J. Edgar Bauer Der Tod Adams:
Frau
Johanna Bock zugeeignet
» ... dieses ›unstet und flüchtig‹ herumwandernde[] Volk[], das nirgends eine eigentliche Heimstätte finden kann und doch überall eine große menschliche Mission erfüllt.« Magnus Hirschfeld: Die Weltreise eines Sexualforschers
» ... car la mission du Juif n’est pas de judaïser le monde mais de l’humaniser ... « Elie Wiesel: Paroles d’étranger
1. Als Magnus Hirschfeld (1868-1935) Anfang der 30er Jahre seine Weltreise unternahm, wurde er in Amerika vielfach als »Einstein of Sex« (Haeberle 1983, S. 38) und in Indien als »the modern Vatsayana of the West« (Hirschfeld 1933, S. 5) begrüßt und gefeiert. Heute dagegen gilt sein Œuvre als überholt und veraltet. Einiges im Werk Hirschfelds lässt sich anführen, was diese Bewertung erklärlich macht.[1] Die heutigen Kritiker Hirschfelds übersehen aber zumeist, dass seine biologisch begründete Auflösung des seit den Schöpfungsberichten der abrahamitischen Offenbarungsreligionen geltenden Sexualdimorphismus eine epochale Änderung des abendländischen Menschenverständnisses markiert, die mit den weltanschaulichen Paradigmenwechseln vergleichbar ist, welche die Evolutionstheorie Darwins oder die Freudsche Psychoanalyse herbeiführten. Die fundamental-anthropologische These, dass ein Mensch weder Mann noch Frau, sondern zugleich Mann und Frau in je individueller und darum unwiederholbarer Ausprägung ist, signalisiert das Ende der einst offenbarungsmäßig sanktionierten, heute weitgehend ideologischen Prämisse der vollständigen Sexualdisjunktion, derzufolge das paradigmatische Individuum Adam deswegen als Mann zu begreifen ist, weil es die sexuellen Eigenschaften seines menschlichen Anderen nicht hat: Adam ist nicht Eva, ein Mann ist keine Frau. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, dass Hirschfelds »Zwischenstufenlehre«, die diese bahnbrechende Demontierung des her kömmlichen Verständnisses der Sexualität einleitet, weder mit seiner emanzipatorisch-aufklärerisch motivierten Annahme eines »dritten Geschlechts«, noch mit der These einer phylo- und ontogenetisch bedingten Bisexualität gleichzusetzen ist, obwohl Hirschfelds Grundlehre zuweilen in engem Zusammenhang mit diesen beiden Themen dargelegt wird. Auch wenn die sexuelle Zwischenstufenlehre als die eigentliche wissenschaftliche Grundlage von Hirschfelds sonstigen theoretischen und emanzipatorischen Bemühungen anzusehen ist, sind ihre radikalsten Konsequenzen von Hirschfeld zwar ausgesprochen, aber nie mit der Ausführlichkeit erörtert, die ihre eigentliche Bedeutung erwarten lässt. Dass Hirschfeld in dieser Hinsicht äußerst vorsichtig vorging, ist angesichts der Tatsache verständlich, dass er als Jude und Wortführer einer sexuellen Minderheit stets mit den Anfeindungen einer voreingenommenen Leserschaft rechnen musste. So fiel es Hirschfeld offensichtlich leichter, um Verständnis für sexuelle Minderheiten bei den sich »normal« Wähnenden zu werben, als diese vorgeblich Normalen darüber zu belehren, wie es mit ihrer eigenen Sexualidentität in Wahrheit bestellt ist.[2] Im Nachhinein kann man nur feststellen, dass Hirschfelds Vorsicht und Zurückhaltung durchaus gerechtfertigt waren. Als Opfer eines 1920 von den Nazis vorbereiteten Attentats, das zuletzt fehlschlug, konnte er am darauffolgenden Tag seine eigene Todesnachricht in den Zeitungen lesen. (Wolff 1986, S. 197 f.) Im Jahre 1933, nachdem er aus Deutschland vertrieben worden war, konnte er in einem Pariser Kino die Bilder der Zerstörung seines Berliner »Instituts für Sexualwissenschaft« durch die Nazis sehen. (Herzer 1992, S. 144) Damit hatten die Nationalsozialisten der deutschen Sexualwissenschaft, die von Juden gegründet und in der Hauptsache getragen wurde, ein abruptes Ende gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist nicht überraschend, dass Hirschfeld aus dem kulturellen Gedächtnis der Gegenwart weitgehend verschwunden ist. Die wenigen, zumeist biografischen Versuche, die bisher etwas dagegen unternahmen, haben an dieser Situation kaum etwas geändert, nicht zuletzt deswegen, weil sie in Hirschfeld nur einen Vorläufer der Sexologie erkennen, dessen theoretische Leistungen entweder überholt oder längst in den Wissensstand heutiger Sexualwissenschaft integriert sind. Dagegen wird im folgenden davon ausgegangen, dass eine sachgemäße Würdigung des theoretischen Kerns von Hirschfelds Lebenswerk noch zu leisten ist und dass die Erfassung der gattungsgeschichtlichen Bedeutung seines epochalen Bruches mit dem Menschenbild des Sexualdimorphismus eine erstrangige denkerische Aufgabe darstellt.
2. Um die tieferen Dimensionen von Hirschfelds kritischen Absichten einzuschätzen, muss man sich vergegenwärtigen, inwiefern der sexuelle Dimorphismus für das Menschenbild der abrahamitischen Religionen prägend wurde, deren jüngste Offenbarungstexte bzw. kanonische Schriften noch in der Zeit entstanden, als Hirschfeld dabei war, sein eigenes sexualwissenschaftliches Œuvre zu schaffen. Die Macht dieser umfassenden religiösen Tradition kommt für Hirschfeld zunächst und zumal in Gestalt des Christentums zum Vorschein. Nicht von ungefähr eröffnet er seine zwischen 1922 und 1923 veröffentlichte Artikelsammlung Von einst bis jetzt mit dem Satz: »Ein Vierteljahrhundert im Kampf für die Rechte Entrechteter, gegen festgewurzelte Irrtümer, die dadurch, dass sie fast zwei Jahrtausende alt sind, zwar nicht zu Wahrheiten werden, immerhin aber durch die lange Überlieferung den Anschein der Wahrheit, einer gewissermaßen unausrottbaren Selbstverständlichkeit angenommen haben — ein solcher Kampf ist keine Kleinigkeit.« (Hirschfeld 1986, S. 7) Auch wenn das Christentum expressis verbis nicht erwähnt
wird, geht klar aus dem Text hervor, dass mit den zweitausendjährigen Irrtümern,
die den Anschein von Wahrheit angenommen haben, die christliche Lehre der
Sexualität gemeint ist, gegen die der organisierte Widerstand des von
Hirschfeld gegründeten »Wissenschaftlich-humanitären Komitees« seit 1897
argumentierte und agierte. Grundlegendes Moment dieser Lehre ist bekanntlich
die offenbarungsmäßige Sanktionierung des sexuellen Dimorphismus, die
schon in den Schöpfungsberichten der abrahamitischen Religionen
stattfindet. Der Gott des hebräischen Schrifttums schuf den Menschen »am
Anfang« nach seinem Bild »als Mann und Frau« — »Gepriesen sei der, der alle (möglichen) Paare geschaffen hat: in der Pflanzenwelt, unter den Menschen selber und unter Wesen, von denen sie nichts wissen (wörtlich: von dem, was sie nicht wissen)!«[3] Verständlich wird diese Erwähnung der »Paare« sogar bei unbekannten Wesen, wenn man bedenkt, dass mit der Möglichkeit der Zeugung das entscheidende Kriterium kreatürlicher Differenz von dem Gott gegeben ist, der zwar »Freund«, aber nicht »Vater« genannt werden darf.[4] Auch wenn Mohammed in der geschlechtlichen Einteilung des kreatürlich Seienden einen willkommenen Anlass sieht, um Gottes Unvergleichlichkeit erneut zu proklamieren und somit letztenendes der biblischen Lehre der Gottesebenbildlichkeit des menschlichen Urpaares (Gen. 1, 27) entgegenzuwirken, bewegt er sich im Horizont der biblischen Annahme, dass der Geschlechtsbinarismus von Mann und Frau zur gottgewollten Schöpfungsordnung gehört. Damit wird eine fundamental-anthropologische Prämisse abrahamitischer Religiosität sichtbar, die sogar in den Offenbarungstexten von den im 19. Jahrhundert entstandenen Religionsgemeinschaften der Mormonen, Christian Science oder Bahá’i nachweisbar sind.[5] Auch wenn Hirschfelds Zwischenstufenlehre sich in der Konsequenz gegen alle abrahamitischen Religionsformen wendet, soweit sie das Prinzip des Sexualbinarismus vertreten, ist nicht zu übersehen, dass das Christentum die privilegierte Angriffsfläche von Hirschfelds Kritik bildet, da er seine »natürliche« Sicht der menschlichen Sexualbeschaffenheit vor allem gegen die übermächtige »theologische« Opposition des Christentums durchsetzen musste. Obwohl es Hirschfeld klar war, dass das, was er im Christentum bekämpfte, auf die hebräische Bibel zurückverweist, ist es symptomatisch für Hirschfelds Grundhaltung, dass er eine offene Konfrontation mit dem Judentum vermied. Hirschfelds Missbehagen mit den theologischen Prinzipien und anthropologischen Konsequenzen des Judentums ist generell nur indirekt ablesbar in seiner Abweisung der christlichen Wirkungsgeschichte der Bibel sowie in seiner Vorliebe für pantheistische Positionen und fernöstliche Religiositäten. Auf diesem Umweg schuf sich Hirschfeld einen freien Raum, in dem eine unerbittliche Lektüre des sexuierten Körpers erfolgen konnte. Denn erst die unbefangene Feststellung dessen, was die Natur tatsächlich hervorbringt, kann nach Hirschfeld zur Ablösung des sexualdimorphistischen Menschenbildes durch das der »unendlichen Geschlechter« führen.
3. Der vorwiegend religiös motivierte Widerstand, auf den
Hirschfeld mit seinen subversiven Thesen stieß, wird verständlich, wenn man die
Strafmaßnahmen bedenkt, die über die Übertreter des göttlich sanktionierten
Geschlechtsdimorphismus in den Offenbarungstexten selbst verhängt wurden.
Das Buch Leviticus sieht die Todesstrafe für den Mann vor, der »sich mit einem
anderen Mann wie mit einer Frau vergeht«. (Leviticus 20, 13) Das Buch Deuteronomium
bezeichnet es als Greuel vor Gott, was man heute »cross dressing« von Männern
und Frauen nennen würde, und statuiert darüber hinaus, dass »keiner mit zerquetschten
Hoden oder abgeschnittenem Geschlechtsgliede in die Gemeinde Jahwes eintreten«
darf. (Deuteronomium 22, 5; 23, 2) Die theologische Assoziierung anormativer
Geschlechtlichkeiten mit Strafe und Tod setzt sich im Neuen Testament fort,
wenn der Apostel Paulus Männer und Frauen die
4. Hirschfelds Verhältnis zur Religion und Religiosität wäre zu einseitig zusammengefasst, wenn man sich mit dem Hinweis begnügen würde, er sei ein atheistischer Jude mit einer ausgeprägten Gegnerschaft zum Christentum gewesen. Denn sein Atheismus verschärfte die Frage der spezifischen Aufgabe des Judentums in der Geschichte, und seine Antichristlichkeit hinderte ihn nicht daran, eine offene Haltung gegenüber nicht-biblischen Formen von Spiritualität einzunehmen. Was sein Verhältnis zur jüdischen Schicksalsgemeinschaft betrifft, wurde schon darauf hingewiesen, dass Hirschfeld vermeidet, sich offen mit den theologischen und anthropologischen Prämissen des Judentums auseinanderzusetzen. Diese Zurückhaltung ist um so symptomatischer für Hirschfelds Verhältnis zum Judentum, als er gelegentlich dagegen protestierte, dass man ihn als Juden bezeichnete, und zugleich seine »deutsche Identität« betonte. (vgl. Herzer 1992, S. 25 f.) Charakteristisch für Hirschfeld ist es auch, dass er — trotz seines assimilatorischen Bestrebens und im Unterschied zu vielen jüdischen Intellektuellen seiner Zeit — die christliche Taufe nicht einmal pro forma annahm. In dieser Beziehung hat seine Feststellung sicherlich eine wichtige Rolle gespielt, dass Juden und Homosexuelle seit Bestehen des Christentums Opfer von dessen theopolitischer Macht gewesen sind. (vgl. Hirschfeld 1986, S. 126) Aber wie andere Juden seiner Generation — man denke an den berühmten Fall Eduard Nordens (vgl. Bauer 1994) — scheint Hirschfeld für die eigentümliche Bedeutung der jüdischen Existenz erst in den Jahren seines Exils empfänglich geworden zu sein. Diese begannen für ihn eigentlich schon 1931, als er nach Amerika ging und dort entschied, eine Weltreise zu unternehmen, ohne ahnen zu können, dass er Deutschland für immer verlassen hatte. Erst auf dieser Reise entwickelte Hirschfeld — vermutlich anlässlich seiner Begegnung gebildeter Bagdad-Juden in China und Indien — das, was als ein tieferer Zugang zur jüdischen Universalität beschrieben werden kann. Trotz seiner reservierten Haltung gegenüber dem Zionismus lässt sich eine revidierte Sicht des Judentums schon darin konstatieren, dass er seinen Besuch in Jerusalem als den Kulminationspunkt seiner Reise betrachtete.[10] Die persönliche Einstellung, die diese neue Bewertung geografischer Symbolik erraten lässt, ist nicht gänzlich überraschend, wenn man bedenkt, dass Hirschfelds Atheismus alles andere als antireligiös war. Als jahrelanges Mitglied des Monistenbundes wurde er von Ernst Haeckels Bemühungen um eine Vermittlung von Religiosität und Wissenschaftlichkeit im Zeichen einer pantheistischen Konzeption der Natur stark beeinflusst, welche sich vor allem auf Spinoza und Goethe berief. Darüber hinaus hatte Hirschfeld ein reges Interesse an der Weltsicht der Theosophie, wie seine bewegende Würdigung von Helena Petrovna Blavatzki und Annie Besant — »beides energische Frauentypen von höchst merkwürdigem Gepräge« (Hirschfeld 1933, S. 203) — zeigt. Die dadurch bekundete Affinität Hirschfelds mit fernöstlicher Geistigkeit ist durchaus verständlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass Arthur Schopenhauer und Walt Whitman — zwei seiner bevorzugten Autoren — eine paradigmatische Hinwendung zur religiösen Philosophie Indiens vollzogen hatten. Obwohl Hirschfeld keinen eindeutig bestimmbaren religiösen Standpunkt aus allen diesen Quellen entwickelte, prägen die religiösen Felder, in denen er sich offenbar gern bewegte, seine theoretischen und praktischen Bemühungen maßgeblich. So lässt der von ihm ausgerufene sexualemanzipatorische Kampf eine geistig-religiöse Motivation erkennen, die mit seiner atheistischen Antichristlichkeit kontrastiert. Ein von Hirschfeld oft zitiertes Motto evozierend hebt Kurt Hiller (1885-1972) hervor: »Jede Selbstzweckauffassung von Wissenschaft ist heidnisch; Hirschfeld’s humanitäre ist religiös — so sehr er ›Monist‹ sein mag.« (Linsert 1928, S. 11) Diese Präzisierung von Hirschfelds jahrelang engem Mitarbeiter ist deswegen von Bedeutung, weil sie eine schwer fassbare Dimension in Hirschfelds Werk benennt, die seine Kommentatoren und Kritiker oft und offensichtlich gern ausblenden. Außerdem ist es um so wichtiger, diesen Hinweis auf die religiöse Qualität von Hirschfelds »humanitärer Wissenschaft« herauszustellen, als Hiller sie in einem gewissen Kontrastverhältnis zur Weltsicht der Haeckelschen Monisten betrachtete. Denn in der von ihnen vertretenen Evolutionslehre darwinistischer Prägung spielt der Begriff der Gerechtigkeit keineswegs eine so zentrale Rolle wie bei Hirschfelds Befreiungsbestrebungen. Schon sein ständiger Rekurs auf emanzipatorisches Gedankengut verweist darauf, wie sehr Hirschfelds geschichtsphilosophische Voraussetzungen vom Ideal der Verwirklichung menschlicher Gerechtigkeit geprägt waren und somit im Widerspruch zur gängigen nachträglichen Sanktionierung der Mächtigeren und Listigeren standen. Seine geschichtlich dimensionierte Konzeption des Befreiungskampfes für die Rechte sexueller Minderheiten wendet sich zwar gegen die schöpfungstheologische Fixierung einer binomen Sexualität. Aber seine Leidenschaft für die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Geschichte verrät die messianische Inspiration der Propheten Israels. Seine Option für die radikale Zukünftigkeit einer bisher nie dagewesenen Gerechtigkeit bewahrte ihn vor der Gefahr der Idealisierung und Verherrlichung eines Schon-Dagewesenen. Anders als die Bemühungen Adolf Brands um die Wiederherstellung der »griechischen Liebe« mit ihrem pädophilen Grundmuster, plädiert Hirschfeld für keine »Wiederholung« der Geschichte. Im Gegenteil. Emanzipation konnotiert bei ihm stets geschichtliche Befreiung von den »Anfängen«.
5. Hirschfelds als religiös zu qualifizierender Atheismus, der von Nietzsches Proklamierung vom Tod Gottes nicht unbeeinflusst bleibt, bildet eine unabdingbare Voraussetzung seiner sexualwissenschaftlichen und emanzipatorischen Programmatik. Er betrachtet freilich nicht als seine Aufgabe, die Negierung des biblisch-platonisch inspirierten Monotheismus aus der eigenen Sicht argumentativ zu untermauern. Er beschränkt sich darauf, das Menschenbild aufzulösen, das dieser Monotheismus legitimiert. Seine theoretisch-emanzipatorischen Bemühungen können darum als eine entscheidende Ergänzung von Max Stirners Kritik der anthropo-theologischen Grundvoraussetzungen des Abendlandes verstanden werden. Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844) enthält eine Diagnose seiner Gegenwart, die von der eindeutig formulierten Überzeugung getragen wird, dass »wir [...] an der Grenzscheide einer Periode« (Stirner 1972, S. 358) stehen, zu der die epochale Erschöpfung des Christentums und seiner profanen neuzeitlichen Transformierungen geführt hat. Auch wenn Stirner das Christentum als »vollendet« betrachtet, in dem Sinne, dass es »kahl, abgestorben und inhaltsleer geworden ist« (Stirner 1972, S. 27), ist er nicht der Ansicht, dass das Christentum schon vernichtet sei. (Stirner 1972, S. 352) Trotz gelegentlichen Rekurses auf Redewendungen wie »nachchristliche Zeit« bzw. »nachchristliche Geschichte« (Stirner 1972, S. 79 u. 103) geht er im wesentlichen von der Prämisse aus, dass »wir [...] noch ganz im christlichen Zeitalter« leben. (Stirner 1972, S. 352) Grund dafür ist die Tatsache, dass die eigentliche, noch herbeizuführende Überwindung des Christentums nicht nur die (im Prinzip schon geschehene) Verflüchtigung Gottes, sondern auch die des Menschen im Kompositum »Gottmensch« voraussetzt, auf den das Christentum sich beruft. Der zweiten Abteilung seines Werkes, die die Überschrift »Ich« trägt, stellt Stirner bezeichnenderweise den folgenden Absatz voran: »An dem Eingange der neuen Zeit steht der ›Gottmensch‹. Wird sich an ihrem Ausgange nur der Gott am Gottmenschen verflüchtigen, und kann der Gottmensch wirklich sterben, wenn nur der Gott an ihm stirbt? Man hat an diese Frage nicht gedacht und fertig zu sein gemeint, als man das Werk der Aufklärung, die Überwindung des Gottes, in unsern Tagen zu einem siegreichen Ende führte; man hat nicht gemerkt, dass der Mensch den Gott getötet hat, um nun — ›alleiniger Gott in der Höhe‹ zu werden. Das Jenseits außer Uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht; allein das Jenseits in Uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft Uns zu erneutem Himmelsstürmen auf: der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht Uns, sondern — dem Menschen. Wie mögt Ihr glauben, dass der Gottmensch gestorben sei, ehe an ihm außer dem Gott auch der Mensch gestorben ist?!« (Stirner 1972, S. 170) Nach Stirner haben Aufklärung und Liberalismus am Ende der mit dem Christentum ansetzenden »neuen Zeit« nur den Tod Gottes am gekreuzigten Gottmenschen nachvollzogen. Der Tod des menschlichen Momentes an ihm steht jedoch noch aus, solange eine verinnerlichte Transzendenz im Menschen fortbesteht. Das Hauptziel von Stirners »anthropologischer« Kritik ist bekanntlich Ludwig Feuerbach. Stirner zufolge stellt Feuerbachs oberster praktischer Grundsatz, dass homo homini Deus est, insofern keinen »Wendepunkt der Weltgeschichte« dar, als die Feuerbachsche Vernichtung des Glaubens zugunsten der Liebe keine Tilgung der Religion, sondern nur den Übergang zu einer neuen Religionsform markiert, in der die »Liebe zum übermenschlichen Gott« durch die »Liebe [...] zum homo als Deus« ersetzt wird. (Stirner 1972, S. 62) Die Transzendenz »in Uns« bzw. der Mensch als Gott ist für Stirner der noch unüberwundene theologische Rest am Ende der »neuen Zeit«, dem Stirner seine eigene Philosophie des »apophatisch« Einzigen entgegenstellt, welche das Ende der anthropologischen Wirkungsgeschichte des Christentums markieren soll. Vor dem Hintergrund der These, dass die sogenannte »menschliche Religion« des Liberalismus nur die letzte Konsequenz und Metamorphose des Christentums sei, (vgl. Stirner 1972, S. 192) ist es nicht überraschend, wenn Stirner die nur scheinbar paradoxe Ansicht vertritt, dass »unsere Atheisten [...] fromme Leute« sind (Stirner 1972, S. 203) oder dass »selbst die neueste Empörung gegen Gott nichts als [...] theologische Insurrektionen sind«. (Stirner 1972, S. 29) Aus dieser Sicht hätte Stirner den Kern seines Vorwurfes gegen Feuerbach mutatis mutandis auch im Falle Friedrich Nietzsches geltend machen können. Denn ungeachtet seiner Proklamation vom Tod Gottes und von der Überwindung des Menschen bleibt Nietzsches Feststellung, dass »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen [...] bis in den letzten Gipfel seines Geistes auf[reicht]«, (Nietzsche 1980, S. 87) insofern ohne Konsequenzen, als er das seit den offenbarten ›Anfangs‹-Berichten geltende Schema des Sexualdimorphismus philosophisch unangetastet lässt. Anders als der mit einem theologischen Rest belastete »Übermensch« Nietzsches entspricht Hirschfelds wissenschaftlich fundierte Dekonstruktion des durch das Sexualbinomium geprägten Menschenbildes zumindest im Ansatz dem Desiderat Stirners, das »Jenseits in Uns« zu beenden. Denn in eigentümlicher Weise vollzieht sich bei Hirschfeld der mit dem Tod des monotheistischen Gottes korrelierende Tod des von ihm erschaffenen Menschen, welcher als erster Adam am Erkenntnisbaum des Paradieses die Sünde beging, für die der zweite Adam am »Baum des Kreuzes« auf Golgatha sühnen musste. Hirschfelds Eröffnung des Horizontes, in dem »Grad und Art der Geschlechtlichkeit« des Menschen jenseits der Wirkungsgeschichte des theologischen Sexualdimorphismus verstanden werden kann, ist ein epochaler Bruch, dessen Tragweite erst vor dem Hintergrund der abendländischen Heilsgeschichte ermessen werden kann.
6. Die bisherigen Würdigungen des Œuvres Hirschfelds zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich von den meisten seiner sexualwissenschaftlichen Grundpositionen distanzieren bei gleichzeitiger Anerkennung seiner geschichtlichen Bedeutung für die Emanzipation sexueller Minderheiten. So macht Martin Dannecker auf die »Erkenntnisarmut« der Schriften Hirschfelds aufmerksam und vertritt die Ansicht, dass Hirschfelds Position im Lichte psychoanalytischer Erkenntnisse sich als »borniert« erweist. (Dannecker 1978, S. 47) Seine eher praktischen Leistungen hingegen beurteilt Dannecker anders: »Auch wenn es gegen den Wissenschaftler Hirschfeld Vorbehalte gibt, sollte man ihn ohne Herablassung betrachten. Für die andere, die sexualreformerische Seite von Hirschfeld gelten solche Vorbehalte nicht.« (Dannecker 1987, S. 67) Jenseits seiner Rolle als »social reformer« (Wolff 1986, S. 415) vermag auch Charlotte Wolff im Grunde keine aktuelle Relevanz Hirschfelds zu erkennen, nicht zuletzt, weil sie die Ansicht vertritt, dass »Hirschfeld’s theory of sexual intermediaries has not survived«. (Wolff 1986, S. 15) Eine ähnliche Tendenz in der Beurteilung kommt schließlich auch bei Manfred Herzer zum Vorschein, wenn er meint, dass »Hirschfelds Werk, sein Konzept einer Sexologie [...] schon in den dreißiger Jahren zu veralten begannen und spätestens mit dem Erscheinen der Kinsey-Reports 1949 und 1953 nur noch ein abgeschlossenes Kapitel aus der Geschichte der Sexualwissenschaft repräsentierten«. (Herzer 1992, S. 7) Die These von Hirschfelds Überholtsein wird im allgemeinen unter Verweis auf wissenschaftliche Mängel und Inkonsequenzen untermauert, zu denen seine Äußerungen über die minderen intellektuellen Fähigkeiten der Frau oder seine schwankende Beurteilung der Homosexualität zwischen naturgemäßer Sexualvariante und pathologischem »Fluch der Natur« gehören. Der eigentliche Grund von Hirschfelds Inaktualität wird jedoch hauptsächlich im Zusammenhang mit seinem »Biologismus« und der These der drüsenmäßigen Determinierung der sexuellen Konstitution gesehen, die dazu führen, dass die diesbezügliche Rolle von Geschichts- und Sozialisierungsprozessen sowie die psychoanalytischen Einsichten Sigmund Freuds über frühkindliche Erfahrung und Sexualdeterminierung verkannt werden. Solche Kritiken an Hirschfeld übersehen jedoch stets den engen Zusammenhang des biologischen Moments seiner Konzeption mit dem, was Manfred Herzer in seiner verdienstvollen Biografie als »eine höchst umstürzlerische Konsequenz« von Hirschfelds Konzept der ›Zwischenstufen‹ bezeichnet. Diese Konsequenz besteht in der »Auflösung der überkommenen Einordnung in das binäre Muster Mann/Frau« und in der Postulierung einer »unendliche[n] Vielzahl von Geschlechtern«. (Herzer 1992, S. 60) Herzer legt dar, dass Hirschfeld von den zwei idealtypisch gedachten Extremen des ›Vollmannes‹ und ›Vollweibes‹ ausgeht, die in der Wirklichkeit freilich nirgends vorkommen können, weil jedes konkrete Individuum eine partikuläre Mischung der den Idealtypen zugedachten Eigenschaften verkörpert, und zwar auf der Ebene der Gestalt der Geschlechtsorgane, der Körperbildung, der Wahl des Sexualobjektes und der psychischen Eigenschaften. Da unter diesen Voraussetzungen jedes Individuum »eine mehr oder weniger ›intersexuelle Variante‹« darstellt, ist der Unterschied zwischen einem Homosexuellen oder Hermaphroditen und einem vorgeblich »Normalen« kein prinzipieller, sondern ein nur quantitativer. Gleich nach dieser Präzisierung unterstreicht Herzer, dass »diese Konsequenz seiner Lehre von den sexuellen Zwischenstufen [...] Hirschfeld nie sehr deutlich betont« hat, weil dieses »einen allzu provozierenden Angriff auf das Selbstverständnis der Majorität« bedeutet hätte. (Herzer 1992, S. 61) Auch wenn Herzer Hirschfelds diesbezügliche These korrekt und ausführlich referiert und sogar deren subversiven Charakter hervorhebt, zieht er daraus keine Konsequenzen für die Beurteilung von Hirschfelds theoretischen Leistungen. Stattdessen beschränkt sich Herzer darauf, die »unhistorische Naivität des Konzepts« zu betonen, das mit einer »starre[n] Zuordnung aller menschlichen Eigenschaften zu einer naturalistisch vorgestellten ewig gleichen Männlichkeit und Weiblichkeit« operiert. (Herzer 1992, S. 61) Dabei übersieht Herzer, dass Hirschfeld gerade nicht »naturalistisch«, sondern — wie er selbst früher bemerkt — »idealtypisch« verfährt. Auch wenn das typologische Paradigma sich gleich bleibt, verkörpern die in der Natur real vorkommenden Individuen stets unterschiedliche Mischungsverhältnisse von männlichen und weiblichen Charakteristiken auf den verschiedenen Beschreibungsebenen. Dadurch, dass das sexuierte Individuum nur unter Rekurs auf beide Idealtypen erfasst werden kann, bleibt das Zusammenfallen von Individuum und Typus prinzipiell ausgeschlossen. Da der Typus in der Natur nie vorkommen kann, erscheint der konkrete Mensch immer als »Flexion« bzw. »Brechung«, die aus dem Polarverhältnis des abstrakten »Vollmannes« und »Vollweibes« resultiert.[11] Noch gravierender als der unberechtigte Vorwurf des Naturalismus ist die Schmälerung des Status der Zwischenstufenlehre in Hirschfelds eigenem Konzept, wenn es um die Beurteilung seiner wissenschaftlichen Leistungen geht. So hebt Herzer hervor, dass »Hirschfeld [...] schon früh auf den eingeschränkten Status seiner Zwischenstufenlehre hingewiesen [hat], die keine Theorie zu sein beanspruchen konnte, da sie keine kausale oder sonstige Ursachenerklärung für die Entstehung der Zwischenstufen, der Männlichkeit und Weiblichkeit bieten konnte«. (Herzer1992, S. 61) Dass Hirschfeld seine Zwischenstufenlehre nicht als »Ursachenerklärung« und damit nicht als »Theorie« ansah, ist unbestritten. Dies impliziert aber nicht den von Herzer angenommenen »eingeschränkten Status« der Lehre. Im Gegenteil. Ihre Unverzichtbarkeit für Hirschfelds Sexualwissenschaft erweist sich in der Tatsache, dass sie keine erklärende Theorie darstellt, sondern eine Art fundamentum inconcussum in sexualibus bietet, von dem mögliche regionale Sexualtheorien auszugehen haben. Erst auf der Basis dieser Lehre wird ersichtlich, dass der Mensch nicht nur als »Kulturwesen«, sondern schon als »Naturwesen« eigentlich »unnatürlich« im gängigen Sinne ist. Der Zugang zu dieser Sexualwahrheit bedarf keiner Theoriebildung, sondern nur der adäquaten Beobachtung und Beschreibung menschlicher Sexuiertheit, wie sie tatsächlich vorkommt. Dass der angebliche »Mann« oder die angebliche »Frau« nicht nur Mann bzw. Frau sind, kann festgestellt werden, indem man von der physiologischen Konstitution eines jeden Menschen ausgeht. Dass erst auf diesem Fundament nicht nur Hirschfelds mehr oder weniger gelungene Regionaltheorien der Sexualität, sondern auch und vor allem die Programmatik seiner Sexualemanzipation stehen, ist das, was Hirschfelds Kritiker mit fast systematischer Konsequenz übersehen. In Anbetracht dieser an Konsequenzen reichen Verkennung ist Charlotte Wolff leider nicht zuzustimmen, als sie 1986, kurz vor ihrem Tod, schrieb: »After almost fifty years Hirschfeld has been rediscovered in the country which chased him from its precincts, and would have killed him if he had not taken refuge in France.« (Wolff 1986, S. 414) Denn von Hirschfelds Wiederentdeckung wird erst dann die Rede sein können, wenn die von ihm selbst kaum betonte Tragweite seiner Zwischenstufenlehre erkannt wird, die aus dem (a-)theologischen Agon des Sexualwissenschaftlers um die Menschlichkeit des Menschen hervorging.
7. Hirschfeld war sich der ehrwürdigen Geschichte des Begriffes
»drittes Geschlecht« bewusst, den er zuweilen gebraucht. Er verweist auf
das
8. In seiner sexualwissenschaftlichen Erstlingsschrift Sappho und Sokrates (1896) macht Hirschfeld darauf aufmerksam, dass »die rein biologische, nicht pathologische [...] Auffassung der Liebe zum eigenen Geschlecht wie sie [in dieser Schrift] [...] zum ersten Male in einem festen Schema durchgeführt wurde«, nicht ganz neu ist. (Hirschfeld 1896, S. 27) Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass Hirschfelds »festes Schema« schon vom Ansatz her theoretisch mehr leistet, als die Versuche seiner Vorläufer, das sogenannte »dritte Geschlecht« im Rahmen der Naturgegebenheiten zu kontextualisieren und so zu normalisieren. Denn schon in diesem frühen Text kündigt sich Hirschfelds umfassende Lehre der Geschlechtsübergänge an. Sie wird entfaltet in engem Zusammenhang nicht nur mit einer Theorie der die Phylogenese rekapitulierenden Ontogenese des Individuums, sondern auch mit der individuellen Entwicklungsgeschichte der bisexuellen Uranlage, deren Spuren bzw. »Reste« schon auf physiologischer Ebene bei jedem Menschen nachweisbar sind: »Jeder Mann behält seine verkümmerte Gebärmutter, den Uterus masculinus, die überflüssigen Brustwarzen, jede Frau zwecklosen Nebenhoden und Samenstränge bis zum Tode.« (Hirschfeld 1896, S. 10) In Analogie dazu sind die »seelischen Zentralstellen der Geschlechtsempfindung« insofern zu betrachten, als »wir [...] mit aller Bestimmtheit annehmen dürfen, dass auch hier Residuen des zum Untergang bestimmten Triebes zurückbleiben«. (Hirschfeld 1896, S. 11) Davon ausgehend, dass »in der Uranlage [...] alle Menschen körperlich und seelisch Zwitter« sind, (Hirschfeld 1896, S. 9 f.) wird die unerschöpfliche Vielfalt der Geschlechter als Resultat von quantitativen, nicht qualitativen Unterschieden verstanden, die davon abhängig sind, wie die Entfaltungs- und Hemmungsprozesse der bisexuellen Uranlage sich zueinander verhalten. Dabei hebt Hirschfeld hervor, dass »das Hinübergreifen des Geschlechtscharakters auf ein anderes Geschlecht um so häufiger vorkommt, je später sich der betreffende Geschlechtsunterschied entwickelt«. (Hirschfeld 1907, S. 22) Demnach sind Gradabweichungen am seltensten bei den primären, häufiger bei den sekundären und am häufigsten bei den tertiären Geschlechtscharakteristiken, zu denen u. a. die sexuelle Triebrichtung gehört. Angesichts der Variationsmöglichkeiten der Geschlechtsmerkmale nimmt sich Hirschfeld vor, »die intersexuellen Varianten in ihrer außerordentlichen Vielgestaltigkeit zu registrieren, sie historisch und biologisch zu erfassen, [sowie] ethnologisch und soziologisch zu bewerten« in der Absicht, eine »Systematisierung der sexuellen Zwischenstufen« vorzulegen. (Hirschfeld 1923, S. 10) Erst diese Systematisierung bietet den Rahmen von Hirschfelds eigenen emanzipatorischen Bemühungen, die davon ausgehen, dass »die Erscheinung der Homosexualität [...] sich in die fortlaufende Reihe ähnlicher und verwandter Naturerscheinungen so genau ein[fügt], dass ihr Mangel eine Lücke in einer zusammenhängenden Linie bedeuten würde«. (Hirschfeld 1907, S. 21) Die entscheidende Annahme der durchgängigen Kontinuität der Natur bildet den ontologischen Hintergrund, vor dem die künstlich gegeneinander abgegrenzten Sexualvarietäten als das erscheinen, was sie sind: Übergänge des Geschlechtlichen. Die Tragweite dieser Annahme macht Hirschfeld deutlich in einem den Nouveaux essais von Leibniz entnommenen Motto, das er dem Traktat über die »Geschlechtsübergänge« voranstellt: »Tout va par degrés dans la nature et rien par sauts.«[17] Ausdrücklich hebt Hirschfeld hervor, dass die »ganz eminente Bedeutung [dieses Naturprinzips] auch zurzeit noch nicht voll gewürdigt ist«. (Hirschfeld 1913, S. 18) Wenn die vorwiegend soziologisch orientierte Rezeption Hirschfelds trotz seiner vielen Hinweise übersieht, welchen Stellenwert dieses »Naturprinzip« in seinem eigenen Werk einnimmt, kann es nicht überraschen, dass der Sinn seiner Empirie oft verborgen und das radikal utopische Moment seines Entwurfs zumeist verdeckt bleibt. Denn erst die sexualwissenschaftliche Anwendung dieses Prinzips verhalf Hirschfeld dazu, die voreiligen und unhinterfragten Setzungen der gängigen Klassifikationsschemata zu vermeiden. So ist seine nicht-hierarchische Einordnung sexueller Varianten im Naturkontinuum eine eindeutige Absage an die weitverbreitete Annahme, dass die möglichst unangefochtene Dominanz eines Poles der bisexuellen Uranlage die unabdingbare Voraussetzung gesunder Sexualität bildet und dass nur eine fortpflanzungsorientierte Sexualität ihre Aufgabe in der Lebensökonomie eines Menschen erfüllen kann. Dass solche Annahmen in den theoretischen Entwürfen Iwan Blochs oder Sigmund Freuds am Werk waren, blieb Hirschfeld freilich nicht verborgen. Derartigen wissenschaftlichen Legitimierungen des einst offenbarungsmäßig sanktionierten Sexualdimorphismus setzt Hirschfeld seine möglichst theoriefreie Anschauung des in der Natur tatsächlich Vorkommenden entgegen. Erst aufgrund der Verkennung dieses Vorgehens kann ein Sexualwissenschaftler wie Martin Dannecker Hirschfeld vorwerfen, unfähig zu sein, »zwischen den Kategorien ›Homosexualität‹ und ›Homosexuelle‹ zu unterscheiden«, und infolgedessen »Wesen und Erscheinung der Homosexualität identisch« zu setzen. (Dannecker 1978, S. 47) Für Dannecker eröffnet erst die Diskrepanz zwischen beiden eine utopische Dimension, die er unter Rekurs auf psychoanalytische Einsichten und Begrifflichkeit gern artikuliert sieht, weil dadurch die Möglichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse anvisiert wird, »die es erlauben, die zwanghaft-kollektive Verdrängung der homosexuellen Triebanteile [der Mehrheit] zu befreien und damit die ihnen zugehörigen fragwürdigen Sublimationen und Reaktionsbildungen überflüssig zu machen«. (Dannecker 1978, S. 48) Dannecker übersieht in seiner Argumentation jedoch, dass Hirschfelds Zwischenstufenlehre strenggenommen keine Aussage über »Wesen« zulässt, weil jede Subsumierung von »Erscheinungen« des sexuellen Naturkontinuums unter ein »Wesen« als eine Fiktion erkannt wird. Insofern als die Zwischenstufenlehre das Individuum nicht als Erscheinung eines Wesens, sondern als Verkörperung eines unwiederholbaren Mischungsverhältnisses erfasst, sind Aussagen über das »Wesen« von »Männern«, »Frauen« oder »Zwittern« im Hirschfeldschen Kontext letztlich nicht zulässig. Von daher wird deutlich, dass Danneckers Kritik die eigentliche utopische (präziser: messianische) Dimension Hirschfelds nicht zu würdigen vermag. Denn seine »Zwischenstufenlehre« enthält im Kern eine weit umfassendere und radikalere Utopie als die, die Dannecker sich für Homosexuelle wünscht. Sie sieht vor, dass einst jeder Mensch nicht nur sich als eine irreduktible sexuelle Variante begreift und verwirklicht, sondern auch dieselbe individuelle Differenz in der Sexualkonstitution aller anderen Menschen anerkennt und respektiert. So gesehen ist Hirschfelds angeblich bescheidenere »Lehre« in der Konsequenz utopisch anspruchsvoller als Freuds »psychoanalytische Theoriebildung«, die bei allem argumentativen Raffinement mit einer unkritisch angenommenen Teleologie der Heterosexualität operiert. Erst die geduldige Arbeit des »Kompilators« Hirschfeld konnte die Grundlage seines epochalen Bruches mit dem Sexualdimorphismus des adamitischen Menschen liefern, dessen Wirkungsgeschichte von der Bibel bis hin zu Sigmund Freud reicht.
9. Hirschfelds sexualwissenschaftlicher Diskurs bewegt sich auf zwei grundsätzlich verschiedenen Problemebenen, ohne dass er den Versuch unternimmt, ihr gegenseitiges Verhältnis zu thematisieren und zu klären. Während der Themenkomplex, der die Problematik des sogenannten »dritten Geschlechts« behandelt, eindeutig im Vordergrund seines Œuvres steht, ist das Thema der im Prinzip unendlichen Vielfalt der Geschlechter zwar an mehreren Stellen angeschnitten, letztlich aber unausgeführt geblieben. So überrascht nicht, dass die Biografen und Kritiker Hirschfelds sich auf den sichtbarsten Aspekt seines Werkes zumeist konzentrieren und im Hinblick darauf ihn für »überholt«, »borniert« oder »theorieunfähig« halten. Wenn schon unter sexualwissenschaftlichen Autoren die eigentliche Tragweite und Relevanz Hirschfelds bisher kaum sachgerecht gewürdigt wurden, ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptrepräsentanten der philosophischen Anthropologie in diesem Jahrhundert weder von Hirschfeld allgemein, noch von seiner subversiven Zwischenstufenlehre Notiz genommen haben. Denker wie Max Scheler (1874-1928), Arnold Gehlen (1904-1976) oder Helmuth Plessner (1892-1985) nahmen Hirschfeld nicht zur Kenntnis und vermieden konsequent jegliche kritische Auseinandersetzung mit dem Sexualdimorphismus, das ihr Menschenbild jedoch prägt. Noch gravierender in diesem Zusammenhang ist jedoch die Ignorierung Hirschfelds durch die französische Philosophin Elisabeth Badinter in ihrem wichtigen Buch L’un est l’autre. Des relations entre hommes et femmes, wo sie im Hinblick auf die Beendigung der binären Konzeption von Mann und Frau schreibt: »Notre civilisation est peut-être en train de modifier quelques traits ›essentiels‹ de l’espèce humaine.« (Badinter 1986, S. 249 f.) Sie beschreibt die gattungsgeschichtliche Entwicklung von der ursprünglichen Komplementarität zwischen »l’Un et l‘Autre« über das patriarchalische »l’Un sans l’Autre« bis zur entscheidenden, in der Gegenwart ansetzenden Mutation, die in der Wahrnehmung und Akzeptanz in sich des geschlechtlich Anderen gipfelt: »l’Un est l’Autre«. Gerade in diesem Zusammenhang wäre zu erwarten gewesen, dass Badinter unter Rückbesinnung auf den oft geschmähten »Biologismus« Hirschfelds die in der unerschöpflichen Vielfalt der »Natur« vorgezeichneten psycho-physiologischen Möglichkeiten ergründet hätte, die gegen die Beibehaltung des sexualdimorphistischen Schemas sprechen. Hirschfelds beharrliche Beobachtung und Beachtung der »biologischen« Aspekte der Sexualität machen einen ungeahnten Reichtum an latenten Möglichkeiten sichtbar, deren allmähliche Verwirklichung er als ein Hauptanliegen seines Befreiungsethos betrachtete. Schon aus diesem Grund sollten seine zahlreichen Äußerungen ethischen Inhalts nicht als leere Floskeln abgetan werden, wie Hirschfelds Kritiker und Kommentatoren des öfteren tun. Ein Motto wie per scientiam ad iustitiam kann im strengen Sinn als hermeneutischer Schlüssel seiner sexualwissenschaftlichen Programmatik verstanden werden, die von der luziden Erkenntnis der sexuellen Naturgegebenheiten hin zur konkreten Gestaltung einer freiheitlichen Kulturwelt führen will, in der die Berechtigung der »biologisch« angelegten sexuellen Vielfalt sich gegen die gesellschaftliche Fixierung des Sexualdimorphismus durchsetzt. Dieser in der »Natur« verankerte, utopische Entwurf impliziert freilich keine Rückkehr zu einer verklärten Vergangenheit. Denn »Natur« wird bei Hirschfeld nicht als kulturell schon verwirklicht betrachtet, sondern als stets künftige Aufgabe, die im Horizont einer vom emanzipatorischen Bestreben geprägten geschichtsphilosophischen Konzeption zu realisieren ist. So sieht Hirschfeld die Abschaffung des gegen Homosexuelle gerichteten § 175 als das ersehnte Ende des christlich dominierten Mittelalters (Hirschfeld 1907, S. 35; Hirschfeld 1904, S. 77) und charakterisiert den antidiskriminatorischen Beitrag des Wissenschaftlich-humanitären Komitees als »ein Werk der inneren Mission«. (Hirschfeld 1986, S. 141) Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist Hirschfelds eigentümliche Diktion, die auf Termini wie »Befreiungsarbeit«, »Befreiungs-« bzw »Emanzipationskampf« oder »Verteidigungskräfte« (Hirschfeld 1986, S. 12, S. 14, S. 22, S. 23, S. 78) oft rekurriert.[18] Der Kampf, worum es geht, wird nach Hirschfeld »nicht um einer Nation, sondern um der Menschheit willen« geführt (Hirschfeld 1986, S. 83) und ist deswegen als »ein Kulturkampf« (Hirschfeld 1986, S. 47) näher zu beschreiben, weil er zwischen dem theologischen Unverstand und dem wissenschaftlich fundierten Wissen menschlicher Sexualität geführt wird, bis die »Urninge [...] endlich durch die Tore der Wahrheit einziehen in das Land der Gerechtigkeit«.[19] Die gesetzliche Gleichstellung von heterosexuellen und homosexuellen Männern und Frauen ist also »eine Kultur- und Menschheitsangelegenheit«, (Hirschfeld 1986, S. 92; vgl. S. 104) »die im Grunde genommen nichts mit politischer und religiöser Zugehörigkeit, um so mehr aber mit dem allgemeinen sittlichen und geistigen Hochstand der Menschen zu tun hat«. (Hirschfeld 1986, S. 93 f.) Unermüdlich betont Hirschfeld, dass die Sexualfrage eine Wahrheitsfrage ist, deren Beantwortung er sein Lebenswerk gewidmet hat, wohl wissend, dass sie eine grundlegende Veränderung des bisherigen Menschenbildes herbeiführen wird. So schreibt er rückblickend: »Seit Verkündigung der sexuellen Grundwahrheit, dass die menschliche Geschlechtlichkeit keine Sache der Theologie, sondern der Biologie ist, ist kaum ein Menschenalter vergangen.« (Hirschfeld 1986, S. 162) Damit nimmt er bezug auf seine Erstlingsschrift Sappho und Sokrates, die mehr als ein Viertel Jahrhundert zuvor erschienen war und von der an Hirschfeld den Beginn des sexuellen »Befreiungskampfes« datiert. Die vom Anfang an vorgesehene sittlich-emanzipatorische Dimensionierung seiner wissenschaftlichen Arbeit macht deutlich, dass der Paradigmenwechsel hin zur Biologie keine »positivistische« Einschränkung seines Blickfeldes und praktischen Zieles implizierte, sondern nur die Bestimmung des theoretischen Ortes markierte, wo der Zugang zu den Sexualwahrheiten eröffnet werden konnte, die der »Emanzipationskampf« dann zu verwirklichen suchte. Hirschfeld schreibt: »Das ist ja das Zuversichtsvolle und Zukunftsreiche, in aller Unruhe immer wieder Ruhe Verleihende, dass eine Wahrheit, wenn sie einmal ausgesprochen ist, unzerstörbar dasteht. Sie kann gedrückt, zeitweilig auch unterdrückt, aber nie zerdrückt werden. Immer wieder schnellt sie elastisch empor, bis die Gegner, des Biegens müde, ihr Spiel aufgeben.« (Hirschfeld 1986, S. 119) Erst Hirschfelds außergewöhnliche »Wahrheitszuversicht«, die mehr und anders ist als die ihm oft vorgeworfene »Wissenschaftsgläubigkeit«, macht es verständlich, dass er — ungeachtet seiner Einschätzung der unmittelbaren und praktischen Erfordernisse der Sexualemanzipation — das theoretische Instrumentarium liefert, das die Demontierung seiner eigenen Konstruktion eines dritten Geschlechts ermöglicht. Die in seinem Werk angelegte selbstkritische Dynamik lässt eine gattungsgeschichtliche Weite anvisieren, in der jeder Mensch, und nicht nur die vorgeblich dritte Sexualalternative, sich als »intersexuelle Variante« begreift und realisiert.
10. Hirschfeld entfaltet seine Sexualwissenschaft im ontologischen
Rahmen einer Naturkonzeption, die unter Vermittlung des Haeckelschen
Monismus letztlich von der Philosophie Baruch de Spinozas inspiriert wurde.[20] Die überreichen Hervorbringungen der
natura naturans garantieren aus Hirschfelds Sicht die prinzipiell unerschöpfliche
Formenvielfalt im Sexualkontinuum. Indem Hirschfelds Zwischenstufenlehre
zur Auflösung nicht nur des sexuellen Dimorphismus, sondern auch des von ihm
selbst »provisorisch« aufgestellten »dritten Geschlechts« führt, wird das
Individuum von den begrifflichen Fiktionen befreit, die es daran hinderten,
die ihm eigentümliche Geschlechtlichkeit zu revindizieren. Damit nimmt Hirschfeld
die schon besprochene Problematik Leslie Feinbergs vorweg, derzufolge die
gegenwärtig gestellte Frage der sexuellen Identifikation die herkömmlichen
Klassifizierungsmuster der Sexualität sprengt. Aber obwohl Hirschfelds
Auffassung der »intersexuellen Varietäten« zumindest im Ansatz der
Vielschichtigkeit und Komplexität der sexuellen Identifikation gerecht wird,
bleibt sein Verständnis des »Naturgemäßen« im Sinn von »Angeborensein«
problematisch. Dass er den Schlüssel der Sexualkonstitution vorwiegend in
dem ontogenetisch vorherbestimmten Drüsenspiegel des Individuums sucht,
ist zwar verständlich angesichts des emanzipatorischen Hauptzieles der
Entkriminalisierung der Homosexualität, die fortan als eine von der Geburt
an determinierte (und das heißt nach Hirschfeld: naturgemäße) Sexualvarietät
verstanden werden sollte. Eine solche argumentative Strategie ist aber im wesentlichen
mit der Fixierung auf einen überbewerteten Anfang behaftet. Damit kann die
Frage der sexuellen (Selbst)Identifikation nicht zu einer prinzipiell unabschließbaren
Aufgabe werden, wie es die Vertreter des »transgenderism« paradigmatisch
reklamieren, sondern wird auf die Kenntnisnahme eines kaum zu modifizierenden
Faktums reduziert. In dieser Hinsicht bleibt Hirschfeld hinter dem
emanzipatorischen Anspruch zurück, den seine eigene »Zwischenstufenlehre« in
der Konsequenz erhebt. Denn die angemessene Würdigung der freiheitlichen
Ausgestaltung angeborener Sexualmöglichkeiten müsste zu der Ansicht führen,
dass die Bestimmung und Mitteilung der Geschlechtlichkeit eines Individuums
— nach Auflösung der herkömmlichen Sexualkategorialität — nur als
artikulierte Geschichte seiner irreduktiblen, jeweils erlebten Sexualdifferenz
möglich ist. Auch wenn Hirschfeld diesen Weg nicht konsequent zu Ende ging,
indiziert sein entschiedenes Interesse am Biografischen, dass er Sexualität
stets als Sexualität der Differenz begriff. Mit seinen zahlreichen
lebensgeschichtlichen Exempeln, die »von Plato bis Platen, von Alexander dem
Großen bis Friedrich dem Großen, vom klassischen Altertum bis zu den
modernen Zeiten« reichen, schärft er den Blick seiner Leser für das unaufhebbar
Unterschiedliche einer jeden Geschlechtlichkeit. (Hirschfeld 1907, S. 33)
Unter diesen Voraussetzungen scheint eine neue Auffassung der Sexualität
erforderlich, in der das Verhältnis zur Alterität, d.h. zum heteron,
als ein zentrales und konstitutives Moment jeglicher sexuellen
(Selbst)Identifikation erkannt wird. Denn die kritische Einsicht in den
fiktiven Charakter sexueller Kategorialisierungen führt dazu, dass die
Sexualdifferenz nicht mehr im Rahmen der sexualdimorphistischen Opposition,
sondern unter Berücksichtigung der unwiederholbaren Sexualkonstitution
eines jeden Menschen bestimmt werden muss. Die »Hetero-Geschlechtlichkeit«
als Sexualität der Differenz, zu der die innere Bewegung von Hirschfelds Werk
in letzter Konsequenz hinführt, lässt die traditionelle Opposition zwischen
Hetero- und Homosexualität weit hinter sich, da sie Kategorien darstellen,
die aus der unzulässigen Einteilung der Menschheit nach
sexualdimorphistischen Kriterien resultieren. Mit dem subversiven Potential
dieser Leitgedanken befindet sich der Jude Magnus Hirschfeld unter den
radikalsten Verfechtern einer Nachchristlichkeit, die — wie Stirner es
formulierte — mit dem Tod des Gottes am Gottmenschen sich nicht zufrieden
geben. Die »Kreuzigung« des zweiten Adams erfordert, dass auch seine
paradiesische Prolepse vergehen soll. Erst der sexualemanzipierte Mensch,
der vom »Bild«[21]
des Sexualbegriffes befreit und in die Verantwortlichkeit einer unabschließbaren
sexuellen Selbstidentifikation entlassen wird, ist in der Lage, dem proteischen
Wesen des Lebens gerecht zu werden und die radikale Zukünftigkeit der
Freiheit nachzuvollziehen, die der alte Satz evoziert: LiteraturBadinter, Elisabeth: L’un est l’autre. Des relations entre hommes et femmes. Paris 1986. Bauer, J. Edgar: Eduard Norden: Wahrheitsliebe und Judentum, in: Kytzler, Bernhard u.a.: Eduard Norden (1868-1941). Ein deutscher Gelehrter jüdischer Herkunft. Stuttgart 1994, S. 205-223. Canetti, Elias: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt 1981. Dannecker, Martin: Der Homosexuelle und die Homosexualität. Frankfurt 1978. Dannecker, Martin: Das Drama der Sexualität. Frankfurt 1987. Feinberg, Leslie: Transgender Warriors. Making History from Joan of Ark to Rupaul. Boston 1996. Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Freud: Studienausgabe, hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a., Band 10, Frankfurt 1969. Haeberle, Erwin J.: Anfänge der Sexualwissenschaft. Historische Dokumente. Berlin u. New York 1983. Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt u.New York 1992. [Hirschfeld, Magnus:] Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Von Dr. med. Th. Ramien. Leipzig 1896. [Hirschfeld, Magnus:] Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen! Eine Aufklärungsschrift hrsg. vom wissenschaftlich-humanitären Comitee. Leipzig 1901. Hirschfeld, Magnus: Berlins Drittes Geschlecht. Berlin u. Leipzig [1904]. Hirschfeld, Magnus: Die Kenntnis der homosexuellen Natur eine sittliche Forderung. Mit einem Anhang: Die Bewertung anderer anormaler Triebe vom ärztlichen Standpunkt. Charlottenburg-Berlin 1907. Hirschfeld, Magnus: Geschlechts-Übergänge. Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere (Sexuelle Zwischenstufen). 2. Aufl. Leipzig 1913. Hirschfeld, Magnus: Das angeblich dritte Geschlecht des Menschen. Eine Erwiderung, in: Zeitschrift für Sexualwissenschaft, Band 6, 1919, S. 22-27. Hirschfeld, Magnus: Die intersexuelle Konstitution, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Band 23, 1923, S. 3-27 Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers. Brugg 1933. Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922. Berlin 1986. Linsert, Richard und Kurt Hiller (Hrsg.): Für Magnus Hirschfeld zu seinem 60. Geburtstage als Beigabe zu den »Mitteilungen« des W.H.K.E.V. Berlin 1928. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Nietzsche: Sämtliche Werke. Hrsg. von Giogio Colli u. Mazzino Montinari. Band 5. München u. Berlin 1980. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort hrsg. von Ahlrich Meyer. Stuttgart 1972. Strauss, Leo: Persecution and the Art of Writing. Glencoe 1952. Ulrichs, Karl Heinrich: Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe. I. Vindex (1864). Berlin 1994. Wiesel, Elie: Paroles d’étranger. Paris 1982. Wolff, Charlotte: Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology. London 1986.
* Der nachstehende Text wurde unter dem Titel: »Tertium non datur. Sexuelle Identifikation und Befreiungsgeschichte bei Magnus Hirschfeld« vorgetragen. Das vorangestellte Motto der damaligen Fassung lautete: »[...] wir denken, verschweigen aber: wer denkt, löst auf, hebt auf, katastrophiert, demoliert, zersetzt, denn Denken ist folgerichtig die konsequente Auflösung aller Begriffe [...]« Thomas Bernhard, Büchner-Preis-Rede, in: Büchner-Preis-Reden 1951-1971, Stuttgart 1972, S. 216. [1] Die Sekundärliteratur hat in aller kritischen Ausführlichkeit darauf hingewiesen, dass Hirschfelds monumentales Œuvre schwer zu überschauen, reich an Pathos und Wiederholungen und nicht frei von schwerwiegenden Inkonsistenzen ist, dass manche seiner sexualwissenschaftlichen Grundannahmen heute gänzlich unvertretbar sind oder dass seine geistige Grundausrichtung eher kompilatorisch als theoretisch zu sein scheint. [2] Vor diesem Hintergrund erscheint Hirschfelds Œuvre als ein großangelegtes, spät modernes Beispiel für den Wirkungszusammenhang, den Leo Strauss »Persecution and the Art of Writing« genannt hat. (Strauss 1952) [3] Der Text wird in der Übersetzung von Rudi Paret folgendermaßen wiedergegeben: »Gepriesen sei der, der alle (möglichen) Paare geschaffen hat: in der Pflanzenwelt (wörtlich: von dem, was die Erde wachsen lässt), unter den Menschen selber (wörtlich: von ihnen selber) und unter Wesen, von denen sie nichts wissen (wörtlich: von dem, was sie nicht wissen)!« (Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 309.) Weitere Belege: Sura 43, 12; 42, 11; 51, 49; 78, 8 und 30, 21. [4] Vgl. dazu Sura 42, 11: »(Er ist) der Schöpfer von Himmel und Erde. Er hat euch (Menschen) und (auch) die Herdentiere zu Paaren gemacht und dadurch bewirkt, dass ihr euch (auf der Erde) verbreitet. Es gibt nichts, was ihm gleichkommen würde (oder: Nichts ist in seiner Ähnlichkeit).« [5] Es ist bezeichnend, dass in den »Paris Talks« von 'Abdu'l-Bahá, die zum kanonischen Schrifttum der Bahá‘i-Religion gehören und die 1912, d.h. im Jahr der Veröffentlichung von Hirschfelds Schrift Naturgesetze der Liebe, abgeschlossen wurden, ausdrücklich gelehrt wird: »God has created all creatures in couples. Man, beast or vegetable, all the things of these three kingdoms are of two sexes [...]« (Paris Talks. Addresses given by 'Abdu'l-Bahá in Paris 1911-12. 11th ed. London 1969, S. 160 f.) [6] Biblische Interpretationsansätze, die keine Einengung der Sünde Sodoms auf sexuelle Vergehen implizieren, befinden sich in: Ez. 16, 49 f.; Weis. 10, 8 und 19,8; und Sir. 16, 8. [7] Sura 7, 80 f.; 26, 165 f.; 27, 55; 29, 29. [8] Zur
eigentümlichen Wirkungsgeschichte der Thematik Sodoms in der arabischen Welt
gehört die Tatsache, dass die arabischen Worte sowohl für bestimmte
homosexuelle Handlungen ( [9] Dies steht freilich
nicht im Widerspruch zu der genügend bekannten geistesgeschichtlichen
Tatsache, dass das sexualdimorphistische Menschenbild innerhalb der
abrahamitischen Traditionen ansatzweise immer wieder in Frage gestellt wurde,
wie schon die gnostischen, kabbalistischen und christlich-heterodoxen Spekulationen
über den Hermaphroditismus des »ersten Adams« ( [10] Es ist bezeichnend, dass Hirschfeld in den letzten Kapiteln von Die Weltreise eines Sexualforschers sich mit der für das Judentum entscheidenden Bedeutung des damaligen Palästinas — »das alte Land der neuen Verheißung« (Hirschfeld 1933, S. 389) — und der Stadt Jerusalem auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang expliziert er (Hirschfeld 1933, S. 392) die von ihm vertretene Konzeption einer jüdischen »Menschheitsassimilation«, welche die als Gegensätze angesehenen »Lösungsmodelle« von Assimilation und Zionismus miteinander vermitteln sollte. Den Grundgedanken seiner Position fasst Hirschfeld in dem Satz zusammen: »Nur Mensch sein, dieser scheinbare Rückschritt wäre der größte Fortschritt.« Konsequent und an entscheidender Stelle betont er den messianischen Zug seines Anliegens, wenn er das Werk mit den »Hoffnungsworte[n]« des Dichters Ferdinand Freiligrath beschließt: »Trotz alledem, trotz alledem — es kommt die Zeit trotz alledem, da rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht trotz alledem!« [11] Dass Hirschfeld mit der Polarität von Mann und Frau auch auf der Ebene dessen operiert, was heute in der Regel »gender« genannt wird, ist zwar kritisierbar, aber nicht sonderlich schwerwiegend angesichts der Tatsache, dass es auch hier nicht um eine schlechthinnige Subsumtion des Einzelnen unter eine ausschließliche »Natur« geht, sondern um die Ermittlung der Proportion der Teilhabe des Individuums an beiden sexuellen »Typoi«. [12] Vgl. Plato: Symposion 189 d-e. [13] Vgl. Vatsyayana, Mallanaga: Das Kamasutra. Aus dem Sanskrit übertragen, mit einem Nachwort, Anmerkungen und einem Glossar hrsg. von Klaus Mylius, München 1997, S. 62, wo der Terminus mit »dritte Natur« wiedergegeben wird. [14] In drei seiner Publikationen wird das »dritte Geschlecht« im Titel erwähnt. 1901 erschien anonym die vielfach verlegte und übersetzte Broschüre Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen! Eine Aufklärungsschrift und drei Jahre später die ebenfalls »populär-wissenschaftliche Darstellung« Berlins Drittes Geschlecht. Als Teil eines Titels setzt Hirschfeld die Bezeichnung zuletzt 1919 im Aufsatz Das angeblich dritte Geschlecht des Menschen. Eine Erwiderung ein, wo schon die Formulierung andeutet, dass der Verfasser den Terminus cum grano salis verwendet. [15] Hier sei darauf hingewiesen, dass der Begriff »drittes Geschlecht« in Hirschfelds Hauptwerk Geschlechtskunde auf Grund dreißigjähriger Forschung und Erfahrung bearbeitet (Stuttgart 1926-30, 5 Bände) nirgends terminologisch verwendet und dementsprechend im »Registerteil« (Band 5) nicht berücksichtigt wird. [16] Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, warum Charlotte Wolff, die »the nonsense of sexual categorization« (Wolff 1986, S. 113) einsieht, die Behauptung aufstellt, dass »Hirschfeld’s theory of sexual intermediaries has not survived«. (Wolff 1986, S. 154) [17] Leibniz, Gottfried Wilhelm: Nouveaux essais sur l’entendement (IV,16,12), in: Leibniz, Die philosophischen Schriften. Hrsg. von C.J. Gerhardt, Bd 5, Hildesheim-New York 1978, S. 155. — Auf dem Titelblatt von Hirschfelds Schrift wird der französische Satz nicht gänzlich korrekt Comenius, Leibniz und Linné zugeschrieben. In einer Fußnote im Text (S. 17 f.) wird aber dann präzisiert, dass das Axiom »natura non fecit saltus« nicht aus dem Altertum stammt, sondern in dieser Form erst in Karl von Linnés Philosophia botanica (1751) vorkommt und dass das Motto des Buches ein Zitat aus den 1704 verfassten Nouveaux essais von Leibniz ist, das letztlich auf den 1613 formulierten Satz des tschechischen Pädagogen Amos Comenius verweist: »Natura in operibus suis non facit saltum.« [18] In der Berlin-Schrift spricht er sogar von »der hohen, heiligen Aufgabe derer, die an dem Befreiungswerke der Uranier arbeiten«. (Hirschfeld 1904, S. 62 f.) [19] Hirschfeld 1986, S. 23; Hirschfelds Kampf-Rhetorik gipfelt in Formulierungen wie: »Jeder Urning sollte es als unabweisliche Pflicht ansehen, für seine Ehre und Freiheit, das Höchste, was ein Mensch besitzt, zu kämpfen.« (Hirschfeld 1901, S. 13) [20] In offensichtlicher Anlehnung an Spinozas deus sive natura betont Hirschfeld daher: »Gott oder die Natur schuf Weiblinge und Urninge so gut wie Männer und Frauen.« (Hirschfeld 1901, S. 8) Ferner konzipiert er die »Natur« selbst als die »Schöpferin«, deren »Tätigkeit, gleichviel ob geistig oder körperlich, ohne sexuelles Walten« undenkbar wäre. (Hirschfeld 1986, S. 180) [21] Es ist bezeichnend, dass Hirschfeld unter Verwendung hebräisch-prophetischer Diktion die »von Jahr zu Jahr anschwellende Lawine« ankündigt, »die hoffentlich recht bald die immer noch aufrechtstehenden Mauern des Götzentempels, in dem die Homosexuellen einem Irrwahn geopfert werden, zertrümmern wird«. (Hirschfeld 1986, S. 48) [22] Exodus 3, 14. Die Übersetzung ist aus: Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Band 1: Die fünf Bücher der Weisung. Heidelberg 1981, S. 158. |