J. Edgar Bauer

Der Tod Adams:
Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation
im Werk Magnus Hirschfelds
*

 

Frau Johanna Bock zugeeignet
Hier veröffentlicht mit Genehmigung des Autors.
- Revidierte Fassung -
Ursprünglich erschienen in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Herzer.  Berlin: Verlag rosa Winkel, 1998, S. 15-45.
Später erneut veröffentlicht in: Seeck, Andreas (Hg.):  Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?  Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld.  Münster / Hamburg / London:  Lit Verlag, 2003, S.  133-155.

 

» ... dieses ›unstet und flüchtig‹ herumwandernde[] Volk[], das nirgends eine eigentliche Heimstätte finden kann und doch überall eine große menschliche Mission erfüllt.«

Magnus Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers

 

» ... car la mission du Juif n’est pas de judaïser le monde mais de l’humaniser ... «

Elie Wiesel: Paroles d’étranger

 

1. Als Magnus Hirschfeld (1868-1935) Anfang der 30er Jahre seine Welt­reise unternahm, wurde er in Amerika vielfach als »Einstein of Sex« (Haeberle 1983, S. 38) und in Indien als »the modern Vatsayana of the West« (Hirschfeld 1933, S. 5) begrüßt und gefeiert. Heute da­ge­gen gilt sein Œuvre als überholt und veraltet. Einiges im Werk Hirsch­felds lässt sich an­füh­ren, was diese Bewertung erklärlich macht.[1] Die heu­tigen Kritiker Hirschfelds übersehen aber zumeist, dass seine bi­o­lo­gisch begründete Auf­lösung des seit den Schöp­fungsberichten der abra­­hamitischen Offenbarungsreligionen gelten­den Sexual­di­mor­phis­mus eine epochale Ände­rung des abendländischen Men­schen­verständ­nis­ses mar­­kiert, die mit den weltanschaulichen Pa­­radigmenwechseln ver­gleich­bar ist, welche die Evolutionstheorie Darwins oder die Freud­­sche Psychoanalyse herbeiführten. Die funda­mental-anthro­po­lo­gi­sche These, dass ein Mensch weder Mann noch Frau, sondern zu­gleich Mann und Frau in je individueller und darum un­wie­­der­holbarer Ausprägung ist, signalisiert das Ende der einst offenbarungsmäßig sank­tio­nier­ten, heute weitgehend ideologischen Prä­mis­se der vollstän­di­gen Sexualdisjunk­tion, derzu­fol­ge das paradig­matische Individuum Adam deswegen als Mann zu begreifen ist, weil es die sexuellen Ei­genschaften seines mensch­lichen Anderen nicht hat: Adam ist nicht Eva, ein Mann ist kei­ne Frau. Dabei darf nicht außer acht ge­­lassen werden, dass Hirschfelds »Zwi­schen­stufenlehre«, die diese bahn­bre­chende De­mon­tierung des her­ ­­kömmlichen Verständ­nis­ses der Sexu­a­li­tät ein­leitet, weder mit sei­ner emanzi­patorisch-aufklärerisch mo­ti­vier­ten An­nahme eines »dritten Ge­­­schlechts«, noch mit der These einer phylo- und ontogenetisch be­ding­ten Bisexualität gleich­zusetzen ist, obwohl Hirschfelds Grundlehre zuweilen in engem Zusammen­hang mit diesen beiden The­men dar­ge­legt wird. Auch wenn die sexu­elle Zwi­­­schen­stufenlehre als die eigent­li­che wissen­schaftliche Grundlage von Hirschfelds sonstigen theo­re­ti­schen und emanzipatorischen Be­mü­­hungen anzusehen ist, sind ihre ra­di­kal­sten Kon­sequenzen von Hirsch­feld zwar ausgespro­chen, aber nie mit der Ausführlichkeit er­ör­­tert, die ihre eigentliche Bedeutung er­war­ten lässt. Dass Hirschfeld in die­ser Hinsicht äu­ßerst vor­sich­tig vorging, ist angesichts der Tatsache ver­­ständlich, dass er als Jude und Wort­führer einer se­xuellen Min­der­heit stets mit den Anfein­dun­­gen einer vor­­ein­ge­nommenen Le­ser­schaft rech­nen musste. So fiel es Hirschfeld of­fen­sicht­lich leichter, um Ver­ständnis für sexu­el­le Min­der­hei­ten bei den sich »normal« Wähnen­den zu werben, als diese vorgeblich Nor­ma­len darüber zu belehren, wie es mit ihrer eigenen Sexual­identität in Wahrheit bestellt ist.[2] Im Nach­hi­nein kann man nur feststellen, dass Hirschfelds Vorsicht und Zu­rück­haltung durchaus gerecht­fer­tigt waren. Als Opfer eines 1920 von den Na­zis vorbereiteten Attentats, das zuletzt fehl­schlug, konnte er am da­rauffolgenden Tag seine eigene Todes­nach­richt in den Zeitungen le­sen. (Wolff 1986, S. 197 f.) Im Jahre 1933, nach­dem er aus Deutsch­land vertrieben worden war, konnte er in einem Pa­ri­ser Kino die Bilder der Zer­­störung seines Berliner »Ins­tituts für Sexu­al­wis­sen­schaft« durch die Nazis sehen. (Herzer 1992, S. 144) Damit hat­ten die National­sozi­a­­lis­ten der deutschen Sexu­al­wis­senschaft, die von Ju­den gegründet und in der Hauptsache ge­tra­gen wurde, ein abruptes En­de gesetzt. Vor die­sem Hintergrund ist nicht überraschend, dass Hirsch­feld aus dem kul­turellen Ge­dächt­nis der Ge­genwart weitgehend verschwunden ist. Die wenigen, zu­meist bio­gra­fischen Versuche, die bis­her etwas da­ge­gen unter­nahmen, haben an dieser Situation kaum etwas geändert, nicht zu­letzt deswe­gen, weil sie in Hirschfeld nur einen Vor­­läufer der Se­xologie erken­nen, dessen the­o­­retische Leistungen ent­we­der über­holt oder längst in den Wis­sens­stand heutiger Sexual­wis­sen­schaft inte­griert sind. Dage­gen wird im fol­­gen­den davon ausgegangen, dass eine sachge­mä­ße Würdigung des theoretischen Kerns von Hirsch­felds Le­benswerk noch zu leisten ist und dass die Erfassung der gat­tungs­ge­schicht­li­chen Bedeutung seines epochalen Bruches mit dem Men­schen­bild des Sexualdimorphismus eine erstrangige denkerische Auf­gabe darstellt.

 

2. Um die tieferen Dimensionen von Hirschfelds kritischen Absichten einzuschätzen, muss man sich vergegenwärtigen, inwiefern der sexu­el­le Dimorphismus für das Menschenbild der abrahamitischen Reli­gi­o­nen prägend wurde, deren jüngste Offenbarungstexte bzw. kanoni­sche Schrif­ten noch in der Zeit entstanden, als Hirschfeld dabei war, sein eige­nes sexualwis­senschaftliches Œuvre zu schaffen. Die Macht dieser um­fassenden religiösen Tradition kommt für Hirschfeld zu­nächst und zumal in Gestalt des Christentums zum Vorschein. Nicht von ungefähr er­öffnet er seine zwischen 1922 und 1923 veröf­fent­lichte Artikel­samm­lung Von einst bis jetzt mit dem Satz:

»Ein Vierteljahrhundert im Kampf für die Rechte Entrechteter, gegen festgewurzelte Irrtümer, die dadurch, dass sie fast zwei Jahrtausende alt sind, zwar nicht zu Wahrheiten werden, im­mer­hin aber durch die lange Über­lieferung den Anschein der Wahrheit, einer ge­­wissermaßen unaus­rott­baren Selbstverständlichkeit angenommen haben  —  ein sol­cher Kampf ist keine Kleinigkeit.« (Hirschfeld 1986, S. 7)

Auch wenn das Christentum expressis verbis nicht erwähnt wird, geht klar aus dem Text her­vor, dass mit den zweitausendjährigen Irr­tü­mern, die den Anschein von Wahrheit ange­nom­men haben, die christ­li­che Leh­re der Sexualität gemeint ist, gegen die der organisierte Wi­der­stand des von Hirschfeld gegründeten »Wissen­schaft­lich-huma­ni­tä­ren Komi­tees« seit 1897 argumentierte und agierte. Grundlegendes Mo­­ment die­ser Lehre ist bekanntlich die offenba­rungsmäßige Sank­ti­o­nierung des se­xu­ellen Dimorphismus, die schon in den Schöp­fungs­be­­rich­ten der abra­­hamitischen Religionen stattfindet. Der Gott des he­brä­ischen Schrift­­tums schuf den Menschen »am Anfang« nach seinem Bild »als Mann und Frau«  —  b10i1.gif —  (Gen. 1, 27; 5, 2) und im Hin­blick auf die Wiederherstellung der Erde nach der Sintflut be­fiehlt er Noah, so­­gar von den Tieren ein Männchen und ein Weib­chen in die Ar­che auf­­­zu­nehmen, »damit sie mit dir am Leben blei­ben«. (Gen. 6, 19) Ex­pli­­zit bezieht sich das Neue Testament auf die Sicht der Ge­schlech­ter­­dif­ferenz im Buch Genesis, wenn der mat­thä­i­sche Jesus im Zusam­men­­hang mit der Ehescheidungsproblematik die wohl rhetorisch ge­meinte Frage stellt: b10i2.gif »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie von An­be­ginn an als Mann und Frau geschaffen hat?« (Matthäus 19, 4) Wäh­rend die Tanach und das Neue Testament die Thematik der Ge­schlech­ter­differenz relativ selten, aber dann an ent­schei­denden Stellen aus­drücklich behan­deln, wird der Koran sie im Zu­sammenhang mit den viel­­fachen Wiederholungen des Schöp­fungs­ge­dan­kens mit unerwarteter Schär­fe betonen. In Sura 36,36 findet sogar eine erstaun­liche, hierar­chisch geordnete Steigerung und Er­wei­te­rung des Themas statt, wenn es heißt:

»Gepriesen sei der, der alle (möglichen) Paare geschaffen hat: in der Pflanzenwelt, unter den Menschen selber und unter Wesen, von denen sie nichts wissen (wörtlich: von dem, was sie nicht wissen)!«[3]

Ver­ständlich wird diese Erwähnung der »Paare« sogar bei unbekann­ten Wesen, wenn man be­denkt, dass mit der Möglichkeit der Zeugung das entscheidende Kriterium kreatürlicher Dif­fe­renz von dem Gott ge­ge­ben ist, der zwar »Freund«, aber nicht »Vater« genannt werden darf.[4] Auch wenn Mohammed in der geschlechtlichen Einteilung des kre­­atürlich Sei­­­enden einen will­­­­kommenen Anlass sieht, um Gottes Un­­ver­gleich­lich­­keit erneut zu proklamieren und somit letztenendes der biblischen Lehre der Gottesebenbildlichkeit des menschlichen Ur­paares (Gen. 1, 27) entgegenzuwirken, bewegt er sich im Horizont der biblischen An­nah­­me, dass der Ge­schlechtsbinarismus von Mann und Frau zur gott­ge­woll­ten Schöpfungsordnung gehört. Da­mit wird eine fun­damental-anth­ro­pologische Prämisse abrahamitischer Religiosität sichtbar, die so­gar in den Offenbarungstexten von den im 19. Jahr­hundert ent­­standenen Re­li­gi­ons­ge­meinschaften der Mormonen, Christian Science oder Bahá’i nachweisbar sind.[5] Auch wenn Hirsch­felds Zwi­schen­stu­fen­lehre sich in der Konsequenz gegen alle abraha­mi­tischen Reli­gi­ons­formen wendet, soweit sie das Prinzip des Sexu­al­binarismus vertreten, ist nicht zu über­se­hen, dass das Christentum die pri­vilegierte Angriffs­fläche von Hirsch­­felds Kritik bildet, da er seine »n­atürliche« Sicht der mensch­li­chen Sexualbeschaffenheit vor allem ge­gen die über­mäch­tige »theo­lo­gi­sche« Opposition des Christentums durchsetzen muss­­te. Ob­wohl es Hirsch­­feld klar war, dass das, was er im Chris­ten­tum bekämpf­te, auf die hebräische Bibel zu­rückverweist, ist es symptomatisch für Hirsch­felds Grundhaltung, dass er eine of­fe­ne Kon­fron­tation mit dem Ju­den­tum vermied. Hirschfelds Missbe­ha­gen mit den theologischen Prin­­zi­pien und anthropologischen Kon­se­quenzen des Judentums ist generell nur indirekt ablesbar in seiner Abweisung der christlichen  Wirkungs­ge­schichte der Bibel sowie in seiner Vorliebe für pan­the­is­ti­sche Posi­tio­nen und fernöstliche Reli­gio­si­täten. Auf diesem Um­weg schuf sich Hirschfeld einen freien Raum, in dem eine un­er­bitt­li­che Lek­türe des se­xu­ierten Körpers er­fol­gen konnte. Denn erst die un­be­fangene Fest­stel­lung dessen, was die Natur tatsächlich hervor­bringt, kann nach Hirsch­feld zur Ablösung des sexualdimorphistischen Men­schenbildes durch das der »unendlichen Geschlechter« führen.

 

3. Der vorwiegend religiös motivierte Widerstand, auf den Hirschfeld mit seinen subversiven Thesen stieß, wird verständlich, wenn man die Strafmaßnahmen bedenkt, die über die Über­treter des göttlich sank­tio­nier­ten Geschlechtsdimorphismus in den Offenbarungstexten selbst ver­­­­­hängt wurden. Das Buch Leviticus sieht die Todesstrafe für den Mann vor, der »sich mit einem anderen Mann wie mit einer Frau ver­geht«. (Leviticus 20, 13) Das Buch Deute­rono­mium bezeichnet es als Greuel vor Gott, was man heute »cross dressing« von Männern und Frauen nennen würde, und statuiert darüber hinaus, dass »keiner mit zer­quetschten Hoden oder abgeschnittenem Geschlechtsgliede in die Gemeinde Jahwes eintreten« darf. (Deu­te­ro­nomium 22, 5; 23, 2) Die theologische Assoziierung anormativer Geschlechtlichkeiten mit Strafe und Tod setzt sich im Neuen Testament fort, wenn der Apostel Paulus Männer und Frauen die b10i3.gif (Röm. 1, 26: »den natürlichen Ge­schlechts­verkehr mit dem wi­der­na­tür­­lichen«) umtauschen, zu denjenigen zählt, die den Tod ver­dienen, und die b10i4.gif  (Weichlinge) und b10i5.gif (Knabenschänder) vom Anteil am Reich Gottes ausschließt. (Vgl. 1 Kor. 6, 9-10) Im Zu­sam­menhang mit der Wirkungsge­schich­te derartigen biblischen Aus­schluss- und Straf­­­mechanismen sei auch erwähnt, dass die inner­bi­blisch keineswegs un­­umstrittene Interpretation der Sünde Sodoms im Sinne eines gleich­ge­­schlechtlichen Vergehens[6] an vier verschie­de­nen Stel­len im Koran[7] ver­treten wird unter Betonung des darauf­fol­gen­den vernichtenden Re­gens als gerechter Strafe.[8] Die relativ undif­fe­ren­zier­ten Voraus­set­zun­gen über die menschliche Sexualität, die der skiz­zier­ten Hal­tung der Of­fenbarungstexte zugrunde liegen und die zur prä­genden Matrix der abendländi­schen Sicht des Sexuellen wur­den[9], kontrastieren scharf mit der Thematisierung und Proble­ma­ti­sie­rung der Sexualität, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts an­setz­te. Dank der da­mals auf­kom­men­den Sexualwissenschaft wur­den die Ge­schlechtsbestimmung und die se­­xu­el­le Selbstidentifi­kation ei­nes In­di­vi­duums zu zunehmend kom­plexen Fragen, die unter Ver­wen­­dung der herkömmlichen Opposition zwi­schen Mann und Frau nicht zu beant­wor­ten waren. Auf wis­sen­schaft­­licher Ebene setzte sich all­mählich die An­sicht durch, dass die Frage der Geschlechtsbestim­mung eine Diffe­ren­zierung der Ebenen ver­­langt, auf denen sie gestellt wird. Neben dem bei der Geburt auf­grund äußerer Merkmale fest­ge­stellten Ge­schlecht wur­den in zu­neh­men­dem Maße auch die psycho­lo­gi­sche Se­xu­­alorientierung und die damit nicht immer konvergierende ge­schlechtliche Ausdrucksform  —  die heutige »gender expression«  —  be­rücksichtigt. In diesem Prozess ver­lor sogar das biologische Ge­schlecht die vorgebli­chen Vorzüge einer re­lativ eindeutigen Bestimm­bar­keit in dem Augenblick, in dem man zwi­schen dem chromo­so­ma­tischen, dem drüsenbedingten und dem mor­phologi­schen Geschlecht zu unterscheiden anfing und feststellte, dass keine notwendige Über­ein­stim­mung der drei Ebe­­nen im selben Individuum vorausgesetzt wer­den kann. Über die Mehr­schich­tig­keit des bi­o­logischen Sexus und die Komplexität einer sachgemäßen Bestim­mung der geschlecht­li­chen Begierde hinaus galt auch die Vielfalt der »gender expression« zu wür­di­gen, die in relativer Unabhängigkeit von anderen geschlecht­li­chen Faktoren sich als feminin, androgyn, mas­ku­lin, geschlechts­un­ein­deutig oder gar als geschlechtskontradiktorisch ma­­­ni­fes­tieren kann. Die bis­her beschriebene Komplexität steigerte sich, als es möglich wurde, das biologische Ge­schlecht durch hormonelle Be­­handlung oder durch chirurgische bzw. plastisch-chirurgische Ein­griffe zu mo­di­fi­zie­ren oder zu verwandeln. Vor diesem Hintergrund wird ver­ständ­lich, dass Menschen zunehmend auf die Verwendung der Dis­­junk­tion Mann/Frau bei der Be­schrei­bung ihrer sexuellen Selbst­iden­­ti­fi­kation verzichten und auf differenziertere Bezeich­nungen oder Beschreibun­gen rekurrieren, als diejenigen, die das Schema einer he­te­rosexuel­len, gege­be­nenfalls homosexuellen Kategorialität zu­lässt. So sind um­ständ­liche Beschrei­bun­gen wie »heterosexual female trans­vestite [...] sexually attracted to gay men« oder »female-to-male cross dresser (sexually attracted to) male-to-female trans­gen­de­rist« zu­wei­len ernst­haft ge­meinte Antworten auf die Frage nach der Ge­schlechts­zu­gehö­rig­­keit, die immer noch zu­meist im Horizont des herkömm­li­chen Ge­schlechtsdimorphismus gestellt wird. (Feinberg 1996, S. 144 u. 162) Als diesbezüglich symptomatisch kann gelten, was Leslie Fein­berg, ei­ne der arti­ku­liertesten Repräsentant(inn)en der »Trans­gender«-Be­we­gung in Amerika, über sich schreibt: »It’s not my sex that defines me, and it’s not my gender expression. It’s the fact that my gender ex­pression appears to be at odds with my sex [...] It’s the social con­tradic­tion be­tween the two that defines me.« (Feinberg 1996, S. 101) Ange­sichts des Problematisie­rungs­grades dieser Äu­ße­rung ist nicht über­ra­schend, dass Feinberg zuletzt auf jegliche sexuelle Ka­te­go­rialität ver­zichten will. So schreibt sie über ihr eheliches Ver­hält­nis zu ihrer Frau: »Our relationship is Teflon to which no classi­fi­ca­tion of sexuality sticks.« (Feinberg 1996, S. 92) Mit Fest­stel­lun­gen dieser Art erreicht die Infragestellung des Sexu­al­dimorphismus ihren bis­her ra­di­kal­s­ten Aus­­druck. Die tiefe Überzeugung von der Nicht-Klas­­sifi­zierbarkeit der e­i­­ge­nen Sexual­identität hat das göttlich sankti­o­nierte Bi­no­mium Mann/Frau weit hinter sich ge­las­sen und deu­tet an, dass am Leitfaden der Suche nach einer adäquaten Artikulation der eige­­nen Sexu­al­iden­ti­tät eine entscheidende Annäherung an das alte Philo­so­phem des Indi­vi­du­­um ineffa­bile stattgefunden hat. Im Prozess der Auf­lö­sung der ge­schlecht­lichen Zweiteilung der Mensch­heit durch die Ein­sicht in die Unwiederholbarkeit jeglicher Sexualkonstitution kommt Magnus Hirsch­felds sexueller Zwischenstufenlehre eine Schlüs­selrolle zu.

 

4. Hirschfelds Verhältnis zur Religion und Religiosität wäre zu ein­sei­tig zusammengefasst, wenn man sich mit dem Hinweis begnügen wür­de, er sei ein atheistischer Jude mit einer aus­ge­präg­ten Gegnerschaft zum Chris­tentum gewesen. Denn sein Atheismus verschärfte die Fra­ge der spe­zifischen Aufgabe des Judentums in der Geschichte, und seine Anti­christlichkeit hin­­­der­te ihn nicht daran, eine offene Haltung gegen­über nicht-biblischen Formen von Spiri­tu­a­­li­tät einzunehmen. Was sein Ver­hält­nis zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft betrifft, wur­de schon da­rauf hingewiesen, dass Hirschfeld vermeidet, sich of­fen mit den theo­lo­gi­schen und an­th­ro­pologischen Prämissen des Ju­den­tums ausein­an­der­zu­setzen. Diese Zurückhaltung ist um so symp­to­ma­tischer für Hirsch­felds Verhältnis zum Judentum, als er gele­gent­lich dagegen pro­tes­­tierte, dass man ihn als Juden bezeichnete, und zu­gleich seine »deutsche Iden­ti­tät« be­tonte. (vgl. Herzer 1992, S. 25 f.) Charakteristisch für Hirsch­feld ist es auch, dass er  —  trotz sei­nes as­si­­milatorischen Bestrebens und im Unterschied zu vielen jüdischen Intellek­tu­el­len sei­­ner Zeit  —  die christliche Taufe nicht einmal pro for­ma annahm. In dieser Bezie­hung hat sei­ne Feststellung sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, dass Juden und Homosexuelle seit Be­stehen des Christentums Opfer von dessen theopolitischer Macht ge­wesen sind. (vgl. Hirsch­­­feld 1986, S. 126) Aber wie andere Juden seiner Generation  —  man denke an den be­­rühmten Fall Eduard Nor­dens (vgl. Bauer 1994)  —  scheint Hirsch­feld für die eigentümliche Be­­deutung der jüdischen Existenz erst in den Jahren seines Exils emp­fänglich geworden zu sein. Diese begannen für ihn eigentlich schon 1931, als er nach Amerika ging und dort ent­schied, eine Weltreise zu un­ternehmen, ohne ahnen zu können, dass er Deutsch­­land für im­mer ver­­lassen hatte. Erst auf dieser Reise entwickel­te Hirschfeld  —  ver­mut­lich anlässlich sei­ner Be­gegnung gebildeter Bag­­dad-Juden in China und Indien  —  das, was als ein tie­ferer Zugang zur jü­dischen Uni­versalität beschrieben werden kann. Trotz seiner re­ser­vierten Hal­tung ge­gen­­­über dem Zionismus lässt sich eine revi­dier­te Sicht des Ju­den­tums schon darin kon­sta­tie­ren, dass er seinen Besuch in Jerusalem als den Kulminationspunkt seiner Reise be­trachtete.[10] Die per­sönliche Einstellung, die diese neue Bewer­tung geografischer Sym­bo­lik er­ra­ten lässt, ist nicht gänzlich überraschend, wenn man be­denkt, dass Hirsch­felds Atheismus alles andere als antireligiös war. Als jahre­langes Mit­glied des Monistenbundes wurde er von Ernst Haeckels Be­mühungen um eine Vermittlung von Re­ligiosität und Wissen­schaft­lich­keit im Zei­chen einer pantheistischen Konzeption der Natur stark be­ein­flusst, welche sich vor allem auf Spino­za und Goethe berief. Darü­ber hinaus hatte Hirschfeld ein reges Interesse an der Welt­sicht der Theo­sophie, wie seine bewegende Würdigung von Helena Petrovna Blavatzki und Annie Besant  —  »beides energische Frauentypen von höchst merk­wür­digem Gepräge« (Hirschfeld 1933, S. 203)  —  zeigt. Die dadurch be­kundete Affinität Hirschfelds mit fern­östlicher Geis­tig­keit ist durch­aus verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Arthur Scho­pen­hauer und Walt Whitman  —  zwei seiner bevorzugten Au­toren  —  eine paradigma­tische Hinwen­dung zur  religi­ö­sen Philo­so­phie Indiens vollzogen hatten. Obwohl Hirschfeld keinen ein­deu­tig be­­stimm­ba­ren religiösen Stand­punkt aus allen diesen Quellen ent­wickel­te, prä­­gen die re­ligiösen Felder, in denen er sich offen­bar gern bewegte, seine theoretischen und praktischen Bemühungen maßgeblich. So lässt der von ihm ausgerufene sexualemanzipato­ri­sche Kampf eine geis­­tig-re­ligiöse Moti­va­tion erkennen, die mit seiner atheistischen Anti­christ­lich­keit kon­tras­tiert. Ein von Hirsch­feld oft zitiertes Motto evo­zie­rend hebt Kurt Hiller (1885-1972) her­vor: »Jede Selbstzweck­auf­fas­sung von Wis­senschaft ist heidnisch; Hirsch­feld’s humanitäre ist reli­giös  —  so sehr er ›Mo­nist‹ sein mag.« (Linsert 1928, S. 11) Diese Prä­zi­­sie­rung von Hirsch­­felds jahrelang engem Mit­arbei­ter ist deswegen von Be­deu­tung, weil sie eine schwer fassbare Dimension in Hirsch­felds Werk be­nennt, die seine Kommen­ta­toren und Kritiker oft und of­fen­sichtlich gern aus­blen­den. Außerdem ist es um so wichtiger, diesen Hin­­weis auf die religiöse Qualität von Hirsch­felds  »humanitärer Wis­senschaft« he­raus­­­­zu­stel­len, als Hiller sie in einem gewissen Kontrast­ver­hältnis zur Welt­sicht der Haeckel­schen Mo­nisten betrachtete. Denn in der von ihnen vertretenen Evolu­tions­­lehre darwinistischer Prägung spielt der Be­griff der Gerechtigkeit kei­neswegs eine so zentrale Rolle wie bei Hirschfelds Be­freiungs­be­stre­bun­gen. Schon sein ständiger Re­kurs auf eman­zi­pa­to­risches Ge­dan­­kengut ver­weist darauf, wie sehr Hirsch­felds geschichtsphiloso­phi­sche Vor­aus­setzungen vom Ideal der Ver­­wirk­li­chung menschlicher Ge­rechtigkeit geprägt waren und somit im Wi­der­spruch zur gängigen nach­träg­lichen Sanktio­nie­rung der Mäch­­ti­­­­ge­ren und Listi­ge­ren stan­den. Seine ge­schichtlich dimensio­nier­te Kon­zeption des Befreiungs­kamp­­fes für die Rechte sexueller Min­der­hei­ten wendet sich zwar gegen die schöpfungstheo­logische Fixie­­rung einer bi­nomen Sexuali­tät. Aber seine Lei­den­schaft für die Ver­wirklichung der Gerech­tig­keit in der Ge­schich­te verrät die messi­a­ni­sche Inspiration der Pro­phe­ten Israels. Seine Option für die ra­dikale Zukünftigkeit einer bis­her nie dagewesenen Gerechtigkeit be­wahr­te ihn vor der Ge­fahr der Ide­alisie­rung und Verherrlichung eines Schon-Da­gewesenen. Anders als die Be­mü­hungen Adolf Brands um die Wie­der­herstellung der »grie­chi­­­schen Liebe« mit ihrem pädophilen Grund­muster, plädiert Hirsch­feld für keine »Wiederholung« der Geschich­te. Im Gegenteil. Eman­zi­pa­­­tion konnotiert bei ihm stets geschichtliche Befreiung von den »An­fängen«.

 

5. Hirschfelds als religiös zu qualifizierender Atheismus, der von Nietzsches Proklamierung vom Tod Gottes nicht unbeeinflusst bleibt, bil­det eine unabdingbare Voraussetzung seiner se­xu­­alwissenschaft­li­chen und emanzipatorischen Programmatik. Er betrachtet freilich nicht als seine Auf­gabe, die Negierung des biblisch-platonisch inspi­rier­ten Mo­­no­theismus aus der ei­ge­nen Sicht argumentativ zu un­ter­mauern. Er be­schränkt sich darauf, das Menschenbild aufzu­lö­sen, das dieser Mono­the­ismus legitimiert. Seine theoretisch-emanzipatorischen Bemü­hun­gen kön­nen darum als eine entscheidende Ergänzung von Max Stirners Kritik der anthropo-theo­lo­gi­schen Grundvorausset­zun­gen des Abend­lan­des verstanden werden. Stirners Hauptwerk Der Ein­zi­ge und sein Ei­gen­tum (1844) enthält eine Diagnose seiner Ge­gen­wart, die von der ein­­deu­tig formulierten Überzeugung getragen wird, dass »wir [...] an der Grenzscheide einer Pe­ri­ode« (Stirner 1972, S. 358) stehen, zu der die epochale Erschöpfung des Christentums und sei­ner pro­­fanen neu­zeit­­lichen Transformierungen geführt hat. Auch wenn Stirner das Chris­­­­ten­tum als »vollendet« betrachtet, in dem Sin­ne, dass es »kahl, abgestorben und inhaltsleer ge­worden ist« (Stirner 1972, S. 27), ist er nicht der Ansicht, dass das Christentum schon ver­nichtet sei. (Stirner 1972, S. 352) Trotz gelegentlichen Rekurses auf Re­de­wen­dungen wie »nach­christ­li­che Zeit« bzw. »nachchristliche Ge­schich­te« (Stirner 1972, S. 79 u. 103) geht er im wesent­li­chen von der Prämisse aus, dass »wir [...] noch ganz im christlichen Zeitalter« le­ben. (Stirner 1972, S. 352) Grund dafür ist die Tatsache, dass die eigentliche, noch herbei­zu­füh­rende Über­windung des Christentums nicht nur die (im Prinzip schon geschehene) Ver­flüchtigung Got­tes, sondern auch die des Men­schen im Kompositum »Gottmensch« vor­aus­setzt, auf den das Chris­ten­tum sich beruft. Der zweiten Abteilung seines Werkes, die die Über­schrift »Ich« trägt, stellt Stirner bezeich­nen­derweise den folgenden Absatz voran:

»An dem Eingange der neuen Zeit steht der ›Gottmensch‹. Wird sich an ihrem Ausgange nur der Gott am Gottmenschen verflüchtigen, und kann der Gottmensch wirklich sterben, wenn nur der Gott an ihm stirbt? Man hat an diese Frage nicht gedacht und fertig zu sein ge­meint, als man das Werk der Aufklärung, die Überwindung des Got­tes, in unsern Tagen zu einem siegreichen Ende führte; man hat nicht ge­merkt, dass der Mensch den Gott getötet hat, um nun  —  ›alleiniger Gott in der Höhe‹ zu werden. Das Jenseits außer Uns ist allerdings weg­­ge­fegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Him­mels­stürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns, sondern  —  dem Menschen. Wie mögt Ihr glauben, dass der Gott­mensch gestorben sei, ehe an ihm außer dem Gott auch der Mensch gestorben ist?!« (Stirner 1972, S. 170)

Nach Stirner haben Aufklärung und Liberalismus am Ende der mit dem Christentum anset­zen­­­den »neuen Zeit« nur den Tod Gottes am ge­kreuzigten Gottmenschen nachvollzogen. Der Tod des mensch­li­chen Momentes an ihm steht jedoch noch aus, solange eine ver­in­ner­lich­te Trans­zen­denz im Menschen fortbesteht. Das Hauptziel von Stirners »anthropologischer« Kri­tik ist be­kannt­lich Ludwig Feuer­bach. Stirner zufolge stellt Feuerbachs oberster praktischer Grundsatz, dass homo homini Deus est, insofern keinen »Wendepunkt der Welt­ge­schichte« dar, als die Feu­erbachsche Vernichtung des Glaubens zu­guns­ten der Liebe keine Tilgung der Re­ligion, son­dern nur den Über­gang zu einer neuen Religionsform markiert, in der die »Liebe zum über­­mensch­li­chen Gott« durch die »Liebe [...]  zum homo als Deus« er­setzt wird. (Stir­­ner 1972, S. 62) Die Transzendenz »in Uns« bzw. der Mensch als Gott ist für Stirner der noch un­überwundene the­o­lo­gi­sche Rest am Ende der »neuen Zeit«, dem Stirner seine eigene Philo­so­­phie des »apopha­tisch« Einzigen entgegenstellt, welche das Ende der anthropologischen Wir­­kungsgeschichte des Christentums markie­ren soll. Vor dem Hinter­grund der These, dass die so­genannte »mensch­liche Religion« des Li­be­­ra­lismus nur die letzte Konsequenz und Me­ta­­mor­phose des Chris­ten­tums sei, (vgl. Stirner 1972, S. 192) ist es nicht überraschend, wenn Stirner die nur scheinbar paradoxe An­sicht vertritt, dass »unsere Athe­is­ten [...] fromme Leu­te« sind (Stir­ner 1972, S. 203) oder dass »selbst die neueste Empörung gegen Gott nichts als [...] theologische Insur­rek­tio­­nen sind«. (Stirner 1972, S. 29) Aus dieser Sicht hätte Stirner den Kern seines Vorwurfes gegen Feuerbach mutatis mutandis auch im Falle Friedrich Nietzsches gel­tend machen können. Denn ungeachtet sei­ner Proklamation vom Tod Got­tes und von der Über­windung des Men­schen bleibt Nietzsches Fest­stellung, dass »Grad und Art der Ge­schlecht­­lichkeit eines Men­schen [...] bis in den letzten Gipfel seines Geistes auf[reicht]«, (Nietz­sche 1980, S. 87) insofern ohne Konse­quen­zen, als er das seit den offenbarten ›An­fangs‹-Berichten geltende Sche­ma des Sexual­dimor­phis­mus philosophisch unangetastet lässt. Anders als der mit einem theo­­logischen Rest belastete »Übermensch« Nietz­sches ent­spricht Hirschfelds wissenschaftlich fundierte Dekon­struk­tion des durch das Se­xua­l­bino­mium ge­präg­ten Menschenbildes zumindest im Ansatz dem Desiderat Stirners, das »Jenseits in Uns« zu beenden. Denn in eigentümlicher Weise vollzieht sich bei Hirschfeld der mit dem Tod des monotheistischen Gottes korrelierende Tod des von ihm er­schaf­­fe­nen Menschen, welcher als erster Adam am Er­kennt­nis­baum des Pa­­ra­die­ses die Sünde beging, für die der zweite Adam am »Baum des Kreu­zes« auf Golgatha sühnen musste. Hirsch­felds Eröff­nung des Hori­zon­tes, in dem »Grad und Art der Ge­schlechtlichkeit« des Men­schen jen­seits der Wirkungsgeschichte des theo­logischen Sexu­al­di­mor­phis­mus verstanden werden kann, ist ein epochaler Bruch, dessen Trag­weite erst vor dem Hintergrund der abendländischen Heils­ge­schich­te ermessen werden kann.

 

6. Die bisherigen Würdigungen des Œuvres Hirschfelds zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von den meisten seiner sexualwissen­schaft­lichen Grundpositionen distanzieren bei gleich­­zeitiger Anerkennung sei­ner geschichtlichen Bedeutung für die Emanzipation sexueller Min­der­heiten. So macht Martin Dannecker auf die »Erkenntnisarmut« der Schriften Hirsch­felds aufmerksam und vertritt die Ansicht, dass Hirsch­felds Position im Lichte psychoana­lyti­scher Erkenntnisse sich als »bor­niert« erweist. (Dannecker 1978, S. 47) Seine eher prakti­schen Leis­tun­gen hingegen beurteilt Dannecker anders: »Auch wenn es ge­gen den Wis­sen­schaftler Hirschfeld Vorbehalte gibt, sollte man ihn oh­ne Herab­las­sung betrachten. Für die an­dere, die sexual­re­for­me­ri­sche Seite von Hirsch­feld gelten solche Vorbehalte nicht.« (Dan­ne­cker 1987, S. 67) Jenseits seiner Rolle als »social reformer« (Wolff 1986, S. 415) vermag auch Charlotte Wolff im Grunde keine aktuelle Relevanz Hirschfelds zu erkennen, nicht zu­letzt, weil sie die Ansicht vertritt, dass »Hirsch­feld’s theory of sexual intermediaries has not survived«. (Wolff 1986, S. 15) Eine ähnliche Tendenz in der Beur­tei­lung kommt schließlich auch bei Manfred Herzer zum Vorschein, wenn er meint, dass »Hirsch­felds Werk, sein Kon­zept einer Sexologie [...] schon in den dreißiger Jah­ren zu veralten begannen und spätestens mit dem Erscheinen der Kin­sey-Reports 1949 und 1953 nur noch ein ab­geschlossenes Kapitel aus der Geschichte der Sexualwissenschaft re­präsentierten«. (Herzer 1992, S. 7) Die These von Hirsch­felds Über­holtsein wird im allgemei­nen un­ter Verweis auf wissenschaftliche Män­gel und Inkonsequenzen un­­­ter­mauert, zu denen seine Äußerungen über die minderen intellektu­el­len Fähigkeiten der Frau oder seine schwan­kende Beurteilung der Ho­mo­sexualität zwischen na­­turgemäßer Sexual­variante und patholo­gi­schem »Fluch der Natur« gehören. Der eigentliche Grund von Hirsch­felds Inaktualität wird jedoch haupt­säch­lich im Zusammenhang mit seinem »Bio­logismus« und der These der drüsenmäßigen Deter­mi­nie­rung der sexu­ellen Konstitution ge­sehen, die dazu führen, dass die dies­be­züg­liche Rolle von Geschichts- und Sozialisierungs­prozessen so­wie die psy­choanalytischen Einsichten Sigmund Freuds über früh­kind­liche Er­fah­­­rung und Sexualdeter­mi­nie­rung verkannt werden. Solche Kritiken an Hirschfeld übersehen jedoch stets den engen Zusam­men­hang des bio­logischen Moments seiner Konzeption mit dem, was Man­fred Her­zer in seiner verdienst­vol­len Biografie als »eine höchst um­stürz­­le­rische Kon­­sequenz« von Hirschfelds Konzept der ›Zwi­schen­stu­fen‹ bezeich­net. Diese Kon­se­quenz be­steht in der »Auflösung  der über­­kom­me­nen Ein­ordnung in das binäre Muster Mann/Frau« und in der Pos­tu­lie­rung ei­ner »un­end­li­che[n] Vielzahl von Geschlechtern«. (Her­zer 1992, S. 60) Herzer legt dar, dass Hirschfeld von den zwei ideal­typisch ge­dach­ten Extre­men des ›Voll­mannes‹ und ›Vollweibes‹ ausgeht, die in der Wirk­­­lich­keit freilich nirgends vorkommen kön­nen, weil jedes kon­krete In­di­vi­du­um eine partikuläre Mischung der den Idealtypen zu­ge­dach­ten Eigen­schaf­ten verkörpert, und zwar auf der Ebene der Gestalt der Ge­schlechts­organe, der Kör­per­bil­dung, der Wahl des Sexual­ob­jek­tes und der psychischen Eigen­schaf­ten. Da unter die­­sen Voraus­set­zun­gen je­des Individuum »eine mehr oder weniger ›inter­sexuelle Varian­te‹« dar­­stellt, ist der Unterschied zwi­schen einem Homosexuellen oder Herm­aphro­diten und einem vor­geblich »Norma­len« kein prinzipieller, son­dern ein nur quantitativer. Gleich nach dieser Prä­­zisierung un­ter­streicht Herzer, dass »diese Kon­se­quenz seiner Lehre von den sexu­el­len Zwi­schen­stufen [...] Hirschfeld nie sehr deutlich betont« hat, weil dieses »einen allzu pro­vo­zierenden Angriff auf das Selbstverständnis der Majorität« bedeutet hätte. (Herzer  1992, S. 61) Auch wenn Herzer Hirschfelds dies­bezügliche These korrekt und ausführlich referiert und sogar deren subversiven Charakter hervorhebt, zieht er daraus kei­ne Konsequenzen für die Be­­­urteilung von Hirschfelds theoreti­schen Leis­tun­gen. Statt­des­sen beschränkt sich Herzer da­rauf, die »un­his­torische Naivität des Kon­zepts« zu betonen, das mit einer »starre[n]  Zu­ord­nung aller mensch­li­chen Eigenschaften zu einer na­tu­ra­listisch vorge­stell­ten ewig gleichen Männ­­lichkeit und Weib­lich­keit« operiert. (Her­zer 1992, S. 61) Dabei übersieht Herzer, dass Hirsch­feld gerade nicht »na­tu­ra­lis­tisch«, sondern  —  wie er selbst frü­her bemerkt  —  »ideal­ty­pisch« ver­fährt. Auch wenn das typo­lo­gi­sche Paradigma sich gleich bleibt, ver­körpern die in der Natur real vor­kommenden Individuen stets un­ter­schiedliche Mi­schungs­ver­hält­nisse von männlichen und weib­lichen Cha­rakteris­tiken auf den ver­schie­de­nen Beschrei­bungs­ebe­nen. Da­­­­­durch, dass das sexu­ier­te Indivi­du­um nur un­ter Rekurs auf beide Ide­al­typen erfasst werden kann, bleibt das Zu­sam­menfallen von Individuum und Typus prinzipiell aus­geschlossen. Da der Typus in der Natur nie vor­kommen kann, er­scheint der konkrete Mensch immer als »Fle­xion« bzw. »Brechung«, die aus dem Polar­ver­hält­nis des ab­strak­ten »Voll­mannes« und »Voll­weibes« resultiert.[11] Noch gra­vie­ren­der als der un­be­rechtigte Vorwurf des Naturalismus ist die Schmä­le­rung des Status der Zwischen­stu­fen­lehre in Hirschfelds eigenem Kon­zept, wenn es um die Beurteilung seiner wis­sen­schaft­li­chen Leis­tun­gen geht. So hebt Herzer her­vor, dass »Hirschfeld [...] schon früh auf den einge­schränk­ten Status seiner Zwi­schenstufen­lehre hin­ge­wiesen [hat], die keine Theo­rie zu sein be­an­spruchen konnte, da sie keine kau­sale oder sons­ti­ge Ursachen­er­klärung für die Entstehung der Zwi­schenstufen, der Männlichkeit und Weib­lich­keit bieten konnte«. (Her­zer1992, S. 61) Dass Hirschfeld seine Zwischenstufen­lehre nicht als »Ursachen­er­klä­rung« und damit nicht als »Theorie« ansah, ist unbe­strit­ten. Dies im­pli­ziert aber nicht den von Herzer angenommenen »ein­ge­schränkten Sta­tus« der Leh­re. Im Gegenteil. Ihre Unver­zicht­bar­keit für Hirschfelds Sexual­wis­sen­schaft erweist sich in der Tat­sa­che, dass sie keine erklä­ren­de Theorie darstellt, sondern eine Art fundamentum incon­cussum in sexua­libus bietet, von dem mögliche re­gio­nale Sexual­the­o­rien auszu­gehen ha­ben. Erst auf der Basis dieser Lehre wird er­sichtlich, dass der Mensch nicht nur als »Kul­tur­we­­­­­sen«, sondern schon als »Naturwesen« eigentlich »unnatürlich« im gän­gi­gen Sinne ist. Der Zu­­gang zu dieser Sexual­wahrheit bedarf keiner Theo­riebildung, son­dern nur der adäqua­ten Be­­­obachtung und Be­schrei­bung menschlicher Se­xuiertheit, wie sie tatsächlich vorkommt. Dass der angebliche »Mann« oder die an­geb­li­che »Frau« nicht nur Mann bzw. Frau sind, kann festgestellt werden, in­dem man von der physiologischen Kon­sti­tu­tion eines jeden Men­schen ausgeht. Dass erst auf diesem Fundament nicht nur Hirschfelds mehr oder weniger ge­lun­gene Regionaltheorien der Sexualität, son­dern auch und vor allem die Pro­grammatik seiner Sexu­al­eman­zipa­tion stehen, ist das, was Hirsch­felds Kritiker mit fast systematischer Kon­se­­quenz über­sehen. In An­be­tracht dieser an Konsequenzen reichen Verkennung ist Charlotte Wolff leider nicht zuzustimmen, als sie 1986, kurz vor ihrem Tod, schrieb: »After almost fifty years Hirsch­feld has been redis­co­­vered in the coun­try which chased him from its precincts, and would have killed him if he had not taken refuge in France.« (Wolff 1986, S. 414) Denn von Hirschfelds Wiederent­de­ckung wird erst dann die Rede sein kön­nen, wenn die von ihm selbst kaum betonte Trag­wei­te seiner Zwi­­schen­stufenlehre erkannt wird, die aus dem (a-)theo­­­logi­schen Agon des Se­xu­­al­wissenschaftlers um die Menschlichkeit des Menschen her­vor­ging.

 

7. Hirschfeld war sich der ehrwürdigen Geschichte des Begriffes »drit­­tes Geschlecht« be­wusst, den er zuweilen gebraucht. Er verweist  auf das b10i6.gif des Platonischen Symposions[12] sowie auf das »tritja prakrit« des  in­di­schen Kama Sutra.[13]  Im 19. Jahr­hun­­­dert findet er den Terminus verschiedentlich nuanciert bei Théo­phile Gautier, Balzac und vor allem bei Karl Heinrich Ulrichs, der 1864 in seiner Schrift Vindex den Begriff zum er­sten Mal in se­xu­al­wis­sen­schaftlichem Kontext verwendet. (Ulrichs 1994, S. 5) Unge­ach­tet sei­ner ur­alten Begriffsgeschichte erlangte der Terminus allgemeine Ver­brei­tung erst im 20. Jahr­hun­dert dank dem Werk Hirschfelds.[14] Ihm zu­fol­ge ist der Begriff dahingehend zu ver­ste­hen, dass er »eine gro­ße Rei­he von Zwischenstufen zwischen den völlig ausgebildeten Per­­so­nen bei­­­der­lei Geschlechts« zusammenfasst. (Hirschfeld 1901, S. 4) Des wei­­­teren merkt Hirschfeld an, dass der Begriff »manchmal mehr die gleich­geschlechtlich Empfindenden, manchmal mehr die männlich ge­ar­teten Frauen und weiblich gearteten Männer meint«, so dass er sich nur zum Teil mit den Bedeutungsfeldern von Begriffen wie »Ho­mo­se­xu­alität«, »konträre Sexualemp­fin­dung« und »Uranis­mus« deckt. (Hirsch­­­feld 1907, S. 21) Auch wenn Hirschfeld die Be­zeich­­­nung gele­gent­lich verwendet und semantisch zu präzisieren ver­sucht, hebt er schon in der Schrift Berlins Drittes Geschlecht her­vor, dass sie »nicht gerade sehr treffend« bzw. »nicht gerade glück­lich« ist, aber immerhin besser als das Wort »homosexuell«, das den Ak­­zent auf das Vor­kom­men sexueller Akte oder deren Beabsich­tigung setzt. (Hirschfeld 1904, S. 10 u. 14) In der »Erwiderung« auf G. Fritsch von 1919 betont Hirsch­feld jedoch, dass er sich »in wissen­schaft­lichen Veröffent­lichun­gen des Ausdrucks ›drittes Geschlecht‹ nicht bedient« hat (Hirschfeld 1919, S. 22) und dass er stattdessen dort die Bezeichnung »sexuelle Zwi­­schen­stufe« bzw. »Geschlechts­über­gän­ge« verwendet.[15] Obwohl Hirsch­feld die prinzipielle Ansicht ver­tritt, dass Begriffe wie »Mann« und »Frau« vor dem Hintergrund der Zwischenstufenlehre sich nur als »Fiktionen« erweisen, (Hirsch­feld 1923, S. 24) zieht er nicht die Konsequenz da­raus, dass auch die Pos­tu­lierung einer »dritten« Alter­na­tive  —  unter welchem Namen auch immer  —  als eine fragliche Ver­meh­­rung der Fiktionen anzu­sehen wäre. Sein Bedenken gilt zunächst nur der Bezeichnung »drittes Ge­schlecht« und nicht der prinzipiellen Auf­­stellung einer dritten Se­xu­al­ka­tegorie, die streng genommen als eine »Fiktion« in der sexuellen Stu­fen­leiter betrachtet werden müsste. Von den zahlreichen Belegen dafür, dass Hirschfeld in seinen wissen­schaft­li­chen Publikationen mit einer »fiktiven« dritten Kategorie ope­riert, sei hier nur auf die diesbe­züg­lich relevanten Begriffskonstel­la­tio­nen seines Trak­tates Die inter­sexu­elle Konstitution ver­wiesen, wo Hirsch­feld zwi­schen Mann, Weib und »intersexuellen Menschen«, oder zwi­schen männlicher, weib­li­cher und »intersexueller Sexualität« unter­scheidet, wobei die Bezeich­nung »intersexuelle Sexualität« als Syno­nym für die anderen, schon erwähnten Be­zeichnungen »sexuelle Zwi­­­schen­stufe« bzw. »Ge­schlechts­über­gang« verstanden wird. (Hirschfeld 1923, S. 26, S. 10 f. u. S. 6) Wie eine nähere Analyse der Texte Hirsch­felds zeigt, führt diese »fik­ti­o­na­le« Pos­tu­lie­rung einer dritten Sexual­alter­native nie zur Ver­leug­nung seiner grundlegenden Einsicht, dass » alle Menschen [...] inter­sexuelle Va­rianten« sind. (Hirschfeld 1986, S. 49; Herv. d. Verf.) Dass Hirschfeld  im Prinzip stets daran festhält, wird oft übersehen, nicht zu­letzt des­we­gen, weil er nicht entschieden genug darauf insis­tier­te. Von daher kann nicht über­raschen, dass ausgerechnet Sigmund Freud in Hirschfeld hauptsächlich den »theoretischen Wort­füh­­rer« der Ho­mo­sexuellen »als eine[r] von Anfang an gesonderte[n] geschlecht­li­che[n] Abart, als sexuelle[r] Zwischenstufen, als eine[s] ›dritte[n] Ge­schlechts‹« sehen wollte. (Freud 1969, S. 124) Was Freud offensicht­lich nicht begriff, ist, dass Hirschfeld in der »fiktionalen« Hy­pos­­ta­sie­rung einer dritten Sexualalternative eigentlich nur einen unent­behr­li­chen »Notbehelf« sah, der aber »niemals als etwas Vollständiges oder auch nur Abgeschlossenes dastehen kann« und dessen Sinn darin be­steht, über das »leider nur allzu oberflächliche Einteilungs­schema [...] in Mann und Weib« hinauszuführen. (Hirschfeld 1923, S. 23) Ge­gen diejenigen, die meinen: »Es gibt nur zwei Geschlechter, das dritte Ge­schlecht ist die Erfindung ver­peste­ter Gehirne und perverser Her­zen«, (Hirschfeld 1913, S. 5) macht Hirschfeld auf ein Segment der sexuellen Stu­fenleiter aufmerksam, das er  —  bei aller Klarheit über die Künst­lich­keit des Verfahrens  —  als ein »Drittes« konstruiert. So schreibt er: »Be­zeichnet man [...] diejenigen, die vorwiegend männ­li­che Qualitäten be­sitzen, kurzweg als genus masculinum, und alle, die vor­wiegend weib­liche Eigenschaften haben, einfach als genus femi­ni­num, so wäre man wohl berechtigt, diejenigen, bei denen die Summe des männlichen und weiblichen Anteils zwischen 33 1/3 und 66 2/3 liegt, als eine Art genus tertium aufzufassen.« (Hirschfeld 1913, S. 4) Ob­wohl Hirschfeld die Fiktionalität einer dritten abgeschlossenen Grup­pe stets durch­schaut, er­hielt er sie aufrecht in der Annahme, dass nur so die Ziele einer umfassenden Sexualeman­zi­pa­­tion hätten er­reicht werden können. Dies führte dazu, dass sowohl Hirschfelds eman­zipa­to­­ri­sche Rhetorik als auch ein Teil seines wissenschaft­li­chen In­stru­men­tari­ums ge­wis­ser­ma­ßen hinter der fundamental-anthro­po­lo­gi­schen Wahr­heit des Sexualkontinuums zurückblie­ben. Denn in Hirsch­­felds Augen könnte diese Wahrheit allein die sexuell Entrech­te­ten nicht dazu bewe­gen, sich für ihre eigene Befreiung einzusetzen. Der Weg, den Hirsch­feld und die Befreiungs­geschichte der Sexualität nach ihm tatsächlich ge­gangen sind, stellt daher letztlich die weniger anspruchsvolle Lösung der eman­zi­patorischen Frage dar. Hätte aber die Zwi­schen­stufenlehre ohne Zu­ge­ständnisse auch in praxi zu gelten, dann müsste die Sexual­be­freiung auch der­jenigen unternommen werden, die ihre eigene Sexual­iden­tität wei­terhin sexualdimor­phis­tisch missdeuten und auf­grund des­sen sich gu­ten Gewissens dafür ein­set­zen kön­nen, dem vor­geb­­lichen »dritten Ge­schlecht« seine Rechte vor­zuenthalten. Die an­spruchs­­vol­lere Lösung der sexu­ellen Befreiung müsste folgerichtig davon ausgehen, dass die Zwi­schen­stufenlehre streng ge­nommen unweigerlich zum Ver­zicht auf die kategoriellen Fik­tionen führt, die bisher bei der ge­schlechtlichen Iden­titätsbestim­mung eines Individuums verwendet wur­den.[16] Dieser Ver­­zicht würde zum ersten Mal in der Geschichte eine be­obach­­tungs­mä­ßige und den­ke­rische An­strengung dort fordern und för­dern, wo bis­lang die An­wen­­dung des wirk­lichkeitsentstellenden Sche­mas des Sexu­al­­dimor­phis­mus genügte. Offensicht­lich schien es Hirsch­feld wenig er­folg­­ver­sprechend, den sich »normal« Wähnenden eine sol­che Anstren­gung schon am Anfang des Befreiungsprozesses zuzumuten. Träger der se­xu­­ellen Emanzipa­tion könnten in Hirschfelds Augen zunächst nur die­je­nigen sein, auf deren Seite die kritische Kraft der Negativität un­mit­telbar am Werk ist.

 

8. In seiner sexualwissenschaftlichen Erstlingsschrift Sappho und So­kra­­tes (1896) macht Hirschfeld darauf aufmerksam, dass »die rein bi­o­logische, nicht pathologische [...] Auffas­sung der Liebe zum eige­nen Geschlecht wie sie [in dieser Schrift] [...] zum ersten Male in einem festen Schema durchgeführt wurde«, nicht ganz neu ist. (Hirsch­­feld 1896, S. 27) Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Hirschfelds »festes Schema« schon vom Ansatz her theoretisch mehr leistet, als die Ver­suche seiner Vorläufer, das sogenannte »dritte Ge­schlecht« im Rahmen der Naturgegebenheiten zu kontextualisieren und so zu normalisieren. Denn schon in diesem frühen Text kündigt sich Hirschfelds umfassende Lehre der Ge­schlechtsübergänge an. Sie wird entfaltet in engem Zu­sam­menhang nicht nur mit einer Theorie der die Phylogenese re­ka­pi­tu­lie­renden Ontogenese des Individuums, sondern auch mit der indivi­du­el­len Entwicklungsgeschichte der bise­xu­ellen Uranlage, deren Spuren bzw. »Res­te« schon auf physiolo­gi­scher Ebene bei jedem Menschen nach­weisbar sind: »Jeder Mann be­hält seine verkümmerte Gebärmutter, den Uterus masculinus, die über­flüssigen Brust­warzen, jede Frau zweck­losen Nebenhoden und Samenstränge bis zum Tode.« (Hirsch­feld 1896, S. 10) In Analogie dazu sind die »seelischen Zentralstellen der Geschlechts­emp­findung« inso­fern zu betrachten, als »wir [...] mit aller Bestimmtheit annehmen dürfen, dass auch hier Re­si­duen des zum Un­ter­gang bestimmten Triebes zurückbleiben«. (Hirschfeld 1896, S. 11) Davon aus­gehend, dass »in der Uranlage [...] alle Menschen körperlich und seelisch Zwit­­­ter« sind, (Hirsch­feld 1896, S. 9 f.) wird die uner­schöpfliche Viel­­­falt der Ge­schlechter als Resultat von quantitativen, nicht quali­ta­ti­­ven Unterschieden verstanden, die davon abhängig sind, wie die Ent­fal­­tungs- und Hemmungsprozesse der bisexuellen Uranlage sich zu­ein­­ander verhalten. Dabei hebt Hirschfeld hervor, dass »das Hi­nüber­greifen des Ge­schlechtscharakters auf ein an­de­res Geschlecht um so häufiger vorkommt, je später sich der be­treffende Geschlechts­un­ter­schied entwickelt«. (Hirschfeld 1907, S. 22) Demnach sind Grad­ab­wei­chun­gen am seltensten bei den primären, häufiger bei den se­kun­dären und am häu­figsten bei den tertiären Ge­schlechts­­­cha­rak­te­ris­ti­ken, zu denen u. a. die sexuelle Triebrichtung gehört. Angesichts der Va­­ri­a­tions­­­möglichkeiten der Geschlechtsmerkmale nimmt sich Hirsch­­­­feld vor, »die inter­se­xu­el­len Varianten in ihrer außerordent­li­chen Vielge­stal­tigkeit zu regis­trie­ren, sie historisch und biologisch zu er­fassen, [sowie] ethnologisch und soziologisch zu bewerten« in der Ab­­sicht, eine »Systematisierung der sexuellen Zwischenstufen« vor­zulegen. (Hirschfeld 1923, S. 10) Erst diese Systematisierung bietet den Rah­men von Hirschfelds ei­ge­nen emanzipatorischen Bemü­hun­gen, die da­von ausgehen, dass »die Erscheinung der Ho­mo­sexualität [...] sich in die fortlaufende Reihe ähnlicher und verwandter Na­tur­er­schei­nungen so genau ein[fügt], dass ihr Mangel eine Lücke in einer zu­­sam­men­hän­gen­den Linie bedeuten würde«. (Hirschfeld 1907, S. 21) Die ent­schei­den­de Annahme der durchgängigen Kontinuität der Na­tur bildet den onto­­lo­gischen Hintergrund, vor dem die künstlich ge­geneinander ab­ge­grenz­ten Sexualvarietä­ten als das erscheinen, was sie sind: Über­gän­ge des Ge­schlechtlichen. Die Tragweite dieser An­nah­me macht Hirsch­feld deut­­­lich in einem den Nouveaux essais von Leibniz ent­nommenen Motto, das er dem Traktat über die »Ge­schlechts­über­gänge« voran­stellt: »Tout va par degrés dans la nature et rien par sauts.«[17] Aus­drück­lich hebt Hirschfeld hervor, dass die »ganz emi­nen­te Bedeutung [dieses Naturprinzips] auch zurzeit noch nicht voll ge­würdigt ist«. (Hirsch­feld 1913, S. 18) Wenn die vor­wie­gend sozio­lo­gisch orientierte Re­zeption Hirschfelds trotz sei­­ner vielen Hin­weise über­sieht, welchen Stellenwert dieses »Na­turprinzip« in seinem eige­nen Werk einnimmt, kann es nicht überraschen, dass der Sinn sei­ner Empirie oft verborgen und das radikal utopische Moment seines Ent­wurfs zumeist ver­deckt bleibt. Denn erst die sexu­alwis­sen­schaft­liche Anwendung dieses Prin­zips verhalf Hirsch­feld dazu, die vor­eiligen und un­hinterfragten Set­zun­gen der gängigen Klas­sifi­ka­tions­­schemata zu vermeiden. So ist seine nicht-hierarchische Ein­ord­nung sexueller Va­rianten im Naturkonti­nu­um eine eindeutige Ab­sa­­ge an die weit­ver­brei­tete Annahme, dass die möglichst unange­foch­tene Do­mi­nanz eines Poles der bisexuellen Ur­anlage die unabdingbare Vor­ausset­zung ge­sun­der Sexualität bildet und dass nur eine fort­pflanzungsorientierte Sexualität ihre Auf­gabe in der Lebensökonomie eines Menschen er­fül­len kann. Dass solche Annah­men in den theo­retischen Entwürfen Iwan Blochs oder Sigmund Freuds am Werk waren, blieb Hirsch­feld frei­lich nicht verborgen. Der­ar­tigen wissen­schaftlichen Legitimierungen des einst of­fenba­rungs­mä­ßig sank­tio­nier­ten Sexu­al­dimorphismus setzt Hirschfeld seine mög­lichst theo­rie­freie Anschauung des in der Natur tat­­­sächlich Vorkom­men­­den entge­gen. Erst aufgrund der Verkennung die­ses Vorgehens kann ein Sexu­al­wissenschaftler wie Martin Danne­cker Hirsch­feld vor­werfen, un­fähig zu sein, »zwi­­schen den Kategorien ›Homosexualität‹ und ›Ho­mo­­sexu­­elle‹ zu unterscheiden«, und in­fol­ge­dessen »Wesen und Er­­scheinung der Homosexu­alität identisch« zu setzen. (Dannecker 1978, S. 47) Für Dannecker eröffnet erst die Dis­kre­panz zwi­schen bei­den eine utopische Di­mension, die er unter Re­kurs auf psy­cho­ana­ly­ti­sche Ein­sichten und Begrifflichkeit gern arti­ku­liert sieht, weil dadurch die Mög­lichkeit gesell­schaft­licher Verhält­nis­se anvisiert wird, »die es er­lauben, die zwanghaft-kollektive Verdrän­gung der homosexuellen Trieb­­­anteile [der Mehr­­heit] zu be­frei­en und damit die ihnen zuge­hö­rigen fragwürdigen Sub­limationen und Re­ak­tionsbildungen über­flüssig zu machen«. (Dannecker 1978, S. 48) Dan­necker übersieht in sei­ner Ar­gumenta­tion je­doch, dass Hirschfelds Zwi­­schen­­stufenlehre strengge­nom­men keine Aus­­­sage über »We­sen« zulässt, weil jede Subsumie­rung von »Er­schei­nun­gen« des sexuellen Natur­kontinuums un­ter ein »We­sen« als eine Fiktion er­kannt wird. Insofern als die Zwischen­stufenlehre das In­di­viduum nicht als Er­scheinung eines We­sens, sondern als Ver­körperung eines unwieder­hol­­baren Mischungs­ver­hältnisses er­fasst, sind Aus­sagen über das »We­sen« von »Män­nern«, »Frau­en« oder »Zwit­tern« im Hirsch­­feld­schen Kontext letztlich nicht zuläs­sig. Von daher wird deut­lich, dass Danneckers Kritik die eigentliche utopische (prä­zi­ser: mes­sia­nische) Dimension Hirschfelds nicht zu würdigen vermag. Denn seine »Zwi­schen­stu­fen­lehre« enthält im Kern eine weit um­fas­sen­de­re und ra­di­ka­lere Utopie als die, die Dan­necker sich für Ho­mo­sexuelle wünscht. Sie sieht vor, dass einst jeder Men­sch nicht nur sich als eine irreduk­tible se­xuelle Va­­riante be­greift und ver­wirklicht, son­dern auch diesel­be in­di­viduelle Diffe­renz in der Sexu­al­­konstitution aller anderen Men­schen an­erkennt und re­spektiert. So gesehen ist Hirschfelds angeblich be­­­schei­denere »Leh­re« in der Konse­quenz uto­pisch anspruchsvoller als Freuds »psy­cho­analy­ti­sche Theorie­bildung«, die bei allem argumen­ta­ti­ven Raffinement mit einer un­kritisch ange­nom­­menen Te­le­o­logie der He­te­ro­sexualität ope­riert. Erst die geduldige Ar­beit des »Kompilators« Hirsch­feld konnte die Grundlage seines epo­cha­len Bruches mit dem Se­xu­­al­dimor­phis­mus des ada­mi­ti­schen Men­schen liefern, dessen Wir­kungs­geschichte von der Bibel bis hin zu Sigmund Freud reicht.

 

9. Hirschfelds sexualwissenschaftlicher Diskurs bewegt sich auf zwei grundsätzlich ver­schie­denen Problemebenen, ohne dass er den Ver­such unternimmt, ihr ge­gensei­ti­ges Verhältnis zu thematisieren und zu klä­ren. Während der Themenkomplex, der die Pro­ble­matik des soge­nann­­ten »dritten Geschlechts« behandelt, eindeutig im Vordergrund seines Œuvres steht, ist das Thema der im Prinzip unendlichen Viel­falt der Geschlechter zwar an meh­reren Stellen angeschnitten, letztlich aber un­aus­geführt geblieben. So überrascht nicht, dass die Biografen und Kri­tiker Hirschfelds sich auf den sichtbarsten Aspekt seines Wer­kes zu­meist konzen­trie­ren und im Hinblick darauf ihn für »über­holt«, »bor­niert« oder »theorie­un­fähig« halten. Wenn schon unter se­xu­al­wis­sen­schaftlichen Autoren die eigentliche Tragweite und Rele­vanz Hirsch­­­­felds bisher kaum sachgerecht gewürdigt wurden, ist es nicht ver­wunder­lich, dass die Hauptrepräsentanten der philoso­phi­schen Anthro­­pologie in diesem Jahrhundert we­der von Hirschfeld all­ge­mein, noch von seiner subversiven Zwischenstufenlehre Notiz ge­nommen haben. Denker wie Max Scheler (1874-1928), Arnold Gehlen (1904-1976) oder Hel­muth Plessner (1892-1985) nahmen Hirschfeld nicht zur Kenntnis und ver­mie­­den konsequent je­g­liche kri­ti­sche Aus­ein­andersetzung mit dem Sexualdimorphismus, das ihr Men­schenbild je­doch prägt. Noch gravie­render in diesem Zusam­men­hang ist jedoch die Ignorierung Hirsch­felds durch die französische Philosophin Elisabeth Badinter in ihrem wich­ti­gen Buch L’un est l’autre. Des relations entre hommes et femmes, wo sie im Hinblick auf die Beendigung der bi­nä­ren Konzeption von Mann und Frau schreibt: »Notre civilisation est peut-être en train de mo­difier quelques traits ›essentiels‹ de l’espèce humaine.« (Badinter 1986, S. 249 f.) Sie be­schreibt die gattungsgeschichtliche Entwicklung von der ursprüng­li­chen Komplementarität zwischen »l’Un et l‘Autre« über das patri­ar­cha­lische »l’Un sans l’Autre« bis zur entschei­den­den, in der Ge­gen­wart ansetzenden Mutation, die in der Wahrnehmung und Ak­zep­tanz in sich des geschlechtlich Anderen gipfelt: »l’Un est l’Autre«. Gerade in diesem Zusammenhang wä­re zu erwarten gewesen, dass Badinter unter Rückbesinnung auf den oft geschmähten »Bi­o­lo­gis­mus« Hirsch­­felds die in der unerschöpflichen Vielfalt der »Natur« vor­ge­­zeich­ne­ten psycho-phy­si­o­lo­gi­schen Möglichkeiten ergründet hätte, die gegen die Beibehaltung des se­xu­aldimorphistischen Sche­mas sprechen. Hirsch­­felds beharrliche Beobachtung und Beachtung der »biolo­gi­schen« As­pek­­te der Sexualität machen einen ungeahnten Reichtum an latenten Möglichkeiten sichtbar, de­ren allmähliche Verwirklichung er als ein Haupt­anliegen seines Be­freiungsethos betrachte­te. Schon aus diesem Grund sollten seine zahlreichen Äußerungen ethi­­schen Inhalts nicht als leere Floskeln abgetan werden, wie Hirschfelds Kritiker und Kom­mentatoren des öfteren tun. Ein Motto wie per scientiam ad iustitiam kann im strengen Sinn als hermeneutischer Schlüs­sel seiner se­xual­wis­senschaftlichen Programmatik verstanden wer­den, die von der luzi­den Er­kenntnis der sexuellen Naturgegebenheiten hin zur kon­kre­ten Ge­stal­tung einer freiheitlichen Kulturwelt führen will, in der die Be­rechtigung der »biologisch« angelegten sexuellen Vielfalt sich ge­gen die gesell­schaft­liche Fixierung des Sexualdimor­phis­mus durch­setzt. Die­ser in der »Natur« ver­an­kerte, utopische Entwurf impliziert freilich keine Rück­kehr zu einer verklärten Vergangen­heit. Denn »Na­tur« wird bei Hirsch­feld nicht als kul­turell schon verwirklicht be­trach­tet, son­dern als stets künf­tige Aufgabe, die im Horizont einer vom emanzipato­ri­schen Be­stre­ben ge­präg­ten geschichtsphiloso­phi­schen Kon­­zeption zu re­a­li­sieren ist. So sieht Hirschfeld die Ab­schaffung des ge­gen Homo­se­xuelle ge­rich­teten § 175 als das ersehnte Ende des christ­lich do­mi­nier­ten Mit­tel­al­ters (Hirschfeld 1907, S. 35; Hirschfeld 1904, S. 77) und cha­rak­te­ri­siert den antidiskriminatorischen Beitrag des Wissenschaft­lich-hu­mani­tä­ren Komitees als »ein Werk der inneren Mission«. (Hirsch­­feld 1986, S. 141)  Sympto­ma­tisch in diesem Zu­sam­menhang ist Hirschfelds ei­gen­tümliche Diktion, die auf Termini wie »Befrei­ungs­arbeit«, »Be­frei­ungs-« bzw »Eman­zi­pationskampf« oder »Ver­tei­di­gungskräfte« (Hirsch­feld 1986, S. 12, S. 14, S. 22, S. 23, S. 78) oft rekurriert.[18] Der Kampf, worum es geht, wird nach Hirschfeld »nicht um einer Nation, son­­­dern um der Menschheit wil­len« geführt (Hirsch­feld 1986, S. 83) und ist deswegen als »ein Kul­tur­­kampf« (Hirschfeld 1986, S. 47) näher zu beschreiben, weil er zwi­schen dem the­o­lo­gischen Unverstand und dem wissenschaft­lich fun­dier­ten Wissen menschlicher Sexualität ge­führt wird, bis die »Urninge [...] endlich durch die Tore der Wahrheit ein­ziehen in das Land der Ge­rechtigkeit«.[19] Die gesetz­liche Gleich­stel­lung von hetero­se­xu­ellen und homosexuellen Männern und Frauen ist also »eine Kul­tur- und Menschheitsangelegenheit«, (Hirschfeld 1986, S. 92; vgl. S. 104) »die im Grunde genommen nichts mit politischer und religiöser Zu­ge­hörig­keit, um so mehr aber mit dem all­gemeinen sittlichen und geis­tigen Hochstand der Menschen zu tun hat«. (Hirsch­feld 1986, S. 93 f.) Unermüdlich betont Hirschfeld, dass die Sexualfrage ei­ne Wahr­heitsfrage ist, deren Be­antwortung er sein Le­benswerk gewidmet hat, wohl wis­send, dass sie eine grund­legende Ver­änderung des bis­he­ri­gen Menschenbildes herbeiführen wird. So schreibt er rückblickend: »Seit Verkündigung der sexuellen Grund­wahr­heit, dass die mensch­liche Geschlechtlichkeit keine Sache der Theo­logie, sondern der Bio­lo­gie ist, ist kaum ein Menschenalter ver­gan­gen.« (Hirschfeld 1986, S. 162) Damit nimmt er bezug auf seine Erst­­lingsschrift Sappho und Sokra­tes, die mehr als ein Viertel Jahr­hun­dert zuvor erschienen war und von der an Hirschfeld den Beginn des se­xuellen »Befrei­ungs­kamp­fes« datiert. Die vom Anfang an vorge­se­he­ne sittlich-eman­zi­patorische Dimensio­nie­rung seiner wissen­schaft­li­chen Arbeit macht deutlich, dass der Paradigmenwechsel hin zur Biologie keine »positi­vis­ti­sche« Ein­schränkung seines Blick­fel­des und prak­ti­schen Zieles im­plizierte, sondern nur die Be­­stim­mung des theo­re­ti­schen Ortes mar­kierte, wo der Zugang zu den Sexualwahrheiten er­öff­net wer­den konn­te, die der »Eman­zi­pationskampf« dann zu verwirk­li­chen such­te. Hirsch­­feld schreibt: »Das ist ja das Zu­ver­sichts­volle und Zu­kunfts­­rei­che, in aller Unruhe immer wieder Ruhe Ver­lei­hende, dass eine Wahr­heit, wenn sie einmal ausgesprochen ist, unzerstörbar dasteht. Sie kann gedrückt, zeit­wei­lig auch unterdrückt, aber nie zerdrückt wer­den. Immer wieder schnellt sie elastisch empor, bis die Gegner, des Bie­­gens müde, ihr Spiel aufgeben.« (Hirschfeld 1986, S. 119) Erst Hirsch­­felds außer­ge­wöhnliche »Wahrheitszuversicht«, die mehr und an­­ders ist als die ihm oft vor­ge­wor­fene »Wissenschaftsgläubigkeit«, macht es ver­ständ­lich, dass er  —  un­geachtet seiner Ein­­schätzung der un­­mit­tel­ba­ren und prak­ti­­schen Erfordernisse der Sexual­eman­zipation  —  das theoretische Ins­tru­mentarium liefert, das die Demontierung seiner ei­ge­­nen Konstruk­tion eines dritten Geschlechts ermöglicht. Die in sei­nem Werk an­ge­leg­te selbst­kritische Dynamik lässt eine gat­tungs­ge­schicht­liche Weite an­vi­sieren, in der jeder Mensch, und nicht nur die vor­geblich dritte Se­xualalternative, sich als »intersexuelle Varian­te« begreift und realisiert.

 

10. Hirschfeld entfaltet seine Sexualwissenschaft im ontologischen Rah­men einer Naturkon­zep­tion, die unter Vermittlung des Haeckel­schen Monismus letztlich von der Philosophie Baruch de Spinozas inspi­riert wurde.[20] Die überreichen Hervorbringungen der natura na­tu­rans garantieren aus Hirschfelds Sicht die prinzipiell uner­schöpf­li­che Formenvielfalt im Se­xu­alkontinuum. Indem Hirschfelds Zwi­schen­stu­fen­lehre zur Auflösung nicht nur des sexuel­len Dimorphis­mus, sondern auch des von ihm selbst »provisorisch« aufgestellten »dritten Ge­schlechts« führt, wird das Individuum von den begriff­li­chen Fiktionen befreit, die es daran hin­­derten, die ihm eigentümliche Ge­schlecht­lich­keit zu revindizieren. Damit nimmt Hirsch­feld die schon besprochene Problematik Leslie Feinbergs vorweg, derzufolge die gegenwärtig ge­stellte Frage der sexuellen Identifikation die her­kömm­lichen Klassi­fi­zie­­rungsmuster der Se­xu­alität sprengt. Aber ob­wohl Hirschfelds Auf­fas­­sung der »intersexuellen Varietäten« zu­min­dest im Ansatz der Vielschichtigkeit und Komplexität der sexuellen Iden­tifikation gerecht wird, bleibt sein Verständnis des »Natur­ge­mä­ßen« im Sinn von »An­ge­bo­ren­sein« problema­tisch. Dass er den Schlüs­sel der Sexualkonstitution vor­wiegend in dem on­to­genetisch vor­­her­bestimmten Drüsenspiegel des In­dividuums sucht, ist zwar ver­ständ­lich an­gesichts des eman­zi­pa­to­ri­schen Hauptzieles der Entkri­mi­na­lisierung der Homosexualität, die fort­­an als eine von der Geburt an determinierte (und das heißt nach Hirsch­­feld: naturgemäße) Sexual­va­ri­etät ver­standen werden sollte. Eine solche argumentative Strategie ist aber im we­sent­lichen mit der Fix­ie­rung auf einen überbewerteten An­fang behaftet. Damit kann die Frage der sexuellen (Selbst)Identi­fi­ka­tion nicht zu einer prinzipiell un­ab­schließ­baren Aufgabe wer­den, wie es die Vertreter des »transgen­derism« paradigmatisch reklamie­ren, sondern wird auf die Kenntnis­nah­­me eines kaum zu modi­fi­zie­ren­den Faktums reduziert. In dieser Hin­sicht bleibt Hirschfeld hinter dem emanzipatorischen Anspruch zu­rück, den seine eigene »Zwi­schen­stufenlehre« in der Konsequenz er­hebt. Denn die angemessene Wür­di­gung der freiheit­lichen Ausgestal­tung angeborener Sexualmög­lich­kei­ten müsste zu der Ansicht führen, dass die Bestimmung und Mit­tei­lung der Geschlechtlichkeit eines In­di­vi­­duums  —  nach Auflö­sung der herkömmlichen Sexualkategoria­li­tät  —  nur als artikulierte Ge­schichte seiner ir­reduk­tiblen, jeweils erlebten Se­­xualdifferenz möglich ist. Auch wenn Hirschfeld diesen Weg nicht kon­sequent zu Ende ging, indiziert sein entschiedenes Interesse am Bi­o­­grafischen, dass er Sexu­a­lität stets als Sexu­­­alität der Differenz begriff. Mit seinen zahlreichen lebensgeschicht­li­chen Exempeln, die »von Plato bis Platen, von Alexander dem Großen bis Friedrich dem Gro­­ßen, vom klas­sischen Altertum bis zu den modernen Zeiten« reichen, schärft er den Blick seiner Leser für das un­auf­hebbar Unterschiedliche einer je­den Ge­schlecht­lichkeit. (Hirschfeld 1907, S. 33) Unter diesen Vor­aus­­set­­­zun­gen scheint eine neue Auffassung der Sexualität erfor­der­lich, in der das Verhältnis zur Alterität, d.h. zum heteron, als ein zentrales und kon­­stituti­ves Moment jeg­li­cher sexuellen (Selbst)Identifikation er­kannt wird. Denn die kritische Ein­sicht in den fiktiven Charakter sexueller Ka­­tegorialisierungen führt dazu, dass die Sexualdif­fe­renz nicht mehr im Rahmen der sexualdimorphistischen Opposition, son­dern unter Be­rück­­sich­tigung der unwie­derholbaren Sexualkonstitution eines jeden Men­schen bestimmt werden muss. Die »Hetero-Ge­schlecht­lichkeit« als Se­xualität der Differenz, zu der die innere Bewe­gung von Hirschfelds Werk in letzter Konsequenz hinführt, lässt die tra­di­tionelle Opposition  zwi­schen Hetero- und Homosexualität weit hinter sich, da sie Kate­go­rien darstellen, die aus der unzulässigen Ein­tei­lung der Mensch­heit nach sexualdimorphistischen Kriterien resul­tie­­ren. Mit dem subversiven Po­­tential dieser Leitgedanken befindet sich der Jude Magnus Hirsch­feld un­ter den radikalsten Verfechtern ei­ner Nachchristlichkeit, die  —  wie Stir­ner es formulierte  —  mit dem Tod des Gottes am Gottmenschen sich nicht zufrieden geben. Die »Kreu­zigung« des zweiten Adams er­for­­­dert, dass auch seine paradie­si­sche Prolepse vergehen soll. Erst der se­xu­alemanzipierte Mensch, der vom »Bild«[21] des Sexualbegriffes be­freit und in die Verant­wort­lich­keit einer un­abschließbaren sexuellen Selbst­­identifikation entlas­sen wird, ist in der Lage, dem prote­ischen Wesen des Lebens gerecht zu werden und die radikale Zu­künf­tigkeit der Freiheit nachzuvoll­ziehen, die der alte Satz evoziert: b10i7.gif —  »Ich werde dasein, als der ich dasein werde.«[22] Als atheistischer Jude am Ende des Chris­ten­tums nimmt Hirschfeld die pro­pheti­sche Vision der Ge­schichte als Ort der Befreiung in An­spruch und gibt ihr einen bislang uner­warteten Inhalt. Der Denker Elias Canet­ti nennt einen solchen Menschen einen »Hüter der Ver­wand­lung«. (Canetti 1981, S. 283)

 

Literatur

Badinter, Elisabeth: L’un est l’autre. Des relations entre hommes et femmes. Paris 1986.

Bauer, J. Edgar: Eduard Norden: Wahrheitsliebe und Judentum, in: Kytzler, Bernhard u.a.: Eduard Norden (1868-1941). Ein deutscher Gelehrter jüdischer Herkunft. Stuttgart 1994, S. 205-223.

Canetti, Elias: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt 1981.

Dannecker, Martin: Der Homosexuelle und die Homosexualität. Frankfurt 1978.

Dannecker, Martin: Das Drama der Sexualität. Frankfurt 1987.

Feinberg, Leslie: Transgender Warriors. Making History from Joan of Ark to Rupaul. Boston 1996.

Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Freud: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a., Band 10, Frankfurt 1969.

Haeberle, Erwin J.: Anfänge der Sexualwissenschaft. Historische Dokumente. Berlin u. New York 1983.

Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt u.New York 1992.

[Hirschfeld, Magnus:] Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Von Dr. med. Th. Ramien. Leipzig 1896.

[Hirschfeld, Magnus:] Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen! Eine Aufklärungsschrift hrsg. vom wissenschaftlich-humanitären Comitee. Leipzig 1901.

Hirschfeld, Magnus: Berlins Drittes Geschlecht. Berlin u. Leipzig [1904].

Hirschfeld, Magnus: Die Kenntnis der homosexuellen Natur eine sittliche Forderung. Mit einem Anhang: Die Bewertung anderer anormaler Triebe vom ärztlichen Standpunkt. Charlottenburg-Berlin 1907.

Hirschfeld, Magnus: Geschlechts-Übergänge. Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere (Sexuelle Zwischenstufen). 2. Aufl. Leipzig 1913.

Hirschfeld, Magnus: Das angeblich dritte Geschlecht des Menschen. Eine Erwiderung, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 6, 1919, S. 22-27.

Hirschfeld, Magnus: Die intersexuelle Konstitution, in:  Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Band 23, 1923, S. 3-27

Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers. Brugg 1933.

Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922. Berlin 1986.

Linsert, Richard und Kurt Hiller (Hrsg.): Für Magnus Hirschfeld zu seinem 60. Geburtstage als Beigabe zu den »Mitteilungen« des W.H.K.E.V. Berlin 1928.

Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Nietzsche: Sämtliche Werke. Hrsg. von Giogio Colli u. Mazzino Montinari. Band 5. München u. Berlin 1980.

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort hrsg. von Ahlrich Meyer. Stuttgart 1972.

Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing. Glencoe 1952.

Ulrichs, Karl Heinrich: Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. I. Vindex (1864). Berlin 1994.

Wiesel, Elie: Paroles d’étranger. Paris 1982.

Wolff, Charlotte: Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology. London 1986.

 



* Der nachstehende Text wurde unter dem Titel: »Tertium non datur. Se­xuelle Iden­tifikation und Befrei­ungs­geschichte bei Magnus Hirsch­feld« vorgetragen. Das vorangestellte Motto der damaligen Fassung lau­tete: »[...] wir denken, ver­schweigen aber: wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zer­setzt, denn Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Be­griffe [...]« Thomas Bernhard, Büch­ner-Preis-Rede, in: Büchner-Preis-Reden 1951-1971, Stuttgart 1972, S. 216.

[1] Die Sekundärliteratur hat in aller kritischen Ausführlichkeit darauf hin­ge­wie­sen, dass Hirschfelds monu­men­tales Œuvre schwer zu über­schauen, reich an Pa­thos und Wiederholungen und nicht frei von schwer­wiegenden Inkon­sis­ten­zen ist, dass manche seiner sexual­wis­senschaftlichen Grundannahmen heu­te gänzlich unvertretbar sind oder dass seine geistige Grundausrichtung eher kompilatorisch als theo­re­tisch zu sein scheint.

[2] Vor diesem Hintergrund erscheint Hirschfelds Œuvre als ein groß­an­ge­legtes, spät modernes Beispiel für den Wirkungszusammenhang, den Leo Strauss »Persecution and the Art of Writing« genannt hat. (Strauss 1952)

[3] Der Text wird in der Übersetzung von Rudi Paret folgendermaßen wie­der­ge­ge­ben: »Gepriesen sei der, der alle (möglichen) Paare ge­schaf­fen hat: in der Pflan­zenwelt (wörtlich: von dem, was die Erde wach­sen lässt), unter den Men­schen selber (wörtlich: von ihnen selber) und unter Wesen, von denen sie nichts wissen (wörtlich: von dem, was sie nicht wissen)!« (Der Koran. Über­set­zung von Rudi Paret. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 309.) Weitere Belege: Sura 43, 12; 42, 11; 51, 49; 78, 8 und 30, 21.

[4] Vgl. dazu Sura 42, 11: »(Er ist) der Schöpfer von Himmel und Erde. Er hat euch (Menschen) und (auch) die Herdentiere zu Paaren ge­macht und dadurch be­wirkt, dass ihr euch (auf der Erde) verbreitet. Es gibt nichts, was ihm gleich­kommen würde (oder: Nichts ist in seiner Ähnlichkeit).«

[5] Es ist bezeichnend, dass in den »Paris Talks« von 'Abdu'l-Bahá, die zum ka­no­ni­schen Schrifttum der Bahá‘i-Religion gehören und die 1912, d.h. im Jahr der Veröffentlichung von Hirschfelds Schrift Na­tur­gesetze der Liebe, abge­schlos­sen wurden, ausdrücklich gelehrt wird: »God has created all creatures in couples. Man, beast or vegetable, all the things of these three kingdoms are of two sexes [...]« (Paris Talks. Addresses given by  'Abdu'l-Bahá in Paris 1911-12. 11th ed.  London 1969, S. 160 f.)

[6] Biblische Interpretationsansätze, die keine Einengung der Sünde So­doms auf sexuelle Vergehen implizieren, befinden sich in: Ez. 16, 49 f.; Weis. 10, 8 und 19,8; und Sir. 16, 8.

[7] Sura 7, 80 f.; 26, 165 f.; 27, 55; 29, 29.

[8] Zur eigentümlichen Wirkungsgeschichte der Thematik Sodoms in der ara­bi­schen Welt gehört die Tatsache, dass die arabischen Worte sowohl für be­stimm­te homosexuelle Handlungen  ( b10i8.gif )  als auch für den Mann  ( b10i9.gif ), der solche Hand­lungen vollzieht, vom Namen Lots abzuleiten sind.

[9] Dies steht freilich nicht im Widerspruch zu der genügend bekannten geis­tes­ge­­schichtlichen Tatsache, dass das sexualdimorphistische Men­schen­bild in­ner­halb der abrahamitischen Traditionen ansatzweise immer wieder in Fra­ge ge­stellt wurde, wie schon die gnostischen, kabba­lis­ti­schen und christlich-hetero­doxen Spe­kulationen über den Hermaphro­di­tismus des »ersten Adams« ( b10i91.gif ) zeigen. Denn diese und ver­wand­te Überlegungen vermochten nicht, die nor­ma­tive Geltung des of­fenbarungskonformen Sexualdimorphismus bei der Ge­­stal­tung und Re­gulierung ge­schlechtsrelevanter Beziehungen »in dieser Welt« auf­­zu­­heben. In diesem Zusammenhang ist ferner darauf hinzu­weisen, dass die re­li­giös inspirierten, genauso wie die »wissenschaftlich« be­grün­deten Kons­truk­tio­nen eines »drit­ten Geschlechts« einen sys­te­ma­ti­schen Ansatz auf­wei­sen, der sich wesentlich von demjenigen unter­scheidet, der der Hirsch­feld­schen Kon­zep­tion der sexuellen »Zwi­schen­stufigkeit« eines jeden Menschen zugrun­de liegt.

[10] Es ist bezeichnend, dass Hirschfeld in den letzten Kapiteln von Die Welt­rei­se eines Sexualforschers sich mit der für das Judentum entscheidenden Be­deu­tung des damaligen Palästinas  —  »das alte Land der neuen Ver­heißung« (Hirsch­feld 1933, S. 389)  —  und der Stadt Jerusalem aus­­einandersetzt. In die­sem Zu­sammenhang expliziert er (Hirschfeld 1933, S. 392) die von ihm ver­tre­te­ne Konzeption einer jüdischen »Men­schheitsassimilation«, welche die als Ge­gen­­sätze angesehenen »Lö­sungsmodelle« von Assimilation und Zionismus mit­einander vermitteln soll­te. Den Grundgedanken seiner Position fasst Hirsch­feld in dem Satz zusammen: »Nur Mensch sein, dieser scheinbare Rück­­schritt wäre der größte Fortschritt.« Konsequent und an entschei­den­der Stel­le betont er den messianischen Zug seines Anliegens, wenn er das Werk mit den »Hoff­nungs­worte[n]« des Dichters Ferdinand Frei­li­grath beschließt: »Trotz alledem, trotz alledem  —  es kommt die Zeit trotz alledem, da rings der Mensch die Bruder­hand dem Menschen reicht trotz alledem!«

[11] Dass Hirschfeld mit der Polarität von Mann und Frau auch auf der Ebene dessen operiert, was heute in der Re­gel »gender« genannt wird, ist zwar kri­ti­sierbar, aber nicht sonderlich schwerwiegend angesichts der Tatsache, dass es auch hier nicht um eine schlechthinnige Sub­sum­tion des Einzelnen unter eine ausschließliche »Natur« geht, son­dern um die Ermittlung der Proportion der Teilhabe des Individuums an beiden sexuellen »Typoi«.

[12] Vgl. Plato: Symposion 189 d-e.

[13] Vgl. Vatsyayana, Mallanaga: Das Kamasutra. Aus dem Sanskrit über­tragen, mit einem Nachwort, Anmer­kungen und einem Glossar hrsg. von Klaus Mylius, München 1997, S. 62, wo der Terminus mit »dritte Natur« wieder­gegeben wird.

[14] In drei seiner Publikationen wird das »dritte Geschlecht« im Titel er­wähnt. 1901 erschien anonym die vielfach verlegte und übersetzte Broschüre Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen! Eine Auf­klärungsschrift und drei Jahre später die ebenfalls »populär-wis­sen­schaftliche Darstellung« Berlins Drittes Geschlecht. Als Teil eines  Titels setzt Hirschfeld die Be­zeichnung zuletzt 1919 im Aufsatz Das angeblich dritte Geschlecht des Men­schen. Eine Erwiderung ein, wo schon die Formulierung andeutet, dass der Ver­fasser den Terminus cum grano salis verwendet.

[15] Hier sei darauf hingewiesen, dass der Begriff »drittes Geschlecht« in Hirsch­felds Hauptwerk Geschlechts­kun­de auf Grund dreißigjähri­ger For­schung und Erfahrung bearbeitet (Stuttgart 1926-30, 5 Bände) nirgends ter­mi­no­logisch verwendet und dementsprechend im »Re­gis­ter­teil« (Band 5) nicht berücksichtigt wird.

[16] Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, warum Charlotte Wolff, die »the nonsense of sexual categorization« (Wolff 1986, S. 113) ein­sieht, die Behaup­tung aufstellt, dass »Hirschfeld’s theory of sexual inter­mediaries has not survived«. (Wolff 1986, S. 154)

[17] Leibniz, Gottfried Wilhelm: Nouveaux essais sur l’entendement (IV,16,12), in: Leibniz, Die philosophischen Schriften. Hrsg. von C.J. Gerhardt, Bd 5, Hildesheim-New York 1978, S. 155.  —  Auf dem Ti­tel­blatt von Hirsch­felds Schrift wird der französische Satz nicht gänz­lich korrekt Comenius, Leibniz und  Linné zuge­schrie­ben. In einer Fuß­note im Text (S. 17 f.) wird aber dann präzisiert, dass das Axiom »natura non fecit saltus« nicht aus dem Altertum stammt, sondern in dieser Form erst in Karl von Linnés Philosophia botanica (1751) vor­kommt und dass das Motto des Buches ein Zitat aus den 1704 ver­fass­ten Nouveaux essais von Leibniz ist, das letztlich auf den 1613 for­mu­lier­ten Satz des tschechischen Pädagogen Amos Comenius verweist: »Natura in operibus suis non facit saltum.«

[18] In der Berlin-Schrift spricht er sogar von »der hohen, heiligen Auf­ga­be derer, die an dem Befreiungswerke der Uranier arbeiten«. (Hirsch­feld 1904, S. 62 f.)

[19] Hirschfeld 1986, S. 23; Hirschfelds Kampf-Rhetorik gipfelt in For­mu­lie­run­gen wie: »Jeder Urning sollte es als unabweisliche Pflicht an­se­hen, für seine Ehre und Freiheit, das Höchste, was ein Mensch be­sitzt, zu kämpfen.« (Hirsch­feld 1901, S. 13)

[20] In offensichtlicher Anlehnung an Spinozas deus sive natura betont Hirsch­feld daher: »Gott oder die Natur schuf Weiblinge und Urninge so gut wie Männer und Frauen.« (Hirschfeld 1901, S. 8) Ferner konzi­piert er die »Natur« selbst als die »Schöpferin«, deren »Tätigkeit, gleich­­viel ob geistig oder kör­per­lich, ohne sexuelles Walten« undenk­bar wäre. (Hirschfeld 1986, S. 180)

[21] Es ist bezeichnend, dass Hirschfeld unter Verwendung hebräisch-pro­phe­ti­scher Diktion die »von Jahr zu Jahr anschwellende Lawine« an­kündigt, »die hof­fentlich recht bald die immer noch aufrecht­ste­hen­den Mauern des Götzen­tem­pels, in dem die Homosexuellen einem Irr­wahn geopfert werden, zertrüm­mern wird«. (Hirschfeld 1986, S. 48)

[22] Exodus 3, 14. Die Übersetzung ist aus: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Band 1: Die fünf Bücher der Weisung. Heidelberg 1981, S. 158.