J. Edgar Bauer
COGITUS
INTERRUPTUS:
Ursprünglich
erschienen in: Capri. Herausgegeben vom Schwulen Museum. Redaktion: Manfred
Herzer.
»Pour nous, il existe semble-t-il non pas un ou deux sexes mais autant de sexes (cf. Guattari/Deleuze) qu'il y a d'individus.« Monique Wittig: La Pensée straight, Paris 2001: 107-108
1. Unter dem Titel Magnus Hirschfeld. Deutscher – Jude – Weltbürger veröffentlichte Ralf Dose kürzlich einen kleinen Band in der Reihe Jüdische Miniaturen, die von Hermann Simon im Verlag Hentrich & Hentrich herausgegeben wird.[1] Doses »Miniatur«, welche die von Charlotte Wolff[2] und Manfred Herzer[3] vorgelegten Standard-Biografien Hirschfelds z.T. korrigiert und ergänzt, besteht aus drei Hauptteilen: Biographisches, Das Werk und Die (Nach)Wirkung. Folgende Ausführungen versuchen nicht, die biografischen und historischen Ergebnisse von Doses Arbeit zu würdigen, sondern lediglich seine verhältnismäßig detaillierten Erörterungen zu Hirschfelds sexueller Zwischenstufenlehre kritisch zu beleuchten. 2. Es gehört zu den unbestreitbaren Vorzügen von Doses Buch, dass er Hirschfelds Lehre als den sachlichen Mittelpunkt seines sexologischen Gesamtentwurfes behandelt. Auch wenn Dose diese methodische Entscheidung nicht begründet und die zu erwartende Auseinandersetzung mit der neueren »(Nach)Wirkung« von Hirschfelds Lehre nicht unternimmt, scheint er sich im klaren darüber zu sein, dass sein Ansatz sich im Widerspruch zum vorherrschenden, rezeptionsgeschichtlichen Konsens befindet und zumindest tendenziell in Übereinstimmung mit der Interpretation von Hirschfelds Werk steht, die der Verfasser erstmalig in einem Essay vom Jahr 1998 vorgelegt [4] und dann in bislang drei Repliken auf die Einwände von Manfred Herzer sachlich und geistesgeschichtlich verdeutlicht hat.[5] Dose ist sicherlich nicht entgangen, dass Herzer im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Hirschfeld-Biografie darauf verwies, dass aus der Hirschfeld-Forschung der 90er Jahre keine »neue Gewichtung und Deutung der Tatsachen« zu gewinnen war und dass »[a]llein J. Edgar Bauers Neuinterpretation der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre [...] hier eine Ausnahme [bildete].«[6] 3. Ein weiterer Vorzug von Doses Ausführungen besteht darin, dass er an Hirschfelds Distinktion zwischen beschreibender »Lehre« und erklärender »Theorie« konsequent festhält.[7] Eine solche terminologische Festlegung ist deswegen ausdrücklich zu begrüßen, weil sie sich von der rezeptionsgeschichtlichen Konfusion eindeutig abhebt, die durch die Verwendung von »Zwischenstufenlehre« und »Zwischenstufentheorie« als austauschbaren Begriffen in der Hirschfeld-Forschung der letzten Dezennien verursacht wurde. Entgegen Hirschfelds eindeutigen, begrifflichen und sachlichen Präzisierungen ist die Unterscheidung zwischen Theorie und Lehre von den meisten über den Sexologen schreibenden Autoren bekanntlich weitgehend unbeachtet geblieben. Schon in den Veröffentlichungen von Ralf Seidel aus den Jahren 1968 und 1969 wird Hirschfelds Lehre-Begriff als »Theorie« bezeichnet[8] und bei den Autoren, die sich in den nachfolgenden Jahren mit Hirschfeld auseinandersetzten, erlangte die Substitution von »Lehre« durch »Theorie« einen beinah leitmotivischen Charakter.[9] Auch wenn Dose die entstandene Begriffs- und Sachverwirrung bezüglich der Lehre Hirschfelds nicht eigens thematisiert, könnte seine terminologische Entscheidung als Indiz dafür verstanden werden, dass er die Absicht hatte, Hirschfelds Doktrin hermeneutisch präziser als bisher zu erfassen und deren Tragweite und Relevanz neu zu würdigen. 4. Auch wenn Dose der Zwischenstufenlehre eine Vorzugsstellung in seiner Präsentation einräumt, reflektiert er leider nicht über die textimmanenten Schwierigkeiten, welche einer sachgemäßen Behandlung der Lehre im Wege stehen. Diese Frage ausdrücklich zu erörtern, wäre umso notwendiger gewesen, als Hirschfeld seine Lehre oft in Zusammenhängen darlegt und erläutert, in denen die Übergänge zu theoretischen, d.h. »erklärenden« Ausführungen fließend sind. Es ist bezeichnend, dass Hirschfeld im 1926 erschienenen, ersten Band seiner Geschlechtskunde darauf verweist, dass er schon 1896 seine Zwischenstufenlehre aufgestellt hatte, womit er die diesbezüglichen relevanten Darlegungen meint, die in der Broschüre Sappho und Sokrates – seine einzige sexologische Publikation vom Jahr 1896 – enthalten sind.[10] Obwohl der Terminus »Zwischenstufenlehre« in diesem frühen Text noch nicht vorkommt[11] und die beschreibenden und erklärenden Schichten seiner Ausführungen nicht immer streng unterschieden werden, lässt sich leicht feststellen, dass darin alle grundlegenden Aussagen in nuce vorhanden sind, auf die der Sexologe bei seinen späteren Bemühungen, die verschiedenen Aspekte seiner Lehre zu präzisieren, zurückgreifen wird. In Anbetracht der textlichen Sachlage wird also ersichtlich, dass jegliche Präsentation der Lehre Hirschfelds das Ergebnis einer hermeneutischen Rekonstruktion ist, über deren Stichhaltigkeit und Kohärenz der jeweilige Interpret Rechenschaft abzulegen hat. Da Dose auf methodische Reflexion wenig Wert zu legen scheint, ist nicht gänzlich überraschend, dass er zuweilen begriffliche und sachliche Oszillationen bzw. Ungereimtheiten bei Hirschfeld auszumachen meint, die eigentlich nur das Resultat der Unschärfe seiner eigenen Deutung sind. 5. Auch wenn Dose Lehre und Theorie nicht verwechselt und die vier Schichten der Sexualbeschreibung, mit denen Hirschfeld operiert,[12] als Leitfaden seiner Darlegung nimmt, wird offensichtlich, dass ihm die kritische Radikalität Hirschfelds entgeht, die zur prinzipiellen Dekonstruktion aller geschlossenen, sexualdistributiven Schemata – einschließlich des binären – führt. In Doses Darlegungen gibt es keine Indizien dafür, dass er die eigentliche Tragweite von Hirschfelds Fundamentalprämisse, dass »[a]lle Menschen [...] intersexuelle Varianten [sind]«,[13] erkannt hätte. Darum nimmt es nicht wunder, wenn er versäumt, die These zu würdigen, dass der Sexualunterschied zwischen Menschen nicht auf qualitative, sondern auf quantitative Differenzen zurückzuführen ist, wie Hirschfeld schon 1896 in Sappho und Sokrates in aller wünschbaren Deutlichkeit formuliert hatte.[14] Da vor diesem Hintergrund alle sexuellen Eigenschaften als das Resultat der Mischungsverhältnisse von beiden Sexualpolen erscheinen, die als solche in der Natur nicht vorkommen, gibt es aus Hirschfelds Sicht weder Männer noch Frauen in herkömmlichem Sinne, sondern nur sexuierte Menschen, deren Geschlechtlichkeit das Ergebnis der quantitativ jeweils unterschiedlichen und darum unwiederholbaren Kombinationsproportionen der männlichen und weiblichen Komponenten auf den verschiedenen Sexualebenen ist. Im Hinblick auf diese Konsequenzen von Hirschfelds Lehre bleibt rätselhaft, warum Dose eine sexualdistributive Dreiteilung voraussetzt, wenn er darauf verweist, dass »alle menschlichen Eigenschaften, seien sie körperlicher oder seelischer Art, [...] in weiblicher oder in männlicher Form auf[treten] (oder auch, als Sonderfall, zwittrig).«[15] Da Dose die Konsequenzen aus dem Prinzip der Zwischenstufigkeit eines jeden Menschen nicht zu Ende denkt, verschließt er sich der Tatsache, dass die Auflösung der herkömmlich konzipierten Sexualdifferenz zwischen Mann und Frau bei Hirschfeld letztendlich im Namen einer radikalen Potenzierung von Geschlechtsdifferenzen zwischen Individuen erfolgt. 6. Weil Dose – im Unterschied zu der in Deutschland üblichen Hirschfeld-Publizistik – den unberechtigten Vorwurf des Biologismus gegen den Sexologen nicht erhebt, wäre zu erwarten gewesen, dass er auf das Konzept des natürlichen Kontinuums eingehen würde, das Hirschfelds mehrschichtigem Schema sexueller Distribution zugrunde liegt. Damit hätte Dose präziser nachvollziehen können, was es eigentlich bedeutet, dass Hirschfeld – wie schon der Titel des ersten Bandes der Geschlechtskunde zum Ausdruck bringt –grundsätzlich um die Erfassung der »körperseelischen Grundlage« menschlicher Geschlechtlichkeit bemüht war. Insofern als die Zwischenstufenlehre die fundamentalen Prämissen zur Bewältigung dieser Aufgabe liefert, hätte sie eine Reduktion der »Seele« auf den »Körper« schon deswegen nicht vornehmen können, weil diese Lehre sich darauf beschränkt, das Prinzip eines offenen Schemas sexueller Distribution aufzustellen, ohne dabei die Vielschichtigkeit des Geschlechtlichen und die Dependenzen bzw. Interdependenzen der geschlechtlichen Beschreibungsschichten ursächlich erklären zu wollen. Sensu stricto kann also die Zwischenstufenlehre keine erklärende Reduktion der Psyche und deren soziokulturellen Ausdrucksformen auf das Natürlich-Somatische durchführen, weil sie somit ihres spezifischen epistemologischen Status verlustig gegangen wäre. Vor diesem Hintergrund wäre für Doses Unterfangen von Vorteil gewesen, wenn er sich über den Sachverhalt Klarheit verschafft hätte, dass die Aufstellung der Zwischenstufenlehre keineswegs im Widerspruch dazu steht, dass Hirschfeld sonst auch erklärende, z.T. ätiologische Sexualtheorien vertreten hat, welche freilich nicht als Bestandteile seiner Lehre intendiert waren. Als Prinzip sexueller Distribution eröffnet Hirschfelds Zwischenstufenlehre das erkenntnismäßige Gebiet, auf dem sexuelle Theorien erst aufgestellt werden können, und darum ist sie berechtigt, einen meta-theoretischen Status im Verhältnis zu den theoretischen Erklärungen der Phänomene zu beanspruchen, deren prinzipielle Beschreibung und Einordnung sie ermöglicht. 7. Da Dose sich mit den von der Zwischenstufenlehre erfassten, »körperseelischen« Schichten der Sexualität in relativer Ausführlichkeit auseinandersetzt, ist davon auszugehen, dass er sich dessen bewusst ist, dass Hirschfelds sexualdistributives Schema beide Momente der sex/gender-Dichotomie einschließt, mit der üblicherweise auf dem Gebiet von Gender und Queer studies operiert wird. Darum ist es um so befremdlicher, dass der Text mit der Inhaltscharakteristik des Bandes, der auf dem Hinterdeckel zu lesen ist, auf eine (scheinbar willkommene) Gewichtsverlagerung zu Gunsten nicht-biologischer Sexualität hinweist, wenn bezüglich der »Lehre von den ›sexuellen Zwischenstufen‹« folgende Auskunft erteilt wird: »Heute wird die Tragweite dieses Konzepts neu, aber nicht mehr unter dem Vorzeichen der Biologie diskutiert.« Unabhängig davon, ob dieser Text von Dose selbst, vom Herausgeber der Reihe Jüdische Miniaturen oder von einem Verlagslektor verfasst wurde, verrät er eine erstaunliche Verkennung der Tatsache, dass Hirschfelds »beschreibende« Lehre die biologischen Aspekte der Sexualität zwar berücksichtigt, aber nicht unter dem Vorzeichen dieser Aspekte stand, da sie – wie schon ausgeführt – aus prinzipiellen Gründen jegliche reduktive Ätiologie des Sexuellen aus ihrem Zuständigkeitsbereich ausschließen musste. Indem der Werbetext diese wesentlichen Sachverhalte unbeachtet lässt, wird sozusagen ex negativo suggeriert, dass die alternative, d.h. nicht-biologische Sichtweise eben diejenige ist, die im Zeichen der Prävalenz psychologischer bzw. »performativer« Momente der Sexualität steht. Damit zeichnet sich eine mögliche Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Positionen Rüdiger Lautmanns ab, der in einem unlängst erschienenen Aufsatz schrieb: »In der Begrifflichkeit zum Geschlecht befindet sich heute weniger sex und mehr gender als vor Zeiten. Hirschfelds Zwischenstufen lassen sich in Gender-Begriffen besser rekonstruieren als nach den Theoremen einer Sexualphysiologie.«[16] Wie kurzsichtig und unüberlegt die von Lautmann anvisierte, »modern« anmutende Rekonstruktion eigentlich ist, wird ersichtlich, wenn man Hirschfelds Körperbegriff im Lichte seiner Spinozistischen Konzeption der Natur betrachtet. 8. In seiner »Miniatur« versucht Dose, die Frage nach Hirschfelds Natur-Verständnis tunlichst auszublenden, obwohl er sicherlich weiß, dass dieser Problematik just im Hinblick auf die Zwischenstufenlehre eine eminente Rolle zukommt. Als engagiertes Mitglied des Monistenbundes vertrat Hirschfeld eine von der Philosophie Baruch de Spinozas maßgeblich beeinflusste Auffassung von Natur, die sich wesensmäßig von der offenbarungspositivistischen, d.h. kreationistischen Konzeption unterschied, auf welche die religiöse Sanktionierung der binomen Sexualität im Westen zurückgeht. Gerade weil Hirschfeld von den unerschöpflichen Hervorbringungen der natura naturans ausging, konnte er sich den geschlossenen Schemata sexueller Distribution widersetzen und sich einer vorurteilsfreien Sicht grenzenloser Sexualvariabilität öffnen, in der die Zahl der Sexualkonstitutionen mit der Zahl der tatsächlich existierenden, sexuierten Individuen sich deckt. Da die Zwischenstufenlehre eine neue Konzeption sexueller Differenz impliziert, welche auf der deskriptiven Erfassung der vielschichtigen Diversität des Sexuellen basiert, konnte sie schon aus prinzipiellen Gründen keine Rückführung der »körperseelischen« Grundlagen der Sexualität auf ihre biologischen Bestandteile befürworten, und noch weniger könnte ihre angebliche »Aktualisierung« dazu führen, diese Grundlagen unter Rekurs auf Gender-Kategorien zu erklären. Als ein Beschreibungsmodell, das auf Ätiologien verzichtet, konstituiert die Zwischenstufenlehre ein sexualdistributives Schema, welches das herkömmliche Sexualbinomium und seine Kombinatorik sprengt und statt dessen die potenzielle Unendlichkeit der Geschlechtskonstitutionen in der Folge von prinzipiell unabschließbaren Sexualdifferenzen postuliert. 9. In Anbetracht des Titels der Reihe, in der das Hirschfeld-Portrait erschien, ist es verwunderlich, dass nirgends auf die Tatsache eingegangen wird, dass der jüdische Sexologe gegen Ende seines Lebens in einer in Prag auf Deutsch erschienenen Zeitung einen Serienartikel veröffentlichte, in dem er eine Dekonstruktion des ideologischen Begriffes der Rasse unter Verwendung von Denkmustern und Strategien unternahm, die durchaus mit denjenigen seiner Dekonstruktion des Sexualbinomiums vergleichbar sind. In Analogie zu seiner Vorgehensweise in sexualwissenschaftlichem Kontext geht Hirschfeld davon aus, dass es bezüglich der rassischen Bestimmung von Individuen nur graduelle, keine wesentlichen Unterschiede gibt. Der sexualwissenschaftlichen Aussage, dass »[a]lle Menschen [...] intersexuelle Varianten [sind]«,[17] entspricht infolgedessen die fundamental-anthropologische Feststellung, dass »[b]iologisch genau genommen, [...] alle Menschen Bastarde [sind].«[18] Wie auf sexologischem Gebiet beruft sich Hirschfeld auch bei der Erörterung der Rassenfrage auf die Naturphilosophie Lamarcks, der »[...] mit Rücksicht auf die unendliche Fülle ererbter Eigenschaften und Erscheinungen« meinte, »daß alle Einteilungen der Geschöpfe im letzten Grunde nur ›künstliche Mittel‹ seien: die Natur selbst [...] kennt weder Klassen noch Arten.«[19] In seiner Dekonstruktion sowohl der binomen Sexualkategorialität als auch der Einteilung der menschlichen Gattung in Rassen rekurriert Hirschfeld auf ein Naturverständnis, welches prinzipiell die Versuche des taxonomischen Geistes vereitelt, arbiträre Interruptionen in den natürlichen Kontinuitäten von Sexualität und Rasse herbeizuführen. Im Hinblick auf die mörderische Rassen-Ideologie der Nazis und eingedenk des Exils, zu dem Nazi-Deutschland Hirschfeld zwang, braucht die besondere Signifikanz von Hirschfelds »biologico-psychological outlook«[20] der Rassenproblematik nicht eigens hervorgehoben zu werden. Darum sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass Hirschfeld sich herausgefordert sah, auch auf dem Gebiet der Rassenforschung eine nachvollziehbare Verbindung von Wissenschaftlichkeit und emanzipatorischem Geist herzustellen: per scientiam ad justitiam. 10. In einer Passage, in welcher die im Untertitel des Bandes verwendete Formulierung sich als ein Hirschfeld-Zitat erweist, führt Dose folgende Zeilen aus einer Handschrift Hirschfelds an: »Die Frage: Wohin gehörst Du – was bist Du eigentlich? lässt mir keine Ruhe. Formuliere ich die Frage: ›Bist Du ein Deutscher – Jude – oder Weltbürger?‹ so lautet meine Antwort jedenfalls ›Weltbürger‹ oder ›alles drei‹.«[21] Auch wenn dieses Notat vor dem verhängnisvollen Hintergrund des Judenboykotts vom 1. April 1933 geschrieben wurde, der Hirschfeld das Leben in Deutschland als eine moralische Unmöglichkeit erscheinen ließ, ist in Hirschfelds Frage nach der eigenen Zugehörigkeit nicht zu erkennen, dass er »das ihm aufgezwungene Dilemma nicht lösen [konnte]«[22], wie Dose behauptet. Schon vor 1933 hat sich Hirschfeld mit einer derartigen Problematik befasst, wie ein Passus in Die Weltreise eines Sexualforschers zeigt, in dem Hirschfeld mit Bezug auf Juden schreibt, sie seien ein »›unstet und flüchtig‹ herumwandernde[s] Volk[], das nirgends eine eigentliche Heimstätte finden kann und doch überall eine große menschliche Mission erfüllt.«[23] Dementsprechend vertrat Hirschfeld eine Sicht des Judentums, die sich sowohl von dem orthodox-religiösen als auch vom zionistischen Interpretationsansatz deutlich unterschied. Wie der Verfasser in einem anderen Zusammenhang ausführlich dargelegt hat,[24] betrachtete Hirschfeld die sogenannte »Menschheitsassimilation« als eine für ihn annehmbare Lösung der Judenfrage in Einklang mit dem »Panhumanismus und Kosmopolitismus«[25], denen er prinzipiell beipflichtete. Als ein Prozess, der keine Selbstauflösung des Judentums, sondern seine grundsätzliche Einordnung in den Konnex des Lebens implizierte, stellt die »Menschheitsassimilation« Hirschfelds wohlüberlegte Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens als Jude dar. Insofern als sein auf Deutsch geschriebenes Lebenswerk im Zeichen der Verwirklichung universeller Humanität als Telos der Geschichte stand, bedeuteten Deutschtum, jüdische Zugehörigkeit und Weltbürgertum für Hirschfeld keine sich ausschließenden Alternativen und noch weniger ein »Dilemma«, wie Dose nicht ohne Pathos meint. Dass die organisierte deutsche Barbarei Hirschfelds komplexen, auf ständige Selbstvergewisserung angewiesenen Identifikationen nichts abgewinnen konnte und ihn zu einem staatenlosen Flüchtling werden ließ, ändert nichts daran, dass Hirschfeld längst vor 1933 eine Antwort auf die Frage nach dem »Wohin gehörst Du – was bist Du eigentlich?« gefunden hatte. 11. Das Kapitel über »Judentum, Zionismus und Antisemitismus«, in dem Dose die Äußerungen Hirschfelds zu seiner persönlichen Zugehörigkeit behandelt, schließt mit einem Hinweis auf »Ansätze«[26], welche Hirschfelds sexologische Positionen in Verbindung mit einer jüdisch geprägten philosophischen Tradition und einem Gerechtigkeitsethos messianisch-prophetischer Provenienz setzen. Die Belegzitate und die bibliografischen Verweise in der angehängten Fußnote machen deutlich, dass die von Dose gemeinten Ansätze die im eingangs schon erwähnten Essay »Der Tod Adams« vertretenen Thesen sind, in denen der Verfasser unter Bezugnahme auf Hirschfelds Lebensmotto per scientiam ad justitiam das Verhältnis seiner sexologischen und emanzipatorischen Programmatik zur geistesgeschichtlichen Tradition des Judentums thematisierte. Bei den Thesen des Verfassers, auf die Dose verweist, handelt es sich darum, die sexuelle Zwischenstufenlehre im Rahmen der menschheitlichen Befreiungsaufgabe zu würdigen, die im wesentlichen auf die Aufhebung der Missstände der Opfer sexueller Unterdrückung bedacht war und deswegen daraufhin wirkte, das sexuelle Selbstverständnis der Unterdrücker nach sexualbinären Kriterien zu demontieren. Im Hinblick darauf führt die Zwischenstufenlehre die Auflösung des Sexualbinomiums und dessen Homo/Hetero-Kombinatorik, sowie die Dekonstruktion aller sexualdistributiven Schemata herbei, die auf der »Fiktion« einer geschlossenen Anzahl sexueller Konstitutionen basieren. Da die Sexualkonstitutionen mit der tatsächlichen Anzahl sexuierter Individuen co-extensiv sind,[27] wird die endgültige Subsumption von Individuen unter Sexualkategorien eines geschlossenen Klassifikationsschemas durch ein asymptotisches Verfahren sexueller Distribution ersetzt, welches der irreduziblen Komplexität und ständigen Veränderung einer jeden Sexualkonstitution Rechnung trägt. Diese weittragenden Konsequenzen von Hirschfelds kritischen Dekonstruktionen werden von Dose leider nicht erwähnt, geschweige denn erörtert. Da Dose vermeidet, sich mit Hirschfelds radikaler Auflösung aller geschlechtlichen Kategorialfixierungen auseinanderzusetzen, verkennen seine Ausführungen – trotz relativer Detailfülle – die eigentlichen Tiefendimensionen und die epochale Bedeutung von Hirschfelds sexueller Zwischenstufenlehre. 12. Wie das Kunstverständnis und der künstlerische Anspruch von Alberto Giacometti oder Barnett Newman exemplarisch zeigen, brauchen »Miniaturen« der Monumentalität der Darstellung nicht zu widersprechen. Denn im Prinzip kann der Künstler, der eine Miniatur schafft, mit Perspektive und Proportionen so umgehen, dass sein Werk – trotz der gattungsbedingten Reduktion der Dimensionen – den spezifischen Ambitus des Gewaltig-Großartigen erlangt. Wenn solche Einsichten mutatis mutandis auf das biographische Vorhaben, eine »Miniatur« Hirschfelds vorzulegen, angewandt werden, so ließe sich der Standpunkt vertreten, dass unter bestimmten Bedingungen eine derartige Darstellung von Vita und Werk des Sexologen – trotz der Enge des zur Verfügung stehenden Raumes –durchaus etwas von seiner eigentlichen intellektuellen und moralischen Größe zum Vorschein bringen könnte. Wie aus den vorangegangenen Ausführungen zu schließen ist, können Tragweite und Relevanz von Hirschfelds sexologisch-emanzipatorischen Leistungen nur dann angemessen gewürdigt werden, wenn begriffen wird, dass nach Hirschfelds meta-theoretischen Prämissen das sexuierte Individuum die epistemologische Grenze sexueller Kategorialisierungen markiert und somit den Zugang zu einer emanzipatorischen Ethik eröffnet, welche die soziokulturellen Bedingungen expliziert, unter denen die Verwirklichung der »sexuellen Menschenrechte« möglich wird. Dieser Begriff, der vom Rechtsgelehrten Rudolf Goldscheid 1930 geprägt[28] und von Hirschfeld im Jahre 1933 erstmalig verwendet wurde,[29] konturiert das eigentliche Telos der sexualemanzipatorischen Programmatik, die aus Hirschfelds Einblick in die sexuelle Zwischenstufigkeit eines jeden Menschen hervorgeht. In Anbetracht der Grundtendenz seines sexologischen Denkens ist festzustellen, dass Doses »Miniatur« ihr Ziel deswegen nicht erreichen konnte, weil sie Hirschfelds Gedankenentfaltung hin zur sexuellen Individualität unterbricht und somit die eigentliche Verbindung verfehlt, die Hirschfelds Geschlechtskunde und sexualemanzipatorische Ethik zusammenhält.
[1] Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld. Deutscher – Jude – Weltbürger. Teetz / Berlin: Verlag Hentrich & Hentrich / Stiftung Neue Synagoge Berlin, Centrum Judaicum, 2005 [2] Wolff, Charlotte: Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pionier in Sexology. London 1986 [3] Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. 2. Aufl. Hamburg 2001 [4] Cf. Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds. In: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Hrsg. von Manfred Herzer. Berlin 1998: 15-45. – Der Essay erschien später auch in: Seeck, Andreas (Hrsg.): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit? Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld. Münster u.a. 2003: 133-155 [5] Es handelt sich um folgende Texte: Bauer, J. Edgar: Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 29/30, Juli 1999: 66-80; Bauer, J. Edgar: Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 33/34, 2002: 68-90; und Bauer, J. Edgar: Magnus Hirschfeld: Sexualidentität und Geschichtsbewusstsein. Eine dritte Klarstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 37/38 (erscheint demnächst). [6] Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 7 [7] Vgl. vor allem Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 97 [8] Vgl. Seidel, Ralf: Sexuelle Zwischenstufen als anthropologische Varietäten. In: Medizinische Klinik 63, 1968: 814; und Seidel, Ralf: Sexologie als positive Wissenschaft und sozialer Anspruch. Zur Sexualmorphologie von Magnus Hirschfeld. Med. Diss. München 1969: 72-76. Ein Vorläufer Seidels in dieser Hinsicht war Benedict Friedlaender, der in polemischer Absicht Hirschfeld durchgängig eine »Zwischenstufentheorie« zuschreibt. Cf. z. B.: Friedlaender, Benedict: Aus der Denkschrift für die Freunde und Fondzeichner des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees im Namen der Sezession des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees [1907]. In: Friedlaender, Benedict: Die Liebe Platons im Lichte der modernen Biologie. Gesammelte kleinere Schriften über gleichgeschlechtliche Liebe. Treptow bei Berlin 1909: 197-230. – Gegen die wohlmeinenden Versuche von August Forel (im Jahre 1904) und Iwan Bloch (im Jahre 1906), Hirschfelds Lehre als »Zwischenstufentheorie« zu bezeichnen, wehrt sich der Sexologe ausdrücklich in: Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung und Erfahrung bearbeitet. I. Band: Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart 1926: 599 [9] Vgl. dazu Bauer, J. Edgar: Magnus Hirschfelds »Zwischenstufenlehre« und die »Zwischenstufentheorie« seiner Interpreten. Notizen über eine rezeptionsgeschichtliche Konfusion. In: Capri Nr. 35, April 2004: 38-39; und Bauer, J. Edgar: Magnus Hirschfeld. Der Sexualdenker und das Zerrbild des Sexualreformers. In: Capri Nr. 37, Mai 2005: 8-11 [10] Cf. Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung und Erfahrung bearbeitet. I.Band: Die körperseelischen Grundlagen, op. cit.: 547 [11] Hirschfeld schreibt in der Broschüre nur vom »festen Schema«, in dem die biologische Auffassung der ›sapphischen‹ und ›sokratischen‹ Liebe »[s]eines Wissens zum ersten Male [...] durchgeführt wurde.« (Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirschfeld]: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts. Leipzig 1896: 27) [12] Es handelt sich um folgende Schichten: die Eigenschaften der Geschlechtsorgane, die sonstigen körperlichen Eigenschaften, der Geschlechtstrieb und die sonstigen psychischen Eigenschaften. (Cf. Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 97) [13] Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung. 1897 – 1922. Hrsg. von Manfred Herzer und James Steakley. Berlin 1986: 49 [14] Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirschfeld]: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts, op. cit.: 13 [15] Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 97 [16] Lautmann, Rüdiger: Mit dem Strom – gegen den Strom. Magnus Hirschfeld und die Sexualkultur nach 1900. In: Kotowski, Elke-Vera und Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld. Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Berlin-Brandenburg 2004: 300 [17] Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung. 1897 – 1922, op. cit.: 49 [18] Hirschfeld, Magnus: Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr (8. Fortsetzung). In: Die Wahrheit. Prag, Jg. 14 (1935) Nr. 2 [Überschrift des Absatzes: »Bastarde« und »Reine Linie«]. – Es gibt eine englische und edierte Fassung des Textes: Hirschfeld, Magnus: Racism. Translated and edited by Eden and Cedar Paul. London 1938. Das entsprechende Zitat lautet auf englisch: »[...] all human beings are hybrids[...].« (S. 198) [19] Hirschfeld, Magnus: Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr (12. Fortsetzung). In: Die Wahrheit. Prag, Jg. 14 (1935) Nr. 6 [Überschrift des Absatzes: Menschliche Varianten und Typen]. [20] Hirschfeld, Magnus: Racism. Translated and edited by Eden and Cedar Paul. London 1938: 289. – Der in Prag erschienene deutsche Text ist unvollständig. So schreiben die Herausgeber Paul, dass ihre Übersetzung »the first complete publication in any language« (S. 7) ist. Der in der deutschen Fassung fehlende Absatz, dem das Zitat entnommen wurde, hätte sich befinden sollen in: Hirschfeld, Magnus: Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr (14. [eigentlich: 15.!] Fortsetzung). In: Die Wahrheit. Prag, Jg. 14 (1935) Nr. 9 [Überschrift des Absatzes: Zoologischer Rasseglauben (sic!)]. [21] Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 44. Die Quelle ist: Hirschfeld, Magnus: Mein Testament II: [77f.] [22] Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 44 [23] Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers. Brugg 1933: 390 [24] Cf. Bauer, J. Edgar: »Ahasverische Unruhe« und »Menscheitsassimilation«: Zu Magnus Hirschfelds Auffassung vom Judentum. In: Kotowski, Elke-Vera und Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld (1868-1935). Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, op. cit.: 271-291 [25] Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers, op. cit.: 392 [26] Dose, Ralf: Magnus Hirschfeld, op. cit.: 45 [27] Cf. dazu: Bauer, J. Edgar: »43 046 721 Sexualtypen.« Anmerkungen zu Magnus Hirschfelds Zwischenstufenlehre und der Unendlichkeit der Geschlechter. In: Capri Nr. 33, Dezember 2002: 23-30 [28] Cf. Goldscheid, Rudolf: Zur Geschichte der Sexualmoral. In: Sexualnot und Sexualreform. Verhandlungen der Weltliga für Sexualreform. IV. Kongress abgehalten zu Wien vom 16. bis 23. September 1930. Redigiert von Herbert Steiner. Wien 1931: 279-302, insbesondere 298-299 [29] Cf. Hirschfeld, Magnus: Was will die Zeitschrift Sexus? In: Sexus. Internationale Vierteljahreszeitschrift für die gesamte Sexualwissenschaft und Sexualreform. Herausgegeben vom Institut für Sexualwissenschaft, Berlin. Chefredakteur Sanitätsrat Dr. Magnus Hirschfeld, Nr. 1,1933: 1-6. – Der Begriff steht heute bekanntlich im Mittelpunkt des international angelegten Diskurses mehrerer sexualemanzipatorischer Organisationen. |