J. Edgar Bauer

 

Heidnische Sexualität.
Über Camille Paglias "Sexual Personae"

 

Ursprünglich erschienen in: Zeitschrift für Sexualforschung 7, 1, März 1994, S. 1-19.

Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Georg Thieme Verlags, Stuttgart, Deutschland.

- Revidierte Fassung -

 

 

Natur, Sexualität, Grausamkeit
Sexuelle Personae, geschlechtliche Dualität
Einseitigkeiten, Versäumnisse
Realitätssinn, Negativität
Anmerkungen und Literatur

 

 

1990 erschien ein umfangreiches und anspruchvolles Buch von einer bis dahin unbekannten amerikanischen Autorin, das bald die Aufmerksamkeit sowohl der akademischen Welt als auch der internationalen Presse auf sich zog. Die Analysen und Überlegungen der zahlreichen Kommentatoren und Kritiker von Camille Paglias "Sexual Personae"[1] ließen jedoch zumeist viel zu wünschen übrig. Nur wenige waren bereit, Paglias Grundanliegen jenseits vom schablonenhaften Lob und Tadel sachgemäß zu thematisieren und eine eingehende Auseinandersetzung mit den tragenden Gedanken des Werkes zu versuchen. Begünstigt durch den zeitlichen Abstand seit dem Erscheinen der amerikanischen Originalausgabe soll im folgenden der Versuch unternommen werden, Paglias Grundthesen herauszuarbeiten und die Tragweite und Relevanz ihrer Gesamtkonzeption kritisch zu beleuchten.

 

 

Da ein Großteil von Paglias Buch sich mit englisch schreibenden Autoren auseinandersetzt, schien es ratsam, stets die englische Fassung zu berücksichtigen. Bei Zitaten aus dem Buch wurde die vorliegende deutsche Übertragung[2] zwar konsultiert, aber nicht immer übernommen. Die Seitenangaben zu den Zitaten verweisen dennoch auf die deutsche Ausgabe des Werkes. Dadurch wird nicht nur ein Vergleich zwischen der hier vorgeschlagenen Übersetzung der betreffenden Stelle und der Fassung von Bergner, Enderwitz und Noll, sondern auch die Berücksichtigung des Kontextes, dem das Zitat entnommen wurde, erleichtert.

 

 

In diesem Zusammenhang ist auch der problematische Titel, unter dem das Werk auf deutsch erschienen ist, zu erwähnen. Gegen den deutschen Titel "Die Masken der Sexualität" als Übersetzung von "Sexual Personae" ist insofern nichts einzuwenden, als der lateinische Begriff persona, den das Englische als Fremdwort übernahm, letztlich auf das griechische Wort prósopon zurückgeht, das unter anderem die in der klassischen Tragödie verwendete Maske bedeuten kann. Aber schon das griechische prósopon hatte auch die Bedeutung von Antlitz, Miene, Aussehen, Rolle und sozialer, moralischer Person - semantische Aspekte, die in der lateinischen persona vorhanden waren und für Paglias Ausführungen wesentlich sind. Angesichts der Tatsache, daß die Wiedergabe von personae mit Masken zu einer vorschnellen Vereindeutigung des reichen Begriffsgehalts von persona führt, stellt sich die Frage, warum keine Übersetzungslösung vorgezogen wurde, die dieses Problem meidet. Das Buch wird im folgenden stets unter Verwendung seines Originaltitels benannt, um damit die semantische Extension des Begriffes persona als Ausdruck der programmatischen Intentionen Paglias unangetastet zu lassen.

 

 

Entsprechend dem verfolgten Ziel der nachstehenden Überlegungen schien es unerläßlich, bestimmte Kapitel des zweiten Werkes von Paglia, "Sex, Art and American Culture"[3], zu berücksichtigen. Von besonderem Interesse in diesem Buch ist das mehr als 20 Seiten lange, ursprüngliche Vorwort zu "Sexual Personae", das in der endgültigen Fassung des Werkes aus verlegerischen Rücksichten auf eine einzige Seite reduziert werden mußte. Herangezogen wurden dieses "gestrichene Vorwort" und andere ausgewählte Kapitel der Essaysammlung, weil sie zuweilen wichtige Einblicke in Methode, Anspruch und Person der Verfasserin gewähren, die zu einem besseren Verständnis des Hauptwerkes führen.

 

 

Der vorliegende Band "Sexual Personae" stellt den ersten Teil eines zwei- bändigen Werkes dar, das Camille Paglia schon 1980 abgeschlossen hatte.

Zehn Jahre lang war kein amerikanischer Verlag bereit, das Risiko seiner Publikation auf sich zu nehmen. Einmal veröffentlicht, avancierte das Buch jedoch rasch und überraschend zu einem überwältigenden Erfolg und wurde zum Gegenstand einer lebhaften Diskussion, an der Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Sexualforscher und Philosophen aus der ganzen Welt sich beteiligt haben.[4] Auch wenn "Sexual Personae" vor allem wegen seines angeblichen Antifeminismus vielfach angegriffen wurde, ist heute - vier Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe - unbestritten, daß das Buch aufgrund seiner intrinsischen Qualitäten und bisherigen Rezeption zu einem Klassiker der Gender studies geworden ist. Darüber hinaus gelangte die Verfasserin - mit ihren radikalen Kritiken und sprachlichen Pointierungen - leicht zur Berühmtheit in der amerikanischen Medienlandschaft. Dies ist unschwer nachvollziehbar, wenn man bedenkt, daß Paglia sich als eine "italienische, heidnische Mythomanin"[5] versteht, Robert Mapplethorpe als ihren "Bruder im Geist"[6] betrachtet oder die kontroverse These aufstellt, die Natur und nicht die Gesellschaft sei der größte Unterdrücker der Frau.[7] Solange Paglias bewußte Provokationen und ihr Sinn für Theatralik mit ihrer eigentlichen theoretischen Leistung nicht verwechselt werden, können sie den kritischen Blick für den Kern ihres Anliegens verschärfen helfen.

 

 

Wenn man das Projekt von "Sexual Personae" als Ganzes betrachtet, wird ersichtlich, daß seine imposante Erfassung des abendländischen Erbes letztlich vom Interesse am kulturgeschichtlichen Begreifen der Gegenwart geleitet wird. So thematisiert der erste, uns vorliegende Band, dessen englischer Untertitel "Kunst und Dekadenz von Nofretete bis Emily Dickinson" keine Entsprechung in der deutschen Fassung findet, die Zeitspanne zwischen der Vorgeschichte und dem 19. Jahrhundert, während der künftige zweite Band darauf angelegt ist, die amerikanische "popular culture" derart zu verarbeiten, daß nachgewiesen wird, wie sämtliche Themen der klassischen (genauer: heidnischen) Antike im Kino, im Fernsehen, im Sport und in der Rockmusik wiederkehren.[8]

 

 

Paglia gliedert den ersten Band in 24 Kapitel, von denen die ersten fünf gleichzeitig das begriffliche und theoretische Instrumentarium des Werkes entfalten und die geschichtliche Entwicklung bis zur italienischen Kunst der Renaissance verfolgen. Erst mit dem sechsten Kapitel beginnt das - zuweilen meisterhafte - "close reading" von Haupttexten des abendländischen Literaturkanons: von Spenser und Shakespeare über Goethe, Baudelaire und Wilde bis zu Whitman und "Madame de Sade aus Amherst". In dieser zweiten Kapitelgruppierung stellt die Behandlung von Rousseau und Sade unter dem Stichwort "Wiederkehr der Großen Mutter" ein entscheidendes Moment in der argumentativen Entfaltung des Buches dar, insofern dort die philosophischen Grundlagen von Paglias Verständnis von Natur, Sexualität und Gewalt in der Moderne eruiert werden.

 

 

Paglias methodischer Ansatz geht von der Verbindung einer Reihe von Einzeldisziplinen (Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Psychologie und Religionstheorie)[9] aus, bei gleichzeitiger Betonung, daß die eigentliche interpretatorische Aufgabe eher Intuition und Divination erfordert als Wissenschaft.[10] Die Interdisziplinarität, für die Paglia eintritt, zeigt sich am deutlichsten in ihrem Versuch, menschliche Sexualität als einen Teil der Natur zu deuten, indem sie auf die Verbindung der Freudschen Psychoanalyse mit den Einsichten des Cambridge-Anthropologen James George Frazer rekurriert. Im Unterschied zur "humanistischen", das Menschliche verklärenden Annäherung an Kunst und Literatur seitens der etablierten Wissenschaft versucht Paglia mit ihrer anti-idealistischen Sichtweise, Sachfragen wie Amoralität, Aggression, Sadismus, Voyeurismus oder Pornographie im Zusammenhang künstlerischer Produktion ausdrücklich zu thematisieren. Die Behandlung solcher Phänomene ist unabdingbare Voraussetzung für eins der Hauptanliegen des Werkes: die Aufstellung einer umfassenden Theorie der Dekadenz, die Paglia als die vorläufig letzte Erscheinungsform der auf Alt-Ägypten zurückgehenden ästhetizistischen Haltung versteht.

 

 

Trotz der durchaus beeindruckenden programmatischen Durchführung von "Sexual Personae" ist sein Stil denkbar weit entfernt vom akademischen Usus. Paglia, die ständig ihre kritische Solidarität mit der studentischen Protestbewegung der 60er Jahre kundtut, sagt warnend schon im Vorwort: "My method is a form of sensationalism."[11] Die Provokation des Lesers, auf die die Verfasserin offensichtlich immer wieder abzielt[12], entspricht dem denunziatorischen Gestus der antiautoritären Generation. Just in dieser Tradition wurzeln der von den Kritikern oft verkannte, in Wahrheit aber selbstbewußte und philosophisch luzide Feminismus Paglias, die nicht von ungefähr im "gestrichenen Vorwort" darauf hinweist, daß die zwei Bände von "Sexual Personae" möglicherweise das längste Buch darstellen, das je von einer Frau geschrieben wurde.[13]

 

 

Es ist bezeichnend, daß Paglia - trotz ihrer ständigen Kritik am Rousseauismus der Hippie-Generation - sehr viel Wert auf ihren eigenen Versuch legt, Inspiration und Intellekt beim Schreiben zu vereinen. Manche Passagen von "Sexual Personae" charakterisiert sie als "eigentliche Oden, in einem sublimen pindarischen, stolzen, zelebrierenden und ritualistischen Stil geschrieben."[14] Wie Paglia offen zugibt, wollte sie in der darstellenden Prosa ihres Buches Raum schaffen für die eigentümliche Intensität des Tanzes und der Oper oder für die ekstatische Gestik der Heiligen aus der Barockzeit.[15] Paglias asystematische Durchdringungskraft in Verbindung mit einer gewaltigen Fähigkeit zur pointierten Formulierung mutet an wie eine modernisierte Version eines englisch schreibenden Vico, der die magistrale Lektion des Wildeschen witticism verinnerlicht hat.

 

 

Natur, Sexualität, Grausamkeit

 

 

Der erste Satz von "Sexual Personae" deutet auf seinen polemischen Anspruch hin: "Am Anfang war Natur." Im Unterschied zu den "Anfangs"-Berichten im Buch Genesis und im Johannes-Evangelium ist Paglias Urprinzip keine theologische Instanz. Anders als die Übersetzungsvariationen zum johanneischen Logos in Goethes Faust, der die Anthropomorphik des Originals mit der vorgezogenen Übertragung "Tat" noch stärker betont[16], ist Natur für Paglia ein feindseliges Prinzip vom Werden und Vergehen, das keine Rücksicht auf die Zweckbestimmtheit menschlichen Handelns nimmt. Paglias Natur ist vielmehr "der Hammer und der Amboß, die Individualität zertrümmernd".[17] Als Folge einer evolutionsgeschichtlichen Anpassung wird die Wahrnehmung ihrer Gewalt und Grausamkeit zumeist verdrängt, denn "das, was uns bewußt wird, könnte uns in den Wahnsinn treiben".[18] Das Schauspiel der Grausamkeit ist dem Menschen freilich nicht äußerlich. Er nimmt daran Teil als jemand, der töten muß, um leben zu können. Mit Hobbes, Sade, Darwin und Nietzsche und gegen die auf Rousseau zurückzuführenden idealisierenden Tendenzen der Moderne sieht Paglia die Vorherrschaft der pandämonischen Natur als Lebensgesetz auch auf dem Gebiet des menschlichen Geistes und seiner Hervorbringungen. So steht Nietzsches Aperçu von der "höheren Kultur" als "Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit"[19] im sachlichen Mittelpunkt ihrer Reflexion.

 

 

In diesem Zusammenhang erscheint Sexualität nicht nur als ein Teil der Natur und als das Naturhafte im Menschen, sondern - zusammen mit der Erotik - als "die heikle Schnittstelle zwischen Natur und Kultur".[20] Entscheidend für Paglias Theorie der Sexualität ist die objektive Unmöglichkeit ihrer Abkoppelung von der Natur, die als Grundlage der immerwährenden Spannung zwischen ihr selbst und den von der jeweiligen Kultur bedingten Zwecken fungiert. In ihrer Analyse versucht Paglia zu zeigen, daß die Verankerung der Sexualität in einer nicht-humanen Tiefe - genannt Natur - ständig die zeitgenössischen Versuche einer illusorischen Verklärung des Menschlichen desavouiert. Nicht von ungefähr verweist Paglia darauf, daß "nicht Sexualität, sondern Grausamkeit (...) das große, das vernachlässigte oder verdrängte Thema auf der Tagesordnung des modernen Humanismus"[21] ist, zu dem offensichtlich die meisten Formen des Feminismus zu rechnen sind. Ihnen gegenüber verkündet Paglia keine Schicksalsergebenheit, sondern wirbt um mutige Luzidität in der Auseinandersetzung mit der dunklen Seite der Sexualität. Aus diesem Anliegen heraus wird Paglias Vorwurf verständlich, daß "die Bibel von Gottes wahrem Gegenspieler, der chthonischen Natur, feige"[22] ablenkt. Demgegenüber wurzelt Paglias eigener theoretischer Anspruch in der eindeutig formulierten Überzeugung: "Mutter Natur, die Herrin des Wandels, gewinnt bei all unseren Kriegsspielen zu Lande und zu Wasser".[23]

 

 

"Sexual Personae" kann als eine Meditation über die Einheit und Kontinuität der abendländischen Kulturgeschichte gelesen werden. Im Gegensatz zu Oswald Spenglers pessimistischer Kulturphilosophie oder zu Max Nordaus Theorien der "Entartung" im 19. Jahrhundert sieht Paglia in der romantischen Dekadenz eine späte, aber kostbare Blüte des heidnischen Ästhetizismus, der erstmalig in Ägypten zur Entfaltung kam und den zwei Millenien christlicher Verkündigung nicht haben beseitigen können. Ägypten, das die Kultur des Westens bis in die Gegenwart hinein prägt, spielt in Paglias Gesamtkonzeption eine kaum zu überbietende Rolle. Dort entstand die numinose Qualität von Person und Geschichte, die über Griechenland die ganze europäische Kultur eroberte[24] und die das grundlegende Unterscheidungsmerkmal zwischen westlicher und östlicher Kultur ausmacht. Es war auch in Ägypten, wo der älteste, bis heute andauernde Konflikt des Westens sich konfigurierte, in dem der "hebräische Wortkult gegen den heidnischen Bildkult, das große Ungesehene gegen das glorifizierte Ding"[25], auftrat. Während das Bemühen des Judentums, die Gottheit mittels der Tabuisierung des Blickes und der Vergöttlichung des Wortes unsichtbar zu machen, nie völlig siegte[26], war das Christentum seinerseits im Zwiespalt mit sich selbst von dem Augenblick an, in dem es Palästina verließ und sich die heidnische Kunst einverleibte.[27]

 

 

Den Kern des historischen Christentums versteht Paglia als eine Entwicklung der dionysischen Mysterienreligion, die paradoxerweise versuchte, die Natur zugunsten eines transzendenten Jenseits zu verdrängen. So verkennt das christliche Ideal eines Lebens in Liebe und Frieden, das die Agape von ihren erotischen Wurzeln trennt, die Notwendigkeit einer religiösen Integration von Sexualität, Gewalt und Gottheit. Erst vor dem Hintergrund der Kritik am "unmöglichen und widernatürlichen Ideal"[28] des Christentums erlangt Paglias entscheidende geschichtliche These, nach der das antike Heidentum in Sexualität, Kunst und Medien der Gegenwart weiterlebt, ihre eigentümliche polemische Schärfe. Es ist bezeichnend, daß Paglia nicht die Hochkultur der Gegenwart, deren "neurotischen Nihilismus"[29] sie anprangert, sondern die Massenkultur des 20. Jahrhunderts zum eigentlichen Erben der heidnischen Vergangenheit deklariert.

 

 

Im Unterschied zur angeblichen buddhistischen Unterwerfung unter die Natur besteht ein wesentlicher Teil der westlichen Kultur nach Paglia in einer eigentümlichen Verzerrung der Realität, die auf einer vom Willen geleiteten Ergänzung der Natur durch Phantasie basiert. Weil das westliche Heidentum auf eine vollständige Betätigung der Einbildungskraft abzielt, wird es dem menschlichen Potential am weitesten gerecht[30], das erst in der Abwehr der ständig bedrohenden Natur zur völligen Entfaltung kommen kann. Das komplexe Gefüge des Verhältnisses des abendländischen Menschen zur Natur begreift Paglia unter Rekurs auf die grundlegende Opposition des Dionysischen (oder Chthonischen) und des Apollinischen. Dionysos als dynamisches Prinzip herrscht auf dem Gebiet der prokreativen Weiblichkeit und der Auflösung im Tod und führt zu einer sympathetischen Identifikation mit anderen, die unweigerlich in der Aufhebung der Individualität endet. Während Dionysos ein Vandale ist, der auflöst, ist Apollon ein Tyrann, der gefrieren läßt.[31] Als Prinzip der Objektivierung repräsentiert dieser die gegen das Chthonische gerichtete Strategie der Fixierung durch die harten und kalten Trennungen des kategorialen Denkens und der aus ihm resultierenden Kulturleistungen. Kunst, die wirksamste Waffe gegen das Fließende der Natur, ist zugleich Widerspiegelung und Lösung des menschlichen Hin- und Hergerissenseins zwischen der dionysischen Kraft und der apollinischen Ordnung.[32] 

 

 

Von daher muß Sexualität als Ort des Chthonischen in der Kunst stets als ein durch Konturen Überwundenes erscheinen. Da Paglia mit Sade den eigentlichen Geist der Natur in der Gewalt erkennt, begreift sie den Kunstwillen als Willen zur Macht über die fließende Natur, der eine Seinshierarchie gegen die naturgegebene Anarchie durchsetzt. Unter diesen Voraussetzungen wird Paglias Hochschätzung der These der Dekadenz verständlich: daß die dem Reich des Dionysischen angehörende Sexualität nicht einfach mit dem Lustprinzip, vielmehr mit dem großen Kontinuum von Lust und Schmerz gleichzusetzen ist. Die unübersehbare Abneigung der Dekadenz gegen die Natur beruht letztlich auf der Einsicht, daß die dionysische Ergebenheit unweigerlich mit der Kapitulation vor dem Tod endet. Aus Paglias Sicht liegt die eminente Bedeutung der dekadenten Kunst darin, daß sie die radikalste Form des abendländischen Protestes gegen die gegenseitige Ausschließung von Sexualität und Kontur darstellt.

 

 

Sexuelle Personae, geschlechtliche Dualität

 

 

Ingmar Bergmans Film Persona (1966) inspirierte nicht nur den Titel des Buches, sondern trug auch zur Kristallisierung der zentralen These bei, daß die hohe Entwicklung der Persönlichkeit im Westen eine kulturgeschichtlich einzigartige Problematik sexueller Perversion hervorgebracht hat.[33] Nach Paglia ist die westliche Vorstellung von Person ein Teil derselben apollinischen Formsuche, die zur Auffassung einer klar abgegrenzten Identität der Dinge und zu deren wissensmäßiger, technischer Beherrschung führt. Vor dem Hintergrund der Ausführungen über die Natur wird aber deutlich, daß für Paglia die Größe des Westens auf einer trügerischen Scheingewißheit ("delusional certitude") besonderer Art basiert.[34] Obwohl der Geist von der Materie sich nie wirklich befreien kann, ist der kulturelle Fortschritt nur möglich, wenn der Geist sich als frei vorstellt.[35] Der Heterokosmos, den der Geist in seiner Selbstbehauptung gegen die Natur schafft, ist in Wahrheit nur ein Produkt der reichen Kombinatorik der Einbildungskraft.

 

 

So entfaltet sie - angesichts der bipolaren, naturmäßigen Geschlechtsbestimmtheit - die erstaunliche Vielfalt sexueller Personae als "sichtbare Ideen"[36], die die Gefahr des Dionysischen reflektieren und zu überwinden trachten. Die Fülle abendländischer sexueller Personae, die Paglia analysiert, reicht von der Amazone und dem schönen Jüngling über den höfischen Hermaphroditen, den Dandy und die männliche Heldin bis zu dem Transsexuellen, der Venus barbata und der Femme fatale. Die sexuellen Metathesen, die solche "Masken der Sexualität" ermöglichen, sind eine Erweiterung der Identität durch Rücknahme des in der Natur verankerten Vereindeutigungsprozesses des polymorph Sexuellen. Angesichts der häufigen Sanktionierung des angeblich "Natürlichen" durch Ideologie oder Theologie ist Paglias Konstatierung nicht überraschend, daß der moralische Mensch nur eine persona hat, "die fest in der großen Kette des Seins verankert ist".[37] In dieser Perspektive ist es auch kein Zufall, daß es "in der Bibel - außer bei den Huren - keine sexuellen Personae"[38] gibt.

 

 

Wenn es darüber hinaus dem Christentum gelang, die äußeren Formen des Heidentums zu vernichten, konnte es dennoch der phantasievollen, heidnischen Kontinuität der sexuellen Personae in Sprache, Ideen und Bildern keinen Abbruch tun. Im Gegenteil. Die Renaissance reagierte mit einer explosionsartigen Vervielfältigung der Sexualcharaktere, und Shakespeare erweiterte wie kein anderer einzelner Künstler der westlichen Geschichte den Aufzug ihrer sexuellen Personae. Später wird Rousseau Shakespeares Ansicht über die Bedeutung der androgynen Haltung bei der Identitätskonstitution im Rollenspiel entscheidend vertiefen. Als erster Befürworter dessen, was heute "sexuelle Identität" genannt wird, trennt Rousseau die christliche Verkoppelung von Sexualität und moralischem Willen, um die Sexualität direkt in der von ihm als gütig angesehenen Natur zu verankern. Die sexuelle Revolution, die damit initiiert wird, will, Paglia zufolge, den Menschen von der religiösen und politischen Autorität befreien, aber ohne dabei etwas gegen die Reetablierung einer naturhaften Hierarchisierung des Sexuallebens ausrichten zu können, wie die heutige Verbreitung des archaisierenden Phänomens des Sadomasochismus deutlich zeigt. Darin sieht Paglia ihre Ansicht bestätigt: "Wir können dem Leben in diesen faschistischen Körpern nicht entfliehen."[39] Paglia verliert nie aus den Augen, daß das phantasievolle Rollenspiel der sexuellen Personae vor dem Hintergrund dieser unaufhebbaren Naturtragik inszeniert wird.

 

 

An der zeitgenössischen feministischen Emanzipationsbewegung kritisiert Paglia grundsätzlich ihre Unfähigkeit, der menschlichen Kontingenz Rechnung zu tragen. Gegen die realitätsfremde Verwischung der Geschlechterunterschiede und die damit verbundenen egalitaristischen Bestrebungen des Feminismus betont Paglia die Dualität der Geschlechter als eine biologisch verwurzelte und darum unentrinnbare Gegebenheit der menschlichen Gattung. Sie kommt nicht erst im Verhältnis zu möglichen Sexualpartnern zum Zuge, sondern zeigt sich schon im Zusammenhang mit der Schwangerschaft, in der der als "gutartiger Tumor"[40] angesehene Fetus seine aufkeimende Individualität - unterstrichen durch die mögliche geschlechtliche Alterität eines künftigen Sohnes - gegenüber dem Gastorganismus der Mutter behaupten muß. So meint Paglia, daß erst dann, "wenn alle Neugeborenen aus Retorten kommen, (...) die Schlacht zwischen Mutter und Sohn enden" wird.[41]

 

 

Insofern, als die sexuelle Auseinandersetzung unter Rekurs auf geschlechtsspezifische Mittel ausgetragen wird, muß das Verhältnis zwischen Mann und Frau sich in einer eigentümlichen Asymmetrie gestalten. Darin gründet nach Paglia die Tatsache, daß Kulturleistungen nicht zum eigentlichen Gebiet der weiblichen Produktivität gehören. Im Zusammenhang dieser Ausführungen findet sich die vielleicht am meisten kritisierte und am wenigsten verstandene Aussage Paglias: "Wäre die Zivilisation den Frauen überlassen geblieben, wir lebten noch immer in Schilfhütten".[42] Im Hintergrund dieser für viele Feministinnen empörenden Äußerung steht durchaus keine Unterschätzung des Weiblichen. Im Gegenteil. Aus Paglias Sicht haben Frauen einen genaueren Sinn für die Realität und sind seelisch und körperlich vollkommener als Männer, die die Kultur als Mittel erfunden haben, um aus sich eine Ganzheit zu machen, welche ihnen von Natur aus fehlt.[43] So gesehen ist die kulturelle Kreativität des Mannes die Signatur einer wesensmäßigen Unterlegenheit.

 

 

Während die Selbstgenügsamkeit der Frau mit der auf ihren ganzen Körper verteilten Erotik zusammenhängt, leidet der Mann unter der genitalen Konzentration seiner Sexualität, die darauf angelegt ist, ihn über sich selbst hinauszutreiben.[44] Daß der Mann schon vor der Geburt über die Frau hinaus ist, heißt in der Konsequenz, aus dem Zentrum des Lebens verstoßen zu sein. Der hohe Preis für die apollinische Transzendenz der männlichen Kulturleistungen besteht darin, daß der Mann sein Leben lang ein sexuell Exilierter bleibt. Die für die Frau zweifelhafte Zuversicht des Mannes auf Objektivität, welche auf der Sichtbarkeit seiner Genitalien beruht, kontrastiert mit dem Realismus der Frau, die Ungewißheit besser ertragen kann, weil sie sich keine Klarheit über das ihr selbst Verborgene im eigenen Körper verschaffen kann. Paglias fundamentale Sicht der spezifischen Überlegenheit der Frau kommt pointiert zum Ausdruck, wenn sie meint: "Es gibt keinen weiblichen Mozart, weil es keinen weiblichen Jack the Ripper gibt."[45] Die Aufstellung moralischer Normen und Codices sowie deren Transgression ist ein Teil des apollinischen Programms zur Naturüberwindung, das Paglia als Folge der sexuellen Angst vor der weiblichen Natur versteht. Außerdem erscheint die Erschaffung von Schönheit in diesem Zusammenhang als die männliche Abwehrreaktion gegen die Schrecken der Frau: Das weibliche Genitale ist buchstäblich grotesk, weil "es (... ) von der Art der Grotte, der Erdspalte (ist), die zur chthonischen Höhle der Gebärmutter führt".[46] Unter diesen Voraussetzungen läßt sich unschwer nachvollziehen, daß nach Paglia die Ausnahmestellung der zwei größten Dichterinnen des Abendlandes nicht ohne Bezug auf die spezifische Form ihrer sexuellen Veranlagung war. Ohne die lesbische Komponente Sapphos und ohne die homosexuelle Orientierung Emily Dickinsons wäre ihnen der erotische Zugang zur poetischen Muse verschlossen geblieben.

 

 

Männlichkeit ist Paglia zufolge "der fragilste und problematischste aller psychischen Zustände".[47] Die wesentliche Labilität des Mannes ist darauf zurückzuführen, daß er - anders als die Frau - schon vom Körper her auf Leistung und Überwindung hin programmiert ist. Der "Transzendenzbogen"[48] des männlichen Urinstrahls sowie das Phänomen der Erektion und der Ejakulation sind paradigmatische Beispiele für den Projektions-Charakter des Mannes, dessen höchste "projektive" Leistung die Kultur selbst ist. Der Mann, der einerseits unter dem eigenen Leistungsdruck steht und der andererseits um die eigentümliche weibliche Selbstgenügsamkeit weiß, kann aber versuchen, die durch seine Kreativität verursachte Spannung zur Natur gerade durch eigene schöpferische Kraft aufzuheben, indem er imaginativ oder reell die Wesensmerkmale des anderen Geschlechts in sich integriert. So stellen sexuelle Metathesen wie Bisexualität und Homosexualität eine metaphysische Erweiterung der Geschlechtsidentität dar.

 

 

Viele von Paglias Einzeluntersuchungen sollen die These belegen, daß es "dem Mann als Künstler (...) noch am ehesten (gelingt), der herrlichen Selbstgenügsamkeit (self-containment) der Frau nachzutun".[49] Ihr diesbezügliches Beweismaterial reicht von der Androgynie des ägyptischen Demiurgs Khepara bis hin zu Goethe, Wilde und Whitman. Was Goethe betrifft, sieht Paglia in seinen androgynen Gestalten adäquate Symbole für sein titanisch allumfassendes Lebenswerk, in dem Sexualität bezeichnenderweise eher die Form eines weiblichen Sammelns als die eines männlichen Zerstreuens annimmt. Im Falle Wildes gibt Paglia unumwunden zu, daß seine hermaphroditische Transformierung zu den seltensten gehört, die sie je studiert hat. Paglia nimmt an, daß Wilde seine besten Werke erst nach seinem Bekenntnis zur Homosexualität schrieb, weil zuvor Frauen seine weibliche Sentimentalität bestärkten. Obwohl der androgyne Mann in der Regel effeminiert wirkt, wurde Wilde in seinem Schreiben durch das Androgyne maskuliner, "weil es ihm die aggressive Kraft der apollinischen Abgrenzung gab".[50] Schließlich wird Whitman - genauso wie Emily Dickinson - als ein autokratischer Hermaphrodit und homosexueller Voyeur betrachtet, der sexuelle Universalität ("all-inclusiveness") vorspiegelt.[51]

 

 

Es ist bezeichnend, daß Paglia - trotz ihrer Theorie der sexuellen Metathesen - an der Konzeption der Unüberwindbarkeit des biologischen Geschlechterunterschiedes festhält. Unabhängig von historischen Argumenten sieht Paglia die These der geschlechtsspezifischen Einwirkung der Natur auf das jeweilige Verhalten von homosexuellen Männern und lesbischen Frauen durch statistische Untersuchungen über die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs bestätigt, die zeigen, daß der männliche Homosexuelle häufiger Geschlechtsverkehr hat als der heterosexuelle Mann und daß die homosexuelle Frau hingegen weniger Geschlechtsverkehr hat als die heterosexuelle Frau.[52] Viel relevanter als die statistische Argumentation bei der Thematisierung des sexuellen Unterschiedes ist freilich die geistesgeschichtliche Feststellung, daß es keine lesbische Parallele zum griechischen Jünglingskult gibt.[53] Es ist der männliche Homosexuelle, nicht die lesbische Frau, der zu den großen Stiftern der absolutistischen westlichen Identität gehört, weil die laszive Befriedigung des Gesichtssinns in der weiblichen Erotik kaum eine Rolle spielt. Paglias Weigerung, die mangelnde kulturelle Schöpferkraft der Frau im Abendland zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, kann - aus ihrer eigenen Perspektive - als Beweis für ihren spezifisch weiblichen Realitätssinn ausgelegt werden. Wunschdenken ist in ihrer Konzeption ein Charakteristikum der vorherrschenden, phallisch gipfelnden Geschichte, deren Illusionen die Frau Camille Paglia desavouiert.

 

 

Einseitigkeiten, Versäumnisse

 

 

Obwohl "Sexual Personae" die Kulturgeschichte des Abendlandes bis zum Ende des 19. Jahrhunderts programmatisch verfolgt, wird bald ersichtlich, daß die meisten Kapitelüberschriften - angefangen mit dem sechsten Kapitel über Edmund Spenser - auf englisch schreibende bzw. französische Autoren verweisen. Einzige Ausnahme ist in dieser Hinsicht die relativ kurze Behandlung Goethes. Angesichts ihrer historisch und theoretisch anspruchsvollen Ziele stellt sich aber die Frage, warum Paglia, die so viel gegen das Spezialistentum des akademischen Betriebes einzuwenden hat, nicht den Versuch unternahm, diese in kultureller und sprachlicher Hinsicht extreme Einseitigkeit bei der Auswahl der behandelten Autoren seit der Renaissance zu vermeiden. Methodisch und sachlich wäre Entscheidendes gewonnen, wenn die "italienisch-heidnische Katholikin" Paglia auch Autoren und Themen aus anderen europäischen Kulturräumen berücksichtigt hätte. Es ist nicht zu bestreiten, daß Themen wie die Erotik-Problematik bei der Karmeliterin Teresa de Avila, die frauenemanzipatorischen Aspekte im Werk von Sor Juana Inés de la Cruz, einer mexikanischen Repräsentantin des Gongorismus, oder die Auseinandersetzung mit Gewalt, Sexualität und Tod in der Kunst eines Goya eine spezifisch spanische Prägung der grundlegenden Sachfragen von "Sexual Personae" darstellen, auf die Paglia nicht so leicht hätte verzichten sollen. Analoges läßt sich bezüglich des deutschen Kulturraums feststellen. Gern hätte man auf die eine oder andere Gestalt der englischen Romantik oder der amerikanischen Dekadenz verzichten können, um Raum für eine eingehende Behandlung Schopenhauers, Wagners oder Nietzsches im Hinblick auf das       nach-idealistische Verhältnis von Heidentum und Christentum zu schaffen.

 

 

Darüber hinaus ist der Ausschluß der russischen Literatur aus einem Werk, das das 19. Jahrhundert mit nachdrücklicher Intensität behandeln will, kaum nachvollziehbar. Man denke nur an die klassische Wiederaufnahme des alten Themas der casta meretrix bei Dostojewski, um zu ahnen, welchen faszinierenden Komplikationen im Verhältnis von Christentum, Nihilismus und Dekadenz Paglia aus dem Wege gegangen ist. Am gravierendsten ist jedoch die unerklärliche Abwesenheit Søren Kierkegaards, dessen Einsichten in das Verhältnis von Ästhetik und Religion Paglia zu einem tieferen Verständnis und zu einer schärferen Kritik des christlichen Glaubens hätte verhelfen können. In Anbetracht der ehrgeizigen Ansprüche Paglias und gegen ihre stillschweigend vorausgesetzten Auswahlkriterien muß die Selbstverständlichkeit unterstrichen werden, daß das neuzeitliche Abendland sich nicht durch eine fast ausschließliche Begrenzung auf den englischen und französischen Einflußbereich adäquat repräsentieren läßt.

 

 

Paglias zahlreiche Bemerkungen zum Judentum lassen auf eine sachgemäße Wahrnehmung seiner theologischen und weltanschaulichen Grundpositionen schließen. Im Judentum erkennt Paglia "die machtvollste aller Proteste gegen die Natur".[54] Oft hebt sie - trotz gelegentlicher Verwendung des Ausdrucks "jüdisch-christlich" - die wesentlichen Unterschiede hervor, die das Judentum vom dionysisch inspirierten Christentum trennen. Die Tatsache, daß Paglia bei Milton Kessler und Harold Bloom - "weniger Professoren als visionäre Rabbis"[55] - studiert hat, hat sicherlich zu ihrer Ansicht beigetragen, daß der Gelehrte, dessen Aufgabe "ein frommer Kommentar, ein Talmud der erschaffenen Welt ist"[56], die größte aller Berufungen verkörpert. Gerade weil Paglia gelernt hat, daß die Bedeutung des Judentums für die Kulturentwicklung des Abendlandes sich nicht auf die hebräische Bibel reduzieren läßt, ist es um so mehr zu bedauern, daß "Sexual Personae" keinen Versuch unternimmt, einen modernen jüdischen Beitrag zu seinem Thema näher zu analysieren und zu würdigen. Gestalten wie Rahel Varnhagen, Heinrich Heine oder Otto Weininger haben - trotz ihres Übertritts zum Christentum - eine unverkennbar jüdische Perspektive in die abendländischen Formen von Sexualität und Erotik eingebracht, nicht zuletzt deswegen, weil das normative Judentum ihrer Väter anders als die christliche Religion nie den prinzipiellen Verzicht auf gelebte Sexualität als erstrebenswertes Ideal angesehen hat.

 

 

Es braucht kaum betont zu werden, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Judentum in der Moderne Paglias bewußter Option für ein ästhetisches Heidentum mehr Gewicht verliehen hätte. Es ist bezeichnend, daß Paglia selbst auf die denkwürdige Parallelität zwischen der jüdischen Religion und der abendländischen Kunst implizit aufmerksam macht: Während das Judentum als eine epochale Auflehnung gegen die chthonische Natur verstanden wird, erscheint die Kunst selbst als "die wirksamste Waffe gegen das Fließende der Natur".[57] Wenn zumindest von einer gemeinsamen Gegnerschaft ausgegangen werden kann, dann scheint die Thematisierung der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Überwindungsstrategien der Religion des Moses und der des Apollo um so dringender zu sein. Leider hat sich Paglia dieser Herausforderung nicht gestellt.

 

 

Die Massenkultur des 20. Jahrhunderts, deren kulturelle Vorgeschichte der erste Band von "Sexual Personae" erzählt, steht Paglia zufolge im Gegensatz zum angeblich neurotischen Nihilismus der Hochkultur, die sie in Werken wie T. S. Eliots The Waste Land oder Samuel Becketts Waiting for Godot verkörpert sieht. Wenn aber Werke dieses Ranges in Zusammenhang mit "grüblerischen Posen einer als schick geltenden Verzweiflung"[58] gebracht werden oder wenn Becketts kahle Bühne als Ausdruck des "ebenso engstirnigen wie zeitgebundenen intellektuellen Irrtum(s)"[59] der Diskontinuität der Erfahrung und der Sinnlosigkeit der Welt betrachtet werden, dann zeigen sich in aller Deutlichkeit sowohl die Unzulänglichkeiten von Paglias historischem Heidentumsbegriff als auch eine damit verbundene Unschärfe in der für die ganze Theorie grundlegenden Opposition zwischen den auf der Bibel basierenden Religionsformen und dem heidnischen Erbe.

 

 

Wenn man in Erwägung zieht, daß die Wirkungsmächtigkeit der Gnosis bis in das 20. Jahrhundert hinein spätestens seit den einschlägigen Arbeiten von Hans Jonas zum festen Bestandteil religionsgeschichtlicher Analysen der Gegenwart gehört, dann ist unverständlich, daß ein Buch wie "Sexual Personae", das sonst Gelehrsamkeit mit Problembewußtsein in hohem Maße vereint, mit keinem Wort die herausragende Rolle der Gnosis in der abendländischen Geistesgeschichte zu würdigen weiß. Im Unterschied zu den meisten heidnischen Religionsformen, die die Natur bejahten und die konsequente Hingabe an sie forderten, war die Gnosis - vor und neben dem Christentum - wesentlich eine innerheidnische, spekulativ-kritische religiöse Haltung, die die Verwerflichkeit der Natur und ihres Schöpfers im Namen eines "ganz Anderen" denunzierte. Die allmähliche Aufnahme und Tradierung von gnostischem Gedankengut durch Judentum, Christentum und Islam deutet darauf hin, daß der Gegensatz zwischen Heidentum und abrahamitischem Glauben komplexer und nuancenreicher ist, als Paglia glaubt. Gerade in Anbetracht der Bedeutung, die sie der Dekadenz des 19. Jahrhunderts beimißt, ließe sich die tiefe Abneigung gegen Naturüppigkeit und fortpflanzungsorientierte Sexualität eines Charles Baudelaire oder eines Walter Pater sachlich und geschichtlich besser begreifen, wenn die Wirkungsmächtigkeit der heidnischen Gnosis im Christentum und durch es berücksichtigt worden wäre. Es ist durchaus kein Zufall, daß einer der größten Dichter dieses Jahrhunderts, der Portugiese Fernando Pessoa, sich als "poeta decadente"[60] und "cristão gnóstico"[61] verstand. Vielleicht wäre es für Paglia, die zugegebenermaßen eine gewisse Offenheit für das Okkulte hat, nicht ganz ohne Interesse zu wissen, daß pessoa auf portugiesisch Person heißt und daß es in der Literaturgeschichte des Abendlandes keine Gestalt gibt, die das Spiel der Masken mit Pseudonymen und Heteronymen so meisterhaft beherrscht hätte wie Pessoa: nomen est omen.

 

 

Paglia ist eine entschiedene Gegnerin des französischen Strukturalismus und der Dekonstruktion eines Lacan, Foucault oder Derrida. Als Vertreterin der Irreduktibilität der Erfahrung auf Sprache betont Paglia "die westliche Realität"[62] der Persönlichkeit als sichtbare Kondensierung von Sexualität und Psyche außerhalb des Reiches des Wortes. Von daher ist es nur konsequent, wenn sie diagnostiziert: "Der verderblichste der aus Frankreich importierten Gedanken ist die Vorstellung, daß hinter einem Text keine Person[63] stehe."[64] Offensichtlich sieht Paglia die theoretischen Positionen der französischen (Post-)Strukturalisten im geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit dem, was Nietzsche als "europäischen Buddhismus" verwarf. Paglia beanstandet an der französischen "Modephilosophie" vor allem den lebensfernen Formalismus, der die dunkle, chthonische Seite der Natur programmatisch ausblendet und darum die schöpferischen Spannungen einer nach Gestalt drängenden Energie nicht zu begreifen vermag. Obwohl Paglia eine gewisse Konvergenz zwischen den Bestrebungen des Strukturalismus und manchen Grundoptionen des Buddhismus feststellt, ist es beachtenswert, daß sie nichts gegen eine intensivere Rezeption fernöstlicher Religiösität einzuwenden hat. Ausgerechnet im Zusammenhang ihrer Polemik gegen den französischen Strukturalismus schreibt sie: "Wie jämmerlich wirken unsere Derrida-Anhänger, wenn sie in französischen Taschen nach den Krümelchen einer dekonstruktiven Methode schnüffeln, die es im Buddhismus und im Hinduismus - mit ihrem ausgereiften Sinn für das Heilige - doch längst als großes, zusammenhängendes Ganzes gibt."[65]

 

 

Anders als in der durchschauten Strategie der zeitgenössischen Dekonstruktionisten bleibt offensichtlich für Paglia ein bisher unbegriffener Rest in der radikalen Alterität des Fernen Ostens, der den Gang ad fontes wünschenswert, ja notwendig macht. Als jemand, der an der amerikanischen Studentenrevolte aktiv teilgenommen hat, vertritt Paglia die These, daß die Kollision zwischen westlicher und östlicher Religion in den 60er Jahren einer der kreativsten Augenblicke der abendländischen Geschichte war, wie der Gitarrenspieler Jimi Hendrix in hörbarer Form zeigt.[66] So bringt sie ihr diesbezügliches Anliegen auf den Punkt, wenn sie als Ausweg aus der heutigen Bildungssackgasse in Amerika empfiehlt: "mehr Indien und weniger Frankreich".[67]

 

 

Bei der näheren Analyse der Haltung Paglias gegenüber französischer Dekonstruktion und fernöstlicher Religion bleibt jedoch rätselhaft, warum sie ihre diesbezüglichen kritischen Überlegungen nicht zum Anlaß genommen hat, um den problematischen ontologischen Status von persona in ihrem Werk zu klären. Einerseits betont Paglia gegen die Dekonstruktionisten die Realität der für das Verständnis des Werkes unbedingt zu berücksichtigenden Person des Autors und deren Geschichte. Andererseits scheint die persona vor dem Hintergrund der allgemeinen Vergänglichkeit der Natur nur den Status einer immer provisorischen Schein-Wirklichkeit zu haben, deren ontische Densität sich im mehr oder minder willkürlichen Akt der Übernahme austauschbarer Rollen erschöpft. Dieser Aspekt der persona als scheinbar ego-loser "Maske" bringt Paglia in die für ihre eigenen Prämissen gefährliche Nähe der konsequenten Entsubstantialisierung des schöpferischen Subjekts. Paglias Reichtum an geschichtlichen Einsichten und schlagfertigen Formulierungen darf nicht über den grundlegenden Mangel von "Sexual Personae" hinwegtäuschen: die unzureichende philosophische Ausarbeitung seiner fundamentalsten Kategorie.

 

 

Realitätssinn, Negativität

 

 

Paglias insistierende Aufmerksamkeit für die unverfügbare Seite der Natur dient keiner Legitimierung der Faktizität gesellschaftlicher Zustände. Zwar kritisiert sie fortwährend die verklärenden Tendenzen von Messianismen und Humanismen, die eine idealistische Teleologie der Geschichte ohne Berücksichtigung der unaufhebbaren Archäologie der Natur aufstellen wollen. Aber die Einsicht in das, was für Paglia als die von der Natur gesetzten und darum letztlich unüberwindbaren Grenzen des Erreichbaren - zumal im Bereich des Verhältnisses der Geschlechter - gilt, hebt die Notwendigkeit des Emanzipatorischen nicht auf, sondern mahnt an die Rahmenbedingungen seiner Entfaltung. Ihre diesbezügliche Haltung zusammenfassend schreibt Paglia: "Akzeptieren wir unser Leid, ändern wir, was wir ändern können, und lachen wir über das übrige."[68] Was in den Augen vieler ihrer feministischen Kritikerinnen als voreilige und unberechtigte Kapitulation gilt, ist für Paglia selbst eine richtungweisende und unabdingbare Korrektur des männlich dominierten, romantisierenden Idealismus des Westens aus der Sicht einer Repräsentantin weiblichen Realitätssinns, die allerdings mit wirkungsmächtigen Verbündeten rechnen kann: von Spenser, Hobbes und Sade bis hin zu Darwin, Nietzsche und Freud.

 

 

Wenn man Paglias Entwurf als Ganzes betrachtet, ist man unwillkürlich an Freuds Wort über die "Erziehung zur Realität"[69] als Kern der psychoanalytischen Desillusionierung bezüglich der Religion erinnert. Die von Paglia in der Nachfolge Freuds anvisierte Emanzipation verspricht keine prinzipielle Überwindung von Kontingenz und Endlichkeit, sondern plädiert für einen bewußten Umgang mit der Unwiderruflichkeit des Todes, deren luzide Wahrnehmung die menschliche Sinngebung (und nicht die illusorische Sinnfindung) angesichts der Lebenstragik fordert. Daß Paglia keinem pessimistischen Sentimentalismus das Wort redet, wird deutlich, wenn sie im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Strömungen präzisiert: "An die Stelle der Verzweiflung (despair) lasse ich ehrfürchtige Scheu (awe) treten, Unruhe (anxiety) ersetze ich durch Schrecken (terror)."[70] Paglia unterstreicht, daß "die Natur (...) unseren bombastischen Idealen stets den Halt" entzieht.[71] Zugleich betont sie aber, daß "es (...) das göttliche Privileg des Menschen (ist), Ideen größer zu machen als die Natur".[72] In der Konsequenz meint sie, daß die Rehabilitierung des Heidentums die echte menschliche Größe gegenüber der Natur zum Zuge kommen läßt, weil das Heidentum im Gegensatz zum Christentum die schmerzhafte, aber ehrliche Begegnung des Menschen mit der eigenen Endlichkeit ermöglicht. Als einen Protest gegen die illusorische Vergöttlichung des Menschen durch das Christentum und seine neuzeitlichen säkularisierten Transformationen sieht Paglia die Überlegenheit ihres eigenen Entwurfes in seiner realistischen Bescheidenheit. Bei aller Berechtigung der anti-christlichen Desillusionierung läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß Paglias Entwurf zumindest in einem entscheidenden Punkt die Grenzen des apollinischen Ästhetizismus verläßt und das christliche Erbe in Anspruch nimmt: dort nämlich, wo das Neu-Heidentum das emanzipatorische Moment des Messianismus in sich aufnimmt. Der unzureichend reflektierte Umgang mit den eigenen geschichtlich-methodischen Voraussetzungen führt dazu, daß Paglia nicht in der Lage ist, ihr Neu-Heidentum als wesentlich post-christlich zu begreifen.

 

 

Paglia, die die Dekadenz nicht nur beschreibt, sondern in der Gegenwart vertritt[73], versteht sie als "ein Nebeneinander von Primitivismus und Verfeinerung, (als) eine Rückwendung der Geschichte zu ihren eigenen Ursprüngen".[74] Unabhängig davon, ob die dekadente Haltung dem planetarischen Horizont des abendländischen Problembewußtseins am Ende des 20. Jahrhunderts gerecht werden kann, stellt sich die Frage, ob Paglia die ethische Dimension der Dekadenz im vorigen Jahrhundert sachgemäß erfaßt. Eine nähere Analyse der Kapitel über Baudelaire oder Wilde könnte unschwer zeigen, daß sie die diffizile und komplexe Thematisierung der ethischen Problematik bei diesen Autoren weitgehend ignoriert. Bei Baudelaire läßt sich die persona des Dandys auf den Voyeur einer sadistischen Natur darum nicht reduzieren, weil seine persona in eminenter Weise die Komplexitäten der post-christlichen, atheistischen Problematik verkörpert: wie man "un Saint pour soi-même"[75] werden kann. Wenn Paglia über die angebliche Grausamkeit Oscar Wildes und seinen Immoralismus einseitig berichtet, übersieht sie die gegenteilige Evidenz der Poesie und der Prosadichtung, die sie ohne einsehbare Gründe als "schwach und inkonsequent"[76] disqualifiziert. Dieser Teil seines Œuvres zeigt deutlich, daß Themen wie Leid und Mitleid von Anfang an im Mittelpunkt seines Schaffens stehen, und invalidiert Paglias gänzlich verfehlte Ansicht, daß De Profundis "einen der ungewöhnlichsten Widerrufe in der Kunstgeschichte"[77] enthält.

 

 

Oft sieht es so aus, als ob Paglia so sehr von den kirchlichen Kriterien für Moral und Immoralismus ausgegangen wäre, daß sie den ethischen Anspruch und den emanzipatorischen Impuls der gezielten Transgressionen der Dekadenten nicht mehr erkennt. Nur oberflächlich kann der Dekadentismus Baudelaires oder Wildes als ein ausschließliches, selbstgenügsames Beharren auf den angeblichen Wonnen des schlechten Gewissens interpretiert werden. Die großen Dekadenten waren sich vielmehr bewußt, daß der unleugbare Reiz im Risiko ihrer "sündhaften" Transgressionen mit der Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns verbunden war. In der ek-zentrischen Optik der verworfenen biblischen Schlange findet der Dekadente einen Standpunkt, der die heile Welt (besser: die Heilswelt) als ihr eigenes Gegenteil desavouiert. Anders als Paglia, die sich eine allzu leichte Rehabilitierung des Heidentums durch die unreflektierte Substraktion des christlichen Erbes verspricht, ließen sich die Dekadenten - wie früher die Junghegelianer - auf eine Auseinandersetzung mit dem Christentum ein, in der Absicht, das problematische Erbe unter Rekurs auf historisch-philosophische Interpretation und Kritik zu transformieren und so zu überwinden.

 

 

Weil Paglia das Christentum weniger begreifen als abstreifen will, kann sie nicht der Tatsache Rechnung tragen, daß die Verwirklichung der Einheit des Abendlandes, die Paglia mit Entschiedenheit vertritt, ohne den missionarischen Impuls des christlichen Monotheismus undenkbar wäre. Bei aller notwendigen Kritik an der imperialistischen Ideologie des extra ecclesiam nulla salus darf nicht übersehen werden, daß die eschatologische Botschaft des Christentums entscheidend dazu beitrug, die universellen Maßstäbe zur kritischen Beurteilung einer einheitlichen Weltgeschichte aufzustellen, welche bis heute nicht nur von den Vertretern radikaler Emanzipation als Befreiungsgeschichte verstanden wird.

 

 

Im Zusammenhang von Paglias weitgehend undialektischer Auffassung der Opposition von heidnischem und biblischem Erbe steht die Ungeschichtlichkeit ihres Naturverständnisses. Dies kommt vor allem dort zum Zuge, wo Paglia mit dem Gegensatz Mann/Frau operiert, als ob es sich um eine unhinterfragbare, vollständige Disjunktion handeln würde. Gerade in Anbetracht des Titels und des Themas des Buches wäre zu erwarten gewesen, daß eine grundlegende Kritik an den Ansprüchen von Grammatik und gesellschaftlichem Konsens dazu führen würde, von der reell unerschöpflichen Polymorphie des Geschlechtlichen konsequent auszugehen. Wäre Paglia mit ihrem Natur-Begriff kritischer umgegangen, so bräuchte sie nicht den Entfaltungshorizont der sexuellen Metathesen auf das Imaginäre zu beschränken, in einer Zeit, in der Genetik, Psychologie und medizinische Technik eine reale Distinktion zwischen den Geschlechtern immer problematischer machen. Gegen Paglias ontologische Fixierung auf die vermeintliche Natürlichkeit eines binomen Sexualunterschieds muß die prinzipiell irreduktible Differenz eines jeden sexuierten Individuums geltend gemacht werden. Paglias apollinisches Heidentum, das die Vorzüge der Vergeschichtlichung als Waffe gegen Ontologisierungen nicht zu kennen scheint, ist aus eigener Kraft nicht in der Lage zu begreifen, daß die Natur der Sexualität eine sie bestimmende Geschichte hat. Erst der offene Ausgang dieser Geschichte rechtfertigt die Bemühungen um eine konkrete Verwirklichung des bisher nur Erträumten. Die sexuellen Personae der Kunst sind imaginierte Prolepsen einer möglichen Befreiung.

 

 

In einer bemerkenswerten Passage von "Sexual Personae" heißt es: "Große Literatur und Kunst ist niemals affirmativ. Oder vielmehr: Die Affirmation ist immer ein Abweichen vom Negativen."[78] Diese wesentliche Einsicht in das Verhältnis von Negativität und Kreativität bleibt jedoch ohne ersichtliche Konsequenzen in Paglias Gesamtkonzeption, in der die Macht des faktisch Existenten immer die Oberhand zu gewinnen scheint, vermutlich deswegen, weil sie sich als Vertreterin der ästhetischen Absolutheit des Äußeren versteht. Zwar fungiert das Heidentum als kritische Instanz gegenüber dem Christentum, aber Paglia scheint über kein theoretisches Instrumentarium zu verfügen, das eine grundlegende Kritik des Heidentums selbst als existenter und darum kritikwürdiger Größe ermöglichen würde. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß für Paglia das Judentum die einzige relevante Kulturgröße des Abendlandes zu sein scheint, die gegenüber den Verlockungen des heidnischen Ästhetizismus einigermaßen resistent geblieben ist. Offensichtlich spürt Paglia die kritische Kraft der Negativität, die sich hinter dem verbirgt, was sie weniger sachlich als polemisch "Wort-Fetischismus" nennt. Aber kein ernsthafter Versuch wird unternommen, um die universelle Bedeutung dieser Negativität zu ergründen. Eindeutig entscheidet sich Paglia für den Primat der "konstruktiven" Sichtbarkeit und gegen den Vorrang der "auflösenden" Kritik. Aber keine Reflexion rechtfertigt diese Option.    

 

 

Die weitreichendste Konsequenz aus Paglias unzureichender Bereitschaft zur kritischen Überprüfung ihrer Grundprämissen ist darin zu sehen, daß sie die komplexe Problematik der Differenz in der Konstitution und Verwirklichung der persona zumal in Verbindung mit den Aufgaben sexueller Emanzipation übersieht. Paglia findet keinen Zugang zu dem Gedanken, daß die Person als Ort der eigenen Differenz zu all ihren Masken zu verstehen ist, wenn die Unmenschlichkeit entlarvt werden soll, die in der Subsumtion der Person unter einen Be-griff besteht. Weil Begriffe im Grunde nur Bilder sind, ist die Person immer mehr und anders als ihre Masken. Von daher darf sich die sexuelle Emanzipation nicht im bloßen Kampf um die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter "Masken der Sexualität" erschöpfen. Nur eine Befreiung, die das negative Moment der Differenz in der Person anvisiert und so den Freiheitsraum für das phantasievolle Spiel mit ihren angenommenen Masken offenläßt, verdient ihren Namen. Insofern, als Paglia auch für diese Dimensionen der Emanzipation eintritt, sind die Wurzeln ihrer Bemühungen woanders zu finden als im Tempel des Apollo, dessen angebliche Machterweise sie so enthusiastisch zelebriert.

 

 

 


Anmerkungen und Literatur

 

[1]  Paglia, Camille: Sexual personae. Art and decadence from Nefertiti to Emily Dickinson. London, New Haven: Yale University Press 1990 (XVI, 719 Seiten)

 

 

[2]  Paglia, Camille: Die Masken der Sexualität. Aus dem Amerikanischen von Margit Bergner, Ulrich Enderwitz und Monika Noll. Berlin: Byblos Verlag 1992 (855 Seiten). Die im folgenden verwendete Abkürzung für dieses Werk lautet: SP.

 

[3]  Paglia, Camille: Sex, art, and American culture. Essays. London: Viking 1992 (XIV, 337 Seiten) (US-amerikanische Originalausg. New York 1992). Deutsche Übertragung:   Der Krieg der Geschlechter. Sex, Kunst und Medienkultur. Aus dem Amerikanischen von Margit Bergner, Ulrich Enderwitz und Monika Noll. Berlin: Byblos Verlag 1992 (332 Seiten). Die im folgenden verwendete Abkürzung für dieses Werk lautet: SAAC. Der Modus des Zitierens aus diesem Buch entspricht dem oben schon mit Bezug auf "SP" Gesagten.

 

[4]  Siehe Materialiensammlung am Ende von SAAC

 

[5]  SAAC, S. 132

 

[6]  Ebd., S. 49

 

[7]  Vgl. ebd., S. 55

 

[8]  Vgl. SP, S. 9

 

[9]  Vgl. ebd.

 

[10]  Vgl. ebd., S. 278

 

[11] In der englischen Originalausgabe S. XIII.  Dieser einfache englische Satz wird auf deutsch wiedergegeben mit:  "Mir ist es wichtig, immer wieder Aha-Erlebnisse zu provozieren."  (SP, S. 10).  Bei dieser eher kommentierenden Form der Übersetzung, die repräsentativ für die ganze deutsche Ausgabe ist, gehen die charakteristische Prägnanz und Schärfe des Pagliaschen Stils oft verloren.

 

[12] Vgl. die Formulierung: "And my mission is to be absolutely as painful as possible in every situation." In: "The M.I.T. Lecture: Crisis in the American Universities", SAAC, S. 250.

 

[13]  Vgl. SAAC, S. 119

 

[14]  Ebd., S. 115

 

[15]  Vgl. ebd., S. 115f.

 

[16] Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. München 1976, Bd. III, S. 44. Faust zieht in Erwägung auch "Sinn" und "Kraft".

 

[17]  SP, S. 14

 

[18]  Ebd., S. 30

 

[19] Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Werke. Bd. 2. München 1955, S. 693, Aphorismus 229. Zitiert von Paglia: SP, S. 47

 

[20] SP, S. 12

 

[21]  Ebd., S. 58

 

[22]  Ebd., S. 24

 

[23]  Ebd., S. 597

 

[24]  Vgl. ebd., S. 83

 

[25]  Ebd., S. 86

 

[26]  Vgl. ebd., S. 178

 

[27]  Vgl., ebd., S. 218

 

[28]  Ebd., S. 33

 

[29]  Ebd., S. 49

 

[30]  Vgl. ebd., S. 26

 

[31]  Vgl. ebd., S. 127-129

 

[32]  Vgl. ebd., S. 127

 

[33]  Vgl. SAAC, S. 110f.

 

[34]  Vgl. SP, S. 16

 

[35]  Vgl. ebd., S. 60f.

 

[36]  Ebd., S. 55

 

[37]  Ebd., S. 175

 

[38]  Ebd., S. 369

 

[39]  Ebd., S. 292

 

[40]  Ebd., S. 23

 

[41]  Ebd., S. 33

 

[42]  Ebd., S. 57

 

[43]  Vgl. ebd., S. 791

 

[44]  Vgl. ebd., S. 34

 

[45]  Ebd., S. 307

 

[46]  Ebd., S.  355

 

[47]  Ebd., S. 162

 

[48]  Ebd., S. 36

 

[49]  Ebd., S. 44

 

[50]  Ebd., S. 693

 

[51]  Vgl. ebd., S. 813

 

[52]  Vgl. ebd., S. 43

 

[53]  Vgl. ebd., S. 152

 

[54]  Ebd., S. 20

 

[55]  SAAC, S. 129

 

[56]  Ebd.

 

[57]  SP, S. 45

 

[58]  SAAC, S. 113

 

[59]  SAAC, S. 126

 

[60] Obra em Prosa de Fernando Pessoa: Páginas sobre literatura e estética. Organização, introdução, notas e biobibliografia básica actualizada de Antonio Quadros. Mem Martins, Portugal, 1986, S. 97

 

[61]  Ebd., S. 208

 

[62]  SP, S. 52

 

[63] Unzulässig interpretierend wird an der Stelle "person" mit "Subjekt" in der deutschen Übersetzung des Werkes wiedergegeben.

 

[64]  SP, S. 52

 

[65]  SAAC, S. 220

 

[66]  Vgl. ebd., S. 296

 

[67]  Ebd., S. 296

 

[68]  SP, S. 59

 

[69] Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion. In: Studienausgabe. Frankfurt am Main 1974, Bd. IX, S. 182

 

[70]  SAAC, S. 131

 

[71]  SP, S. 18

 

[72]  Ebd., S. 151

 

[73]  Vgl. ebd., S. 624

 

[74]  Ebd., S. 177

 

[75] Baudelaire, Charles: Œuvres complètes I. Texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois. Paris 1975, S. 691 und auch 695

 

[76]  SP, S. 693

 

[77]  Ebd., S. 689

 

[78]  Ebd., S. 472