J. Edgar Bauer

»43 046 721 Sexualtypen.« Anmerkungen zu Magnus Hirschfelds Zwischenstufenlehre und der Unendlichkeit der Geschlechter

Ursprünglich erschienen in: Capri. Herausgegeben vom Schwulen Museum. Redaktion: Manfred Herzer.
Berlin: No. 33, Dezember 2002, S. 23-30.
 - Revidierte Fassung -
Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Autors.

 

»Perfect men have rudimentary breasts. Perfect women carry a rudimentary penis in their clitoris […] Other anatomical details of the same sort might be adduced. But these will suffice to make thinking persons reflect upon the mysterious dubiety of what we call sex.«

John Addington Symonds: A Study in Modern Ethics [1891]. In: Symonds: Studies in Sexual Inversion embodying: A Study in Greek Ethics and A Study in Modern Ethics. Privately printed: 1931, S. 164

 

»Je mehr wir Übergänge zwischen den Geschlechtern kennenlernen, um so mehr lernen wir die Nützlichkeit der Gewährung eines möglichst freien Spieles der Kräfte für Mann und Weib begreifen.«

Magnus Hirschfeld: Nachwort zu: Aus eines Mannes Mädchenjahre von N.O. Body  [1907]  In: Body, N.O. [d.i. Karl Baer]: Aus eines Mannes Mädchenjahren. Vorwort von Rudolf Presber. Nachwort von Dr. med. Mag­nus Hirschfeld. Reprint. Hrsg.. von Hermann Simon mit einer Vorbe­mer­kung und einem abschließenden Beitrag: »Wer war N.O. Body?« Berlin 1993, S. 166

 


1. Im Jahre 1998 erschien unter dem Titel »Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds« der Text eines Vortrages, den der Verfasser ein Jahr zuvor in der Berliner Akade­mie der Künste im Rahmen der Jubi­lä­ums­aus­stellung zum Thema 100 Jahre Schwulen­bewe­gung hielt.[1] Manfred Herzer wertet im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Hirschfeld-Biogra­fie den vorgelegten Text als eine »Neuinterpretation der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre«, die eine Ausnahme in der Forschung der neunziger Jahre bildet, da sonst keine »neue Sicht der Din­ge oder [k]eine neue Gewichtung und Deutung der Tatsachen [...] daraus [...] zu gewinnen [war]«[2]. Herzers Einschätzung ist umso beach­tens­werter, weil er in zwei früheren Erwide­run­gen beinah alle Thesen der Studie zu beanstan­den versucht hat. Auf Herzers erste Erwiderung, die den Titel »Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Roman­tik«[3] trug, folgte eine Replik des Verfassers unter dem Titel »Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung«[4]. Darauf reagierte Herzer erneut mit »Hirschfeld und das Unaussprech­liche«.[5] Das Manuskript vom Text »Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung«, der die zweite Replik des Verfassers auf Herzers Ein­wände ist, wurde schon 2001 bei der Redaktion der Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft abgegeben, aber ist bislang nicht erschienen.[6] Die nach­ste­henden Anmerkungen zur Deutung von Hirsch­felds Zwischenstu­fen­leh­re präzisieren und er­weitern die Gesichtspunk­te, die in den er­wähn­ten Beiträgen des Verfassers erörtert wurden.  

 

2. Aufgrund methodischer Überlegungen kon­zen­trierte sich der argumentative Duktus von »Der Tod Adams« vornehmlich auf diejenigen Texte des Hirschfeldschen Korpus, die zwischen 1896 und 1923 erstmalig erschienen sind.[7] Bei der Behandlung der sexualwissenschaftlichen Fragen in den zwei Repliken des Verfassers wur­de auch nur aus den Schriften Hirschfelds zi­tiert, die im selben Zeitraum veröffentlicht wur­den.[8] In der Konsequenz bedeutet diese zeit­li­che Einschrän­kung, dass die Erörterung von Hirsch­felds Zwi­schenstufenlehre in den bisheri­gen Texten des Verfassers unter Ausschluss der ab 1926 er­schie­nenen Bände der Geschlechts­kunde (1926) erfolgt ist. Damit konnte nachge­wie­sen werden, dass die Zwischenstufenlehre in ihrer Bedeutung und Komplexität aus den Schriften Hirschfelds rekonstruierbar ist, die in den drei Dezennien vor dem Erscheinen seines opus magnum entstanden.

 

3. Der vollständige Titel von Hirschfelds Haupt­werk lautet: Geschlechtskunde auf Grund drei­ßigjähriger Forschung bearbeitet. Im Vorwort hebt Hirschfeld hervor, dass dieses Werk das abschließende Resultat seiner langjährigen For­schungstätigkeit in zweierlei Hinsicht dar­stellt. Zum einen basiert die Geschlechts­kunde auf einer beharrlichen und unmittelbaren Erfor­schung ihres Sachgebietes, denn sie wurde »von jemandem geschrieben, der sich erst dann dazu für berech­tigt und verpflichtet hielt, nachdem er ein volles Menschenleben hindurch in zäher Ar­beit mit dem Stoff gerungen und in umfang­rei­cher Berufs­tätig­keit Erfahrungen sammeln konn­te [...]«[9]. Zum anderen aber konstituiert die Ge­schlechts­kunde die systematische Präsen­tation der bis dahin schriftlich festgehaltenen Er­geb­nis­se der eigent­lichen Forschungstätigkeit: »Der [dem Werk] zugrunde liegende Stoff wurde im Laufe von drei Jahrzehnten in Dutzenden von Vortragsheften und vielen Tausenden von Fra­ge­zetteln gesam­melt.«[10] Aus den Hinweisen auf die dreißig­jäh­ri­ge Vorbereitungszeit in dem 1925 geschrie­benen Vorwort lässt sich auf die Tragweite und Rele­vanz schließen, die Hirsch­feld seiner zuerst 1896 pseudonym erschienenen Broschüre Sappho und Sokrates beimaß. Dies hängt damit zusam­men, dass nach Hirschfeld die früheste »Aufstel­lung der Lehre von den sexuel­len Zwischen­stufen«[11] schon in seiner sexual­wis­senschaft­lichen Erst­lingsschrift erfolgte. Dass diese Lehre die Ein­heitlichkeit stiftende Grund­lage des Hirsch­feld­schen Œuvres darstellt, war eines der Haupt­ergeb­nisse der Studie »Der Tod Adams« und lässt sich durch die Analyse einiger zentraler Passagen der Geschlechtskunde bestätigen.

 

4. Es ist sicherlich kein Zufall, dass unmittelbar nach der Eingangsseite der kürzlich eröffneten Online-Ausstellung Institut für Sexual­wis­sen­schaft (1919-1933)[12]  folgender Text einge­blendet wird:

»m         m + w         w

316  =  43 046 721 Sexualtypen.«

Auch wenn die eher historisch, als theoretisch ausgerichtete Ausstellung keinen Beitrag zum tie­feren Verständnis  –  geschweige denn zur kri­ti­schen Problematisierung  –  des erklä­rungs­be­dürf­tigen Textes leistet, so ist nicht zu über­sehen, dass schon seine Präsenz  an dieser Stelle Fragen auf­wirft, die im Prinzip zu einer theore­tisch er­gie­­bigen Auseinandersetzung mit Hirsch­felds Zw­i­schenstufenlehre führen könnten. Letzt­lich ist es aber Hirschfeld selbst, der Anlass zu solchen Fragen bietet, denn die zwei Zeilen ge­ben ver­kürzt und formelhaft den Kerngehalt eines Satzes in der Geschlechtskunde wieder, der lautet:

»Da jedes der 16 Elemente einen dreifach (m, w, m+w) verschiedenen Typus haben kann, ergäbe sich als Gesamtzahl aller möglichen Kombina­tionen

        316  =  43 046 721 Sexualtypen.«[13]

Bei dieser Berechnung ging Hirschfeld von dem schon 1896 verwendeten »Viergruppen­sche­ma«[14] zur Einteilung der »Fülle der Kombina­tions­mög­lichkeiten, die es auf sexualtypologi­schem Gebiet gibt«[15], aus. Danach ist zu unter­scheiden zwi­schen (1) den Geschlechtsteilen, (2) den übrigen körperlichen Eigenschaften, (3) dem Ge­schlechts­­trieb und (4) den sonstigen seeli­schen Eigenschaften.[16]  Wenn man annimmt, dass jede dieser Beschreibunsgsebenen des Ge­schlecht­lichen einen männlichen (=  »m«), weib­lichen

(=  »w«) oder gemischt­geschlecht­lichen (=  »m + w«) Charakter ausweisen kann, so er­ge­ben sich daraus zunächst »34 = 81 Kombina­tionen von Geschlechtscharakteren.«[17] 

Überraschender als diese schon ansehnliche Mög­lichkeitszahl von Kombinationen ist die Tat­sache, dass Hirschfeld die Ergebnisse seiner Kal­kulation als eigentlich viel zu niedrig erach­tet. So verweist er darauf, dass die hohe Anzahl erheb­lich gesteigert werden kann, wenn man in Be­tracht zieht, dass jede der vier Eigenschafts­grup­pen sich »mit Leichtigkeit« [18] in vier Unter­grup­pen einteilen lässt. Daraus resultieren die oben genannten »16 Elemente«, die die drei­fa­che Dif­ferenzierung der Sexualcharaktere poten­zieren. Die über 43 Millionen Sexualtypen, die Hirsch­feld errechnet, entsprechen dem »vier­zig­sten Teil der Gesamtzahl aller auf Erden le­ben­den Men­schen«[19], wenn man von einer Ge­samt­bevölke­rung von 1800 Millionen Menschen ausgeht. Diese  Kalkulationen haben freilich nur einen propädeutischen Wert. Denn über die Über­fülle von ausgerechneten Sexualtypen hinaus geht es Hirschfeld letztlich um den radi­kalen theoreti­schen Ansatz, nach dem sexuiertes Individuum und Sexualtypus in eins zusam­men­fallen. Die Unmöglichkeit einer kategorialen Subsumption von mehr als einem Individuum unter jeden Sexualtypus wird angedeutet, wenn Hirschfeld darauf verweist, dass es auf dem Gebiet der Sexualität  »nur Verschiedenes und Ähnliches, nichts Gleiches gibt«[20]. In diesem Zusam­men­hang ist bezeichnend, wenn Hirsch­feld präzisiert, dass »bis ein Typus wiederkehren wird, der in allem und jedem, bis in die kleinsten Einzelheiten einem Shakespeare oder Goethe [...] gleicht, [...] mindestens vierhundert Milli­o­nen Jahre vergehen werden.«[21] Für den monis­tischen Evolutionisten Hirschfeld, der um die unaufhaltsamen, aber oft unmerklichen Verän­derungen der Gattung Mensch wusste, kam die erwogene gedankliche Unwahrscheinlichkeit eigentlich einer biologi­schen Unmöglichkeit gleich. Da die Natur keine Unterbrechung ihres Wer­dens kennt, würde die statistisch angenom­me­ne Wiederholung eines Sexualtypus erst dann eintreffen können, wenn die menschliche Gat­tung in Folge von 400 Millionen Jahren Evolu­tion sich vermutlich  in eine andere verwandelt hätte.

5. Dass die Zwischenstufenlehre in letzter Kon­se­quenz die Postulierung der unwiederholbaren Sexu­alkonstitution eines jeglichen Individuums erfordert, wurde Hirschfeld nicht erst beim Ab­fassen der Geschlechtskunde klar. Der Gedanke wurde schon in seinen frühen sexualwissen­schaftlichen Schriften anvisiert und kommt in aller Deutlichkeit zum Vorschein, wenn Hirsch­feld später die Thesen vertritt, dass »[a]lle Men­schen [...] intersexuelle Varianten [sind]«[22] und dass »hinsichtlich der Sexualkonstitution [...] jeder Mensch seine Natur und sein Gesetz hat.«[23] Hirschfelds Überzeugung, dass jedes In­dividuum einen eigenen, unwiederholbaren Se­xu­altyp verkörpert, entspricht mutatis mutandis der programmatischen Position eines von Félix Guattari herausgegebenen Sammelwerkes, das unter dem Titel Trois Milliards des Pervers. Grande Encyclopédie des Homosexualités er­schienen ist.[24] Denn so wie Hirschfeld hätte sagen können, dass die Anzahl der Sexualtypen bzw. Zwischenstufen der Anzahl der damaligen Erdenbewohner  –  nämlich 1800 Millionen  –  gleicht, so insinuiert ebenfalls der französische Titel die mit der sexuellen Polymorphie einher­gehende »Perversität« aller 1973 existierenden Menschen. Wenn man darüber hinaus nicht von der sexuellen Vielfalt der tatsächlich existieren­den Menschen, sondern von der intrinsischen Sexualvariabilität einer Menschheit ausgeht, der eine prinzipiell unbe­grenzte Entfaltung in der Zu­kunft offen­steht,  dann müsste auf die Vor­stel­lung der »unerschöpflichen Vielfalt der Ge­schlechter«[25], der »unendlichen Ge­schlech­ter«[26] oder  –  noch präziser – der »potentiell unend­li­chen Geschlechter«[27] rekurriert werden, um den von Hirschfeld ins Auge gefassten Sach­verhalt adäquat auf den Begriff zu bringen. In Anbe­tracht der Tatsache, dass die Zwischen­stu­fenlehre hinsichtlich der Vergangenheit die her­kömmliche Auffassung des Sexual­bino­miums auf­löst und hinsichtlich der Zukunft mit einer prin­zipiell un­abschließbaren Reihe neuer »Sexu­altypen« rech­net, kommt eine besondere Be­deu­tung der Aussa­ge Hirschfelds zu, dass es »zu­nächst nur auf Beobachtung und unvoreinge­nom­mene Nach­prü­fung gestützten Erfah­rungs­tat­sachen« waren, die ihn »im Jahre 1896 zur Auf­stellung der Lehre von den sexuellen Zwi­schen­stufen«[28] führten. Wie schon erwähnt, ist damit die Bro­schüre Sappho und Sokrates ge­meint. Denn abge­sehen davon, dass sie die einzi­ge 1896 zu einem sexo­lo­gischen Thema veröf­fent­lichte Schrift Hirsch­felds darstellt, enthält sie die erste Umschreibung der Zwischenstu­fen­lehre,  auch wenn der expli­zite Terminus darin noch nicht vorkommt. Dabei ist zu beachten, dass die Tatsache, dass die in Sappho und So­kra­tes vertretene Auffassung gleich­ge­schlecht­licher Liebe nachweislich Vor­läu­fer[29] hat, kei­neswegs Hirschfelds Anspruch auf die Urheber­schaft der Zwischenstufenlehre wider­spricht. Denn das, worauf es dem jungen Hirsch­feld ankam, war das »feste[] Schema«, in dem die biologische Auffassung der proble­mati­schen Liebe »[s]eines Wissens zum ersten Male [..] durchgeführt wur­de«.[30] Dieser Anspruch wird bekräftigt und un­ter­mauert, wenn Hirschfeld in der Geschlechts­kunde explizit auf die geistige Ge­nealogie seiner Lehre aufmerksam macht: zum einen Ernst Haeckels »biogenetisches Grund­gesetz« (die Ontogenie als gedrängte Phylogenie) und zum anderen das von Comenius, Leibniz und Linné vertretene »Übergangsgesetz« (natura non facit saltum).[31] Durch den Rekurs auf diese biolo­gi­schen und naturphilosophischen Grund­lagen wird die allgemein-menschliche Geltung erkenn­bar, die Hirschfeld der Zwischenstufenlehre bei­misst. Sie intendiert keine ausschließliche The­ma­­­tisie­rung von besonderen Segmenten (»Mit­tel­stu­fen«) des Sexualkontinuums, sondern fun­giert als ein meta-theoretisches Prinzip zur Ein­ord­nung aller von der Wissenschaft ermittel­baren »Sexualtypen«.

 

6.  In den einleitenden Absätzen des XI. Kapitels  der Geschlechtskunde erinnert Hirschfeld daran, dass er sich »vom Anfang an« gegen die Be­zeich­­nung der Zwischenstufenlehre als »Zwi­schen­stu­fentheorie« wandte.[32] Da die Zwi­schen­stufen­lehre ein »nur als Einordnung gedachte[s] Prinzip[]« darstellt und folglich keine Erklärung der von ihr erfassten Phänomene liefert, ist sie nach Hirschfeld nicht als »Theorie« aufzufassen. Fast wörtlich übernimmt er eine Passage aus einem 1923 erschienenen Text,[33] wenn es um die Bestimmung der wissenschaftlichen Zielsetzung seiner »Lehre« in der Geschlechtskunde geht:

»Lediglich die Registrierung (=Einreihung) und Ordnung intersexueller Varianten in ihrer außer­ordentlichen Vielgestaltigkeit, ihre Erfas­sung und Bewertung in biologischer, historischer, ethnolo­gischer und soziologischer Hinsicht sah ich als Aufgabe der Lehre und der Lehrbücher von den sexuellen Zwischenstufen an.«[34]

Bekanntlich hat Hirschfeld nie prinzipiell auf die Aufstellung von regionalen Theorien verzichtet, die zur Erklärung sexualwissenschaftlicher Phä­no­mene dienen. Die Zwischenstufenlehre selbst aber liefert keine Erklärungen, sondern eröffnet den Ambitus, in dem der sexualwis­sen­chaftliche Diskurs und seine eventuellen theore­tischen Erklärungsversuche erst zur Entfaltung kommen. Nur wenn die unhaltbare Dichotomi­sierung von Mann und Frau überwunden und die unhinter­geh­bare Sexualvariabilität des Men­schen als der grund­legende Tatbestand seiner Sexuiert­heit er­kannt wird, kann der eigentliche sexual­wis­sen­schaftliche Gegenstand konstituiert werden, wel­cher dann mit Hilfe von sexual­wis­sen­schaft­licher Theoriebildung  in seinen Ur­sa­chen und Konse­quen­zen erforscht wird. Der für die Sexu­al­wis­sen­schaft grund­le­genden Tat­sache, dass es im strengen Sinne weder Männer noch Frauen gibt, sondern nur Menschen, die aus­nahmslos inter­sexuelle Vari­anten darstel­len,[35] trägt Hirsch­feld Rechnung, wenn er in der Geschlechtskunde schreibt, dass das »absolute« Weib und der »ab­so­lute« Mann »nur Grenzwerte, theoretische Auf­stellungen« sind, »denn in Wirk­lichkeit hat man bei jedem Mann wenn auch noch so gering­fügige Anzei­chen seiner Abstam­mung vom Wei­be, bei jedem Weibe entspre­chende Reste männ­licher Her­kunft nachweisen kön­nen.«[36] Von daher wird verständlich, dass in der Natur alle vorstellbaren Varietätsformen des In­tersexuellen vorkommen können, aber keine In­dividuen, deren Ge­schlecht­lichkeit ausschließ­lich von männ­li­chen bzw. weib­lichen Kompo­nen­ten bestimmt wären. Da der vollständig männ­liche Mann und die voll­ständig weibliche Frau nur gedanklich kon­stru­ierte Fikta sind, die in der Natur  –  wenn über­haupt  –  nur als Mon­stren in Erscheinung treten könnten, wird ge­schlechtliche Normalität aus­schließlich als eine im Bereich von inter­sexu­ellen Varianten vor­kommende Beschaffenheit zu konzipieren sein. 

 

7. Die meisten Kritiker von Hirschfeld  –  zumal in Deutschland  –  scheinen die Vorzüge eines close reading seiner Texte für sich noch nicht entdeckt zu haben. Vor dem Hintergrund ihrer  methodisch unzulänglichen Lektüren überrascht es nicht, dass sie in der Geringschätzung von Hirschfelds theoretischen Leistungen sich gegen­­­­seitig überbieten zu wollen scheinen. Dass Hirschfeld »denkerisch anspruchlos«[37] war, dass er »als Theoretiker flach und unfertig blieb«[38] oder dass »Erkenntnisarmut«[39] seine Schriften kennzeichnet, sind voreilige Behauptungen von Autoren, die eine hermeneutisch und philoso­phisch adäquate Auseinandersetzung mit der Zwischenstufenlehre und ihren Implikati­o­nen mit erstaunlicher Konsequenz bislang ge­mieden  haben. Auch wenn im allgemeinen keine beson­dere Deutungsgabe erforderlich ist, um die Bri­sanz und Tragweite von Hirschfelds Grundein­sichten zu erkennen und die gedank­li­che Be­weg­lichkeit seiner Texte zu würdigen, kann eine Kri­tik an seinem sexualwissen­schaft­lichen Ent­wurf nur unter Voraussetzung einer reflek­tierten The­mati­sie­rung der dem Hirsch­feldschen Œuvre zu­grunde­liegenden Sachfragen gelingen. Zu sol­chen Sach­fragen gehört sicher­lich das The­ma der Auflösung des herkömm­lichen Sexualbino­mi­ums und der damit zusam­men­hän­gen­den, pro­viso­ri­schen Hyposta­sierung einer dritten Sexu­al­alter­native im Sinne eines unent­behrlichen »Not­behelfs«, der »nie­mals als etwas Vollstän­diges oder auch nur Ab­geschlos­senes dastehen kann«[40]. Nicht weni­ger relevant in dem Zusam­menhang ist die Frage nach der Potenzie­rung der Ge­schlechts­diffe­ren­zierungen und der daraus re­sul­tierenden Gleich­setzung von unwie­derhol­barem Sexual­typus und sexuiertem Indivi­duum. Wenn es aber gilt, über Hirschfelds wis­sen­schaft­liche Bedeu­tung hinaus die emanzi­pa­to­rische Dimen­sion sei­nes Gesamtentwurfes zu eruieren, ist eine Aus­einandersetzung mit der Frage wohl nicht zu vermeiden, inwiefern der Ansatz zur Identifi­ka­tion von Individuum und Sexualtypus aus Hirsch­felds Sicht keine Auf­hebung der mit nütz­lichen Ficta operierenden Sexualwissen­schaft zur Folge hat, sondern die Not­wendigkeit des Überganges von der Wis­sen­schaft des Sexu­ellen zur ethisch-politischen Aufgabe der Sexu­al­eman­zipation sig­nalisiert. Nicht von ungefähr lautete Hirschfelds Lebens­motto, das ihm auch als Grabinschrift dient: per scientiam ad justitiam.

 

8. Im Vorwort zur Geschlechtskunde ist folgende Passage zu lesen:

»In diesem Zusammenhang will ich versuchen, mit einem Fehlschluß aufzuräumen, der sich seit langem an meine Arbeit heftet. Seit ich  –  es ist nun schon ein Menschenalter her  –  mit großem Eifer gegen einen Justizirrtum aufzutreten be­gann, dessen Gründe ich als höchst fehlerhaft und dessen Folgen ich als höchst verderblich er­kannte (ich meine die Verfolgung Homosexu­el­ler), löst mein Name bei vielen Zeitgenossen Ge­­­danken­verbindungen aus, die sich lediglich auf dieses Vorgehen beziehen. So hängt die Be­quemlichkeit der großen Menge fast jedem For­scher, von dessen Lebensarbeit sie nur in Schlag­worten läuten hörte, eine bestimmte Marke um.«[41]

In Anbetracht seines öffentlichen Engagements gegen die Verfolgung sexueller Minderheiten und seiner zahlreichen Publikationen zur Homo­sexu­a­litätsthematik ist nicht ohne weiteres ver­ständ­lich, dass Hirschfeld sich gegen die weit­verbrei­tete Ansicht wehrt, dass seine sexualwis­sen­schaftliche Forschungstätigkeit vorwiegend oder ausschließlich der Homosexualität galt. Dabei dachte Hirschfeld sicherlich nicht nur an »die große Menge", denn er wusste sehr wohl, dass auch gut informierte Autoren einer allzu einsei­ti­gen Identifikation sei­nes Namens mit der Homo­sexualitätsfrage Vor­schub geleistet hatten. So hatte Otto Weinin­ger schon 1903 angemerkt, dass das von Hirsch­feld herausgegebene Jahr­buch für sexuelle Zwischenstufen  »noch ver­dienstvoller als es ist [wäre], wenn es nicht nur die Homo­sexuellen und die Zwittergeburten, das sind die sexuellen Mittelstufen, in den Kreis sei­ner Be­trachtung zöge.«[42] Eine vergleichbare re­strik­tive Wahr­neh­mung von Hirschfelds sexu­al­wissen­schaft­lichen Bemühungen lässt auch Sig­mund Freud erkennen, wenn er 1910 den Sexu­al­for­scher  –  ohne seinen Namen ausdrück­lich zu erwähnen  –   zu den »theoretischen Wort­füh­rer[n]« der Homo­sexuellen zählt, die sie »als eine von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischenstufen, als ein ›drittes Geschlecht‹«[43] hinstellen.

Während Weininger die einseitige Konzen­tra­tion auf die homosexuellen »Mittelstufen« in Hirsch­felds Jahrbuch anprangert, ohne auf deren heuris­tische Funktion bezüglich der Erkennung des Sexualkontinuums sowie der damit zusam­men­hängenden Auflösung des Sexualbinomiums zu verweisen, geht Freud von der unzutreffenden Annahme aus, dass Hirschfelds Zwischenstufen­lehre nur für homosexuelle Minderheiten von Relevanz ist.[44] Sowohl Weininger als auch Freud betrach­ten Hirschfelds Aufstellung und Behand­lung einer dritten Sexualalternative als den Kern­bestand seines theoretischen Anliegens, ohne dabei auf die Konsequenzen der Zwischen­stu­fen­lehre für diejenigen zu achten, die ihr Selbst­­ver­ständ­nis nach dem sexualdicho­tomi­schen Schema strukturieren und die sich darum »nor­mal« wäh­nen. Damit setzt die vorherrschen­de, bis zum heu­tigen Tag andauernde Rezep­ti­ons­­geschichte an, die Hirschfelds Bedeutung auf seine Pionier­rolle bei der Sammlung und Kom­pilation von sexualwissenschaftlichem Quel­len­material bzw. auf seine politisch-emanzipa­tori­schen Schriften und Aktivitäten zugunsten des vorgeblichen dritten Geschlechts beschränkt sehen will.[45] Die Aus­blendung der meta-theo­re­ti­schen Dimension der Zwischen­stufen­lehre als Fundament von Hirsch­felds sexualwissen­schaft­lichem und eman­zipato­ri­schem Entwurf hat frei­lich nicht bloß zu einer offenkundigen ge­schicht­lichen Ungerech­tig­keit gegenüber Hirsch­feld geführt. Eine viel gravie­rendere Konse­quenz ist die Missachtung von Fragestellungen und Pro­blemhorizonten, die auf eine grundle­gen­­de Kritik derjenigen unhinter­frag­ten Voraus­set­zungen drän­gen, welche das Ver­­ständnis und die Aus­gestaltung sexueller Lebensformen in der Ge­gen­­wart determinieren. Dass Hirschfeld stets vermied, das sexuelle Selbst­­verständnis der Mehrheit durch eine allzu deutliche Schilderung der Konsequenzen der Zwi­schenstufenlehre zu erschüttern, war der Re­zeption und Wirkung seiner Grund- und Leit­ge­danken sicherlich nicht förderlich. Zwei Aus­nah­men sind in diesem Zu­sammenhang besonders nennenswert, weil sie zur frühesten Rezepti­ons­geschichte Hirschfelds ge­hö­ren. Auch wenn Ludwig Frey in seinem 1898 ver­öffent­lich­ten Buch Die Männer des Rätsels und der Para­graph 175 des deutschen Reichs­straf­gesetzbuches die zwei Jahre zuvor unter Pseudo­nym erschie­ne­ne Broschüre Sappho und Sokrates nicht aus­drück­lich erwähnt, so ist doch davon auszugehen, dass Hirschfelds sexu­al­wis­sen­schaftliche Erst­lings­schrift zu Freys Aus­füh­rungen über das »Gesetz vom unver­merk­­ten Über­gange«[46] des Sexuellen beitrug, und dass das Buch Freys folg­lich die damals ansetzende Re­zep­tions­geschichte der Zwischen­stufenlehre zumindest mitinitiert hat. Dazu muss auch die wörtliche Übernahme von einigen Pas­sagen aus Sappho und Sokrates in einem Buch gerechnet werden, das unter dem Titel Homo­sexuelle Pro­bleme[47] von »Dr. Ludwig E. West« vorgelegt wurde, dessen eigentlicher Name  –  nach einer Vermutung von F. Karsch-Haack  –   Johannes Gaulke war.[48]  Bei einer genauen Lektüre von beiden Texten ist nicht zu über­sehen, dass beide Autoren den Geist und den Buchstaben von Hirschfelds Zwischenstufen­lehre viel treffender erfassten als spätere Kritiker und Kommentatoren, die es vorzogen, die univer­sel­len Konsequenzen von Hirschfelds Grundein­sichten nicht zu beachten.

 

9. In Anbetracht der dürftigen Ergebnisse der Hirschfeld-Forschung der letzten 25 Jahre und der Häufigkeit, mit der die wissenschaftlichen Leistungen des Sexualforschers ignoriert bzw. unterschätzt werden, ist es nicht überraschend, dass Hirschfelds Werk im Diskurs der Gender-, Gay-, Lesbian- oder Queer studies so gut wie keine Rolle spielt. Im allgemeinen sind die Re­präsentanten dieser noch in Entstehung be­grif­fe­nen Disziplinen sich kaum dessen bewusst, dass Hirschfeld wesentliche Aspekte ihrer Einsichten und Anliegen vorwegnahm. Eine der wenigen Ausnahmen in dieser Hinsicht stellt das sexu­al­theoretische Œuvre von Guy Hocquenghem (1946-1988) dar, der in seinem grundlegenden Werk  Le désir homosexuel sich mit Hirschfeld relativ ausführlich auseinandersetzt. Abgesehen davon, dass Hocquenghems Behandlung und Würdigung von Hirschfelds Werk alles andere als zufrieden stellend sind, erlangen seine dies­bezüglichen Unzulänglichkeiten eine eigen­tüm­liche Bedeutung, wenn man bedenkt, dass seine Auffassung des Sexuellen eine nachvollziehbare  –  aber von ihm nicht eindeutig zugestandene  –  Affinität mit Hirschfelds Zwischenstufenlehre aufweist. In Race d´Ep (1979) lässt Hocquen­ghem Hélène, eine fiktive Sekretärin Magnus Hirschfelds, eine sehr komprimierte, aber im Grunde zutreffende Schilderung der Zwischen­stufenlehre vortragen:

»[…] le docteur pensait que nous sommes tous, d´une manière ou d´une autre, des degrès intermédiaires entre l´homme et la femme, et il avait entrepris de le prouver. De vous à moi, Hélène, il me disait souvent, quelles sont les vraies différences? J´ai un clitoris plus développé et perforé, vous un bassin plus large, c´est tout, questions de nuances, en somme.‹«[49]  

Da dieses belletristische Resümee ein adäquates Verständnis der Zwischenstufenlehre verrät, wird schwer verständlich, warum Hocquenghem in Le désir homosexuel  Hirschfeld nur in Ver­bindung mit dem Thema des dritten Geschlechts und sei­ner Emanzipation erwähnt.[50] Trotz ihrer Einsei­tig­keit sind solche Hinweise für den ar­gu­men­ta­ti­ven Duktus des Buches zweifellos rele­vant, da Hocquenghem davon ausgeht, dass Sigmund Freuds Kritik an Hirschfelds Begriff des »dritten Geschlechts« den Weg zur Uni­ver­salisierung des Ödipus-Komplexes freimachte, dessen Demon­tie­rung zu Hocquenghems se­xu­altheoretischen Prioritäten gehört. Hocquen­ghem zufolge ver­fährt Freud in zwei Schritten: Zunächst ver­all­ge­meinert er das »dritte Ge­schlecht« als das homo­sexuelle Mo­ment in jegli­cher Psyche und dann verneint er jede Ausnah­me von der Wirk­samkeit des Phallus als »distri­buteur de sens«[51], die das weibliche Kind als Abwesenheit des Penis und das männliche Kind als Angst vor dem Verlust des Penis durch Kas­tration erlebt. Da Hocquen­ghems großangelegtes Projekt einer De­montie­rung des abendländi­schen »Phallogo­zen­trismus« im wesentlichen darin besteht, Freuds normative Heterosexualität und die daraus re­sultierende ödipale Familie zu de­kon­struieren, beschränkt sich die Rolle Hirsch­felds im Kontext von Hocquenghems Ar­gumenten darauf, einen kon­trastierenden Hinter­grund zu den metapsy­cho­logischen Ideen Freuds zu bieten, denen ge­gen­über Hocquenghem sich nicht nur ableh­nend verhält. Denn neben den von Hocquenghem kritisierten, patriarchalischen bzw. autoritären Thesen Freuds, gibt es auch und vor allem die Freudsche Entdeckung des Polymorph-Perversen, das in Hocquenghems libertärem Projekt eine Schlüsselstellung ein­nimmt. Le désir homosexuel  kann darum als eine kritische Radikalisierung des Freudiani­schen Unterschieds zwischen dem kon­ti­­nuierli­chen In-einander-Fließen der Begierden und der illusorischen Vorstellung, dass dieses Flie­ßen in geschlossene Einheiten abgeteilt werden könnte, gelesen werden. Mit Hilfe von Freuds metapsy­cho­analytischem Instrumentarium arbeitet Hocquenghem eine Konzeption des »per­versen« Kontinuums heraus, das sich im Gegen­satz zu den fixierten Konstrukten befindet, die aus der Annahme von kategorialen Inter­rup­tionen des Kontinuums sich ergeben. In diesem Zusam­men­hang lässt sich zeigen, dass Hocquen­ghems Rekuperation des psychischen Kontinu­ums der Begierden, das vor und unab­hän­gig von der An­nahme des vorgeb­lich sinnstiftenden Phallus vor­handen ist, in kei­nem Widerspruch zum me­ta­theoretischen Sche­ma von Hirschfelds Zwi­schen­stufenlehre steht. Vielmehr ist diese in der Lage, Hocquenghems Kontinuum in die ent­spre­chen­den Beschrei­bungs­ebenen des Sexuellen einzu­ordnen, in der jede Ausprägung der poly­morphen Begierden zur Entstehung der »Fülle der Kom­bi­nations­mög­lichkeiten« beiträgt, die die Unwie­der­­hol­barkeit des »Sexualtyps« eines Individu­ums ga­rantiert. Im Endeffekt verzichtet Hocquen­ghem aber auf eine breitere Kontex­tu­alisierung seines Entwurfes in Hirsch­felds mehr­schichtiger de­skrip­tiver Struktur zwi­schen­ge­schlechtlicher Variabilität und ent­schließt sich, seine Argu­men­te innerhalb des en­gen Horizon­tes des Sexu­ellen zu entfalten, der aus Freuds Konzeption der begehrenden Seele resultiert.                oH

 

 

10. Die epochale Bedeutung von Hirschfelds Zwischenstufenlehre besteht in erster Linie in der Re-interpretation des Begriffs vom Sexual­unter­schied und in dessen Re-inskription in der wis­sen­schaftlich begründeten Komplexität eines Schemas, das prinzipiell eine asymptotische An­näherung an den unwiederholbaren Sexualtypus eines jeden Individuums zulässt. Die vielfach konstatierbare Verkennung des von Hirschfelds Lehre herbeigeführten Paradigmenwechsels hat häufig zu mehr oder weniger  beliebigen An­nah­men und widersprüchlichen Diskursen bezüglich der Voraussetzungen, Artikulationen und Be­schrei­bungsebenen des Sexualunterschiedes ge­führt. Da die meisten zeitgenössischen Reprä­sen­tanten von Sexualwissenschaft und Gender studies eine Auseinandersetzung mit Hirschfelds  Metatheorie der sexuellen Zwischenstufen tunlichst vermeiden, beschränken sie sich auf die vor­­wiegend intuitive Feststellung, dass die sexu­elle Distribution der Individuen in Männer und Frauen in den Human- und Naturwissenschaften unbrauchbar geworden ist,[52] ohne zu versuchen, die notwendigen Konsequenzen aus dieser Fest­stellung zu ziehen und eine begründete Alterna­tive zur herkömmlichen Auffassung des Sexu­al­unterschiedes anzubieten. Zudem ist die Bereit­schaft, das Sexualbinomium auf der anatomisch-physiologischen Ebene hinter sich zu lassen bzw. zu ignorieren, oft mit dem unkritischen Versuch verbunden, ein disjunktives Paradigma des Sexu­alunterschieds auf anderen Beschrei­bungsebe­nen des Geschlechtlichen zu etablieren, mit der Folge, dass die Dichotomie Mann/Frau und ihre jeweils hetero- oder homosexuelle Kom­­binatorik eine von der Biologie unab­hän­gige, ideologische Revitalisierung und Neuver­wendung auf der Ebene der Psyche oder der gesellschaftlichen bzw. legalen Konstruktionen der Sexualidentität erlangen. Die Tendenz, die von Hirschfeld sys­te­matisch erfassten Kom­ple­xi­täten der  biolo­gi­schen Sexualität zu über­sehen oder zu verschwei­gen, scheint der Haupt­grund dafür zu sein, dass ideologische Kategori­sie­run­gen und Normativi­tä­ten (»Interruptionen«), die ursprünglich in Ver­bin­dung mit den ver­meint­lichen biologischen Gege­benheiten des Men­schen entwickelt wurden, auf nicht-biolo­gische Ebenen übertragen und dort als unbe­zwei­felbare Fakten fixiert wurden. Vor diesem Hinter­grund braucht kaum betont zu wer­den, dass zu den wichtigsten Implikationen der Aufl­ösung der bi­nomen Sexualfixierungen zu­gunsten einer poten­tiell unendlichen Vielfalt der Ge­schlechter eine Revision und Trans­for­mie­rung der Grund­lagen des ganzen psycho­analy­ti­schen Korpus zwischen Sigmund Freud und Jacques Lacan gehört, inso­fern als dieser Korpus auf einer regionalen  –  aber zu unrecht universali­sierten – Theorie des Sexualunter­schieds basiert, die von der Logo­zentrik des sinngebenden Phallus und der daraus resultie­renden Sexual­disjunktion determiniert wird.  Insofern als das von der Zwischenstufen­lehre anvisierte Kontinu­um Penis/Klitoris die Über­win­dung der im Imagi­nären des Phallus veran­kerten Wertungs­asymmetrie bezüglich des Unterschiedes Mann/Frau ermöglicht, markieren Magnus Hirschfelds Leitgedanken den Zeitpunkt, in dem die Auflösung eines der am wenigsten hinter­fragten Mytheme der Menschheit  durch befrei­ende Erkenntnis eingeleitet wurde.



[1] Vgl. Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams. Geschichts­philo­sophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Mag­nus Hirschfelds. In: 100 Jahre Schwulenbewegung. Doku­men­ta­tion einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Aus­ge­wählt und hrsg. von Manfred Herzer. Berlin 1998, S. 15-45. Der ursprüngliche Titel des Vor­trages lautete: »Tertium non datur. Sexuelle Identifikation und Befreiungsgeschichte bei Magnus Hirschfeld.«

[2] Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Zweite, überarbeitete Auflage. Hamburg 2001, S. 7.

[3]  Erschienen in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 28, 1998, S. 45-56.

[4]  Erschienen in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 29/30, 1999, S. 66-80.

[5] Erschienen in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 31/32, 2000, S. 47-50. Hier sei ange­merkt, dass Herzer in der Bibliographie der 2. Auflage seiner Hirschfeld-Biographie zwar seine zwei Erwi­de­rungen anführt, aber die damals schon erschienene, erste Replik des Verfassers auslässt.

[6] Voraussichtlich wird die Replik demnächst in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 33/34 erscheinen.

[7]  Nur zwei Ausnahmen sind zu verzeichnen. Im Zu­sam­men­hang mit Hirschfelds Biographie und seinem Ver­hält­nis zum Judentum wurden Stellen aus Hirschfelds Die Welt­­reise eines Sexualforschers  (1933) zitiert. Außerdem wurde in einer Fußnote darauf hingewiesen, dass der Begriff drittes Geschlecht in Hirschfelds Geschlechtskunde (1926-1930) keine terminologische Verwendung findet.

[8]  Diese methodische Entscheidung wurde nicht aufgege­ben, wenn im letzten Absatz der zweiten Replik ausführlich über den letzten Text referiert wurde, der zu Lebzeiten Hirsch­felds erschienen ist. Denn es handelt sich dabei nicht um eine sexologische Publikation, sondern um einen Fort­set­zungsaufsatz, in dem der exilierte Jude sich mit der Ras­sen­frage auseinandersetzt. Eingegangen wurde auf diesen Text, um zu verdeutlichen, dass Hirschfelds sexualwissen­schaft­liche Prämisse, dass jeder Mensch eine sexuelle Zwi­schen­stufe darstellt, mit seiner bio-anthropologischen Fest­stellung korrespondiert, dass »alle Menschen Bastarde« sind. (Hirschfeld: Phantom Rasse. Ein Hirn­gespinst als Welt­gefahr (7. Fortsetzung). In: Die Wahrheit. Prag, Jg. 14 (1935), Nr. 1)

[9] Hirschfeld: Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung bearbeitet. I. Band: Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart 1926, S. VII

[10] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. IX

[11] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 547

[12] Die Ausstellung wurde von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin organisiert: www.magnus-hirschfeld.de/institut. Vgl. dazu: Kennedy, Hubert: Be­sprechung der Ausstellung: »Institut für Sexual­wis­senschaft (1919-1933) / Institute for Sexual Science / Instituto de Sexología. Ausstellung / Exhibition / Exposición. Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Berlin, 2002.« Erscheint demnächst in: Journal of the History of Sexuality.

[13] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 596

[14] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 548

[15] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 594

[16] Vgl. Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 547 und 595

[17] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 595

[18] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 595

[19] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 596.

[20] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 596

[21] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 596

[22]  Hirschfeld: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homo­sexuellen Bewegung 1897-1922. Hrsg. und mit einem Nach­wort versehen von Manfred Herzer und James Steakley. Berlin 1986, S. 49. Der Text erschien zuerst 1922/23 in mehreren Folgen.

[23]  Hirschfeld: Die intersexuelle Konstitution. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 23 (1923),  S. 10

[24] Vgl. Guattari, Félix (Hrsg.): Trois Milliards des Pervers. Grande Encyclopédie des Homosexualités. Paris 1973. Die französische Justiz verurteilte den Herausgeber zu einer Geldstrafe von 600 FF und die Ausgabe wurde be­schlagnahmt und eingestampft. Das Vorwort zu dieser Enzyklopädie ist in deutscher Über­setzung erschienen in: Dieckmann, Bernhard und François Pescatore (Hrsg.): Elemente einer homosexuellen Kritik. Französische Texte 1971-77. Berlin 1979, S. 117-119.   

[25] Vgl. Bauer: Der Tod Adams,   S. 35 [§ 8]

[26] Vgl. Bauer: Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Nr. 29/30, 1999, S. 66-68 [§ 2 und 3]

[27] Die Formulierung wurde vom Verfasser in der demnächst erscheinenden Replik »Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam«  [§ 5 und 7] verwendet.

[28] Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 547

[29] Vgl. Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirschfeld]: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen  zu Personen des eigenen Geschlechts. Leipzig 1896, S. 27

[30]  Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirschfeld: Sappho und Sokrates,  S. 27

[31] Vgl. Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 545 f.

[32] Vgl. Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 548

[33] Vgl. Hirschfeld: Die intersexuelle Konstitution. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Bd. 23  (1923), S. 10

[34] Vgl. Hirschfeld: Geschlechtskunde,   S. 548

[35] Vgl. die schon 1896 erfolgte Präzisierung: »Jeder Mann behält seine verkümmerte Gebärmutter, den Uterus mascu­linus, die überflüssigen Brustwarzen, jede Frau zwecklosen Nebenhoden und Samenstränge bis zum Tode.« (Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirschfeld]: Sappho und Sokrates,  S. 10)

[36]  Hirschfeld: Geschlechtskunde,  S. 546

[37] Sigusch, Volkmar: Man muß Hitlers Experimente ab­war­ten,  Volkmar Sigusch über den Sexualforscher Magnus Hirschfeld. In: Der Spiegel, Nr. 20 (13.5.1985), S. 244

[38] Haeberle, E.J.: Einleitung. In: Hirschfeld: Die Homo­sexu­­alität des Mannes und des Weibes. Nachdruck der Erstauf­lage von 1914 mit einer kommentierenden Ein­lei­tung von E.J. Haeberle. Berlin / New York 1984, S. XX

[39] Dannecker, Martin: Der Homosexuelle und die Homosexualität. Frankfurt 1978, S. 47

[40] Hirschfeld: Die intersexuelle Konstitution,    S. 23

[41] Hirschfeld: Geschlechtskunde,  S. XI-XII

[42] Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prin­zipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calosso. München 1980, S. 469

[43] Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. In: Freud: Studienausgabe. Band X: Bildende Kunst und Literatur. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt am Main 1969, S. 124

[44] In diesem Zusammenhang ist auch  zu erwähnen: Fried­laender, Benedict: Renaissance des Eros Uranos. Die phy­siologische Freundschaft, ein normaler Grundtrieb des Men­schen und eine Frage der männlichen Gesellungs­frei­heit. In naturwissenschaftlicher, naturrechtlicher, cul­tur­geschicht­li­cher und sittenkritischer Beleuchtung. Schmar­gendorf-Berlin 1904 (Reprint: New York 1975). Fried­laen­der äußert sich dort zur »Urnings- oder Zwischen­stufen­the­orie« (Apho­rismen und Zusätze, 21, S. 84, Neue Paginie­rung), wobei er diese »Theorie« Carl Heinrich Ulrichs und nicht Hirschfeld zuschreibt. Früher, im Haupt­teil des Buches, schreibt er mit Bezug auf die »Urnings­theorie«: »Diese Vor­stellung  war [...] schon von Hössli angedeutet, ist dann von Ulrichs be­gründet und von den Medicinern mit wenig Aenderungen und Zuthaten in Um­lauf gesetzt worden.« (S. 73)  Offen­sichtlich war Fried­laen­der nicht in der Lage zu unter­schei­den zwischen Ulrichs’ »Erklärung gleichgeschlechtlicher Liebe« und der Zwi­schen­stufenlehre des »Mediciners« Hirsch­feld. Hier sei nur daran erinnert, dass nach Hirschfeld »die rein biolo­gi­sche, nicht patho­lo­gische (krankhafte) Auf­fassung der Liebe zum eigenen Ge­schlecht« bei Ulrichs  »an­­­deu­tungs­weise« zu finden ist. (Ramien, Th. [d.i. Magnus Hirsch­feld]: Sappho und Sokra­tes, op.cit., S. 27). Dies im­pliziert freilich nicht, dass die 1896 erst in Entstehung be­grif­fene Zwischen­stufen­lehre Hirschfelds mit Ulrichs’ »Urnings­theorie« gleichgesetzt oder auf sie zurückgeführt werden könnte.   

[45] Vgl. dazu Bauer: Der Tod Adams, S. 28-35 [§ 6 und 7] 

[46] Vgl. Frey, Ludwig: Die Männer des Rätsels und der Pa­ra­­graph 175 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches. Bei­trag zur Lösung einer brennenden Frage. Leipzig 1898, S. 64-65. Auch wenn Frey selbst im Literaturverzeichnis we­der »Th. Ramien« noch Hirschfeld erwähnt, ist es be­zeich­nend, dass der Titel Sappho und Sokrates unter den Schriften, die »[i]m Verlag Max Spohr in Leipzig [...] über die Frage der Homosexualität« erschienen sind, angeführt wird (S. 224).

[47] West, Dr. Ludwig E.: Homosexuelle Probleme. Im Lichte der neuesten Forschung allgemeinverständlich dargestellt. Berlin 1902

[48] Vgl. Karsch-Haack, F.: Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker. München 1911, S. 54

[49] Hocquenghem, Guy: Race d´Ep. Un siècle d´images de l´homosexualité. Avec la collaboration iconographique de Lionel Soukaz. Paris1979,  S. 147-148

[50]  Vgl. Hocquenghem: Le désir homosexuel [1972]. Préface de René Schérer. Paris 2000, S. 70, 71, 135, 136, 153 und 154

[51]  Hocquenghem: Le désir homosexuel, S. 69

[52] Vgl. dazu z.B. Schérer, René: Préface. Un défi au siècle. In: Hocquenghem: Le désir homosexuel, S. 7-8