 |
Zur Person |
|
Prof. Dr. Dr. Erwin J. Haeberle,
Jahrgang 1936, gründete 1994 das Archiv für Sexualwissenschaft am
Robert-Koch-Institut in Berlin, das er seit 2001 an der
Humboldt-Universität weiterführt. 1966 wanderte er in die USA aus und
war dort u.a. Research Fellow an der Universität Yale, Professor für
Sexualwissen- schaft in San Francisco und Mitarbeiter des
Kinsey-Instituts an der Indiana University. Nach mehreren
Gastprofessuren kehrte er nach Deutschland zurück. Zu seinen
Publikationen zählen Die Sexualität des Menschen (letzte Ausga- be: Nikol Verlagsgesell- schaft, 2000) sowie dtv-Atlas Sexualität, dtv, 2005.
Website des Archivs für Sexualwissenschaft
|
|
|
|
Ist die lebenslange Zweier- beziehung heute antiquiert? Wie wichtig ist
Treue für Sie? Soll man alles daran setzen, eine Beziehung zu erhalten?
Diskutieren Sie mit!
|
|
|
|
 |
Ratgeber zu Liebe, Sexuali- tät, Partnerwahl, Paarbezie- hungen, Paarkonflikten...
Buchtipps
|
|
|
|
Welche Zukunft hat die Ehe?
von ARTE Gastautor Prof. Erwin J. Haeberle
„Die Ehe ist heute in einer Krise“, heißt es oft. Wenn das stimmt,
worin besteht dann die Lösung? Oder brauchen wir mehrere Lösungen?
Seit es Menschen gibt, hat es - in der einen oder anderen Form - auch
die Ehe gegeben. Aber genau das ist der Punkt: Es gab immer mehrere
Formen der Ehe, und auch diese verschiedenen Formen haben sich im Laufe
der Geschichte immer wieder gewandelt. Lange glaubte man, die moderne
„vollkommene Ehe“ habe sich aus primitiven älteren Formen entwickelt:
Promiske Horden in grauer Vorzeit hätten nur die Gruppenehe gekannt (jede mit jedem). Aus dieser habe sich dann allmählich die matriarchale Polyandrie entwickelt (eine Frau mit mehreren Männern). Mit dem Aufstieg des Patriarchats sei daraus die Polygynie entstanden (ein Mann mit mehreren Frauen), und aus dieser sei schließlich als Krönung der Kulturentwicklung die Monogamie hervorgegangen (ein Mann, eine Frau).
Doch
diese Vorstellung stimmt nicht. Auch in der Vergangenheit hat es immer
sowohl die Einehe wie auch die Vielehe gegeben. Schon in der frühesten
Menschheitsgeschichte gab es monogame Beziehungen, aber es gab eben
auch anderes, und das in einigen Gegenden der Welt für sehr lange Zeit.
Dennoch: Die Einehe hat nach und nach überall die anderen Eheformen
zurückgedrängt, und das ist kein Zufall. Rein biologisch gesehen halten
sich die Geschlechter ja etwa die Waage, d.h. es werden ungefähr immer
so viele Mädchen wie Jungen geboren. Wenn es gerecht zugeht, gibt es
eben für jede Frau eigentlich nur einen Mann, und für jeden Mann nur
eine Frau. Dieses Gleichgewicht wird nur durch gewaltsame Eingriffe
gestört, wenn z.B. viele Männer in Kriegen fallen, wenn einige Männer
erheblich mehr Macht als andere erringen und diese dann auch sexuell
benachteiligen können, wenn massenhaft weibliche Babys getötet oder
weibliche Föten abgetrieben werden usw. Solche Gewaltakte sind aber auf
Dauer „gegen die Natur“, und so setzte sich im Laufe der Geschichte
fast überall eine gewisse sexuelle Gleichberechtigung durch – zunächst
unter den Männern, dann aber auch zwischen den Geschlechtern. Ist aber
das natürliche Gleichgewicht erst einmal wieder hergestellt, dann
bekommt auch die Einehe sozusagen „automatisch“ wieder ihre Chance.
Heute spricht vor allem eines für sie: Sie ist die einzige Form der
Ehe, in der eine wirkliche Gleichberechtigung der Partner möglich ist.
Lust - Liebe - Ehe Könnte
aber gerade dies nun der Grund für die wachsende Zahl der
Ehescheidungen sein? Sind viele Männer immer noch nicht bereit oder
fähig, mit einer gleichberechtigten Partnerin zu leben? Für manche
klingt das plausibel, aber die wahre Ursache liegt wahrscheinlich
tiefer und betrifft Frauen und Männer gleichermaßen: Im Laufe der
Moderne haben die Menschen sich angewöhnt, Sex mit Liebe und Liebe mit
Ehe gleichzusetzen. Man verdrängt, dass Lust und Liebe oft zwei
verschiedene Dinge sind, und dass ein guter Sexualpartner nicht
unbedingt auch ein guter Ehepartner ist. Lust darf auflodern und
erlöschen; Liebe muss dauern. Vor allem: Eine Ehe muss halten, wenn sie
gemeinsamen Kindern gerecht werden soll. Heute wollen aber viele nicht
wahrhaben, dass Verliebtheit und sexuelle Anziehung schnell nachlassen
können. In früheren Epochen war man da klüger. Man wusste, dass
gemeinsame wirtschaftliche Interessen und charakterliche Harmonie auf
die Dauer wichtiger sind. Vor allem war allen Beteiligten klar, dass
das Wohl der Kinder von der Stabilität der Ehe abhängt, und dass sie
vor allem deshalb eine solide Basis braucht. Aus diesem Grunde
bestanden die Familien von Braut und Bräutigam auch immer darauf, bei
der Eheschließung ein Wort mitzureden. Heute aber werden die Ehen fast
immer aus „Liebe“ geschlossen, und die meisten Scheidungen gibt es
schon nach wenigen Jahren, wenn die sexuelle Beziehung abgekühlt ist.
Dann aber sind die Kinder noch klein und leiden am meisten unter der
Trennung.
Das ist aber nicht das einzige Problem: Seit sich die
moderne isolierte Kleinfamilie herausgebildet hat, ist auch der Druck
auf die Eltern gewachsen. Oft müssen beide arbeiten, um wirtschaftlich
zu überleben. So bleibt für die Kinder nicht ausreichend Zeit.
Besonders die Frauen werden oft vierfach belastet - als Berufstätige,
Hausfrauen, Geliebte und Mütter. Die Großeltern und andere Verwandte
wohnen oft weit entfernt und können nicht helfend einspringen. Auch auf
die Nachbarn kann man nicht zählen. Die stehen meist selber unter Druck
und haben ihre eigenen Probleme. Kurz, es ist für viele objektiv
schwerer geworden, ein glückliches Ehe- und Familienleben zu führen.
Dennoch
versuchen Frauen und Männer es immer wieder, und viele mit Erfolg.
Allerdings tun sie dies nicht immer im vorgegebenen Rahmen.
Gleichzeitig sehen wir auch Experimente mit neuen Familienformen – von
der „Kommune“ und Wohngemeinschaft bis zur nichtverwandten Großfamilie
mit „adoptierten“ Alten, und auch das färbt auf das Wunschbild der Ehe
ab. Andererseits wird auch immer deutlicher, dass die Erzeugung und
Erziehung von Kindern nicht der einzige Zweck der Ehe ist. Er war es
auch nie, denn man hat ja seit jeher Frauen jenseits der Wechseljahre
die Heirat erlaubt, ja sie sogar empfohlen. Emotionale und materielle
Sicherheit waren also schon immer anerkannte Heiratsgründe.
Neue und alte Lösungen Für
die Komplexität der heutigen Probleme kann es deshalb nicht nur eine
einzige Lösung geben. Stattdessen deuten sich verschiedene Auswege aus
der jetzigen Krise an. Jeder kennt heute Paare, die offen „ohne
Trauschein“ zusammenleben, oft „nur auf Probe“, aber manchmal auch
jahrzehntelang. Außerdem gibt es vereinzelt „registrierte
Partnerschaften“ für verschiedengeschlechtliche und
gleichgeschlechtliche Paare. Und natürlich besteht auch die
traditionelle Ehe weiter, oft mit zusätzlichem kirchlichem Segen. Mit
dieser Vielfalt haben wir uns wieder den Zuständen im alten Rom
angenähert, denn das römische Recht kannte noch verschiedene gültige
Eheformen – vom gewohnheitsmäßigen Zusammenleben über eine einfache
zeremonielle Heirat bis zur feierlichen Eheschließung mit 10 Zeugen und
einem Priester. Je leichter die Ehe zustande kam, umso leichter war sie
auch wieder zu scheiden. Insofern waren die alten Römer sehr
realistisch.
Diesen wachsenden Realismus finden wir nun im
heutigen Europa wieder, und er scheint die besten Chancen für das
Überleben der Ehe als Institution zu eröffnen. Oder vielleicht sollte
man besser sagen „das Überleben der Ehe in verschiedenen Formen“. Schon
Goethe hatte erkannt: „Eines schickt sich nicht für alle“, aber
irgendeine rechtliche Absicherung wird von den Paaren schon aus
praktischen Gründen immer erwünscht sein, und sie liegt auch im
Interesse der Gesellschaft. Nichts kann eine Gesellschaft so
stabilisieren wie eine rechtlich anerkannte Paarbeziehung. Die
verschiedenen europäischen Länder sind insgesamt nun auf dem Wege, hier
die nötige Rechtsvielfalt und damit auch eine abgestufte
Rechtssicherheit zu schaffen. Man hat mit den „registrierten
Partnerschaften“ schon einen wichtigen Schritt getan, aber am Ende wird
man gleichgeschlechtliche und verschiedengeschlechtliche Paare überall
gleich behandeln müssen. Auch für die Ersteren wird es die vollgültige
Ehe geben, und den Letzteren wird man auch die einfachere „registrierte
Partnerschaft“ nicht verwehren wollen. Mit anderen Worten: Um allen
gerecht zu werden, werden alle zwischen verschiedenen Eheformen wählen
können, und diese Flexibilität wird es erlauben, der Ehe wieder einmal
die Zukunft zu sichern.
-------------------------------- Mann und Frau, das unmögliche Paar? Dienstag, 10. April 2007 ab 20.40 Uhr Wiederholung am 11. April 2007 ab 14.45 Uhr Themenabend, ARTE F, 2007, 120 Min.
|
|