J. Edgar Bauer

„Ahasverische Unruhe“ und „Menschheits­assimilation“:
Zu Magnus Hirschfelds Auffassung vom Judentum


Ursprünglich erschienen in:  Kotowski, Elke-Vera und Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld (1868-1935). Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Berlin: Be.Bra Verlag, 2004, S. 271-291. Hier zugänglich gemacht mit Genehmigung des Autors und des Herausgebers.

 

„Si le Judaïsme, libéré des entraves du ritualisme, se fond dans le christianisme, c´est un grand malheur, car il abandonne la doctrine épurée du monothéisme spiritualiste dégagé du culte, pour tomber dans la théophagie chrétienne. Il ne peut échapper à cela qu´en restant ce qu´il est : une nation évoluant religieusement.“

Bernard Lazare: Le Fumier de Job[1]

 

 

1. Folgende Überlegungen zu Magnus Hirschfelds Auffassung vom Judentum beziehen sich in der Hauptsache auf sein 1933 in der Schweiz erschienenes Werk Die Weltreise eines Sexualforschers. Hirschfelds Reise, die zwischen November 1930 und April 1931 stattfand, erwies sich als der Anfang der Exilzeit in seinem Leben und bot ihm die Gelegenheit zu seiner ausführlichsten Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart des jüdischen Volkes. Obwohl seine Ausführungen – gemäß der Gattung eines Reiseberichtes – weder systematisch noch erschöpfend sind, lassen sie eine eigenständige Auffassung des Judentums erkennen, die sich sowohl von einem herkömmlich religiösen Interpretationsansatz als auch vom säkularistischen Zionismus deutlich unterscheidet.

2. Die bislang umfangreichsten Erörterungen zu Hirschfelds Verständnis vom Judentum sind in den Biographien enthalten, die Charlotte Wolff[2] und Manfred Herzer[3] vorgelegt haben. Während Wolff die jüdische Thematik bei Hirschfeld in den verschiedensten Zusammenhängen ihres Werkes behandelt, widmet Herzer gleich das erste Kapitel seines Buches dem Thema Judentum. Damit will Herzer nicht etwa die Relevanz der jüdischen Problematik bei Hirschfeld herausstellen, sondern von vornherein klarmachen, daß das Judentum für Hirschfeld „in keiner Hinsicht eine Identifikationsmöglichkeit“[4] bot. Diese Einschätzung führt dazu, daß das Judentum in Herzers Biographie vorwiegend in Verbindung mit den Untaten der antisemitischen Gegner Hirschfelds behandelt wird und – noch gravierender – daß keine weiteren Erörterungen zur jüdischen Frage in den restlichen fünf Kapiteln des Buches vorkommen. Im Vergleich zu Herzers Buch hat die Biographie Charlotte Wolffs den Vorzug, daß sie die sachliche und psychologische Komplexität von Hirschfelds jüdischem Selbstverständnis unter starker Berücksichtigung seiner späten Auseinandersetzung mit dem Judentum thematisiert und würdigt. Vor diesem Hintergrund schreibt Wolff gegen Ende ihres Buches: „Exile had profiled [Hirschfeld’s] own Jewishness.“[5] Obwohl die erste Auflage von Herzers Biographie erst sechs Jahre nach Wolffs Werk erschien, ist es bezeichnend, daß er konsequent vermied, sich mit Wolffs methodischen Entscheidungen und Ergebnissen bezüglich der jüdischen Problematik bei Hirschfeld auseinanderzusetzen.

3. Nach Herzer ist das Thema der jüdischen Herkunft für Hirschfeld „ein Tabu, und die damit verbundenen Erfahrungen der Zurückweisung und des Außenseitertums sind der Reflexion, jedenfalls soweit es um das geschriebene Wort geht, nicht zugänglich und werden geradezu verleugnet“[6]. Was Herzer als „Hirschfelds konsequentes Schweigen über seine jüdische Herkunft“[7] beschreiben zu können meint, wird mit folgender Vermutung in Zusammenhang gebracht: „[W]eder konnte er als Atheist die Religion der Juden akzeptieren noch sich für die Ideen des politischen Zionismus begeistern.“[8] Herzer scheint nach zitierbaren Stellen zu Hirschfelds jüdischem Selbstverständnis gesucht zu haben, und da er – aus wohl rätselhaften Gründen – nichts oder kaum etwas Passendes fand, konstruiert er ein Tabu, das unter Rekurs auf Hirschfelds atheistische Einstellung oder auf seine nicht-zionistische Gesinnung plausibel gemacht werden soll. Im Gegensatz zu Herzers Annahmen ist aber festzustellen, daß Hirschfeld insbesondere in der Weltreise und in den Fortsetzungsbeiträgen, die unter dem Titel Phantom Rasse erschienen sind, sich zum Thema Judentum mit relativer Ausführlichkeit geäußert hat, und daß diese Texte – bei einer hermeneutisch sachgemäßen Befragung – durchaus Auskunft darüber geben, wie Hirschfeld seine eigene ‚Jüdischkeit‘ verstand.

4. Auch wenn Hirschfelds Verhältnis zum Judentum sich stets als problematisch und problematisierend erweist, enthalten seine Schriften zahlreiche Hinweise darauf, daß er für sich den Minderheitsstatus durchaus bejahte, der mit seiner conditio judaica einherging. In der Beziehung ist vor allem hervorzuheben, daß Hirschfeld – anders als viele seiner jüdischen Zeitgenossen – keine gesellschaftliche Assimilation durch die Annahme der christlichen Taufe suchte. Die weltanschauliche Alternative zum jüdischen Monotheismus, die Hirschfeld für sich in Anspruch nahm, war bezeichnenderweise der von Ernst Haeckel gegründete Deutsche Monistenbund, der im damaligen religiösen Spektrum eine Minderheitsgemeinschaft von Wissenschaft­lern und Intellektuellen darstellte, deren Bemühungen um eine Vermittlung von Wissenschaft und pantheistischem Weltgefühl offensichtlich Hirschfeld deswegen zusagten, weil sie zu einer der Philosophie Baruch de Spinozas wesensverwandten Naturanschauung führten.[9] Im Zusammenhang mit seinen religiösen Entscheidungen und Optionen ist nicht zu übersehen, daß Hirschfeld – als Jude und Sexualwissen­schaftler – sich der Rolle bewußt war, die aus weltgeschichtlicher Perspektive das Christentum bei der Unterdrückung von Minderheiten gespielt hatte. Nicht von ungefähr bezeichnet er die Juden und die Homosexuellen als die „beiden Welt­sündenböcke […], die seit Einführung des Christentums für alles Leid und Unglück dieser Welt verantwortlich gemacht zu werden pflegen […]“[10]. Hirschfelds Sicht des Christentums ist unverkennbar von einer Gegensätzlichkeit geprägt, die einem tiefen, aber zumeist unausgesprochen gebliebenen jüdischen Selbstverständnis entspringt.

5. Im Judentum sieht Hirschfeld ein „‚unstet und flüchtig‘ herumwandernde[s] Volk[…], das nirgends eine eigentliche Heimstätte finden kann und doch überall eine große menschliche Mission erfüllt“[11]. Diese verallgemeinernden, aber prägnanten Zeilen mahnen an zwei Grundzüge von Hirschfelds Leben und Werk: einerseits seine immer deutlicher werdende Entwurzelung aus Deutschland und andererseits sein lebenslanges, entschiedenes Eintreten für die Humanisierung des Geschlechtlichen und die Rechte sexueller Minderheiten. Es ist kein Zufall, daß Charlotte Wolff Hirschfeld als „a mild and modest man […] convinced of his mission in life[12] beschreibt, der in Amerika als „the prophet of the scientific roots of love and sex“[13] begrüßt wurde. Da Wolff aber die theoretische Tragweite von Hirschfelds Zwischenstufenlehre als konsequente Auflösung des tradierten Sexualdimorphismus und seiner simplizistischen Kombinatorik nicht zu würdigen vermochte, beschränkte sich ihre Einschätzung der „Mission“ Hirschfelds auf seine historische und gesellschaftliche Pionierleistung als Sexualreformer. Damit trug Wolff zur Befestigung der Ansicht derjenigen bei, die seit 30 Jahren in Deutschland das kritische Potential der Zwischenstufenlehre mit erstaunlicher Konsequenz verkennen und sich deswegen dazu berechtigt fühlen, die theoretischen Leistungen des Sexualforschers als bedeutungslos anzusehen.[14] Obwohl Wolff die Broschüre Sappho und Sokrates (1896) als „iconoclastic“[15] bezeichnet, übersieht oder ignoriert sie Hirschfelds entscheidende Hinweise auf die potentiell unendliche Vielfalt der Geschlechter als Konsequenz der unwiederholbaren Zwischenstufigkeit eines jeden Individuums.[16] Da Wolff die eigentliche dekonstruktive Schärfe der Zwischenstufenlehre nicht erkannte, ist es nicht überraschend, daß sie einerseits von einem „enthusiastic revival“[17] von Hirschfeld in Deutschland schreibt und andererseits die düstere Prognose wagt, daß eine solche Wiederbelebung „is bound to fade away sooner or later“[18].

6. Wenn man bedenkt, daß die Hauptthesen von Büchern wie Peter Gays A Godless Jew. Freud, Atheism, and the Making of Psychoanalysis[19] oder Dennis B. Kleins Jewish Origins of the Psychoanalytic Movement[20] schon längst zum argumentativen Standardrepertoire der Freud-Forschung gehören, ist es um so erstaunlicher, daß vergleichbare Studien über Hirschfeld und die Berliner Sexualwissenschaft noch nicht vorliegen. Zum Zustandekommen dieser prekären Lage haben all diejenigen Autoren beigetragen, die die Bedeutung Hirschfelds auf seine sexualreformerischen Leistungen reduziert und somit die Tragweite und Relevanz der Zwischenstufenlehre als Grundlage seiner sexualwissenschaftlichen Bemühungen verkannt oder ausgeblendet haben. Der herrschende Konsens in der Sekundärliteratur besagt, daß Hirschfeld „denkerisch anspruchslos“[21] war, daß er „als Theoretiker flach und unfertig blieb“[22] oder daß „Erkenntnisarmut“[23] seine Schriften kennzeichnete. Die zwei Biographien Hirschfelds bestätigen im Grunde diese Einschätzungen. Während Wolff behauptet, daß die Zwischenstufenlehre „had feet of clay“[24] und „has not survived“[25], betrachtet Herzer das Konzept von Hirschfelds Sexologie als „ein abgeschlossenes Kapitel aus der Geschichte der Sexualwissenschaft“[26]. Vor dem Hintergrund dieser gedankenträgen Übereinstimmung nimmt es nicht wunder, daß der Name von Magnus Hirschfeld in der 1996 erschienenen Ausgabe der Encyclopaedia Judaica überhaupt nicht vorkommt.[27] Zwar wurden dort sieben Hirschfeld-Lemmata – von dem kürzlich verstorbenen Karikaturisten bis zum Präsidenten der American Academy of Periodontology – aufgenommen, aber der Sexualtheoretiker blieb unberücksichtigt.[28] Auch den Herausgebern der renommiertesten jüdischen Enzyklopädie scheint entgangen zu sein, daß Hirschfeld für die jüdische Kulturgeschichte nicht nur wegen seiner Bemühungen um die Gleichberechtigung der Homosexuellen von außerordentlicher Bedeutung ist, sondern auch und vor allem weil die wissenschaftlich begründete Auflösung binomer Sexuiertheit durch die Zwischenstufenlehre einen epochalen Paradigmenwechsel im Verständnis der menschlichen Sexualdifferenz vollzog.[29]

 7. Was für Hirschfeld Ende 1930 als eine Vortragsreise nach New York anfing, erwies sich kurz darauf als eine Weltreise, die ihn von den Vereinigten Staaten nach Japan, China, Indonesien, Indien, den Philippinen, Ägypten und Palästina führte. Hirschfelds Bericht über diese Weltreise stellt zugleich seinen umfassendsten Beitrag zur Sexualethnologie dar, der Disziplin der Sexualforschung, welche „ihrem Inhalte nach die älteste, ihrer Behandlung nach die jüngste“[30] ist. Auffällig in Hirschfelds Buch ist die große Aufmerksamkeit, die er dem prägenden Einfluß der Religionen auf die Sexualität der Völker schenkte. Auch wenn er davon ausgeht, daß „die biologischen und pathologischen Grundlagen auf dem Geschlechtsgebiet“ überall gleichartig sind, unterstreicht Hirschfeld, daß die „soziologischen Auswirkungen, Lösungen und Beurteilungen dieses Naturtriebes“[31] durchaus verschieden sind. Die angenommene Gleichartigkeit der geschlechtlichen Anlagen und Naturtriebe bei allen Völkern und Rassen „als Ganzes genommen“[32] führt bei Hirschfeld freilich zu keiner Uniformierung der sexuellen Naturgegebenheiten im Sinne eines dimorphistischen Sexualessentialismus, sondern verweist auf die stets und überall vorkommende, potentiell unendliche Sexualdiversität, die die Erhaltung der „individuelle[n] Unterschiede“ im Rahmen der allgemein-menschlichen Sexualanlage garantiert. Auf der Basis der naturgemäßen, unerschöpflichen Diversität der Sexualkonstitutionen entstehen aber partikuläre Geschlechtssitten, deren „symbolistische[…] und idealistische[…] Erklärungen […] nachträgliche Konstruktionen“[33] sind. Im Zuge seiner biologisch begründeten Revision und Kritik derartiger „Konstruktionen“ stellt Hirschfeld fest, daß „[j]edes Volk (und jede Religion) […] die Überzeugung [hat], daß seine Sitte Sittlichkeit im objectiven Sinne sei“ und daß es darüber hinaus dazu neigt, „jede andere Sitte als mehr oder weniger unsittlich zu verwerfen“.[34]

8. Vor dem Hintergrund der einheitlichen Grundlage des Geschlechtlichen und der widerstreitenden Formen seiner kulturellen Ausgestaltung verweist Hirschfeld darauf, daß „es der Menschheit bisher nicht gelungen [ist], eine einheitliche Lösungsform der Geschlechts- und Liebessitten zu finden, die den Ergebnissen sexualbiologischer und sexualsoziologischer Forschung in gleicher Weise entspricht“[35]. Das,
wonach Hirschfeld Ausschau hält, ist eine Form sexueller Sitte, die unter Berücksichtigung sexualwissenschaftlicher Ergebnisse und jenseits der unsachgemäßen Konstruktionen der jeweiligen Völker und Religionen Anspruch auf echte Universa­lität erheben könnte. Von der „Internationalität aller sexuellen Menschheitsprobleme ausgeh[end]“[36], stellt Hirschfeld die These auf, daß „nur eine objektive wissen­schaftliche Menschen- und Geschlechtskunde“ Bahnbrecher und Wegbereiter „für die volle Verwirklichung der sexuellen Menschenrechte“[37] sein kann. Dabei fungiert die Sexualethnologie als ein Instrumentarium sexueller Befreiung, insofern als sie den Nachweis liefert, daß alle bisherigen Geschlechtssitten aufgrund ihrer Unkenntnis der sexuellen Naturgegebenheiten ihrem eigenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit nicht genügen konnten. Erst die wissenschaftliche Einsicht in die durchgängige Sexualdiversität des Menschen kann dazu führen, daß Gerechtigkeit einem jeden sexuierten Individuum zuteil wird.

9. Da Hirschfeld nach Antritt seiner Amerikareise nach Deutschland nie zurückkehrte, leitete sie die Periode seines Exils aus Deutschland ein, die mit seinem Tod in Nizza besiegelt wurde. Für Hirschfeld stand freilich nicht von vornherein fest, welchen Einschnitt in seinem Leben die Weltreise markieren würde. Bezeichnenderweise fing Hirschfeld nur allmählich an, sich mit dem allgemeinen Thema des Exils über den Umweg der jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang sind viel relevanter als seine eher flüchtigen Erwähnungen von Moses[38] die prinzipiellen Überlegungen über die nomadische Herkunft des jüdischen Volkes, die Hirschfeld, der „Weltenwanderer durch Zeiten und Zonen“[39], anläßlich seines Besuches des Fellachen-Gebietes in Oberägypten anstellte. Angesichts der Tatsache, daß „die jetzt seßhaften Völker […], bevor sie Heimat und Stall fanden, ausnahmslos freizügig, ohne festen Wohnsitz herumschweiften“, stellt Hirschfeld die entscheidende Frage, „ob es nicht doch dieser atavistische Urgrund ist, als dessen Folge der Drang nach Freiheit, verbunden mit einer gewissen Unruhe, noch jetzt so tief in allen Menschen wurzelt, dieser Zug ins Weite, der sich so schwer auf die Dauer eindämmen läßt“[40]. Damit leitet der biologisch denkende Hirschfeld seine Ausführungen über die Herkunft der Juden aus den „vor Jahrtausenden zwischen den Stromgebieten des Nil, Euphrat und Jordan […] herumschweifenden Nomadenstämme[n]“[41] ein. In dem Zusammenhang verweist Hirschfeld u.a. darauf, daß „der wehende weiße Mantel der Beduinen an den ‚Thallit‘ [erinnert], wie ihn die frommen Juden noch heute beim Gottesdienst und – im Sarge tragen, vermutlich als uraltes Erbstück ihrer einstigen beduinenähnlichen Stammestracht“[42]. Wichtiger als derartige kulturelle Spuren aus der jüdischen Vorgeschichte ist in Hirschfelds argumentativen Duktus aber der bis in die Gegenwart spürbare „Zug ins Weite“, welcher der spezifisch jüdischen Form der „Unruhe“ zugrunde liegt. Mit charakteristischer Vorsicht gibt Hirschfeld seine eigene Ansicht zu erkennen, wenn er sich fragt, „ob nicht die ahasverische Unruhe der Juden auch noch ein Erbstück aus ihrer nomadischen Urzeit ist“[43]. Hirschfelds Fragestellung scheint zuletzt darauf abzuzielen, das christliche Verdammungsurteil vom jüdischen Ahasver aufzuheben und den Weg des ewig Wandernden in der ureigenen Geschichte von nomadischer Freiheit und mosaischer Befreiung zu rekontextualisieren.

10. Während seiner Weltreise versuchte Hirschfeld stets, sich über die historischen und geographischen Bedingungen zu orientieren, unter denen die ihm begegnenden Juden und ihre Gemeinden lebten. Offensichtlich begriff Hirschfeld nach und nach, daß die Reise, mit der sein Leben eine endgültige Wendung nahm, ihm die damals seltene Gelegenheit bot, das Judentum als eine über die ganze Welt zerstreute Schicksalsgemeinschaft von Menschen unmittelbar zu erleben, deren Existenz zum Teil seit Jahrtausenden von der Ur-Erfahrung der  geprägt wurde.[44] Obwohl Hirschfeld im Zionismus keine für ihn annehmbare Lösung der mit der Zerstreuung des jüdischen Volkes zusammenhängenden Fragen zu erkennen vermochte,[45] ist nicht zu übersehen, welche große persönliche Bedeutung Hirschfeld dem damaligen Palästina und vor allem der Stadt Jerusalem beimaß. So schreibt er: „[…] ich gestehe, daß ich mich auf meiner Weltreise von keiner Stätte so schwer losgerissen habe wie von Jerusalem, daß mir von keinem Lande der Abschied so schwer fiel wie von Palästina“[46]. Im Vergleich zu den Riesenreichen von China, Indien und Ägypten, die als „kunstvolle[…] Marmorkolosse[…]“ apostrophiert werden, wirkt das „Heilige Land“ auf Hirschfeld wie „eine feine, zarte Elfenbeinminiatur“.[47] Ausgerechnet dort aber erkennt der nicht-zionistische Weltenwanderer das „alte Land der neuen Verheißung“[48]. Die Diktion Jesajas evozierend unterstreicht Hirschfeld, daß dieses Land für ihn „ein Glanzpunkt [blieb], dessen strahlender Leuchtkraft er sich nicht so leicht und schnell entziehen [konnte]“[49].

11. Hirschfelds emotionale Bindung an das Land der Väter tat dem Verständnis seiner deutschen Nationalidentität keinen Abbruch. Obwohl er keinen Illusionen über seine politische und gesellschaftliche Lage in Deutschland unterlag, betrachtete sich Hirschfeld noch während seiner Weltreise als „Verfechter“[50] und „Vertreter deutscher Wissenschaft“[51].

Vielfältige Indizien verweisen auf Hirschfelds deutsche Nationalgesinnung,[52] die mit der Erinnerung an die „pommersche[…] Heimat“[53] und mit der „deutsche[n] Muttersprache“[54] unmittelbar verbunden war. Zudem lassen manche Formulierungen vermuten, daß er bei sich sogar eine Art deutsche Volkszugehörigkeit voraussetzte.[55] Es ist diesbezüglich bezeichnend, daß Hirschfeld – nach einem von Manfred Herzer zitierten, anonymen Text[56] – in seinen letzten Jahren sich dagegen gewehrt haben soll, „jetzt Jude genannt und deswegen von den Nazischweinen geächtet und verfolgt zu werden.“[57] Auch wenn Hirschfeld in dem Zusammenhang angeblich sogar vom „mosaischen Stigma“[58] sprach, ist bei der Einschätzung des eigentlichen Sinnes der Aussagen zu berücksichtigen, daß der Text im Grunde nur die Selbstverständlichkeit artikuliert, daß die Rassen- und Religionszugehörigkeit kein Anlaß zur Diffamierung oder Benachteiligung durch den Staat sein darf. Auch wenn der nicht-religiöse Jude Hirschfeld unterstreicht, daß er – wie alle christlichen und jüdischen Kinder – ohne sein Zutun „in eine religiöse Zwangsjacke gesteckt“[59] wurde, darf nicht übersehen werden, daß Hirschfeld nicht leugnet, daß er Jude sei, sondern lediglich dagegen protestiert, daß ein Staat, dessen Bürger er ist, ihn „Jude“ in diffamatorischer Absicht nennt. Gegenüber der in Deutschland immer stärker auftretenden Infamie war Hirschfeld schlecht gerüstet. Da er weder die christliche Assimilation gesucht hatte, noch der zionistischen Weltanschauung beipflichten konnte, blieb ihm nur übrig, auf seine Rechte als „deutscher Staatsbürger“[60] zu pochen.

12. Im „zionistische[n] Experiment“, dem er „unter gewissen Voraussetzungen durchaus wohlwollend gegenüber[stand]“,[61] sah Hirschfeld keinen notwendigen Gegensatz zu seinem Verständnis der allgemeinen Assimilation. Um zu zeigen, daß „Zionismus und Assimilation […] sich als Lösungsmittel der Judenfrage keineswegs aus[schließen]“[62], unterscheidet Hirschfeld zunächst zwischen zwei Typen von Assimilanten. Die ‚Halbassimilanten‘ sind Staatsbürger jüdischer Tradition, die sich als Juden fühlen, aber gleichzeitig „fest in ihrem Geburtslande wurzeln“[63]. Dagegen sind die ‚Ganzassimilanten‘ diejenigen, die „nicht so sehr […] dem Naturgesetz der Mimikry äußerlich folgen, als die innere Verschmelzung auf generativem Wege anstreben.“[64] So wie die Einstellung der Zionisten ist die der Halb- und Ganzassimilanten „eine gefühlsmäßige und als solche verständlich und berechtigt“[65]. In diesem Zusammenhang verweist Hirschfeld darauf, daß es „eine höhere Assimilationsform“, nämlich die „Menschheitsassimilation“ gibt, die dadurch charakterisiert wird, daß sie „zwischen den Völkern nicht den geringsten Wesensunterschied macht, sondern nur zwischen einzelnen Menschen solche Unterschiede anerkennt und mit [Auguste] Forel an die Vereinigten Staaten der Erde glaubt“[66]. Eine solche „Menschheitsassimilation“ stellt vor allem deswegen für Hirschfeld eine annehmbare Lösung der Judenfrage dar, weil sie sich im Einklang mit dem von ihm angestrebten Panhumanismus und Kosmopolitismus befindet. Dabei ist vor allem zu beachten, daß die Überwindung des Gegensatzes zwischen Zionismus und den primären Assimilationsformen durch die Menschheitsassimilation keinen Verzicht auf jüdische Partikularität und Zugehörigkeit erfordert. Sie setzt lediglich voraus, daß man „diese Zugehörigkeit für nicht so wesentlich hält wie die über allem stehende Menschheitszugehörigkeit“[67]. Zudem verneint Hirschfelds Konzeption der „Menschheitsassimilation“ keineswegs die identitätsstiftende Funktion jüdischer Kulturleistungen, sondern unterstreicht lediglich, daß man sich auf das Allgemein-menschliche als Fundament der jüdischen Kulturspezifität besinnen soll. Erst vor diesem Hintergrund wird die Intention von Hirschfelds überraschender Pointierung verständlich: „Nur Mensch sein, dieser scheinbare Rückschritt wäre der größte Fortschritt.“[68] Das jüdische Sich-Assimilieren in die Menschheit ist freilich von keiner ideologischen, geschweige denn theologischen Sanktionierung abhängig. Nicht von ungefähr unterstreicht Hirschfeld, daß die „viel geschmähte Assimilation keineswegs nur eine gewollte, absichtliche Einstellung, Verleugnung oder Anpassung ist“[69]. Dabei sind „Umweltfaktoren am Werk […], deren Reaktivität der Mensch viel mehr objektiv, rezeptiv, passiv, als subjektiv, aktiv, tätig gegenübersteht“[70]. Die mit dem Zionismus versöhnte „Menschheitsassimilation“ des Judentums erweist sich darum zuletzt als bewußte Anerkennung der biologischen Tatsache, auf die Hirschfeld mit dem prägnanten Satz verweist: „Das Leben knetet den Teig.“[71] Ein solcher Prozeß impliziert an sich keine Selbstaufhebung bzw. Selbstauflösung des Judentums, sondern seine prinzipielle und faktische Einordnung in den lebendigen Konnex des Allgemein-menschlichen. Erst unter dieser Voraussetzung können die eigentlichen Dimensionen der „große[n] menschliche[n] Mission“ des Judentums anvisiert werden, deren Sinn darin besteht, zur Verwirklichung universeller Humanität als Telos der Geschichte beizutragen.

13. Die Frage der jüdischen Menschheitsassimilation behandelt Hirschfeld bezeichnenderweise auf der letzten Seite seiner Weltreise. Offensichtlich will Hirschfeld damit erneut auf das geschichtsphilosophische Leitmotiv aufmerksam machen, das die Entfaltung des Reiseberichts begleitet. Zum Zuge kommt dieses Leitmotiv überall dort, wo die Herstellung von denjenigen menschheitsrelevanten Verbindungen thematisiert wird, die Hirschfeld häufig unter Rekurs auf die Metapher der „Brücke“ beschreibt. Mit „Brücke“ ist prinzipiell die Menschenliebe gemeint, welche „[d]ie vorhandenen Gegensätze von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Land zu Land zu überwinden“[72] vermag. Da Hirschfeld zeit seines Lebens versuchte, solche „Verständigungsbrücke[n]“[73] zu schlagen, ist es nicht gänzlich überraschend, daß er den Terminus auch dann verwendet, wenn es darum geht, die Lebensleistung des von ihm sehr geschätzten Philo von Alexandrien zu würdigen. Hirschfeld schreibt:

„Dieser griechische Jude gab sich in seinen Schriften und Reden die größte Mühe, zwischen hellenischer Philosophie, Lebensweisheit und Sittenlehre unter Ab­lehnung des hellenischen Polytheismus auf der einen Seite und des mosaischen Monotheismus unter Ablehnung überwuchernder jüdischer Ritualien auf der anderen Seite eine Brücke zu schlagen, die nur die nicht in Konfessions- und Parteiwesen Verstrickten zu betreten wagten.“[74]

Es ist davon auszugehen, daß Hirschfeld, der die „Seltenheit solcher Mittlernaturen“[75] unterstreicht, sein eigenes Lebenswerk im Zeichen vergleichbarer Bemühungen um menschheitliche Verbindungen sah.

14. Dem Judentum als „herumwandernde[m] Volk“, stets unterwegs zwischen einem nie wiedererlangbaren Ursprung und einem letztlich unerreichbaren Ziel, eignet die Struktur des ‚Da-zwischen-seins‘, auf der seine welthistorische Mission gründet. Es ist bemerkenswert, daß Hirschfeld dem Judentum ausgerechnet in der Frage des Bezuges zur Körperlichkeit eine Mittlerrolle zwischen dem lustbejahenden Islam und dem asketischen Christentum zuweist: „Einen Mittelweg zwischen beiden stellt die Mutterreligion beider, das Judentum dar: links von Moses Mohammed, rechts Jesus.“[76] Unabhängig von der Vertretbarkeit dieser religionstypologischen Zuordnung im einzelnen ist festzuhalten, daß Hirschfeld eine Ortung des Judentums unter Verwendung der Figur des „Mittelweges“ vornimmt, welche als eine Variation der Metapher angesehen werden kann, mit der die Aufgabe beschrieben wird, die Philo vorbildlich erfüllte: Brücken schlagen. Daß Hirschfeld sich selbst in dieser Tradition jüdischer Geistigkeit sah, kann als sicher gelten,[77] wenn man bedenkt, daß es zu seinem kritischen Grundanliegen gehört, die kategorialen Fixierungen mit Bezug auf Geschlechtlichkeit und Rasse unter Rekurs auf die biologische Prämisse des natürlichen Kontinuums aufzulösen. Für Hirschfeld ist die Voraussetzung für die Verwirklichung menschheitlicher Gerechtigkeit auf diesen Gebieten die Einsicht darin, daß alle Menschen bezüglich des Geschlechts „intersexuelle Varianten“[78] und bezüglich der Rasse „Bastarde“[79] sind.

15. „Nur durch die Überwindung der Angst vor der Zukunft und vor einander [ist] eine Erlösung der Menschheit möglich.“[80] Dieser Satz zählt zu den wenigen Stellen, in denen Hirschfeld sich ausdrücklich auf ‚Erlösung‘ als die menschheitliche Funktion bezieht, die herkömmlicherweise von den Religionen ausgeübt wurde und die spätestens seit Otto Weininger in engem Zusammenhang mit sexualtheoretischen und sexualemanzipatorischen Überlegungen behandelt wurde.[81] Davon ausgehend, daß im „Angstmotiv der Menschen, [in der] bange[n] Angst vor dem Unbekannten, vor der Zukunft“[82] eine anthropologische Konstante zu erkennen ist, führt Hirschfeld den Ursprung der „Gottesfurcht“ nicht auf Furcht im Sinne von Ehrfurcht zurück, sondern auf eine „ganz gewöhnliche körperliche Angst, Leben und Liebe als den höchsten Besitz, als das Wertvollste zu verlieren.“[83] Der Lebensangst als Zustand der Unruhe und Unsicherheit gesellt sich „die Flucht vor sich selbst“[84] und das daraus resultierende Verlangen nach einem Ruhe- und Stützpunkt als zweites Hauptmoment des Religionsursprungs zu. Mit dem religionskritischen Ansatz von „Furcht und Flucht“[85] bezieht Hirschfeld Stellung gegen die These, „Religion sei sublimierter Geschlechtstrieb, ein erotisches Äquivalent“[86]. Auch wenn Hirschfeld letztlich zugibt, daß „[w]ir […] noch sehr wenig über die psychologischen Urgründe religiöser Empfindungen [wissen]“[87], kommt diesem an David Hume mahnenden Ansatz[88] im Kontext von Hirschfelds Ausführungen insofern eine eminente Rolle zu, als damit das Entfremdungspotential der Religion signalisiert wird, gegen welches Hirschfeld schlußendlich sein ganzes Œuvre richtet.

Da Hirschfelds jüdisch-messianisch inspirierte Konzeption intrahistorischer ‚Erlösung‘ auf seiner Kritik religiöser Entfremdung fußt, erfordert sie die Auflösung des Furcht- und Angst-Motivs durch das Naturgesetz des „Drang[es] nach Freiheit“[89], um – anstatt der religiösen Flucht – eine emanzipatorische Gestaltung der Zukunft zu ermöglichen.

16. Da Sexualität für Hirschfeld das „Urphänomen“ darstellt, „um das das ganze übrige Leben der Menschheit mit allen seinen Einrichtungen kreist“[90], ist die Wissenschaft des Sexuellen[91] seiner Ansicht nach dazu berufen, einen wesentlichen Beitrag zur geschichtsimmanenten Befreiung zu leisten. Darum ist es umso bedeutungsvoller, daß Hirschfeld – über die unmittelbaren Vorgänger seiner Disziplin hinaus –[92] die semitische Vorgeschichte seiner eigenen Bemühungen nicht aus den Augen verlor. Abgesehen von Hirschfelds Betonung, daß die von Gott an Moses offenbarten Zehn Gebote „bis zum heutigen Tage die Grundlage der europäischen Moral bilden“[93], verweist er darauf, daß „Moses und Mohammed […], wie nicht nur ihre Ruhe- und Speisegesetze lehren, bedeutende Hygieniker waren“[94], und hebt im Zusammenhang seiner kritischen Ausführungen über die Beschneidung die Relevanz der sexualhygienischen Einsichten des Philo von Alexandrien hervor.[95] Wie schon seine Überlegungen über Nomadismus und Freiheitsdrang zeigten, war Hirschfeld generell darauf bedacht, die hebräischen bzw. semitischen Wurzeln seiner eigenen wissenschaftlichen und emanzipatorischen Unternehmungen sichtbar zu machen. Bei der Überwindung der Axiome aber, die sich auf das Sexualleben beziehen und an denen „überall am zähesten festgehalten wird, auch wenn sie noch so unsinnig sind“[96], beruft sich Hirschfeld freilich nicht auf die Ideengeschichte des Monotheismus, sondern auf eine letztlich von Baruch de Spinoza inspirierte Naturauffassung, der zufolge die Überfülle der Naturdiversität in sich noch ungeahnte Möglichkeiten birgt, die zur Quelle diesseitigen Heils werden können.[97]

17. Wie die Weltreise eindeutig belegt, war Hirschfeld vielfach an Religion und Religionen interessiert.[98] Obwohl die Bestimmung seines eigenen religiösen Standpunktes keine leichte Aufgabe darstellt, ist davon auszugehen, daß seine persönliche Identifikation mit dem Judentum sicherlich nicht über die Annahme bestimmter monotheistischer Theologumena geschah, da er als Mitglied des Monistenbundes eher einer atheistischen bzw. pantheistischen Konzeption der Natur beipflichtete. Außerdem stand Hirschfeld fundamentalen Aspekten des rituellen bzw. kulturellen Lebens des Judentums kritisch gegenüber. Symptomatisch in der Beziehung ist die Tatsache, daß Hirschfeld – als „objektiver Sexualforscher“ – seine Stimme „gegen die behauptete sexualhygienische Notwendigkeit und Nützlichkeit“ der Beschneidung erhob und präzisierte: „Die Natur erschafft nun doch einmal keine Organe und seien sie auch noch so klein – zum Abschneiden.“[99] Bezeichnend ist auch, daß Hirschfeld – ein „alter Etymologe“ – sich gegen die Neubelebung des Hebräischen in Palästina erklärte und sich für die Annahme des Englischen als „allgemeiner Verständigungsbrücke“[100] einsetzte. Vor diesem Hintergrund können weder sein Wohlwollen gegenüber dem „zionistische[n] Experiment“ noch seine empfindungsstarke Bindung an Palästina ausreichend verständlich machen, weswegen das Judentum für Hirschfeld immer deutlicher und bis zuletzt ein kaum explizit thematisierter, darum aber um so entscheidenderer Faktor seines Lebens- und Denkhorizontes blieb. Diesbezüglich aufschlußreich ist Hirschfelds vielzitiertes und oft belächeltes Lebensmotto, das ihm auch als Grabinschrift dient: per scientiam ad justitiam. Denn Hirschfelds Wissenschaftsethos führt zu einer Konzeption der sexuellen Emanzipationsgeschichte als realpolitischen Befreiungsgeschehnisses, dessen nicht-eschatologische, offene und zukunftsorientierte Sinnstruktur an die Prophetie Alt-Israels mahnt und sich darum als eine säkularisierte Folge der Wirkungsmächtigkeit des messianischen Gedankens auffassen läßt, der auch Marxismus und Zionismus prägt.[101] Hirschfelds eigentümliche Aufnahme des messianischen Erbes bringt aber mit sich, daß sowohl die theologischen als auch die anthropologischen Grundvoraussetzungen des herkömmlichen Messianismus transformiert werden mußten.[102] Zum einen tritt anstelle Gottes die Konzeption einer überreichen Natur, deren Grundzüge auf eine natura naturans spinozistischer Herkunft verweisen. Zum anderen wird der biblische Sexualdimorphismus durch eine Auffassung der Geschlechter aufgelöst, deren Vielfalt letztlich durch kein kategoriales System erfaßt werden kann.[103] Hirschfelds messianisch inspirierter Entwurf sexueller Befreiung zielt darauf ab, Freiheit unter den Bedingungen einer Konzeption von sexueller Differenz zu verwirklichen, die die binome Geschlechtlichkeit hinter sich läßt und sich unter Rekurs auf die in der Natur begründete, potentielle Unendlichkeit der Geschlechter definiert.

18. Daß Hirschfeld messianisch denkt, läßt sich am unmittelbarsten nachvollziehen, wenn er die Weltreise mit den Sätzen beschließt:

„Nur sie [d.h. die Menschenliebe] kann das verlorene Paradies, das goldene Zeitalter wiederbringen, nur sie kann den Menschheitsorganismus schaffen, erschaffen auf dem Boden der Hoffnungsworte Freiligraths:           
‚Trotz alledem, trotz alledem – es kommt die Zeit trotz alledem,           
Da rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht    
trotz alledem!‘“[104]

Aus dem Kontext geht klar hervor, daß der vordergründig vergangenheitsbezogene Topos des verlorenen Paradieses bzw. des goldenen Zeitalters – wie so oft in den messianischen und eschatologischen Literaturtraditionen – als ein metaphorischer Verweis auf die kommende Zeit  zu verstehen ist. Nicht von ungefähr bekräftigt Hirschfeld seine Aussage durch die „Hoffnungsworte“ Ferdinand Freiligraths, die eindeutig auf Zukünftigkeit angelegt sind. Da das Friedens-Zitat des
Dichters den Kulminationspunkt von Hirschfelds Ausführungen über die Assimilationsfrage und somit vom ganzen Buch bildet, wird deutlich, daß Hirschfeld die anzustrebende Menschheitsassimilation des Judentums im Lichte einer messianischen Hoffnung anvisiert, die der leidvollen Erfahrung entwächst, welche die wiederholten „Trotz alledem“ im Gedicht signalisieren. Wenn die Menschheitszugehörigkeit tatsächlich über allen anderen Identifikationsmöglichkeiten des Menschen steht, d.h. wenn der Mensch „nur Mensch“ sein wird, dann ist die Zeit der Versöhnung – aus der Sicht von Hirschfelds geschichtsimmanentem Messianismus – tatsächlich angekommen. Da es für Hirschfeld Wertunterschiede nur „zwischen einzelnen Menschen“ gibt, werden einst „die nationalen, familiären, religiösen, beruflichen, sprachlichen, Stammes- oder sonstigen Zugehörigkeiten“[105] – wenn überhaupt – nur eine sekundäre Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund läßt sich Hirschfelds Œuvre als ein Beitrag zur Dekonstruktion derjenigen Wertungsasymmetrien begreifen, die in vorgeblich biologischen Gegebenheiten eine Legitimation suchen, um unsittliche Privilegien zu perpetuieren. Den angeblichen Vorzügen des männlichen Geschlechts gegenüber dem weiblichen und der Heterosexualität gegenüber der Homosexualität, sowie den ideologischen Ansprüchen auf Überlegenheit von bestimmten ‚Nationalrassen‘ setzt Hirschfeld seinen eigentümlichen Essentialismus der unendlichen Seinsvielfalt entgegen, in deren Ambitus jedes Individuum als ein Übergangsmoment im Kontinuum der Natur begriffen werden kann.

19. Hirschfelds Judentum war weder von einem halachischen Verständnis der Lebensführung, noch von einem prinzipiell anti-religiösen Säkularismus geprägt. Um seinen eigentlichen Standort zu präzisieren, scheint Vilém Flussers Begriff des „diastolischen Juden“ hilfreich zu sein. In einem lebendigen, pulsierenden Judentum werden – so Flusser – „die Phasen der Systole, in denen sich das Judentum auf sich selbst zurückzieht“, von „Phasen der Diastole“ ergänzt, „in denen sich das Judentum über die ganze Menschheit ergießt“[106]. Der diastolische Zug in Hirschfelds Judentum wurde bekanntlich oft mißdeutet, so daß der Eindruck entstehen konnte, Hirschfeld wolle seine jüdische Zugehörigkeit tabuisieren oder verbergen. Dem gegenüber ist festzuhalten, daß Hirschfeld stets bemüht war, sein Menschsein in den Vordergrund zu rücken, ohne sein Judentum zu verschweigen, wohlwissend, daß der Weg hin zur „Menschheitsassimilation“ zwar mit einem angestrebten Ziel, aber mit keinem notwendigen Ende rechnen durfte. Es ist diesbezüglich bezeichnend, daß Hirschfeld gegen Ende seines Lebens in einem in Nizza gegebenen Interview „eine medizinische Erklärung über das jüdische Volk“ vertrat, wonach dieses „die stärksten Nerven [hat], die durch seine Leiden und Plagen gestärkt wurden“[107]. Kurz darauf formuliert Hirschfeld einen Gedanken, der als seine eigene, naturwissenschaftliche Version des unvergänglichen Charakters Israels als [108] aufgefaßt werden kann. Er sagte: „Die soliden Nerven […] werden dieses Volk zur ewigen Ausdauer führen.“[109]

20. Als ein Weltreisender, der die  als eine fundamentale Gegebenheit der jüdischen Geschichte unmittelbar erlebte, begriff Hirschfeld sein eigenes Unterwegssein nur allmählich im Lichte dieser Geschichte. Im Gegensatz zur zionistischen Weltsicht hielt Hirschfeld aber daran fest, daß die geschichtliche Mission des jüdischen Volkes mit einem Ethos der Entwurzelung unauflöslich verbunden ist. Von daher markieren Ur, Ägypten und selbst Jerusalem in erster Linie Ausgangspunkte der geistes- und weltgeschichtlichen Wirkungsmächtigkeit des Hauses Israel. Auf dem Weg hin zur nicht abschließbaren Befreiung des Menschen erfüllte der Jude Magnus Hirschfeld exemplarisch die alte Einschärfung:

„Gedenke, daß du Dienstknecht warst im Lande Ägypten.“[110]

 

Anmerkungen:



[1]      Lazare, Bernard: Le Fumier de Job. Suivi de Hannah Arendt: „Herzl et Lazare“, Strasbourg 1990, S. 87f.

[2]      Wolff, Charlotte: Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology, London/Mel­bourne/New York 1986.

[3]      Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt a.M./New York 1992; sowie 2. überarbeitete Aufl., Hamburg 2001.

[4]      Ebd.: zweite Aufl., S. 25.

[5]      Wolff: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 2], S. 402.

[6]      Herzer: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 4], S. 16.

[7]      Ebd., S. 25.

[8]      Ebd.

[9]      Vgl. dazu: Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds, in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste, ausgewählt und herausgegeben von Manfred Herzer, Berlin 1998, S. 23–25 und 41–43 (= §§4 und 10).

[10]    Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung. 1897–1922, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Manfred Herzer und James Steakley, Berlin 1986, S. 126.

[11]    Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers, Brugg (Schweiz) 1933, S. 390.

[12]    Wolff: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 2], S. 253. Hervorhebung des Verfassers.

[13]    Ebd., S. 285.

[14]    Vgl. dazu: Bauer: Der Tod Adams [s. Anm. 9], S. 28–31 und 35–41 (= §§6, 8 und 9); und Bauer, J. Edgar: Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam. Eine zweite Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 33/34, 2002, S. 74–77 (= §5).

[15]    Wolff: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 2], S. 33.

[16]    Vgl. dazu: Bauer, J. Edgar: „43 046 721 Sexualtypen.“ Anmerkungen zu Magnus Hirschfelds Zwischenstufenlehre und der Unendlichkeit der Geschlechter, in: Capri, herausgegeben vom Schwulen Museum. Redaktion: Manfred Herzer, Berlin: No. 33, Dezember 2002, S. 23–30.

[17]    Wolff: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 2], S. 444.

[18]    Ebd.

[19]    Gay, Peter: A Godless Jew. Freud, Atheism, and the Making of Psychoanalysis, New Haven and London 1987.

[20]    Klein, Dennis B.: Jewish Origins of the Psychoanalytical Movement, Chicago and London 1981. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen: Meghnagi, David (Hg.): Freud and Judaism. Including „Death and Us“ by Sigmund Freud, introduced and translated by Mark Solms. Forword by Mortimer Ostow, London 1993.

[21]    [Sigusch, Volkmar:] „Man muß Hitlers Experimente abwarten.“ Volkmar Sigusch über den Sexualforscher Magnus Hirschfeld, in: Der Spiegel, Nr. 20 (13.5.1985), S. 244.

[22]    Haeberle, E. J.: Einleitung, in: Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, Nachdruck der Erstauflage von 1914 mit einer kommentierenden Einleitung von E. J. Haeberle, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1984, S. XX.

[23]    Dannecker, Martin: Der Homosexuelle und die Homosexualität, Frankfurt/M. 1978, S. 47.

[24]    Wolff: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 2], S. 129.

[25]    Ebd., S. 154.

[26]    Herzer: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 4], S. 28.

[27]    Encyclopaedia Judaica, corrected edition, Jerusalem 1996.

[28]    Diese Nicht-Berücksichtigung von Hirschfelds Leben und Werk stimmt um so bedenklicher, wenn in Betracht gezogen wird, daß frühere jüdische Enzyklopädien durchaus Hirschfeld-Lemmata bringen. Die „Große Jüdische National-Biographie“ (Cernauti o.J. [Vorwort des ersten Bandes datiert: „Juni 1925“]) z.B. behandelt Hirschfeld im Hauptteil und in einem Nachtrag. Das „Jüdische Lexikon“ (Berlin 1927) weist darauf hin, daß Hirschfeld „eine große Zahl von Arbeiten über sexualwissenschaftliche Fragen, u.a. über Homosexualität [lieferte], die er keineswegs als Verbrechen aufgefaßt wissen will, sondern als zwischengeschlechtliche Spielart“. Darüber berichtet die „Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart“ (Berlin 1928–1932) ausführlicher: „Hirschfeld ist der erste, der wissenschaftlich die sexuellen Zwischenstufen erforschte und ein umfangreiches Material eigenartiger, abnormer Fälle veröffentlichen konnte. Eingehend und erschöpfend erfaßt das vierbändige Werk ‚Sexualpathologie‘ (1916–1920) dieses Problem geschlechtlicher Entwicklungsstörungen, der Geschlechtsübergänge und der Mischungen der Geschlechtscharaktere.“ Sogar die „Enciclopedia Judaica Castellana“ (México, D.F. 1949) widmet Hirschfeld achtzehn Zeilen und hebt hervor: „Fue el primero en estudiar científicamente la sexualidad intermedia y la homosexualidad“.

[29]    In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß der zukunftsträchtige Charakter von Hirschfelds theoretischen Grundansichten sich u.a. darin zeigt, daß sie Themen und Anliegen vorwegnehmen, die seit Anfang der 1990er Jahre vornehmlich von den Repräsentanten von Queer und Transgender studies artikuliert werden.

[30]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 3. Die anderen „Schwesterdisziplinen“ der Sexualethnologie, die Hirschfeld erwähnt, sind: Sexualpsychologie, Sexualphysiologie, Sexualpathologie und Sexualsoziologie.

[31]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. VI.

[32]    Ebd., S. 12.

[33]    Ebd.

[34]    Ebd.

[35]    Ebd.

[36]    Ebd., S. 308.

[37]    Ebd., S. 12.

[38]    Obwohl Hirschfeld im allgemeinen auf die Thora nur selten verweist, ist es bezeichnend, daß er an drei Stellen der Weltreise Moses im Zusammenhang mit dem Exodus bzw. der Zeit der Wüstenwanderung erwähnt. Der erste Verweis auf Moses erfolgt im Kapitel „Durch das Rote Meer“ (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 286). Einmal in Kairo erinnert sich Hirschfeld an die Gestalt Moses, der, um die Grausamkeit des „Pharao der Bedrückung“ zu entgehen, die Führungsrolle beim „Auszug der Kinder Israels“ aus Ägypten übernahm (Vgl. ebd., S. 322, wo Hirschfeld ausdrücklich auf „2. Buch Moses 1, 11“ verweist). Angekommen in Palästina lobt Hirschfeld den verkehrstechnischen Fortschritt vor dem Hintergrund der 40 Jahre, die Moses für den Weg zwischen Ägypten und dem „Heiligen Land“ brauchte. (Vgl. ebd., S. 351).

[39]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 350.

[40]    Ebd., S. 329.

[41]    Ebd.

[42]    Ebd.

[43]    Ebd.

[44]    Die Weltreise enthält eine Fülle von Beobachtungen, die zeigen, wieviel Aufmerksamkeit Hirschfeld den verschiedenen jüdischen Lebenswelten schenkte. So verweist er z.B. darauf, daß NewYork „mit zwei Millionen Juden die größte jüdische Ansiedlung [ist], die es jemals gegeben hat“ (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 16). In Shanghai begegnet er dem Bagdadjuden Arthur Sopher, dessen Buch „Chinese Jews“ sich nicht mit den aus Bagdad stammenden Judenfamilien, sondern mit einer anderen jüdischen Gruppe beschäftigt, die „nach der Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar“ nach China eingewandert sein soll (ebd., S. 83). In Kalkutta begegnet Hirschfeld weiteren Bagdadjuden und in Bombay hatte er die Gelegenheit, sich „mit einer farbigen Jüdin, die von Sudindien kam, zu unterhalten“ (ebd., S. 278). Auf der Nilinsel Elephantine erinnert sich Hirschfeld daran, daß dort „sich im 6. Jahrhundert vor Christus eine große Judenkolonie angesiedelt hatte“ (ebd., S. 334). Anläßlich seines Aufenthalts in Alexandrien erwähnt Hirschfeld, daß in der antiken Glanzperiode der Stadt „[e]in Drittel der Bevölkerung […] aus Juden [bestand], die nach der Zerstörung des salomonischen Tempels in Massen aus dem benachbarten Palästina herübergeströmt waren“ (ebd., S. 341).

[45]    Hirschfelds kritische Haltung gegenüber dem Zionismus kommt deutlich zum Ausdruck, wenn er in Anbetracht der Territorialfrage darauf verweist, „in welche außerordentlich schwierige Situation der Zionismus das Judentum in Palästina gestellt hat“. (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 384). Zudem bringt er das „stark in die Augen auffallende[…] Auftreten der Zionisten“ in Verbindung damit, „daß viele Christen mehr araberfreundlich und viele Araber mehr christenfreundlich als judenfreundlich sind“ (ebd., S. 386f.).

[46]    Ebd., S. 350.

[47]    Ebd.

[48]    Ebd., S. 389.

[49]    Ebd., S. 350.

[50]    Ebd., S. 15.

[51]    Ebd., S. 93.

[52]    Bezeichnenderweise berichtet Hirschfeld über die „herzliche landsmännische Aufnahme“ (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 91) in drei deutschen Klubs in China. In das Reisebuch dreier „Wandervögel“, die er in Batavia kennenlernte, schrieb er: „Weltwanderer / Trafen einander, / Sprachen und schüttelten sich die Hand / Und dachten ans deutsche Vaterland.“ (ebd., S. 189). In Jerusalem freute sich Hirschfeld darüber, „die deutschen Landsleute“ (ebd., S. 351f.) von der Besatzung des Schiffes wieder zu treffen, mit dem er die Ausreise von Bremen nach New York gemacht hatte.

[53]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 334.

[54]    Ebd., S. 345.

[55]    So schreibt Hirschfeld, daß die Chinesen „uns“ [= die Deutschen] (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 63) als eine Art Leidensgenossen betrachten, oder daß die Gehörnerven der Chinesen anders als „die unsrigen“ (Ebd., S. 105) konstruiert sein müssen. Am deutlichsten kommen derartige Züge von Hirschfelds „Nationalbewußtsein“ zum Ausdruck in seinem Pamphlet: Warum hassen uns die Völker? Eine kriegspsychologische Betrachtung, Bonn 1914. Für die Erörterung der Nationalidentifikation von zwei jüdischen Zeitgenossen Hirschfelds vgl.: Bauer, J. Edgar: Fritz Mauthner et Nietzsche. La «Critique du mensonge sacré» et les apories de l´identité juive, in: De Sils-Maria à Jérusalem. Nietzsche et le Judaïsme. Les intellectuels juifs et Nietzsche. Sous la direction de Dominique Bourel et Jacques Le Rider, Paris 1991, S. 131-146; und ders.: Eduard Norden: Wahrheitsliebe und Judentum, in: Eduard Norden (1868–1941): Ein deutscher Wissenschaftler jüdischer Herkunft, hrsg. von Bernhard Kytzler und Kurt Rudolph, Stuttgart 1995, S. 221–241.

[56]    Vgl. Herzer: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 4], S. 54f. Der von Herzer zitierte Text lautet: „Ich protestiere dagegen, jetzt Jude genannt und deswegen von den Nazischweinen geächtet und verfolgt zu werden. Ich bin ein Deutscher, ein deutscher Staatsbürger, genau so gut wie ein Hindenburg oder Ludendorff, wie Bismarck und der gewesene Kaiser! Ein ehrlicher Deutscher, in Deutschland von deutschen Eltern geboren! Und mit mir ist geschehen, was ungefähr jedem neugeborenen Kinde in ganz Europa geschieht: Sie werden von den Eltern in eine religiöse Zwangsjacke gesteckt, werden getauft oder beschnitten und sollen im Glauben ihrer Erzeuger großgezogen werden. Weil sich meine Eltern zum mosaischen Glauben bekannten, bin ich mit dem mosaischen Stigma bedacht worden! Werden die Kinder groß und wollen nichts mehr mit Kirchen und religiösen Dingen zu tun haben – das im Geburtsregister eingetragene Stigma werden sie nicht mehr los – das ist nun mein Verhängnis.“ (Herzers Quellenangabe ist: Nachlaß Hans Blüher K 14, Berliner Staatsbibliothek).

[57]    Herzer: Magnus Hirschfeld [s. Anm. 4], S. 54.

[58]    Ebd., S. 55.

[59]    Ebd.

[60]    Ebd., S. 54.

[61]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 358.

[62]    Ebd., S. 391.

[63]    Ebd.

[64]    Ebd.

[65]    Ebd.

[66]    Ebd., S. 392.

[67]    Ebd.

[68]    Ebd.

[69]    Ebd., S. 358.

[70]    Ebd., S. 358f.

[71]    Ebd., S. 359.

[72]    Ebd., S. 392.

[73]    Den Begriff verwendet Hirschfeld in: Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 361.

[74]    Ebd., S. 342. Hervorhebung des Verfassers.

[75]    Ebd.

[76]    Ebd., S. 355.

[77]    Die jüdische Zugehörigkeit impliziert für Hirschfeld freilich keinen Exklusivitätsanspruch auf eine bestimmte Geistesausprägung. Nicht von ungefähr betrachtet Hirschfeld mit Sympathie sowohl die indische Religionsphilosophie, die „zwischen Polytheismus – Pantheismus – Monotheismus Brücken [schlägt]“ (Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 249f.) als auch den „interkonfessionell, interprofessionell, international“ (ebd., S. 138) agierenden Rotary-Klub.

[78]    Hirschfeld: Von einst bis jetzt [s. Anm. 10], S. 49. Die darin enthaltenen Texte erschienen zuerst zwischen 1922 und 1923.

[79]    Hirschfeld, Magnus: Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr (8. Fortsetzung), in: Die Wahrheit, Prag, Jg. 14 (1935) Nr. 2 [Überschrift des Absatzes: „‚Bastarde‘ und ‚Reine Linie‘“]. Es gibt eine englische, edierte Fassung des Textes: Hirschfeld, Magnus: Racism. translated and edited by Eden and Cedar Paul, London 1938. Das entsprechende Zitat lautet auf englisch: „[…] all human beings are hybrids[…]“ (S. 198).

[80]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 144 .

[81]    Da für Weininger „die Frauenfrage […] so alt wie das Geschlecht, und nicht jünger als die Menschheit [ist]“ (Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung [1903]. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calosso, München 1980, S. 456), meint er, daß das „Menschheitsproblem nicht lösbar für den Mann allein [ist], er muß die Frau mitnehmen, auch wenn er nur sich erlösen wollte […]“ (Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 455. Hervorhebung des Verfassers). Allgemein gilt nach Weininger: „[D]er Mann muß vom Geschlechte sich erlösen, und so, nur so erlöst er die Frau.“ (Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 456. Hervorhebung des Verfassers). Trotz der erlösungsrelevanten Funktion der Sexualfrage bei Weininger und Hirschfeld braucht kaum betont zu werden, daß Weiningers transsexueller Messianismus, der zuletzt „ein drittes Selbes“ als Ziel der Überwindung von Mann und Frau anvisiert, von Hirschfelds Befreiungsprogrammatik grundsätzlich verschieden ist, insofern als diese die unerschöpfliche Sexualdiversität bejaht und sie als den naturgegebenen Ausgangspunkt für die Realisierung emanzipatorischer Ziele nimmt. 

[82]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 291.

[83]    Ebd., S. 354.

[84]    Ebd.

[85]    Ebd., S. 355.

[86]    Ebd., S. 354.

[87]    Ebd.

[88]    Eine der wohl berühmtesten Passagen David Humes über den Ursprung der Religion lautet: „We may conclude therefore, that, in all nations, which have embraced polytheism, the first ideas of religion arose not from a contemplation of the works of nature, but from a concern with regard to the events of life, and from the incessant hopes and fears, which actuate the human mind. […] No passions, therefore, can be supposed to work upon such barbarians, but the ordinary affections of human life; the anxious concern for happiness, the dread of future misery, the terror of death, the thirst of revenge, the appetite for food and other necessaries. Agitated by hopes and fears of this nature, especially the latter, men scrutinize, with a trembling curiosity, the course of future causes, and examine the various and contrary events of human life. And in this disordered scene, with eyes still more disordered and astonished, they see the first obscure traces of divinity.“ (Hume, David: The Natural History of Religion [1777], in: Hume, David: The Philosophical Works. Edited by Thomas Hill Green and Thomas Hodge Grose, in: 4 volumes, Volume 4. Reprint of the new edition London 1882, Aalen 1964, S. 315f.)

[89]    Vgl. Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 231 und vor allem 329.

[90]    Ebd., S. 5.

[91]    Vgl. ebd., S. 21.

[92]    Hier sei angemerkt, daß Hirschfeld stets darauf bedacht war, seinen sexualwissenschaftlichen Vorgängern Anerkennung zu zollen. Als Beispiele dazu vgl. die Erstlingsschrift: Ramien, Th. [d.i.: Magnus Hirschfeld]: Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Leipzig 1896, S. 27f.; und das opus magnum: Hirschfeld, Magnus: Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung bearbeitet. I. Band: Die körperseelischen Grundlagen. Stuttgart 1926, S. VIII–X.

[93]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 286.

[94]    Ebd., S. 293.

[95]    Vgl. ebd., S. 292f.

[96]    Ebd., S. 289.

[97]    Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der sachlichen und geistesgeschichtlichen Relevanz der Zwischenstufenlehre wäre eine ausführliche Behandlung von Hirschfeld in Yirmiyahu Yovels Buch „Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz“ (aus dem Englischen von Brigitte Flickinger, Göttingen 1994) zu erwarten gewesen. Obwohl Yovel in Spinoza den „ersten weltlichen Juden“ sieht und sein Buch mit einem Kapitel über „Immanenz und Endlichkeit“ beschließt, wird Hirschfeld im Zusammenhang der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, die von Kant zu Freud führt, nicht einmal erwähnt.

[98]    Die Frage wurde aus mehreren Perspektiven erörtert in: Bauer: Der Tod Adams [s. Anm. 9], S. 15–45. Vgl. noch dazu: Bauer, J. Edgar: Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 29/30, Juli 1999, S. 72ff. und 75ff. (= §§7, 8 und 10); und Bauer: Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam [s. Anm. 14], S. 86ff. (= §9).

[99]    Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 294 .

[100]  Ebd., S. 360.

[101]  Unter Einbezug der Philosophie Hermann Cohens wurde in einem früheren Text des Verfassers auf Hirschfelds Verhältnis zum messianischen Gedankengut hingewiesen. Dort hieß es u.a.: „Hirschfeld, der sich an der Diskussion über Zionismus und Assimilation lebhaft beteiligt hatte, war sich dessen bewußt, daß der Panhumanismus und Kosmopolitismus der sozialistischen Ideale, auf denen die von ihm angestrebte ‚Menschheitsassimilation‘ beruhte, vielfach als Hervorbringungen des prophetischen Messianismus Alt-Israels betrachtet wurden. Daß es eine enge Verbindung zwischen Prophetie und Sozialismus gibt, war keine Entdeckung Hirschfelds, sondern eine gemeinsame Auffassung von Zionisten und ihren Gegnern, wie das markante Beispiel des neukantianischen Philosophen Hermann Cohen zeigt, der als hervorragender Vertreter der Marburger Schule jahrelang bis vor seinem Tod 1918 an der ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judentums‘ in Berlin lehrte. Cohen, dessen prinzipieller Anti-Zionismus allgemein bekannt war, unterstrich, daß der jüdische Prophet in sich den religiösen Märtyrer und Politiker mit dem Anwalt des Armen paradigmatisch vereinte. In seinem Aufsatz ‚Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten‘ von 1916 schreibt er: ‚Die Propheten sind dadurch die Begründer der sozialen Religion geworden, und in ihr die des sozialen Bewußtseins überhaupt, daß sie der Mystik die Gottesidee entzogen, und ohne den Leitfaden der Wissenschaft zu benutzen, in der Liebe einen Weg der Erkenntnis zu bahnen suchten.‘ [Cohen, Hermann: Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten. In: Hermann Cohens Jüdische Schriften. Erster Band: Ethische und religiöse Grundfragen, mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig herausgegeben von Bruno Strauß, Berlin 1924, S. 312]. Diese Einsichten, die erst in seinem postum veröffentlichten, religionsphilosophischen Hauptwerk ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums‘ systematisch ausgearbeitet werden, führen zu seiner These, daß der Prophetismus ‚der geistige Mittelpunkt des jüdischen Schaffens‘ [Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß, 2. Auflage, Leipzig 1929, Nachdruck: Wiesbaden 1978, S. 29] ist, aus dem der Gedanke der einen Menschheit als Korrelat des einen Gottes entstanden ist. So wird der Prophet ‚für das internationale Verhältnis zum Geschichtsdenker, zum Urheber des Begriffes der Weltgeschichte‘ [Cohen: Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten, S. 288], die sich im messianischen ‚Sein der Zukunft‘ [Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 305] verwirklicht. In diesem Horizont läßt sich die Geschichte selbst als Ort der Realisierung des ‚ethischen Sozialismus‘ begreifen, dem zufolge ‚die materiellen, die wirtschaftlichen Bedingungen […] niemals zur Hemmung […] für die Durchführung der sittlichen und geistigen Kultur für alle Menschen ohne Unterschied‘ [Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 361] werden dürfen. Bezüglich dieses Messianismus hebt Cohen hervor, daß ‚die nationale Eigenart [des jüdischen Volkes] in ihrer staatlosen Isolierung […] das Symbol für die Einheit der Staatenbund-Menschheit [ist], als den letzten Wert der Weltgeschichte […]‘ [Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 296]. In Anbetracht dieser Ausführungen, die als durchaus repräsentativ für ein zugleich liberales und anti-zionistisches Judentum angesehen werden können, läßt sich nachvollziehen, daß eine im Zeichen von Sozialismus und Weltbürgertum stehende ‚Menschheitsassimilation‘ des Judentums von einem atheistisch, aber nicht prinzipiell anti-religiös eingestellten Juden wie Hirschfeld als eine mögliche Realisierung des messianischen Wesenszuges der Weltgeschichte und des jüdischen Volkes in ihr verstanden werden konnte. Hirschfelds sonstige ‚sozialistische‘ Inspirationsquellen stellen so gesehen keinen Gegensatz zum prophetischen Messianismus dar. Sie fungieren vielmehr als entscheidende Vergegenwärtigungen seines hohen und weitsichtigen Anspruches.“ (Bauer: Über Hirschfelds Anspruch [s. Anm. 98], S. 73f.) Für weitere Erörterungen zu Hirschfelds Messianismus vgl.: Bauer: Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam [s. Anm. 14], S. 83–86 (= §8).

[102]  Voraussetzungen für diese Einschätzung werden behandelt in: Bauer: Der Tod Adams [s. Anm. 9], S. 23ff.; 35– 38 und 41ff. (= §§4, 8, 10); Bauer: Über Hirschfelds Anspruch [s. Anm. 98], S. 72–77 (= §§7–10); und Bauer: Magnus Hirschfeld: per scientiam ad justitiam [s. Anm. 14], S. 83–88 (= §§8f.).

[103]  Hirschfelds säkularer Messianismus ist im Sinne einer Emanzipationsgeschichte zu verstehen, in der die Verwirklichung der Freiheit sexueller Minderheiten eine entscheidende Voraussetzung dafür bildet, daß einst alle Menschen die potentiell unendliche Vielfalt der Geschlechter erkennen, zur Einsicht in die kategoriale Nicht-Subsumierbarkeit ihrer eigenen Sexualkonstitution gelangen und sich darauf stützend ihre eigene Sexualbefreiung herbeiführen.

[104]  Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 392. Hirschfeld zitiert aus dem nach Robert Burns verfaßten Gedicht „Trotz alledem“, das in Freiligraths Gedichtsammlung „Ein Glaubensbekenntnis“ (1844) erschien. Der Dichter veröffentlichte eine spätere Fassung von „Trotz alledem“ in „Neuere politische und soziale Gedichte“ (1849–1851).

[105]  Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers [s. Anm. 11], S. 392.

[106]  Flusser, Vilém: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, herausgegeben von Stefan Bollmann und Edith Flusser, mit einem Nachwort von David Flusser, Mannheim 1995, S. 43.

[107]  [Hirschfeld, Magnus:] „Dr. Magnus Hirschfeld“, in: Berkovits, Zoltan: Christen und Juden über Juden und Christen. Gespräche mit: […] M. Dizengoff […] Magnus Hirschfeld […] Sigmund Freud […], Lausanne 1945, S. 27 [Aus: „Zsidó Ujság“, Budapest].

[108] Deuteronomium 7,6: „Sonderguts-Volk“. (Vgl. Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Band I: Die fünf Bücher der Weisung, Heidelberg 1981, S. 496f.). Für eine nähere Bestimmung des Erwählungsgedankens im Volk Israel und in der modernen jüdischen Theologie, siehe: Bauer, J. Edgar: Erwählung, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, unter Mitarbeit von Günter Kehrer und Hans G. Kippenberg herausgegeben von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Matthias Laubscher, Stuttgart/Berlin/Köln 1990, Bd. II, S. 330–341.

[109]  [Hirschfeld, Magnus:] „Dr. Magnus Hirschfeld“ [s. Anm. 107], S. 27. Hervorhebung des Verfassers.

[110]  Deuteronomium 15,15. Die Übersetzung ist aus: Die Schrift [s. Anm. 108], S. 518.