Erwin J. Haeberle Besuch bei Dr. X
13. - 20. Mai 1998
Zusammenfassung Vom 13. -20. Mai 1998 unternahm ich auf eigene Kosten per Charterflug eine Reise nach P. um dort den hochbetagten Dr. X zu besuchen, der selber nicht mehr reisen möchte. Es gelang mir, ihn in tagelangen Gesprächen davon zu überzeugen, seine umfangreichen Aufzeichnungen, die einen Zeitraum von 50 Jahren umfassen, wenigstens teilweise zur wissenschaftlichen Auswertung in unserem Archiv zur Verfügung zu stellen. Leider stellte sich die mir in P. verfügbare Zeit von einer Woche als zu kurz heraus, um alle Papiere zu sichten und mit der Einwilligung des Autors auszuwählen und einzupacken. Hätte ich etwa fünf weitere Tage gehabt, so hätte ich wohl den gesamten Bestand mitnehmen können. Dennoch hat sich auch mein Teilerfolg auf jeden Fall gelohnt, denn Dr. X hat mir erlaubt, einige einzigartigen Statistiken und seine gesamte Korrespondenz mit dem Kinsey-Institut, die 25 Jahre umfaßt (1948-1973) zum Kopieren mit nach Berlin zu nehmen. (Die Originale möchte er danach per Einschreiben wieder nach Palermo geschickt haben.) Dr. X. sicherte mir außerdem zu, daß er mir nach seinem Tode die sexologischen Teile seiner Bibliothek überlassen werde.
Grund für die Reise Dr. X ist unter Eingeweihten in der Sexualwissenschaft anonym seit langem als lebende Legende bekannt. Als Mitarbeiter des Kinsey-Instituts hatte auch ich schon vor fast zwanzig Jahren von ihm gehört, allerdings nie seinen Namen oder seine Adresse erfahren, da seine Anonymität von allen, die ihn kennen, sorgsam gehütet wird. Erst im Sommer des vergangenen Jahres erfuhr ich seine jetzige Adresse durch Zufall und begann, mit ihm zu korrespondieren. Dabei erwarb ich mir sein Vertrauen, so daß er mich zu einem Besuch einlud. Dr. X wurde 1913 in einem skandinavischenLand geboren und studierte in Berlin an der Charité Medizin. Beim Abschluß seines Studiums (Promotion?) wurde er 1939 von der Gestapo verhaftet und verbrachte die Kriegsjahre in verschiedenen Nazi-Gefängnissen, Lagern und Strafbataillonen. 1945 in Wien wegen Hochverrat zum Tode verurteilt, wurde er kurz vor seiner Hinrichtung von den einmarschierenden Russen befreit. Relativ bald danach wurde er vom amerikanischen State Department in Pullach (Bayern) als Zensur-Offizier eingesetzt und dann nach Liberia (Afrika) beordert. Nach einigen Jahren verließ er aber den amerikanischen Dienst und baute sich als Geschäftsmann eine internationale Karriere auf. Er spricht fließend fünf Sprachen und reiste beruflich durch fast alle Länder der Erde. In einigen dieser Länder lebte er auch für längere Zeit (bes. Nordafrika und Indien). Er lebt heute zurückgezogen in bescheidenem Wohlstand. Er hat keine Nachkommen und ist der letzte seiner einstmals sehr bekannten Familie. Das sexualwissenschaftliche Interesse an ihm beruht vor allem auf einer Tatsache: Auf Anregung von Alfred Kinsey begann Dr. X im Jahre 1948 regelmäßige, detaillierte Aufzeichnungen über seine eigenen Sexualkontakte. Er diente Kinsey auch persönlich als sachkündigfer Führer bei dessen Italienreise. Die Aufzeichnungen von Dr. X, die immer noch fortgesetzt werden, umfassen inzwischen einen Zeitraum von 50 Jahren und bestehen im Wesentlichen aus drei Elementen:
1. Einer Gesamtstatistik 2. Detaillierten Monats- und Wochenstatistiken 3. Einer ausführlichen Korrespondenz mit Kinsey und dessen Nachfolgern (bis 1973) und anderen Wissenschaftlern außerhalb des Kinsey-Instituts (seit 1973). Diese Korrespondenz, die viele hundert Seiten umfaßt, ist unerläßlich zum Verständnis der Statistiken, denn Dr.X teilt hier ausführliche kultursoziologische Beobachtungen zum Sexualverhalten in den verschiedenen, von ihm bereisten Ländern mit.
Ein kleiner Teil dieser Korrespondenz (etwa die ersten 6 Jahre) wurde vor etwa 15 Jahren von dem amerikanischen Historiker (Martin Duberman, City University of New York) teilweise veröffentlicht (in der Zeitschrift „New York Native“). Er brach die weitere Arbeit jedoch ab, da er sich einer umfangreichen Biographie von Paul Robeson zuwandte, die inzwischen erschienen ist und sehr viel Lob geerntet hat. Duberman kam zu der Überzeugung, das die wissenschaftliche Aufarbeitung der Papiere von Dr. X ein Team von 3-4 Forschern etwa zwei Jahre lang beschäftigen würde. Nach persönlicher, flüchtiger Einsicht in die Materialien, schließe ich mich jetzt dieser Auffassung an. Da die Anzahl der von Dr. X beschriebenen Sexualkontakte ungewöhnlich hoch ist, wurde er Anfang der achtziger Jahre auch für die AIDS-Forschung interessant. Eine Klinik in New York bezahlte ihm die Reise und untersuchte sein Blut auf HIV-Antikörper. Nach allen Regeln der Epidemiologie hätte der Test positiv ausfallen müssen, war aber - und ist bis heute - negativ. Er wurde damals schon vermutet, das Herr K. eine natürliche Immunität gegen HIV besitzt.
Die von Dr. X seit 50 Jahren als wissenschaftliches Hobby akribisch betriebene Arbeit stellt in der Geschichte der Sexualforschung ein einzigartiges Dokument dar, das an mancher tradierten Fachmeinung Zweifeln weckt. Es verdient unbedingt eine sorgfältige wissenschaftliche Auswertung.
Die hier kurz skizzierten Tatsachen waren mir bei Antritt meiner Reise nicht in ihrem vollen Umfang bekannt; ich vermutete aber richtig, daß ich für unser Archiv wertvolle Materialien gewinnen könnte.
Verlauf des Besuches Da ich am 13. Mai abends in P. ankam, konnte ich erst am 14. das Gespräch mit Dr.X in dessen Wohnung am Rande der Stadt aufnehmen. Unglücklicherweise hatte am Vortag sein Hund sein Hörgerät gefressen, und ein passender Ersatz war so kurzfristig in der Stadt nicht aufzutreiben. Dies machte die Konversation äußerst schwierig. Immerhin stellte ich unser Archiv (anhand mitgebrachter Fotos) und mich selbst (anhand meines soeben erschienenen neustesten Buches) soweit vor, daß Dr. X. Vertrauen faßte und mich dringend um weitere tägliche Besuche bat. Am 15. Mai mußte Dr. X, der vor einigen Monaten einen Schlaganfall erlitten hatte, überraschend ins Krankenhaus, wo er gründlich untersucht wurde. Der Verdacht auf eine ernsthafte Erkrankung bestätigte sich aber glücklicherweise nicht, und so wurde Dr. X wieder nach Hause entlassen, wo wir am 16. Mai unsere Gespräche (d.h. von meiner Seite eher ein Geschrei) fortsetzen konnten. Leider hatte Dr. X irgendwo im Krankenhaus auch noch seine Brille verloren, so daß es von nun an noch schwieriger wurde, mit ihm seine Papiere durchzugehen. Am 17. und 18. Mai sichtete ich mit Dr. X sehr mühevoll seine verschiedenen Papiere und versuchte, festzuhalten, wo und in wessen Besitz diejenigen Teile der Aufzeichnungen sein könnten, die seit 1973 an Wissenschaftler außerhalb des Kinsey-Instituts geschickt worden waren. Zu diesem Zweck riefen wir auch einen uns beiden bekannten, ebenfalls hochbetagten Wissenschaftler in New York an (C. A. Tripp) , der uns fehlende Informationen gab. Dr. X gab mir aber immer noch keinen Hinweis, daß ich seine Papiere nach Berlin mitnehmen könne. Um das Eis zu brechen, lud ich ihn daher für den nächsten Tag zum Essen in einem Restaurant seiner Wahl ein. Er nahm dankend an unter der Bedingung, daß uns sein früherer Geschäftspartner in ein arabisches Restaurant am Meer fahren würde. Am 19. Mai lud ich also die beiden älteren Herren in das von ihnen gewünschte, nur mit dem Auto erreichbare Restaurant ein. Das Essen und der Wein waren vorzüglich, allerdings nicht gerade billig (über DM 300,-). Immerhin war nach der beschwingten Heimfahrt die nötige Vertrautheit und Vertraulichkeit soweit hergestellt, daß mir Dr. X anbot, die umfangreiche Korrespondenz mit dem Kinsey-Institut zum Kopieren nach Berlin mitzunehmen. Am Vormittag des 20. Mai, dem Tag meiner Abreise, bekannte mir Dr. X in einem letzten Gespräch, daß er durchaus noch weitere umfangreiche Korrespondenzen zuhause aufbewahrt, die ich vielleicht bei meinem nächsten Besuch mitnehmen könnte. Ich versicherte ihn meines andauernden Interesses und bat ihn, zunächst weiter mit mir zu korrespondieren. Ich versprach, bei meiner nächsten Dienstreise nach Sirmione (2. - 7. Juni 1998) mit Prof. Bancroft, dem heutigen Direktor des Kinsey-Instituts über eine mögliche Kooperation in dieser ganzen Angelegenheit zu sprechen.
Ergebnis Wie oben angedeutet, brachte die Dienstreise aus Zeitmangel nur einen Teilerfolg. Auf diesem ließe sich allerdings aufbauen, wenn auch wegen des fortgeschrittenen Alters von Dr. X eine gewisse Eile geboten scheint. Prinzipiell sehe ich die folgenden Möglichkeiten der Auswertung:
- Ich bemühe mich in weiteren Anstrengungen, alle Papiere von Dr. X nach Berlin zu holen, wo sie eines Tages von einem Forscherteam gesichtet und publiziert werden können. - Ich bemühe mich, mit den verschiedenen amerikanischen Forschern in den USA, die Teile der Papiere besitzen, ein Gemeinschaftprojekt anzustoßen. - Ich bemühe mich, in Kooperation mit dem Kinsey-Institut, nur die ersten 25 Jahre der Aufzeichnungen auszuwerten, da diese jetzt entweder in Berlin oder/und in Bloomington, IN vollständig vorhanden sind.
Auf jeden Fall werden wir uns im Archiv für Sexualwissenschaft bemühen, durch Kopieren und anschließendes Scanning alle Aufzeichnungen, die uns jetzt zur Verfügung stehen, auf Disketten bzw. CD zu sichern. Es ist der natürliche Wunsch von Dr. X, seine Aufzeichnungen wissenschaftlich genutzt zu sehen. Mehrere angesehene Wissenschaftler sind seit langem der gleichen Meinung. Nur haben verschiedene unglückliche Umstände jedes konkrete Projekt verhindert. Daß Dr. X, der nicht nur Kinsey persönlich kannte, sondern auch viele andere Sexualforscher, nun bereit scheint, seine Papiere nach Berlin zu geben, ist ein Kompliment für unsere bisher geleistete Arbeit. Nachtrag 2011: Einige Monate später kam Dr. X doch noch einmal nach Berlin, brachte weitere Materialien mit und besuchte unser Archive for Sexology. In der Folge schickte er mir noch weitere Papiere und übertrug mir schließlich sämtliche Rechte an seinen Aufzeichnungen (einschließlich das Copyright für die von ihm geschriebenen Briefe). Bis kurz vor seinem Tod im Jahre 2005 korrespondierte und telefonierte ich dann noch regelmäßig mit ihm. Danach erhielten wir seine nachgelassene Bibliothek, die nun im Haeberle-Hirschfeld-Archiv (Jacob und Wilhelm Grimm-Zentrum) untergebracht ist. Dort befinden sich auch die von ihm geführten Statistiken. Seine sehr umfangreiche Korrespondenz von über 500 Briefen (d.h. sein sexuelles Tagebuch 1948-1999) wurde inzwischen von unserem Archiv transkribiert und ist nun auf einer einzigen Diskette gespeichert, die in unserer Archiv-Bibliothek aufbewahrt wird. Alle diese Matrialien warten auf ihre Auswertung durch qualifizierte Forscher. Für weitere Details, hier klicken. Durch die
Vermittlung von Dr. X erhielt ich auch noch ein anderes, hochinteressantes sexuelles
Tagebuch in Form von 40 Audiokasetten aus den Jahren 1976 und 1977. Diese
Kasetten aus dem Nachlass eines Dr. A. warten noch auf ihre Tanskribierung und
wissenschaftliche Auswertung. Für Details, hier klicken.
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