 100. Geburtstag von S.-R. Dr. Hermann Hirschfeld S. 14.

8) Siehe Abbildungen S. 2 und 19.

9) Festschrift zur Feier des zehnjährigen Bestehens des jüdischen Kurhospitals. Colberg 1884, S. 14.

10) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 158.

11) H. Hirschfeld, De Effectu Chloroformi S. 29.

12) Hirschfeld, Phantom Rasse, 11. Fortsetzung, in: Die Wahrheit (Prag) 14 (1935), Nr. 5 S. 8.

13) Hirschfeld, Zur Klärung, in: Monatsbericht 6, 1907, S. 232.

14) E. Dühring, Moralischer Irrsinn und Unzuchtsbeschönigung, in: Der Moderne Völkergeist 5, 1898, S. 63.

15) E. Dühring, Jäher Tod eines Interessenten an der Sache und meist gegen sie, in: Personalist und Emancipator. Berlin, 1908, S. 1691–1693.

16) Dühring, Moralischer Irrsinn S. 63.

17) E. Dühring, Humanität von hinten, in: Personalist und Emancipator. Berlin, Nr. 199, 1908, S. 1588.

18) Der moderne Pranger. Zum Prozess Moltke gegen Harden, in: Hammer. Blätter für deutschen Sinn 6, Nr. 130, 1907; vgl. M. Herzer, Eulenburg, der Schmutz und die Juden, in: Berlin von hinten. Ausgabe 1985, S. 16.

19) Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. Hg. von J. C. G. Röhl. Band 1. Boppard 1976, S. 46.

20) Semigothaismen. München 1914, S. 191.

21) Die Freundschaft 1920, Nr. 10.

22) M. Hirschfeld, Es war einmal, in: Dem deutschen Vorkämpfer in Amerika Herrn Louis Viereck. New York 1921, S. 32–34, hier S. 32.

23) A. Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924. Hg. von E. Jäckel und A. Kuhn. Stuttgart 1980, S. 248.

24) M. Hirschfeld, Autobiographical Sketch, in: Encyclopaedia Sexualis. New York 1936, S. 317–321, hier S. 320 f.

25) Die Zeitschrift Die Aufklärung Nr. 3, 1930 kündigte für den 12. März in einem Inserat den Vortrag »Geschichte der Sexualwissenschaft« an und für den 21. Mai »Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage«.

26) Der Eigene 10, 1925, S. 418.

27) St. Ch. Waldecke, Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. Warum ist es zu bekämpfen und sein Wirken schädlich für das deutsche Volk? Berlin 1925, S. 12.

28) Der Eigene 10, 1925, S. 407.

29) Hirschfeld, Autobiographical Sketch S. 320.

30) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 527–659: »Von Malthus bis Mendel. Die Höherzüchtung des Menschengeschlechts«, hier S. 612 ff.

31) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 563.

32)

M. Hirschfeld, Die Weltreise eines Sexualforschers. Brugg 1933, S. 358.

33) Hirschfeld, Die Weltreise eines Sexualforschers S. 361.

34) Signatur: Nachlass Blüher K 14.

35) Vgl. »Les obsèques du Docteur Hirschfeld« in: Le Petit Nicois und »La mort du Docteur Magnus Hirschfeld« in: L'Eclaireur de Nice et du Sud Est, beide vom 22. Mai 1935.

36) M. Baumgardt, Hirschfelds Testament, in: Dokumentation der Vortragsreihe Homosexualität und Wissenschaft, Berlin 1985, S. 181–186, hier S. 185.

1) Hirschfeld, »1789/1889«, in: Jahrbuch 18, S. 176.

2) Jahrbuch 18, 1918/19, S. 163–166; vgl. auch Otto Lehmann-Russbüldt, Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914–1927. Berlin 1927, S. 40. Dort findet sich auf Seite 140 eine Liste der Mitglieder von 1915, zu denen neben Hirschfeld beispielsweise auch Eduard Bernstein, Albert Einstein, Gustav Landauer, Ernst Reuter, Kurt Eisner und Helene Stöcker gehörten.

3) ) Als feststand, dass an der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 auch Frauen teilnehmen durften, gab Hirschfeld gemeinsam mit seiner Schwester Franziska Mann eine Broschüre heraus: Was jede Frau vom Wahlrecht wissen muss! (Berlin 1918).

4) Aus einer Ansprache Hirschfelds auf einer öffentlichen Kundgebung des Bundes Neues Vaterland am 11. November 1918 auf dem Platz vor dem Reichstag in Berlin; vgl. Jahrbuch 18, 1918/19, S. 165.

5) Jahrbuch 18, 1918/19, S. 172.

6) Jahrbuch 18, 1918/19, S. 176.

7) Jahrbuch 18, 1918/19, S. 175.

8)

Jahrbuch 18, 1918/19, S. 168 f.

9) K. Hiller, § 175 die Schmach des Jahrhunderts. Hannover 1922, S. 55.

10) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 154.

11) »Selbstmord im Moabiter Untersuchungsgefängnis« (Vorwärts vom 2. 8. 1911), »August Forel« (Vorwärts vom 1. 9. 1918).

12) Hirschfeld, Naturheilmethode und Sozialdemokratie, in: Der Hausdoctor 8, 1897, S. 250 f.

13) M. Hirschfeld, Die Gurgel Berlins. Berlin und Leipzig 1908, S. 116.

14) F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Berlin 1973 u. ö., S. 67.

15) K. Kautsky, Der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft. Wien 1880, S. 185.

16) H. Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs. Sein Leben und sein Werk. Stuttgart 1990, S. 147–149.

17) R. Hellmann, Über Geschlechtsfreiheit. Berlin 1878.

18) A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus. Zürich 1879, S. 10.

19) E. Bernstein, Aus Anlass eines Sensationsprozesses (Prozess gegen Oscar Wilde), in: Die neue Zeit 13, Band 2, 1895, S. 171–176; ders., Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs, in: Die neue Zeit 13, Band 2, 1895, S. 228–233.

20) Bernstein, Die Beurtheilung des widernormalen Geschlechtsverkehrs S. 233.

21) M. Hirschfeld, § 175 des Reichsstrafgesetzbuchs. Die homosexuelle Frage im Urteile der Zeitgenossen. Leipzig 1898, S. 11 und 18.

22) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 68.

23) E. Bernstein, Der Geschlechtstrieb. Berlin 1908, S. 16.

24) Bernstein, Der Geschlechtstrieb S. 22.

25) Sozialdemokratischer Parteitag 1927 in Kiel. Protokoll. Berlin 1927, S. 153 und 264.

26) Hirschfeld, Geschlechtskunde 3, S. 261 f.

27) A. Bebel, Die Frau und der Sozialismus. 29. Aufl. Stuttgart 1898, S. 200.

28) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 520.

29) Reichstag 1905, Band 204, S. 5839.

30) Hirschfeld, Geschlechtskunde 3, S. 81.

31) Bebel, Die Frau und der Sozialismus. 29. Aufl. 1898, S. 200.

32) Reichstag 1898, Band 159, S. 410.

33) Reichstag 1907/08, Band 229, S. 1910.

34) Jahrbuch 5, 1903, S. 1315 f.

35) Jahrbuch 5, 1903, S. 1315 f.

36) Jahrbuch 5, 1903, S. 1318.

37) Hirschfeld, in: Monatsbericht 6, 1907, S. 242.

38) Hirschfeld, Zur Klärung, in: Monatsbericht 6, 1907, S. 243.

39) Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Nr. 8, Juli - August 1927, S. 60.

40) M. Hirschfeld, Ein Programmentwurf für die deutsche Naturheilbewegung, in: Der Hausdoctor 8, 1897, S. 340.

41) Vgl. G. Heinsohn u. a., Menschenproduktion. Frankfurt am Main 1979.

42) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 393.

43) Ignaz Wrobel [d. i. K. Tucholsky], Hepp hepp hurra!, in: Freiheit. Berliner Organ der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands Nr. 437, Freitag, den 15. 10. 1920.

44) Brief Hirschfelds an Kurt Tucholsky vom 26. 10. 1920, Deutsches Literaturarchiv / Schiller-Nationalmuseum, Marbach.

45) K. Tucholsky (unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel), Ich halte es für notwendig, in: Für Magnus Hirschfeld zu seinem 60. Geburtstag, hg. von R. Linsert und K. Hiller. Berlin 1928, S. 19 f.

46) Tucholsky, Nr. 1, in: Die Weltbühne Jg. 25 vom 10. 9. 1929, S. 381–389, hier S. 384.

47) M. Hirschfeld, Antrag auf Abschaffung des § 175, in: Die Freundschaft 6, 1924, Nr. 7, S. 145 f.

48) M. Hirschfeld, Die Lösung der sexuellen Frage im neuen Russland, in: Leipziger Volkszeitung vom 1. Dezember 1926.

49) K. Hiller, Rückschritte in der Sowjetunion, in: Sozialistische Warte 1936, S. 326–331.

50) Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees Nr. 18, Oktober / Dezember 1928, S. 146 f.

51) K. Hiller – R. Linsert (Hg.), Für Magnus Hirschfeld zu seinem 60. Geburtstag. Berlin 1928, Beilage.

52) W. I. Lenin, Arbeiterklasse und Neomalthusianismus, in: Werke. Band 19. Berlin 1977, S. 226.

53) C. Zetkin, Erinnerungen an Lenin. Berlin 1957, S. 65 ff.

54) R. Linsert, Marxismus und freie Liebe, in: Der rote Aufbau 4, 1931, S. 425–428, hier S. 426.

55) Kartell für Reform des Sexualstrafrechts, Sittlichkeit und Strafrecht. Gegen-Entwurf. Berlin. 1927, S. 6.

56) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 498.

57) M. Hirschfeld, Vorwort, in: F. Halle, Geschlechtsleben und Strafrecht. Berlin 1931, S. XII.

58) Halle, Geschlechtsleben und Strafrecht S. XVI.

59) Kopie im Besitz des Verfassers.

60) Vgl. Weltliga für Sexualreform, Sexualnot und Sexualreform. Bericht des 4. Kongresses. Wien 1931, S. XXV.

61) I. W. Kittel vermutet, Kronfeld habe gemeinsam mit seiner Ehefrau 1941 in Moskau Selbstmord verübt, weil er befürchtete, die Nazi-Wehrmacht könnte Moskau erobern. Einen Beweis für diese These bringt er jedoch nicht; vgl. I. W. Kittel, Arthur Kronfeld 1886–1941. Ausstellungskatalog. Bibliothek der Universität Konstanz 1988, S. 7 und S. 105

62) Hirschfeld, Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr, 11. Fortsetzung, in: Die Wahrheit (Prag) 14, 1935, Nr. 5, S. 8.

1) M. Hirschfeld, Sexual Anomalies and Perversions. London 1936.

2) M. Hodann, History of Modern Morals. London 1937, S. 56.

3) Hodann, History of Modern Morals S. 57.

4) M. Hirschfeld, Literarisches Selbstbekenntnis, in: Die literarische Welt 4, 1928, Nr 21/22, S. 11.

5) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 48.

6) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 3 f.

7) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 26.

8) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 33.

9) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 35.

10) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 9 und 29.

11) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 15.

12) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 53.

13) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 53.

14) Nachlass Ernst von Wildenbruch im Goethe- und Schillerarchiv Weimar, Signatur GSA 94/258, 24.

15) Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 53 f.

16) Jahrbuch 1, 1899, S. 277.

17) Drucksache des Reichstags Nr. 407, 11. Leg. Periode, 1. Sess. 1903/04: 19. Bericht der Kommission für die Petitionen.

18) Hirschfeld nennt die Zahl von »mehr als 3000 deutschen Ärzten« und »von 750 Direktoren und Lehrern höherer Lehranstalten«, die neben vielen andern die Petition unterzeichneten (M. Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin 1914, S. 977).

19) Bei seiner Bearbeitung der Ulrichs-Texte folgte Hirschfeld taktisch-politischen Gesichtspunkten: So kürzte er etwa Stellen, an denen Ulrichs die preußische Polizei kritisierte, oder fügte, wenn Ulrichs auf den Analverkehr zu sprechen kam, die Behauptung an, dieser gehöre unter Urningen »zu den größten Seltenheiten«; vgl. Kennedy, Karl Heinrich Ulrichs S. 77 und 86.

20) Vgl. M. Herzer, Karl Heinrich Ulrichs und die Idee des WhK, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 10, 1987, S. 34–38.

21) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 965–967.

22) K. H. Ulrichs, Critische Pfeile. Stuttgart 1879, S. 90.

23) Hirschfelds Vorwort im ersten Band des Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen definiert: »Jede körperliche und geistige Eigenschaft, die man als dem männlichen Geschlecht zukömmlich ansieht, kann ausnahmsweise bei Frauen und jede gemeinhin für weiblich gehaltene Eigentümlichkeit kann vereinzelt bei Männern auftreten. So entstehen eine ganze Reihe besonders gearteter Individualitäten, die teils körperliche, teils seelische, zum Teil körperliche und seelische Merkmale des anderen Geschlechts aufweisen. Der Erforschung und Erkenntnis dieser Zwischenstufen, dieser Zwitter in des Wortes weitgehendster Bedeutung ist dieses Jahrbuch in erster Linie gewidmet.«

24) Vgl. Hirschfeld, Geschlechtskunde 1, S. 545 ff.

25) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 33.

26) Hirschfeld, Geschlechtskunde 1, S. 599.

27) Molls enzyklopädisches Hauptwerk über die Homosexualität, Die konträre Sexualempfindung, war erstmals 1891 in Berlin erschienen. 1899 lag es in 3. Auflage mit fast 700 Seiten vor und war bis 1914, als Hirschfelds Die Homosexualität des Mannes und des Weibes erschien, das grundlegende Standardwerk. Den besten Überblick über Molls Sexologie bietet F. J. Sulloway, Freud – Biologe der Seele. Köln-Lövenich 1982.

28) M. Hirschfeld, Das Ergebnis der statistischen Untersuchungen über den Prozentsatz der Homosexuellen, in: Jahrbuch 6, 1904, S. 109–178.

29) »Anfang des Jahres 1900 erhielten sämtliche Mitglieder des Reichstags und des Bundesrates die im 2. Band des Jahrbuchs abgedruckte Erklärung röm.-kath. Priester, kurz darauf eine von ›Dr. M.‹ verfasste Broschüre: Widerlegung der Gegenpetition betreffend § 175 RStGB.« (Jahrbuch 3, 1901, S. 589.)

30) Jahrbuch 6, 1904, S. 222.

31) Jahrbuch 6, 1904, S. 691.

32) Jahrbuch 6, 1904, S. 688–722.

33) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 974.

34) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 974.

35) Jahrbuch 4, 1902, S. 975.

36) Abrechung pro 1903, in: Jahrbuch 6, 1904, S. 729–744. – Unter 334 Mitgliedern oder »Fondszahlern« befanden sich also sieben Frauen, die, soweit sich das heute feststellen lässt, an der Tätigkeit des WHK nicht weiter beteiligt waren.

37) Brand, Die Gemeinschaft der Eigenen 1903–1925 S. 2.

38) Jahrbuch 18, 1918, S. 202.

39) Jahrbuch 23, 1923, S. 243. Margarete Dost wird in Hirschfelds Testament als »meine Freundin« und Erbin von 20.000 französischen Franken erwähnt (Baumgardt, Hirschfelds Testament S. 181).

40) I. Kokula, Helene Stöcker, der Bund für Mutterschutz und die Sexualreformbewegung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 6, 1985, S. 5–24.

41) Jahrbuch 14, 1914, S. 377.

42) Jahrbuch 23, S. 227. – Merkwürdigerweise befindet sich unter den 2.020 Unterschriften, die 1904 veröffentlicht wurden, dennoch ein einziger Frauenname, »Dr. med. Agnes Hacker, Berlin«.

43) Jahrbuch 2, 1900, S. 482.

44) Jahrbuch 4, 1902, S. 974.

45) Monatsbericht 6, 1907, S. 90.

46) Jahrbuch 23, 1923, S. 183.

47) Außerhalb des Komitees gab es um 1900 in Deutschland mindestens drei Schriftsteller, die sich selbst als Homosexuelle bekannten: Peter Hamecher und Adolf Brand von der Gemeinschaft der Eigenen und Hanns Fuchs (vgl. Jahrbuch 4, 1902, S. 854). Irrtümlich wird in der Literatur öfters behauptet, Melchior Grohe habe sich 1893 in seiner Schrift »Der Urning vor Gericht« selbst als Urning bezeichnet. Vgl. dazu M. Herzer, Melchior Grohe wird von Professor Krafft-Ebing beobachtet, in: Capri Nr. 31, 2001, S. 2–7. Mit Einschränkung kann auch der oben (S. 11 f.) erwähnte sozialdemokratische Theologe Theodor von Wächter zu den Bekennern gezählt werden.

48) Hirschfeld, Hermann Freiherr von Teschenberg †, in: Jahrbuch 12, S. 243–245.

49) Jahrbuch 4, 1902, S. 854.

50) Monatsbericht, November 1905, S. 1.

51) Monatsbericht, November 1905, S. 4.

52) Hiller, § 175 die Schmach des Jahrhunderts S. 34.

53) Monatsbericht, Januar 1906, S. 9.

54) A. Moll, Sexuelle Zwischenstufen, in: Die Zukunft 40, 1902, S. 425–433, hier S. 433.

55) Hirschfeld, in: Monatsbericht 6, 1907, S. 126.

56) M. Hirschfeld, Aus der Zeit, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1, 1908, S. 509.

57) M. Harden, Prozesse. Berlin 1913, S. 184.

58) Monatsbericht 6, 1907, S. 213.

59) Vgl. J. C. G. Röhl, in: Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz. Band 1. Boppard 1976 S. 44.

60) H. von Tresckow, Von Fürsten und anderen Sterblichen. Berlin 1922, S. 139.

61) Vgl. Marita Keilson-Lauritz, Wilhelmshagen gegen das Deutsche Reich. Adolf Brands Flugschrift gegen den Reichskanzler von Bülow, in: Capri Nr. 17, September 1994, S. 2–16 (die Flugschrift folgt S. 17–20).

62) Dieser Kommentar stand unter anderem in der Berliner National-Zeitung vom 11. November 1907.

63) Hirschfeld, Jahresbericht 1906/08, in: Jahrbuch 9, 1908, S. 634.

64) M. Herzer, Max Spohr, Adolf Brand, Bernhard Zack – drei Verleger schwuler Emanzipationsliteratur in der Kaiserzeit, in: Capri Nr. 11, Juni 1991, S. 15–30.

65) Hirschfeld, Jahresbericht 1906/08, in: Jahrbuch 9, 1908, S. 653.

66) In ersten Heft seiner Zeitschrift Geschlecht und Gesellschaft vom 15. Oktober 1905 forderte der Schriftsteller Karl Vanselow die »Errichtung einer Zentralstelle für Sexualwissenschaft«. Im folgenden Jahr übernahm Iwan Bloch diesen Ausdruck in seinem Buch Das Sexualleben unserer Zeit. Völlig unzeitgemäß hat jedoch Sigmund Freud bereits 1898 das Wort »Sexualwissenschaft« gebraucht: »Man erfährt dabei allerlei aus den Sexualleben der Menschen, womit sich ein nützliches und lehrreiches Buch füllen ließe, lernt es auch nach jeder Richtung hin bedauern, dass die Sexualwissenschaft heutzutage noch als unehrlich gilt.« (S. Freud, Die Sexualität in der Aetiologie der Neurosen, in: Wiener Klinische Rundschau, Jg. 12, 1898, S. 56).

67) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 441.

68) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 260.

69) Hirschfeld, Geschlechtskunde 2, S. 580.

70) Persönliche Mitteilungen von Herrn Dr. E. Löhnberg und Herrn Dr. H. Grafe, beide Berlin, 1985.

71) E. Steinach, Operative Behandlung der Homosexualität, in: Jahrbuch 17, 1917, S. 189 f.

72) Steinach, Operative Behandlung S. 190.

73) R. Mühsam, Zur Hodentransplantation, in: Archiv für Frauenkunde und Eugenik 7, 1922, S. 70.

74) G. Schmidt, Helfer und Verfolger. Die Rolle von Wissenschaft und Medizin in der Homosexuellenfrage, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 3, 1984, S. 21–32, hier S. 25.

75) M. Hirschfeld, Sexualpathologie. Bonn 1917–1920, Band 2, S. 218.

76)  Schon in der populären Broschüre Berlins Drittes Geschlecht von 1904 heißt es im Vorwort: »Die Vorzüge der normalsexuellen Liebe, wie sie – um nur von vielen einen zu nennen – vor allem im Glücke der Familie zum Ausdruck gelangen, sind denn doch so gewaltige, die Nachteile, die aus der homosexuellen Anlage erwachsen, so außerordentliche, dass, wenn ein Wechsel der Triebrichtung möglich wäre, er gewiss für die Homosexuellen, nicht aber für die Normalsexuellen in Betracht kommen würde.«

77) Hirschfeld, Geschlechtskunde 3, S. 537. Vgl. auch ebenda S. 25. Übrigens hat Sigmund Freud im Jahre 1922 an sich selbst eine Operation nach Steinach durchführen lassen, nicht jedoch um heterosexuell zu werden, sondern um sich zu verjüngen: »Am 17. November unterzog sich Freud auf eigenen Antrieb einer Steinach-Operation. Dies geschah in der Hoffnung, dass die Verjüngung, die man sich von dieser Operation versprach, die Wiederkehr des Krebses verhindern würde [. . .] Zwei Jahre später sagte Freud Ferenczi, er habe davon keinerlei Besserung verspürt.« (E. Jones, Sigmund Freud, Leben und Werk. München 1984. Band 3, S. 123).

78) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 3.

79) A. Moll, Behandlung der Homosexualität: biochemisch oder psychisch? Bonn 1921, S. 66.

80) Jahrbuch 20, 1920, S. 115 ff.

81) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 997 f.

82)

Der Prozess Moltke-Harden, in: Vossische Zeitung Nr. 601 vom 23. 12. 1907, S. 3.

83) Th. und H. Mann, Briefwechsel 1900–1949. Frankfurt am Main 1984, S. 88.

84) E. Witte, Wider das Juden- und Kynädenregiment. Berlin-Friedenau 1914, S. 53 und 58.

85) J. Wortis, Fragments of an Analysis with Freud. New York 1954, S. 147.

86) Schreiben des Polizeipräsidenten Abt. IV vom 21. 10. 1919 an den Minister für Volkswohlfahrt, Staatsarchiv Merseburg Rep. 76- VIII B Nr. 2076.

87) Persönliche Mitteilung von Frau Dr. Ellen Bækgaard, Kopenhagen 1986.

88) Hirschfeld, Weltreise eines Sexualforschers S. 68.

89) Brief Hodanns an Brupbacher, Nachlass Brupbacher, Schweizerisches Sozialarchiv Zürich.

90) Baumgardt, Hirschfelds Testament S. 184.

91) Hodann an Brupbacher 23. 5. 1935.

92) Hodann an Brupbacher 27. 7. 1935.

93) Hodann an Brupbacher 3. 8. 35. Alle Briefe Hodanns an Brupbacher befinden sich im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich im Nachlass Brupbacher.

94) Zu Haire vgl. J. Weeks, Coming Out. London u. a. 1977, S. 139 ff.; zu Hiller vgl. H.-G. Klein, Kurt Hiller – die zentralen Bereiche seines schriftstellerischen und organisatorischen Engagements, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 11, 1988, S. 7–16.

95) M. Hirschfeld, Ausnahmegesetze für Homosexuelle, in: Berlin am Morgen vom 20. Oktober 1929.

96) Das einzige bekannte Exemplar dieses Textes, ein Typoskript mit dem Titel »Exposé«, befindet sich im Nachlass Brupbacher im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich; längere Auszüge daraus sind zitiert von F. Pfäfflin (Hg.), Mitteilungen des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1926–1933. Faksimile-Nachdruck Hamburg 1985, S. XI ff.

97) E. Grünhaut-Fried, Die Geburtenregelung und ihr Anwendungsgebiet, in: Sexualnot und Sexualreform. Verhandlungen der Weltliga für Sexualreform. 4. Kongress. Wien 1931, S. 576.

98) Tagebuch Paul Krische, Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin.

99) Nachlass Brupbacher, Schweizerisches Sozialarchiv Zürich.

100) Vgl. M. Herzer, Max Hodann und Magnus Hirschfeld, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 5, 1985, S. 5–17.

1) G. Merzbach, Homosexualität und Beruf, in: Jahrbuch 4, 1902, S. 187–198, hier S. 188.

2) Freud, Gesammelte Werke 10, S. 44 ff.

3) S. Freud, Die Affäre des Prof. Beer [Interview], in: Die Zeit (Wien) Freitag, 27. 10. 1905.

4) Es scheint in der homosexuellen Bewegung überhaupt nur eine völlig isolierte Stimme gegeben zu haben, die die Berechtigung sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern anerkannte, den pseudonymen Autoren Friedrich August Adolf; vgl. Monatsbericht, 1. 9. 1906, S. 172 und Jahrbuch 9, 1909, S. 600–602. Die »Ungewöhnlichen Liebesgeschichten« sind (mit einer Vorbemerkung von M. Herzer, »Ungewöhnliche Liebesgeschichten« – ein früher gelungener Versuch, den Sex mit Kindern zu literarisieren) abgedruckt in: Capri Nr. 18, Februar 1995, S. 2–20.

5) K. Hiller – R. Linsert (Hg.), Für Magnus Hirschfeld zu seinem 60. Geburtstag. Berlin 1928, S. 7.

6) W. Hellpach, Sexualpsychologie, in: Der Tag (Berlin) vom 26. Juli 1905.

7) S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt am Main 1986, S. 231.

8) Freud, Gesammelte Werke 8, S. 171.

9) M. Hirschfeld, Leonardo da Vinci, in: Jahrbuch 10, 1910, S. 426.

10) Jahrbuch 8, 1906, S. 731.

11) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 34 f.

12) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 38.

13) Jahrbuch 8, 1906, S. 731.

14) Jahrbuch 8, 1906, S. 741.

15) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 144.

16) H. Nunberg – E. Federn (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Band 1. 1906–1908. Frankfurt am Main 1976, S. 14.

17) Freud, Briefe an Wilhelm Fließ S. 263 und 222.

18) Hirschfeld, Sappho und Sokrates S. 14 f.

19) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 42, 130 und 132.

20) M. Hirschfeld, Vom Wesen der Liebe, zugleich ein Beitrag zur Lösung der Frage der Bisexualität, in: Jahrbuch 8, 1906, S. 93 und 133.

21) Freud, Briefe an Wilhelm Fließ S. 204 und 509.

22) Freud, Briefe an Wilhelm Fließ S. 508.

23) Freud, Briefe an Wilhelm Fließ S. 515.

24) O. Weininger, Geschlecht und Charakter. Wien u. a. 1903, S. 4.

25) Monatsbericht, Februar 1906, S. 30.

26) P. J. Möbius hat in seinem Traktat Geschlecht und Unbescheidenheit (Halle 1904) gegen Weininger polemisiert; vgl. Numa Praetorius in: Jahrbuch 6, 1904, S. 527.

27) Monatsbericht, Februar 1906, S. 30 f.

28) Hirschfeld, Vom Wesen der Liebe S. 4.

29) W. Fliess, In eigener Sache. Berlin 1906, S. 47.

30) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 156.

31) Nunberg – Federn (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1, S. 18. Vgl. auch M. Herzer, Hirschfeld in Wien, in: Capri Nr. 24, Oktober 1997, S. 28–38.

32) Monatsbericht, Juli 1907, S. 134.

33) Monatsbericht, Mai 1907, S. 124.

34) Monatsbericht, Dezember 1905, S. 23.

35) Nunberg – Federn (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1, S. 350.

36) M. Hirschfeld, Fragebogen, in: Jahrbuch 1, 1899, S. 26–35.

37) Nunberg – Federn (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1, S. 353.

38) Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1, 1908, S. 684–695.

39) M. Hirschfeld, Psychoanalytischer Fragebogen. Berlin 1909.

40) Freud – Jung, Briefwechsel S. 244.

41) Freud – Jung, Briefwechsel S. 248.

42) Freud – Jung, Briefwechsel S. 152.

43) Freud schreibt dazu am 25. 2. 1908 an Jung: »In die neue Zeitschrift für Sexualwissenschaft ist die Arbeit infolge eines kleinen Schwindels der Redaktion geraten. Sie wurde mir für die ›Jahrbücher für sexuelle Zwischenstufen‹ abverlangt, und erst Monate später bekam ich die Nachricht, dass sie in die neu zu gründende Zeitschrift für Sexualwissenschaft aufgenommen werden solle. Ich bat dann um Garantie, dass dieses Organ nicht eine Chronik des W. H. Komitees bedeute, in welchem Falle ich sie lieber zurückzöge, bekam aber keine Antwort, bis plötzlich die Korrektur ankam mit der Bitte, sofort telegraphisch das Imprimatur zu erteilen, ohne selbst zu korrigieren. Das verweigerte ich allerdings; ich hatte aber den Eindruck, dass bei Hirschfeld infolge des Harden-Prozesses alles drunter und drüber gehe.« (Freud – Jung, Briefwechsel S. 139)

44) I. Sadger, Ist die konträre Sexualempfindung heilbar? in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 1, 1908, S. 712–720, hier S. 714.

45) Sadger, Ist die konträre Sexualempfindung heilbar? S. 717.

46) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 35.

47) A. Moll, Die Behandlung der Homosexualität, in: Jahrbuch 2, 1900, S. 1–29.

48) Jahrbuch 9, 1908, S. 424.

49) Sadger, Ist die konträre Sexualempfindung heilbar? S. 712.

50) Freud – Abraham, Briefe S. 49.

51) Freud – Abraham, Briefe S. 51.

52) Freud, Briefe S. 438.

53) Vgl. G. C. Cocks, Psychoanalyse, Psychotherapie und Nationalsozialismus, in: Psyche, Jg. 37, 1983, S. 1057–1106.

54) Freud – Abraham, Briefe S. 60.

55) K. Brecht u. a. (Hg.), »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter . . .« Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. 2. Auflage Hamburg 1985, S. 19.

56) Freud – Abraham, Briefe S. 94.

57) Freud, Gesammelte Werke 8, S. 168 f.

58) Freud, Gesammelte Werke 11, S. 315 und 12, S. 300.

59) S. Ferenczi, Zur Nosologie der männlichen Homosexualität, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 2, 1914, S. 131–142.

60) Freud, Gesammelte Werke 5, S. 45.

61) Freud, Gesammelte Werke 7, S. 163.

62) E. Jones, Sigmund Freud. Leben und Werk. Band 1–3. München 1984. Band 2, S. 96.

63) S. Freud – K. Abraham, Briefe 1907–1926. Hg. von H. C. Abraham und E. L. Freud. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1980, S. 112.

64) Freud – Jung, Briefwechsel S. 501. – Freud schrieb in einem sehr diplomatischen Abschiedsbrief an Hirschfeld am 2. 11. 1911: »Ich habe mit Bedauern von Dr Abraham gehört, daß Sie unsere Reihen verlassen haben u will wie er hoffen, daß unsere sonstigen Beziehungen dabei ungetrübt bleiben werden [. . .] Ihre Empfindlichkeit als Jung Sie im Gedränge der Diskussion auf diese Unterscheidung [von Sexologie und Psychoanalyse, M. H.] aufmerksam machte, hat mich ahnen lassen, daß Ihre Annäherung nicht über die Sympathie hinausgegangen ist« usw. (M. Herzer, Zu einem Brief Sigmund Freuds an Magnus Hirschfeld vom 2. November 1911, in: Capri Nr. 19, Juli 1995, S. 30–33, hier S. 32).

65) Freud – Jung, Briefwechsel S. 466.

66) Jahrbuch 13, 1912/13, S. 139.

67) Blüher, Die drei Grundformen der Homosexualität S. 443.

68) Blüher, Die drei Grundformen der Homosexualität S. 335.

69) Freud in: Blüher, Die drei Grundformen der Homosexualität S. 331.

70) H. Blüher, Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. 2. verbesserte und vermehrte Auflage Berlin-Tempelhof 1914, S. 14 und 12. – Blüher hatte in seinem Aufsatz »Die drei Grundformen der Homosexualität« für Hirschfelds Jahrbuch (13, 1912/13, S. 139–165, 326–342, 411–444) behauptet, neben der »naturwüchsigen« Inversion gebe es noch eine auf »schlechte Rassenmischung« beruhende, wie sie in der »üblichen Großstadt-Dekadence« heutzutage und auch im antiken Rom verbreitet sei. Diese Passagen hatte Hirschfeld gegen Blühers Willen gestrichen; vgl. H. Blüher, Die drei Grundformen der sexuellen Inversion (Homosexualität). Leipzig 1913, S. 78 f. (dort die von Hirschfeld gestrichenen Stellen).

71) Numa Praetorius, Die Bibliographie der sexuellen Zwischenstufen (Fortsetzung), in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 5, 1918, S. 71–78, hier S. 74.

72) H. Blüher, Werke und Tage. München 1953.

73) Hirschfeld, Naturgesetze der Liebe. Berlin & Leipzig 1912, S. 15.

74) Hirschfeld, Naturgesetze der Liebe S. 149 f.

75) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 180.

76) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 283.

77) Hirschfeld, Sexualpathologie 3, S. 264.

78) Hirschfeld, Die Homosexualität des Mannes und des Weibes S. 433.

79) M. Hirschfeld, Diskussion über die Freudsche Lehre, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 3, 1916/17, S. 95 f., hier S. 96.

80) Numa Praetorius, Bibliographie S. 27.

81) K. R. Eissler, Freud und Wagner-Jauregg vor der Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen. Wien 1979, S. 269.

82) Deutsche Kinemathek: Richard Oswald. Redaktion: W. Kaul und R. G. Scheuer. Berlin 1970, S. 53 f.

83) M. Hirschfeld – H. Beck, Gesetze der Liebe. Aus der Mappe eines Sexualforschers. Nach dem gleichnamigen Kultur- und Spielfilm der Humboldt-Film-Gesellschaft, Berlin. Bearbeitet in Verbindung mit dem Institut für Sexualwissenschaft. Berlin-Hessenwinkel 1927.

84) James Steakley hat in seiner sehr sorgfältigen Studie über die Zensurmaßnahmen gegen Anders als die Andern die Ansicht geäußert, dass Gesetze der Liebe 1927 an »wenigen Tagen [. . .] in Berlin in seiner Gesamtheit gezeigt wurde« (J. Steakley, Film und Zensur in der Weimarer Republik. Der Fall Anders als die Andern, in: Capri Nr. 21, März 1996, S. 2–33, hier S. 30). Außer zwei nicht überprüfbaren vagen Erwähnungen in der Schwulenzeitschrift Blätter für Menschenrecht nennt er dafür keine Belege. Für meine Vermutung, dass Gesetze der Liebe wegen der Zensureingriffe niemals komplett in einem öffentlichen Kino gezeigt wurde, spricht der einzige Bericht über die Uraufführung am Mittwoch, dem 16. November 1927, den ich trotz intensiver Suche in einer Berliner Tageszeitung finden konnte: »Gesetze der Liebe. Beba=Palast. Am Buß- und Bettag brachte der Beba-Palast die Uraufführung des Humboldtfilms ›Gesetze der Liebe‹. Sehr interessante Aufnahmen zeigten Annäherung und Vereinigung der Ehegatten im Tierreich, wie auch den Kampf der Geschlechter, zum Beispiel bei einer Libellenart, wo das größere und stärkere Weibchen das Männchen grausam auffrißt. Der zweite Tel des Films zeigt die Mutterliebe im Tierreich. Bilder von den verschiedensten Pflanzen und Tieren ziehen an uns vorüber, von ein- und zweigeschlechtlichen und von solchen, die nach Steinachschen Versuchen durch Operation ›vermännlicht‹ oder ›verweiblicht‹ wurden und damit Aussehen und Charakter vollständig anderten. Dr. Magnus Hirschfeld schloß an den interessanten und lehrreichen Film eine kurze Ansprache, in der er von der Eingabe des wissenschaftlich-humanitären Komitees für Aufhebung des § 175 des Strafgesetzbuches sprach und an die Menschlichkeit und Gerechtigkeit für diejenigen appellierte, die durch Konstitution einem Zwischengeschlecht angehören. –ap–« (Vossische Zeitung Nr. 549, Sonntag, 20. 11. 1927, Fünfte Beilage »Filme der Woche«)

85) Der Bericht entspricht auch der Ankündigung der Uraufführung in der Branchenzeitschrift Der Film (Nr. 21 vom 15. 11. 1927, S. 25), wo nur die vier Teile »Suchen und Finden der Geschlechter. Ans Licht der Welt (vom Keim bis zur Geburt). Mutterliebe. Vom Zwischengeschlecht« genannt werden. Der fünfte, aus Anders als die Andern übernommene Teil mit dem Titel »Schuldlos geächtet« wird nicht erwähnt und anscheinend nicht gezeigt. Dass Gesetze der Liebe auch später nicht »in seiner Gesamtheit gezeigt wurde«, lässt sich aus dem Bericht im Berliner SPD-Blatt Vorwärts vom 4. 12. 1927 entnehmen, wo es unter anderem heißt: »Zum Schluß sollte die Tragödie eines Homosexuellen geboten werden. Aber die Zensur hat einen Strich durch die Rechnung gemacht, schon die sexuellen Zwischenstufen konnten nur in Lichtbildern gezeigt werden und die Tragödie wurde total verboten. Da der Film die Bekämpfung des § 175 bezweckt, mußte das erläuternde Wort an Stelle der unmittelbar dramatischen Wirkung treten. Die Vorführung klang aus in der Propaganda für die Eingabe des wissenschaftlich-humanitären Komitees, die bekanntermaßen von vielen Naturforschern, Juristen, Politikern und Künstlern unterzeichnet ist. Obwohl der Film so einigermaßen verstümmelt ist, bleibt immerhin noch genug Gutes an ihm, das seinen Besuch lohnt.«

) Jahrbuch 23, 1923, S. 208.

86) B. Eppensteiner u. a., Die Psychoanalyse im Film 1925–26 (Berlin / Wien), in: Psyche 41, 1987, S. 129–139, hier S. 130.

87) Eppensteiner u. a., Die Psychoanalyse im Film S. 131.

1) Zeitschrift für Sexualwissenschaft 5, 1918/19, S. 146.

2) Bericht über das erste Tätigkeitsjahr (1. Juli 1919 bis 30. Juni 1920) des Instituts für Sexualwissenschaft. Leipzig 1920, S. 1.

3) Ein »Zweiter Bericht« mit dem Titel »Unsere Arbeit« wurde im Jahre 1924 vorgelegt. Er enthielt aber nur Redetexte zur Übergabe des Instituts an die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung, Pressestimmen, eine Art Geschäftsverteilungsplan und eine Publikationsliste der Institutsmitarbeiter.

4) Eindrucksvoll schildert Hirschfeld die grotesken Formen, in denen während seines Medizinstudiums in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts an den Hochschulen die menschliche Sexualität tabuiert wurde. Lediglich an der Berliner Universität hielt der Psychiater Emanuel Mendel eine Vorlesung über Unzurechnungsfähigkeit, in der er für Juristen und Mediziner die Sittlichkeitsverbrechen erörterte; vgl. Hirschfeld, Von einst bis jetzt S. 162 ff.

5) Man kann Eulenburg, nach dem Tod seines Altersgenossen Krafft-Ebing, als den letzten Vertreter der universitären Sexualwissenschaft des 19. Jahrhunderts bezeichnen. Mit Eulenburgs Tod im Jahre 1917 verschwand die Sexologie zumindest an der Berliner Universität bis 1924, als der Gynäkologe Professor Wilhelm Liepmann ein »sexualpsychologisches Seminar« eröffnete.

6) Im Staatsarchiv Potsdam gibt es in den Akten der Berliner Polizei einen Vermerk vom 11. 2. 1918, in dem es heißt: »Dr. med. Magnus Hirschfeld, am 14. 5. 68 in Kolberg geboren, mosaisch, unverheiratet, In den Zelten 19 wohnhaft, versteuert ein Einkommen von 27.500 – 28.500 M und ein Vermögen von 360.000 – 380.000 M.« (Rep. 30 Bln. C Nr. 17625 Bl. 1RS)

7) Im Staatsarchiv Merseburg gibt es in den Akten des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt einen Bericht des Regierungs-Medizinalrats Schlegtendal vom 21. 5. 1920 über die Besichtigung des Instituts, wo diese Summe genannt wird.

8) In dem Schriftverkehr zwischen Hirschfeld und dem Berliner Polizeipräsidenten wegen der Errichtung der Stiftung im Jahre 1918 ist mehrfach die Rede von »Zuwendungen an die Stiftung, die bereits von dritter Seite vorgesehen bzw. in Aussicht genommen sind«, so im Schreiben Hirschfelds an den Polizeipräsidenten vom 27. 2. 1918 (Staatsarchiv Potsdam Rep. 30 Bln. C Nr. 17625 Bl. 3VS).

9) Bericht über das erste Tätigkeitsjahr des Instituts für Sexualwissenschaft S. 13.

10) Im letzten Band des Jahrbuchs von 1923 werden die Gruppen aufgezählt, die an Führungen durch das Institut teilnahmen, was eine deutliche Nähe zur sozialistischen Linken bis hin zur Sowjetunion zeigt und zugleich die aggressive Ablehnung des Instituts durch das politisch überwiegend rechts orientierte Wissenschaftsestablishment verständlich macht: »Unter den Teilnehmern an diesen Führungen befanden sich u. a.: Hörer der Humboldt-Hochschule, mehrere Bezirksgruppen der Berliner jungsozialistischen Vereinigung, die Freie Lehrer-Gewerkschaft, der sozialistische Lehrerverein, mehrere Ortsgruppen des Verbandes der sozialistischen Arbeiter-Jugend-Vereine, Jugendhelfer des Bezirks Wedding [. . .], der russische Volkskommissar für das Gesundheitswesen mit mehreren Ärzten. Für die russischen Ärzte wurde auf ihren besonderen Wunsch am 21. Januar 1923 der Film Anders als die Andern vorgeführt, wobei diese Herren ihre Verwunderung darüber äusserten, dass ein Film mit so ernsthaftem und dezentem Inhalt irgendein Ärgernis verursachen und verboten werden konnte. Der Herr Gesundheits-Minister sprach zum Schluss seine Freude darüber aus, dass im neuen Russland die frühere Strafbestimmung gegen die Homosexuellen völlig in Wegfall gekommen sei, und erklärte, dass sich weder irgendwelche unliebsamen Folgen aus der Abschaffung des betreffenden Paragraphen ergeben haben, noch von irgendwelcher Seite der Wunsch nach Wiedereinführung der fraglichen Strafbestimmung erhoben sei.« (Jahrbuch 23, 1923, S. 211 f.)

11) Auf den Umschlägen der einzelnen Hefte erscheint Prof. Dr. S. Freud (Wien) neben andern bekannten Namen als »ständiger Mitarbeiter«, ohne jedoch jemals wirklich an der Zeitschrift mitgearbeitet zu haben.

12) Vgl. Verhandlungen des I. Internationalen Kongresses für Sexualforschung. Redigiert von Max Marcuse. Band 1–5. Berlin und Köln 1927; Proceedings of the Second International Congress For Sex Research London 1930. Ed. by A. W. Greenwood. London 1931.

13) K. Finkenrath, I. Internationale Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 8, 1921/22, S. 266–272.

14) Finkenrath, I. Internationale Tagung für Sexualreform S. 272.

15) Schlegtendal: Betrifft: Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, S. 7–11, Staatsarchiv Merseburg Rep. 76–VIII B Nr. 2076, Bl. 9–14.

16) Auf der letzten Seite des letzten Bandes wird mitgeteilt, das Jahrbuch habe 1923 nur »durch die Opferwilligkeit einiger weniger Mitglieder und Gönner [. . .], vor allem eines einzigen, dem unser Komitee hierfür zu dauerndem größten Dank verpflichtet ist«, produziert werden können (Jahrbuch 23, 1923, S. 246).

17) Hirschfeld, Geschlechtskunde 1, S. IX.

18) Im ersten Heft der Zeitschrift Sexus ist eine solche Anzeige zu finden, die die »Ungekürzte Volksausgabe« zu diesem Preis anbietet. Es dürfte sich aber nur um die Restexemplare der ersten Auflage gehandelt haben.

19) Entsprechende Werbeinserate befinden sich beispielsweise auf den Umschlägen vom Novemberheft 1921 der Zeitschrift für Sexualwissenschaft und dem Augustheft 1918 der gleichen Zeitschrift.

20) A. Kronfeld, Zur medikamentösen Therapie sexueller Funktionsstörungen, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 48, 1922, S. 970 ff.

21) A. Kronfeld – M. Prissmann, Über sexuelle Funktionsstörungen und ihre Behandlung, in: Die Therapie der Gegenwart 64, 1923, S. 358 ff.

22) Kronfeld – Prissmann, Über sexuelle Funktionsstörungen S. 361.

23) M. Hirschfeld – B. Schapiro, Über die Spezifizität der männlichen Sexualhormone, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 53, 1927, S. 1344–1346.

24) M. Hirschfeld – R. Linsert, Liebesmittel. Berlin 1930, S. VI.

25) Hirschfeld, Geschlechtskunde 3, S. 762.

26) Die Zeitschrift Der Sozialistische Arzt brachte im Aprilheft von 1928 folgende Mitteilung: »Weltliga für Sexualreform. Von den drei Senioren der Sexualwissenschaft, August Forel (Schweiz), Havelock Ellis (London), Magnus Hirschfeld (Berlin), ist in Verbindung mit Victor Margueritte (Paris), Margaret Sanger (Neuyork), H. Lundborg (Upsala), R. Goldscheid und K. Kautsky (Wien), Bechterew (Leningrad), Batkis (Moskau), J. H. Leunbach (Kopenhagen) und vielen anderen bekannten Forschern und Förderern der Sexualwissenschaft eine Weltliga für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage gegründet worden, die dahin wirken will, dass in allen Ländern der Welt aus den Forschungsergebnissen der Sexualwissenschaft die praktischen Folgerungen für die Beurteilung und Neugestaltung des menschlichen Geschlechts- und Liebeslebens gezogen werden. Insbesondere umfasst das Programm folgende 10 Punkte: 1. Ehereform, 2. die völlige Gleichberechtigung beider Geschlechter, 3. die Frage verantwortungsvoller Geburtenregelung, 4. die Verbesserung des Menschengeschlechts nach eugenischen Gesichtspunkten, 5. das Unehelichkeitsproblem, 6. die Eheuntauglichkeit, 7. die Bekämpfung der Prostitution und Geschlechtskrankheiten, 8. die richtige Beurteilung sexueller Triebabweichungen, 9. das Sexualstrafrecht, 10. die Sexualerziehung. Ein von der Weltliga einberufener Kongress findet in Kopenhagen statt. Mitglied kann jeder werden, der sich mit Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage beschäftigt, sowie auch alle, welche die Ziele der Weltliga fördern wollen. Beitrittsanmeldungen (Beitritt nach Belieben), sowie alle Anfragen sind zu richten an die Geschäftsstelle der Weltliga, Berlin NW 40, In den Zelten 10.« Der sozialistische Arzt wurde vom Verein sozialistischer Ärzte herausgegeben, dessen Mitglied Hirschfeld war.

27) J. H. Leunbach, Von der bürgerlichen Sexualreform zur revolutionären Sexualpolitik, in: Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie 2, 1935, S. 14.

28) Der Berliner Kongress wurde nachträglich zum ersten Kongress der Weltliga ernannt, so dass der Kopenhagener Kongress die Bezeichnung »Second Sexual Reform Congress« erhielt, der Londoner als »Third Sexual Reform Congress« galt, usw.

29) Zur Datierung des Beginns der Weltreise vgl. Hirschfeld, Die Weltreise eines Sexualforschers S. 280; ferner den Bericht in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 2. 4. 1932: »Magnus Hirschfeld hat seine Weltreise beendet. Der berühmte Sexualforscher heute in Wien eingetroffen.«

30) In Frankreich galt seit dem Juli 1920 ein Gesetz, das ein öffentliches Eintreten für das Recht auf Abtreibung und Geburtenkontrolle mit Gefängnisstrafe belegte. Nur wenn dieses Gesetz abgeschafft worden wäre, hätte der Weltligakongress in Paris stattfinden können. Da dies wider Erwarten nicht der Fall war, wagte man nicht, einen Weltliga-Kongress in Frankreich zu veranstalten. Dies berichtet Pierre Scize im ersten und einzigen Heft der Weltliga-Zeitschrift Sexus von 1933 (S. 39).

31) J. Weisskopf, Der Brünner Sexualkongress, in: Sexus Nr. 1, 1933, S. 26.

32)

Weisskopf, ebenda.

33) In der Mitteilung über die Auflösung der Weltliga, die von Haire und Leunbach gemeinsam unterzeichnet ist, heißt es hierzu: »Unter den Mitgliedern verschiedener Sektionen sind große Differenzen

34)  entstanden, inwieweit die Liga den ursprünglichen nicht politischen Charakter aufrechterhalten sollte. Einige Mitglieder vertreten die Meinung, dass es ausgeschlossen sei, die Zwecke der WLSR durchzuführen, ohne gleichzeitig für eine sozialistische Revolution zu kämpfen. Dr. Haire besteht fest darauf, dass alle revolutionäre Tätigkeit aus dem Programm der WLSR ferngehalten werden soll. Dr. Leunbach meint, die WLSR könne nichts erreichen, weil sie sich der revolutionären Arbeiterbewegung nicht angeschlossen hat.« (N. Haire – J. N. Leunbach, Mitteilung an alle Mitglieder und Sektionen der Weltliga für Sexualreform, in: Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie 2, 1935, S. 98)

) Leunbach, Bürgerliche Sexualreform S. 16.

35) Leunbach, Bürgerliche Sexualreform S. 23.

36) N. Haire, Ein Brief, in: Zeitschrift für politische Psychologie und Sexualökonomie 2, 1935, S. 83.

37) Hildegart ist das Pseudonym der spanischen Schriftstellerin Carmen Rodriguez Carballeiro, die die spanische Ausgabe der Weltliga-Zeitschrift Sexus redigierte und, wie Hodann (History of Modern Morals S. 308) mitteilt, 1933 ermordet wurde.

38) Haire – Leunbach, Mitteilung S. 98.

39) »Wenn die heutige schwere Zeit auch in der Absage von über 30 Teilnehmern im letzten Augenblick ihren Widerhall fand und dadurch eine passive finanzielle Berechnung ergab [Hervorhebung von mir, M. H.], so wurde doch überall der moralische Effekt und Erfolg unseres Kongresses auch von unseren Gegnern zugegeben«, schreibt der Organisator des Brünner Kongresses Josef Weisskopf in der Weltliga-Zeitschrift Sexus Nr. 1, 1933, S. 28.

1) Am 12. Oktober 1930 notierte Paul Krische, ein Berliner Freund Hirschfelds in seinem Tagebuch: »Mittags kam Magnus zum Essen [. . .] Er wird nach Amerika & Shanghai zu Vorträgen fahren.« Demnach hatte Hirschfeld schon vor Antritt der Reise mindestens auch einen Aufenthalt in China geplant und nicht erst in den USA entschieden, statt nach Deutschland zurückzukehren, weiter nach Westen und um die Erde zu reisen.

2) Hirschfeld, Weltreise eines Sexualforschers S. 268.

3) Hirschfeld, Weltreise eines Sexualforschers S. VI.

4) Eine Abschrift dieses Briefes hat W. Eissler im Preußischen Geheimen Staatsarchiv entdeckt. Diese Abschrift war einem Brief der drei Unterzeichner an den »Herrn Reichsminister Göring« beigefügt und hatte offenbar die Funktion einer Ergebenheits- und Loyalitätsdemonstration gegenüber den Nazimachthabern. Man scheint damit die Hoffnung verbunden zu haben, die drohende Schließung des Instituts abwenden zu können.

5) Hirschfeld erwähnt mehrfach, dass Bestände aus dem Berliner Institut nach Frankreich gerettet werden konnten und ihn zu dem Versuch veranlassten, in Paris ein Institut des sciences sexologiques zu gründen (vgl. Hirschfeld, Autobiographical Sketch S. 321).

6) »Dr. Magnus Hirschfelds Besitz unter dem Hammer«, Neues Wiener Journal vom 15. 11. 1933.

7) M. Baumgardt verdanke ich die Möglichkeit, die Akten des so genannten Wiedergutmachungsverfahrens vor dem Berliner Landgericht aus dem Jahre 1957 einsehen zu können. Im Schriftsatz der Allgemeinen Treuhand-Organisation an das Landgericht vom 21. 6. 1957 ist von Sicherungshypotheken über insgesamt 191.029 Reichsmark die Rede.

8) »A few days after the destruction of his Institute, Hirschfeld was in Paris; visiting a cinema, he saw with his own eyes, on the screen before him, the burning of his library.« (Hirschfeld, Autobiographical Sketch S. 321)

9) M. Hirschfeld, Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr, in: Die Wahrheit (Prag) 13, Nr. 44–52 und 14, Nr. 1–15; Buchausgabe: Racism. Translated and edited by Eden and Cedar Paul. London 1938.

10) M. Hirschfeld, Männerbünde, sexualpsychologischer Beitrag zur Roehm-Katastrophe, in: Pariser Tageblatt vom 20. Juli 1934, S. 1 f.

11) Persönliche Mitteilung von Herrn Günter Maeder. – Zu den Nazis im WhK vgl. R. Linsert, Kabale und Liebe. Berlin 1931, S. 156.

12) Der Brief vom 26. 3. 1934 befindet sich in der National Library of Medicine in Washington, D. C., wo ihn James Steakley entdeckte.

13) Brief vom 23. 10. 1934, ebenda.

14) Der Brief vom 24. 3. 1935 befindet sich im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich.

15) Baumgardt, Hirschfelds Testament S. 184.

16) K. Hiller, Der Sinn eines Lebens. In memoriam Magnus Hirschfeld, in: Die Wahrheit (Prag) 14, 1935, Nr. 17, S. 7 f., hier S. 8.

17) Kurt Hiller teilte später mit, dass Giese aus Frankreich »wegen einer Badeanstalts-Affäre ausgewiesen« worden sei (K. Hiller, Persönliches über Magnus Hirschfeld, in: Der Kreis [Zürich] 16, 1948, Nr. 5, S. 3 ff., hier S. 6). Siehe auch oben S. 15 f.

18) Kopien dieser Briefe stellte mir freundlicherweise Herr Wilfried Wolff, Berlin, zur Verfügung. Die Originale befinden sich im Hodann-Nachlass im Stockholmer Arbetarrörelsensarchiv.

19) Vgl. Magnus Hirschfeld zum Gedächtnis, in: Internationales Ärztliches Bulletin 2, 1935, S. 73–76.

20) Sollte Hirschfeld durch Mittelsmänner bei der Versteigerung des Institutsinventars mitgeboten haben, die das nazistische Finanzamt im Herbst 1933 zur Begleichung angeblicher Steuerschulden in Berlin veranstaltete?

21) In einem Schriftsatz des Landgerichts Berlin vom 25. 1. 1965 aus dem Wiedergutmachungsverfahren wird ein Brief von Hirschfelds Testamentsvollstrecker Dr. Franz Herzfelder an das Landgericht zitiert, in dem es heißt: »Herr Karl Giese hatte seinen letzten Wohnsitz in Brno (Brünn), Strelecka 8. Er hat sich dort am 16. März 1938 das Leben genommen. Ich besitze keine Sterbeurkunde [. . .] Nach den Mitteilungen, die mir kurz nach dem Tode des Herrn Giese durch Herrn Dr. Joseph Weisskopf in Brno-Kval. Pole, Sroska 15, zugegangen waren, war Herr Dr. Karl Fein, Rechtsanwalt in Brno 6, Masaryka, Alleinerbe des Herrn Giese geworden. Herr Dr. Fein soll nach Mitteilungen, die ich nach dem Kriege erhielt, in der Deportation umgekommen sein. Seine Erben konnten seinerzeit nicht ermittelt werden [. . .] Dem anderen Testamentserben sind dagegen vom Wiedergutmachungsamt Berlin alle oben genannten Ansprüche bekanntgegeben worden. Nach vielen Mühen war es dem Wiedergutmachungsamt Berlin gelungen, dessen Anschrift in der Schweiz (die ausdrücklich geheim gehalten werden sollte) zu ermitteln. Obwohl ihm die Anmeldungen der Ansprüche durch einen Nichtberechtigten per Einschreiben/Rückschein am 8. August 1958 bekannt gegeben worden sind, hat sich Li Shiu Tong niemals zum Verfahren gemeldet. Er ist dann kurz darauf in Zürich als nach Hongkong verzogen zur Abmeldung gelangt.« (Ich danke Manfred Baumgardt für die Möglichkeit, dieses Dokument einsehen zu können.)