Erwin J. Haeberle Sexualaufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten sexuellen Unmündigkeit. Sexuelle Unmündigkeit ist die Unfähigkeit, sich seiner Sexualorgane guten Gewissens ohne die Erlaubnis angeblich höherer Autoritäten zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unfähigkeit in allen Demokratien, weil die Autoritäten dort ein mündiges Sexualverhalten nur mit seinem Einverständnis verhindern können. Ein mündiges Sexualverhalten sucht das eigene Glück ohne das der anderen zu beeinträchtigen, denn die höchste sexuelle Erfüllung ist nur zwischen sexuell mündigen Menschen möglich. Deren Ideal und Ziel muß daher die allgemeine sexuelle Mündigkeit sein. Also verbieten sich ihnen von selbst alle Mittel der Entmündigung wie Gewalt, Drohung, Belästigung, Einschüchterung, Verängstigung, Nötigung, Ausbeutung, Ausnutzung, Diskriminierung, Verdummung, Täuschung und Betrug. Zur allgemeinen sexuellen Mündigkeit beizutragen, ist die Aufgabe aller Menschen, besonders aber derjenigen, die sich beruflich mit sexuellen Problemen befassen. Sexualforscher, Sexualpädagogen, medizinische und nichtmedizinische Sexualtherapeuten und -berater können ihre Arbeit moralisch nur rechtfertigen, wenn sie dabei versuchen, diesem hohen Ziel zu dienen. Das gilt auch für Gesetzgeber, Richter, Rechtsanwälte und Gutachter im Bereich der Sexualgesetzgebung sowie für Seelsorger, Sozialarbeiter und Journalisten sämtlicher Medien. Alle diese Berufe werden ihrer Rolle gerecht, indem sie jedem Menschen mit Empathie begegnen, seine Würde achten, und indem sie ihre eigenen Interventionen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen. Dazu gehört auch, daß sie immer kritisch gegen diese und auch gegen sich selber bleiben. Das sexuelle wie das politische Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen sicherzustellen, ist aber letztlich eine Aufgabe der gesamten demokratisch verfaßten Gesellschaft, die um ihres eigenen Überlebens willen, ihre Grundwerte fortwährend deutlich machen und verteidigen muß. Zu diesen Grundwerten gehört auch die Akzeptanz der real vorhandenen politischen, religiösen, ethnischen, kulturellen und sexuellen Vielfalt. Sie ist eine Lebensgrundlage der Demokratie, und sie findet nur dort ihre Schranke, wo einzelnen Gruppen die Rechte, d.h. auch die sexuelle Selbstbestimmung anderer zu verletzen drohen. Konkrete Regeln für den Einzelfall leiten sich aus den hier angeführten Grundsätzen ab. Insofern ist etwa die Sexualerziehung nur ein Sonderfall der allgemeinen Erziehung von Kindern. Jugendlichen und Erwachsenen. Auch diese sollte ja immer die „Mündigkeit des Bürgers" zum Ziel haben. Ebenso sollte die Sexualtherapie die gleiche Absicht verfolgen wie jede andere Therapie: Den Menschen von Leiden und Beschwerden zu befreien und in den gesunden Zustand der Selbständigkeit zu versetzen. Sexualgesetze und Strafen sollten diese Selbständigkeit zu schützen suchen, und die Medien sollten sie jederzeit durch korrekte Informationen befördern. Kurz, Sexualaufklärung kann nichts anderes bedeuten als Aufklärung allgemein, wie sie Immanuel Kant und anderen Denkern eines Zeitalters vorschwebte, das nach ihr benannt worden ist. Die Dialektik dieser Aufklärung heute mitzubedenken, ist unsere Pflicht, aber ihre ursprünglichen Ziele zu verraten, wäre sexualfeindlich, lebensfeindlich, ja selbstzerstörerisch.
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