J. Edgar Bauer

Die Enthüllung sexueller Wahrheit
im Werk von Robert Mapplethorpe

Buchbesprechung zu: Mapplethorpe – Die große Monographie.

Ursprünglich erschienen in: Bauer, J. Edgar:  Die Enthüllung sexueller Wahrheit im Werk von Robert Mapplethorpe.  Buchbesprechung zu:  Mapplethorpe – Die große Monographie.  Mit einem Essay von Arthur C. Danto.  Herausgegeben und gestaltet von Mark Holborn und Dimitri Levas.  Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius.  München 1992.  In:  Zeitschrift für Sexualforschung  6,3, September 1993, S. 251-256. Hier verfügbar gemacht mit Genehmigung des Georg Thieme Verlags, Stuttgart, Deutschland.
- Revidierte Fassung -

Zum ersten Mal werden in einem Band die wichtigsten Facetten des photographischen Lebenswerkes von Robert Mapplethorpe umfangreich dokumentiert. Wie kaum ein anderer in der abendländischen Kunstgeschichte hat Mapplethorpe die Frage der menschlichen Sexualität und Erotik zum Mittelpunkt seiner radikalen künstlerischen Reflexion gemacht. Neben den ausnahmslos schwarzweißen Photographien und einem Essay von Arthur C. Danto bietet der Band eine Lebenschronologie des Künstlers, eine Liste seiner Einzel- und Gruppenausstellungen sowie einen umfassenden bibliographischen Teil. Außer einer Liste der Kataloge, Projekte und Bücher des Künstlers enthält dieser Teil sowohl eine umfangreiche Bibliographie der Werke über Mapplethorpe (einschließlich Filmographie) als auch eine bibliographische Dokumentation zur Kontroverse um die posthume Ausstellung "The Perfect Moment", welche 1988 vom Institute of Contemporary Art der University of Pennsylvania organisiert wurde.

Im wesentlichen stellt der Band eine erste Bilanz eines gewichtigen Teiles der gesamten künstlerischen Produktion des 1989 im Alter von 42 Jahren an AIDS verstorbenen Photographen dar. Aber der Band ist keineswegs, wie im Schutzumschlag behauptet, "die endgültige große Monographie, die dem Gesamtwerk von Robert Mapplethorpe gewidmet ist – eine repräsentative Auswahl von 260 Photographien, die erstmals alle Aspekte von Mapplethorpes Œuvre umfaßt". In seiner Editorischen Notiz verweist Mark Holborn ausdrücklich darauf, daß die getroffene Auswahl sich ausschließlich auf die Photographien bezieht, und stellt darum in Aussicht, daß ein eventueller weiterer Band die Assemblagen und Unikate mit elaborierter Rahmengestaltung aufnehmen könnte (vgl. S. 377). Da die Auswahl einen Korpus berücksichtigt, der keineswegs deckungsgleich mit Mapplethorpes Gesamtwerk ist, erscheint der verlegerische Anspruch auf Endgültigkeit der präsentierten Auswahl äußerst fraglich. Darüber hinaus wird jeder mit dem photographischen Werk Mapplethorpes Vertraute sehr bald einige wichtige Bilder im Band vermissen, ohne welche ein einigermaßen sachlich begründetes Gesamtbild seiner photographischen Kunst kaum vermittelbar zu sein scheint. So fehlt im Band bedauerlicherweise das in den gedruckten Medien vielfach wiedergegebene Bild Susan Sontag, 1984 (vgl. Celant 1992: 75), dessen kunsthistorische Relevanz nicht zuletzt darauf beruht, daß Sontag (1985) in einem der feinsinnigsten Essays über Mapplethorpe ihre Impressionen während der Aufnahmesitzungen schildert und zugleich eine richtungsweisende kunstkritische Reflexion über den Arbeitsmodus des Photographen aus erster Hand bietet. In den Band auch nicht aufgenommen wurde die umstrittene Photographie Rosie (vgl. Mapplethorpe 1991b: 23), auf die Danto in seinem Essay im Zusammenhang mit der diffizilen Problematik der Kinderpornographie eingeht. Das könnte auf verlegerische bzw. editorische Selbstzensur zurückgehen. Aber gerade auf diese Photos kann bei der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Kunst und gesellschaftlicher Provokation in Mapplethorpes Werk nicht verzichtet werden.

Was die Auswahl der Aufnahmen von schwarzen Männern betrifft, ist besonders zu bedauern, daß das Bild Marty Gibson, 1982 (vgl. Celant 1992: 69) im Band fehlt, obwohl kaum ein anderes Bild Mapplethorpes Ästhetik der männlichen Genitalität eindrucksvoller zeigt. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß der ganze Bereich der farbigen Photographien von Blumen und natures mortes (vgl. Mapplethorpe 1991b: 89 und 93; 1983) von vornherein unberücksichtigt bleiben mußte, weil – wie schon erwähnt – der Band ausschließlich Schwarzweißbilder enthält. Angesichts der an sich berechtigten Konzentration auf das photographische Werk und der ungerechtfertigten Omission relevanter Bilder stellt sich die Frage, warum die Qualifizierung des im Band tatsächlich Dargebotenen nicht etwas bescheidener ausgefallen ist.

Als thematische Ouvertüre des Bandes werden fünf Photographien dem Bildteil vorangestellt, die nach Auskunft des Herausgebers Mapplethorpes bevorzugte Themen "Amerika", "Katholizismus", "Sexualität", "Gewalt" und "Tod" symbolhaft ankündigen sollen. Die nach diesen "Eröffnungspassagen" (S. 377) gezeigten Bilder werden zwei Hauptgruppen zugeordnet: Polaroids 1972-1975 und Photographien 1972-1989. Die letzteren, die den Schwerpunkt des Bandes bilden, werden in einer losen chronologischen Abfolge unter Berücksichtigung inhaltlicher Kriterien präsentiert.

Von den möglichen thematischen Gruppierungen sind zunächst die Portraits der vorwiegend amerikanischen Zelebritäten und die durch ihre formal-kompositorische Stringenz charakterisierten Blumenphotos sowie die von Mapplethorpe bis kurz vor seinem Tod aufgenommenen Selbstbildnisse besonders hervorzuheben. Auch wenn diese drei Kategorien von Bildern je verschiedene Dimensionen des photographischen Universums Mapplethorpes in eigentümlicher Weise erschließen, hätten sie weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit seine überwältigende Rezeptions- und Wirkungsgeschichte begründen können. Mapplethorpes Bekanntheitsgrad im zeitgenössischen Bewußtsein ist vielmehr mit den Aufnahmen von homosexuellen S/M-Szenen und seinen Aktstudien von schwarzen Männern verbunden. In diesen wurden die intrinsischen Möglichkeiten seines photographischen Blickes am weitesten verwirklicht. Gerade sie sind dazu geeignet, die anderen Bereiche des Werkes rückwirkend bzw. vorgreifend in einer unvermutet tieferen und komplexeren Dimension erscheinen zu lassen. Erst vor dem Hintergrund der Bilder, die die erotische Polyvalenz und Vielschichtigkeit des menschlichen Körpers bis in die Genitalität hinein ergründen, können die späten, meditativ anmutenden Photographien marmorner oder in Bronze gegossener Darstellungen von männlichen Akten ihre volle Aussagekraft entfalten.

In Anbetracht der Tiefe und des Reichtums eines solchen Lebenswerkes und der zu erwartenden Komplikationen seiner Rezeption erscheint der von Mark Holborn in der Editorischen Notiz erhobene Anspruch, daß die Grundidee dieses Auswahlwerkes von Mapplethorpes eigenen künstlerischen Intentionen geleitet wurde, äußerst fraglich. Eine solche (im Grunde illusorische) Prätention kann nur aufrechterhalten werden, solange der prinzipiell unbestreitbare Sachverhalt der hermeneutischen Differenz zwischen einem Künstler und denjenigen, die sich mit seinem Werk befassen, trivialisiert bzw. ausgeblendet wird. Holborn behauptet sogar: "Die Regeln, nach denen dieses Buch gemacht ist, sind Mapplethorpes Regeln. Das ist seine Welt, als hätte er sie mit eigenen Augen gesehen" (S. 377). Wenn es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß Mapplethorpe selbst den Band geplant oder konzipiert hat, bleibt rätselhaft, welche theoretisch stichhaltige Gründe der Herausgeber anführen könnte, um die Identifizierung der Richtlinien seiner eigenen editorischen Arbeit mit der Weltsicht des Künstlers zu rechtfertigen. Auf jeden Fall ist die nachträgliche Sanktionierung von Entscheidungen und Optionen des Herausgebers durch den Rekurs auf die Autorität des verstorbenen Künstlers schon deswegen abzulehnen, weil sie im Endeffekt dazu dient, die fragliche Ansicht des Verlegers, "die endgültige große Monographie" Mapplethorpes geliefert zu haben, zu untermauern.

Zu den unerfreulichen Folgen der These einer Horizontenverschmelzung gehört auch das signifikante Detail der eingeschobenen roten Seiten, die die "Bildteile mit sadomasochistischen und ausgesprochen sexuellen Inhalten" (S. 377) markieren sollen. Holborn beruft sich in diesem Zusammenhang auf Mapplethorpes in rotes Leder gebundene Edition von Rimbauds "Une saison en enfer" und meint, daß "eine gefährliche Farbe (...) bei einem angemessenen Rückblick auf einen Künstler wie Mapplethorpe (...) nicht fehlen" sollte (S. 377). Es braucht kaum betont zu werden, daß derlei überflüssige Zeichen von Pietät dazu verleiten, die "Gefährlichkeit" Mapplethorpes auf das explizit Pornographische zu reduzieren. Dabei wird übersehen, daß das eigentlich kritische und darum "gefährliche" Potential des Photographen vielmehr darin liegt, daß er sein Zeitalter lehren konnte, in der ungewöhnlichen Schönheit seiner Blumen eine botanische Entsprechung zu der erstmalig von ihm selbst gezeigten schwierigen Schönheit menschlicher Genitalien wahrzunehmen.

Eine wertvolle sachliche Ergänzung zum Bildteil des Bandes ist der Essay des New Yorker Philosophen und Kunstkritikers Arthur C. Danto. Schon der Titel "Auf Messers Schneide. Das photographische Werk von Robert Mapplethorpe" (im Original: "Playing with the edge. The photographic achievement of Robert Mapplethorpe") ist als ein Hinweis auf die scharfe Konturiertheit der Formen, in denen Mapplethorpes starker künstlerischer Wille sich ausdrückt, sowie auf die Bedrohung, die diese wesentlich gefährliche Kunst impliziert, zu verstehen. Der Essay thematisiert mit kritischer Sympathie vornehmlich, wie das Verhältnis der Kunst Mapplethorpes zum Eros als ihrem bevorzugten Thema vor dem Hintergrund der durch diese Kunst provozierten gesellschaftlichen Wirklichkeit sich gestaltet. Für Danto ist Mapplethorpe eine "allegorische Gestalt seiner Zeit" (S. 335), dessen Verdienst es war, "einige der schockierendsten – und gefährlichsten – Bilder der modernen Photographie oder sogar der Kunstgeschichte" (S. 317) geschaffen zu haben, wobei die Tatsache, daß Pornographie eine zentrale Rolle in seinem Werk spielt, "ihn auf besondere Weise zu einem, möglicherweise zu dem Künstler seiner Zeit"(S. 326) macht.

Im Zusammenhang seiner Überlegungen über die Unverwechselbarkeit der Kunst Mapplethorpes unterstreicht Danto wiederholt, daß er im Leben sowie in der Kunst nie ein Voyeur, sondern immer ein "teilnehmender Beobachter" war. Dazu zitiert Danto Mapplethorpes diesbezügliche Stellungnahme in einem berühmten Interview: "Ich glaube, alle Photographen sind mehr oder weniger Voyeure. Aber ich mag keine Voyeure, Menschen, die Erfahrung nicht selbst machen, die das Leben von außen betrachten" (S. 327). Es ist ein Hauptanliegen Dantos zu zeigen, daß Mapplethorpe immer "denselben moralischen Raum" (S. 316) mit seinen Objekten teilt. Da er niemals außerhalb der menschlichen Wirklichkeit des photographischen Vorgangs stand, kommt die Verbindung des Formalismus seiner Bilder mit den photographierten Menschen nur unter der Voraussetzung eines moralischen Verhältnisses zustande, das Mapplethorpe selbst als Vertrauen kennzeichnete.

Es gehört zu den Vorzügen von Dantos Essay, daß er mit feinem Gefühl das künstlerische Ethos Mapplethorpes im Zusammenhang mit der absoluten Aufrichtigkeit seiner persönlichen Suche (vgl. S. 321) herausarbeitet, um erst vor diesem Hintergrund das Problem anzugehen, warum im Falle Mapplethorpes pornographische Bilder den Status von hoher Kunst erlangen konnten. Gerade im Hinblick auf die spürbare Reserviertheit Dantos bezüglich der moralischen Bewertung mancher Bilder pornographischen Inhalts sind seine Überlegungen, inwiefern das moralische Element des Vertrauens den Stil und Inhalt dieser exponierten und exponierenden Kunst ermöglichte, sehr überzeugend. Dieser Aspekt kommt besonders deutlich zum Ausdruck in Dantos Hinweis darauf, daß es in der bildenden Kunst genug nackte Hintern von Männern und ganze Bataillone nackter Frauen gibt, daß aber nur relativ selten ein Anus oder eine Vagina gezeigt wird wie bei Mapplethorpe (vgl. S. 322). Danto verweist darauf, daß man die Vagina oder den Anus nur bei einer Körperhaltung sehen kann, die darauf abzielt, sie zu zeigen: Die Beine müssen gespreizt oder die Hinterbacken müssen auseinandergezogen werden. Im Unterschied zur bloßen Pornographie sind Mapplethorpes Aufnahmen erotisch geladener Situationen riskante und behutsame Enthüllungen sexueller Wahrheit, in denen das Vertrauensverhältnis, zu dem der Photograph seine Modelle einlud, den Grund bildet, auf dem der hohe Anspruch seiner Kunst basiert. Dantos argumentative Linie weiterführend könnte man sagen, daß die Insistenz Mapplethorpes auf Sexualität und Erotik nur oberflächlich an de Sades Besessenheit mit den ständig variierenden Positionen koitierender Körper erinnert. Insofern nämlich, als Mapplethorpes künstlerische Explorationen Nuancen der Sexualität zeigen, die keiner noch so subtilen Machtausübung eines das Geschehen souverän dirigierenden Libertins erschließbar sind, ist Mapplethorpe der Anti-Sade par excellence.

Danto sieht im Hegelschen Begriff der Aufhebung ein brauchbares Konzept für die Beurteilung der Sexualität in Mapplethorpes Bildern. Dieser Begriff nimmt in seiner dreifachen Bedeutung als Negieren, Bewahren und Transzendieren eine zentrale Rolle in Dantos Analysen ein (vgl. S. 328ff.). Entscheidend ist für ihn, daß der pornographische Inhalt eines Bildes auf jeden Fall bewahrt werden muß, wenn dieser mit Bezug auf das künstlerische Ergebnis des photographischen Geschehens zu einem Aufheben kommt, d. h., wenn die photographierte "Materie" aufgrund ihrer ästhetischen Bearbeitung transzendiert wird. Da die Ästhetisierung des Gegenstandes als Transzendieren nicht zum Anlaß dafür genommen werden darf, daß die in einem pornographischen Bild zum Ausdruck kommende sexuelle Wahrheit verdrängt wird, muß dem schockierenden Effekt des Bildes auf den Betrachter Rechnung getragen werden. Im Unterschied zur moralisierenden Verurteilung pornographischer Kunstwerke, die diese auf ihren Inhalt reduziert und darum ihre spezifische Schönheit verkennt, muß eine sachgemäße Annäherung an die erotischen Bilder Mapplethorpes offen dafür sein, die Gleichzeitigkeit von inhaltlicher Pornographie und formeller Schönheit anzuerkennen.

Diese Einsicht wird aber durch den Sachverhalt erschwert, daß Schönheit bei Mapplethorpe mit Genuß deswegen wenig zu tun hat, weil ihre eigentümliche Mischung aus Eleganz und Bedrohung aufs engste mit den geschilderten Formen gefährlicher Sexualität korreliert. Da das Bewahren aber nur ein dialektisches Moment im Aufhebungsprozeß ist, der im ästhetischen Transzendieren kulminiert, muß sich Danto mit der entscheidenden Frage auseinandersetzen, wie dieses Transzendieren bei Mapplethorpe am Werke ist. In diesem Teil seiner Argumentation bezieht Danto von vornherein und ganz im Sinne von Hegel die Struktur der Kunst und die Struktur der Christologie eng aufeinander (vgl. S. 329f.). Damit soll vermutlich deutlich gemacht werden, daß das theoretische Instrumentarium des Kritikers in einer gewissen Affinität mit dem Werk des Künstlers steht, dessen katholischer Hintergrund eigens thematisiert wird (vgl. S. 333).

Danto führt das Gefühl der Transzendenz, das ein so charakteristisches Bild wie Jim und Tom, Sausalito, 1977 angeblich vermittelt, auf den Katholizismus der früheren Jahre von Mapplethorpe zurück. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, daß Mapplethorpes Sinn für Symmetrie und seine Neigung, Dinge im Raum so anzuordnen, als errichte er Altäre, von der Kritik mehrfach im Zusammenhang mit der katholischen Erziehung des später Nichtgläubigen gesehen wurden. Daß durch den Rekurs auf diesen Abschnitt der Biographie manche relevante Aspekte der Kunst Mapplethorpes erklärt werden können, bedeutet aber längst nicht, daß damit seine wesentlichen Intentionen und Intuitionen begriffen werden, wie Danto offensichtlich meint. In ihrem dezidierten Hegelianismus übersehen Dantos Analysen, daß die "transzendente" Schönheit der Bilder Mapplethorpes – trotz der Auswirkungen einer katholischen Komponente – letztendlich eine entschiedene Bekräftigung der sexuellen Körperlichkeit des Menschen und der damit verbundenen unaufhebbaren Endlichkeit seiner Bestimmung beabsichtigen. Die Überschätzung des katholischen Einflusses und die Verkennung anderer religiöser Inspirationsquellen bei Mapplethorpe hat Danto dazu geführt, Mapplethorpes kritische "Kraft der Negativität" – um bei der Hegelschen Terminologie zu bleiben – nur unzureichend zu würdigen. Dadurch bleibt auch die im Medium dieser Kunst vollzogene grundlegende Umgestaltung der tradierten Transzendenzvorstellung unbegriffen. Der pornographische Inhalt und die strenge Formgestaltung bei Mapplethorpe unterstreichen in der Konsequenz die Notwendigkeit von kritischen Transgressionen gegen den herkömmlichen, transzendent bzw. teleologisch fundierten Kodex sexuellen Verhaltens. Die von Danto als "Transzendenz" angesprochene Schönheit der Bilder Mapplethorpes steht in Wahrheit im Dienste der Wiedererlangung der im Verlauf der christlich-abendländischen Geschichte abhanden gekommenen Erfahrung der radikalen Diesseitigkeit des Menschen, deren Signatur in der auf Endlichkeit angelegten Struktur der Begierde nach erotischer Schönheit abzulesen ist.

Die methodischen und sachlichen Grenzen der Analysen Dantos zeigen sich deutlich vor allem dort, wo die intrinsische Relevanz für Mapplethorpes Kunst von Themen wie Magie, Satanismus oder Sexualität in sakrilegischem Kontext außer acht gelassen werden. Zwar wird im Essay zur Kenntnis genommen, daß Teufel und Totenschädel eine wichtige Rolle in Mapplethorpes persönlicher Ikonographie spielen (vgl. S. 320), aber leider werden diese und ähnliche Feststellungen nicht zum Anlaß genommen, eine befriedigende theoretische Durchdringung des Sachverhalts zu versuchen. Wie die Chronologie des Bandes zu berichten weiß, hat Mapplethorpe seit 1968 Themen und Motive aus der Schwarzen Magie verwendet. Daß dieser Themenkreis seine Wichtigkeit behielt, wird u.a. durch Mapplethorpes Selbstportrait mit Hörnern (1985) oder den Aufnahmen des Italienischen Teufels (1988) gezeigt. Es ist zu bedauern, daß der Essay auf die intellektuellen und unorthodox-religiösen Impulse nicht eingeht, die zur grundlegenden Transformation der Weltsicht des katholisch erzogenen Mapplethorpe beitrugen und so die Gestaltung der "satanischen" Seite seiner Kunst prägten.

Sachlich wichtig wäre die Klärung des Verhältnisses zu dem Satanismus Baudelaires, dessen "Fleurs du mal" Mapplethorpe oft photographisch zu kommentieren scheint. Wenn man zur Kenntnis nimmt, wie sehr Mapplethorpe die Dichtung Rimbauds und die surrealistische Kunst schätzte, ist es unerläßlich, der Frage nachzugehen, inwiefern die Magie-Auffassung von Symbolismus und Surrealismus sich auf Mapplethorpe auswirkte. Schließlich könnte die Klärung der Frage faszinierende Perspektiven eröffnen, ob die Schriften von Aleister Crowley, der der Hauptrepräsentant einer magischen Weltanschauung in diesem Jahrhundert war und der mit Sicherheit die enge Freundin des Künstlers, die Popsängerin Patti Smith1 beeinflußte, das Werk Mapplethorpes prägten.

Wenn – unabhängig von der geistesgeschichtlichen Bestimmung der einzelnen Quellen – die Präsenz des wie auch immer zu qualifizierenden Magisch-Satanischen im Werk Mapplethorpes nicht zu bestreiten ist, dann erscheinen sowohl die Gewichtung des katholischen Hintergrundes Mapplethorpes als auch die Frage der Eignung des Transzendenzbegriffes zur Erfassung der Grundstrukturen seiner Kunst in einem neuen Licht. Das "okkulte" Moment bei Mapplethorpe setzt sein Werk in sachliche Nähe zu Heinrich Heines These über die Wiederkunft der griechischen Götter in Gestalt teuflischer Wesen als Protest der Sinnlichkeit gegen die vom Christentum vorgenommene Vergeistigung. Denn auch die an der griechischen Antike orientierte, auf das kritische Potential des "Leibhaftigen" rekurrierende und zuweilen gotteslästerliche Kunst Mapplethorpes ist Ausdruck eines Protestes gegen die christliche Transzendenzvorstellung, auf die die epochale Verdrängung der Sinnlichkeit und Sexualität zurückgeht. Wenn man Mapplethorpes Aussage, daß ihm nur der Sex heilig war (vgl. S. 321), in Verbindung mit den Grundtendenzen seiner Kunst versteht, dann scheint die idealistische Aufhebung mit ihrer Kulmination im Transzendieren kein geeignetes begriffliches Instrumentarium zur Erschließung seiner Kunst zu sein. Brauchbar erscheint eher der Begriff der kritischen Transgression als geschichtlich notwendig gewordener Umweg zur Erlangung der leiblichen "Zis-zendenz".

Es ist bezeichnend, daß Mapplethorpes Photographien mehrfach in Ausstellungen präsentiert wurden, die der Frage der Religion bzw. des Heiligen in der zeitgenössischen Kunst gewidmet waren. In Anbetracht der christlichen und nachchristlichen Verdrängungsgeschichte der Sexualität kann nicht überraschen, daß bei Mapplethorpe das Thema der Profanation von Anfang an zum Bestandteil seiner künstlerisch gestalteten Transgressionen gehörte2. Die radikale Immanenz, auf die solche Transgressionen letztendlich verweisen wollen, ist im geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit Max Stirners Konstatierung des Endes des Heiligen (Stirner 1981: 202), mit Charles Baudelaires Aufruf zur Entthronung des sadistisch anmutenden Gottes3 sowie mit Friedrich Nietzsches Proklamation von Gottes Tod zu sehen, und zwar insofern, als all diese Metaphern im Abendland den Weg für eine Religiosität ohne platonische Transzendenz und ohne biblischen Gott vorbereiteten.

Wenn man Mapplethorpes grundlegende Intentionen in Verbindung mit dieser emanzipatorischen Strömung der Geistesgeschichte versteht, dann gewinnt Dantos Beobachtung, daß dem im Bewußtsein des nahenden eigenen Todes aufgenommenen Bild Hermes (1988) die Qualität einer religiösen Aussage eigen ist, eine unerwartet radikale Dimension. Der scharfe Kontrast zwischen der überbeleuchteten Schönheit der marmornen Statue und der chthonischen Bedrohung des dunklen Hintergrundes mahnt an eine Grenzerfahrung des Diesseitigen. Angesichts des alle Formen auflösenden Todes kann sich der Künstler mit sich selbst versöhnen, da er wohl weiß, daß Sterblichkeit der Preis des Einmaligen ist und bleibt. Von daher ist nicht überraschend, daß Mapplethorpe – trotz des relativ kurzen Lebens, das ihm zuteil wurde – zu Derek Jarman (1992:120) sagen konnte: "I have gotten everything I ever wished for."

Anmerkungen

1 Vgl. den Titel "Gloria" in dem 1975 mit einer Mapplethorpe-Photographie der Sängerin erschienenen Album "Horses"

2 Vgl. z. B. die Mixed-media-Skulptur "Gentlemen" (1973) (Mapplethorpe 1991a: Bild 30)

3 Vgl. das Gedicht "Abel et Caïn" in "Les Fleurs du mal" (Baudelaire 1975: 123), wo es am Schluß heißt: "Race de Caïn, au ciel monte,/ Et sur la terre jette Dieu!"

Literatur

Baudelaire, Ch.: Œuvres complètes I. Texte établi, présenté et annoté par C. Pichois. Paris 1975

Celant, G.: Mapplethorpe versus Rodin. Milano 1992

Jarman, D.: At your own risk. A saint's testament. Ed. by M. Christie. London 1992

Mapplethorpe, R.: Flowers. Preface by S. Wagstaff. Tokyo 1983

Mapplethorpe, R.: Early Works 1970-1974. Ed. and designed by J. Cheim. New York 1991 (a)

Mapplethorpe, R.: Mapplethorpe. Exposition du 9 novembre 1991 au 15 mars 1992. FAE Musée d'Art Contemporain. Pully/Lausanne 1991 (b)

Sontag, S.: Sontag on Mapplethorpe. In: Vanity Fair 48 (7), 69-73, 1985

Stirner, M.: Der Einzige und sein Eigentum. Hrsg. von A. Meyer. Stuttgart 1981