J. Edgar Bauer

 

DER "EINZIGE" ALS "EIGENER".

Gelegentliche Thesen zu einer ideologischen Mißdeutung
Max Stirners


Hier veröffentlicht mit Genehmigung des Autors und der Herausgeber.
Ursprünglich erschienen in: Emanzipation hinter der Weltstadt.  Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen. Katalog zur Ausstellung vom 7. Oktober bis 17. November 2000.  Herausgegeben von Marita Keilson-Lauritz und Rolf F. Lang im Auftrag des Kulturhistorischen Vereins Friedrichshagen e.V. Berlin - Friedrichshagen: Müggel-Verlag Rolf  F. Lang, 2000,  pp. 22-39.

 

"It’s not sane to call a rainbow black and white."

Kate Bornstein[1]

 


1. Max Stirners (1806-1856) posthumes Schicksal in Deutschland stand vom Anfang an im Zeichen der Undankbarkeit. Es sei hier nur daran erinnert, daß sein schriftlicher Nachlass verloren ging oder vernichtet wurde,[2] daß 1925 die wichtigste Sammlung von Stirneriana an das Marx-Engels-Institut in Moskau verkauft werden mußte[3] und daß das 150. Jubiläum der Erscheinung von Stirners Der Einzige und sein Eigentum im Jahre 1994 weder in Bayreuth, noch in Berlin, sondern in Neapel angemessen begangen wurde.[4] Als Stirner nach seinem Tod schon in Vergessenheit geraten war, begegnete John Henry Mackay 1897 zum ersten Mal seinen Namen in Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus[5]. Zehn Jahre später lag die erste Auflage der Biographie vor, mit der der damals noch britische Untertan eine neue Etappe in der Rezeptionsgeschichte Stirners einleitete. Wie Mackay unterstreicht, "war es die höchste Zeit: noch zwanzig Jahre und auch die letzten persönlichen Erinnerungen an Max Stirner und seine Zeit wären unrettbar verloren gewesen."[6] Auch wenn Mackay Stirner als den "kühnsten und konsequentesten Denker"[7] Deutschlands betrachtete und sein Genie mit dem bloßen Talent Hegels und Bruno Bauers kontrastierte,[8] scheint er vor allem von der "unermessliche[n] praktische[n] Tragweite seiner Ideen auf die Gestaltung - und gänzliche Umgestaltung - unseres gesammten sozialen Lebens"[9] angetan zu sein. Obwohl Mackay sich entschieden gegen die "Zunft-Philosophen"[10], die Stirner ablehnten, wandte, räumte er ein, daß er selbst "kein Philosoph"[11] sei. Offenkundig fand Mackay bei Stirner in erster Linie eine Bestätigung seiner individual-anarchistischen Anschauungen[12] und einen Begründungsansatz für die freiheitliche Entfaltung seiner persönlichen Sexualpräferenzen.[13] Dies macht die Intensität verständlich, mit der er jahrzehntelang seine Stirner-Studien betrieb, und verweist zugleich auf die eigentümliche Perspektive seiner Rezeption des Philosophen. Eine sorgfältige Lektüre der Biographie läßt erkennen, daß Mackay sich gern in den zahlreichen Peripherien des Stirnerschen Hauptwerkes aufhält, ohne in den eigentlichen ontologischen Kern eines Denkens vorzustossen, dessen Grösse und Tiefe er offensichtlich nur intuitiv zu erfassen vermochte. Damit zeichnet sich der ideologische und apologetische Grundton der "praktischen" Anwendung Stirnerschen Gedankenguts durch die zunächst anarchistisch orientierte, dann künstlerisch-homoerotisch geprägte Zeitschrift Der Eigene  und die 1903 gegründete "Gemeinschaft der Eigenen"[14] ab.

 


2. Häufig wird Max Stirner entweder als Junghegelianer oder als Nietzscheaner avant la lettre geistesgeschichtlich eingeordnet. Wenn Karl Marx meint, daß "’Stirner’ [...] sich von Hegel dadurch [unterscheidet], daß er dasselbe ohne Dialektik vollbringt"[15], oder wenn Adolf Brand eindeutig identifizierbare Stirnersche Topoi in ein Gedicht einbezieht, das den Titel Der Übermensch[16] trägt, wird die vielfach noch heute andauernde Tendenz deutlich, Stirners eigentliche Denkleistung und Originalität zu verkennen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß Mackay einerseits Stirners kritisch-emanzipatorische Ausrichtung gegenüber Hegels talentiertem Konformismus zu unterstreichen versuchte und andererseits die Ansicht vertrat, daß "eines Tages [...] sich auch der ‘Übermensch’ an der Einzigkeit des Ich zerschmettert haben [wird]".[17] Von Relevanz in diesem Zusammenhang sind auch seine Ausführungen darüber, daß Stirner zu den Unsterblichen zählt, "die in stiller Arbeit dem Geschicke der Menschheit die Wege weisen" und daß er sich "zu den Newtons und Darwins, nicht zu den Bismarcks [...] gesellt"[18] hat. Von daher ist es kein Zufall, daß Mackay Stirner als den "große[n] Vernichter der Phrase"[19] im Vorwort zur 1914 erschienenen, dritten Auflage seiner Biographie bezeichnen wird. Wie wenig aber das Beispiel Stirners von denjenigen tatsächlich verinnerlicht wurde, die Beiträge für den Eigenen lieferten, ist unschwer nachzuweisen. Zahlreiche Belege dafür findet man z.B. in Adolf Brands Prosastück Inseln des Eros, in dem ein Satz wie der folgende keine Ausnahme bildet: "Zu den Quellen der Erlösung geht unsere Fahrt, zu den seligen Tempeln des unbekannten Gottes, dem wir alle dienen!"[20] Wenn man bedenkt, daß diese Art 'Phraseologie' des Herausgebers der Zeitschrift als durchaus repräsentativ für die Schreib- und Denkweise der literarisch ambitionierten Autoren angesehen werden kann, deren Stücke und Essays in Brands Blatt abgedruckt wurden, dann läßt sich fragen, ob die Mackay’sche Charakterisierung Stirners als des großen Phrasen-Vernichters im Grunde selbst nur eine Kostprobe aus dem 'Phrasen'-Arsenal der "Gemeinschaft der Eigenen" darstellt.

 


3. Zu den grundlegenden Oppositionen, die den Stirnerschen Diskurs strukturieren, gehört das Begriffspaar Empörung/Revolution. Während die Revolution unmittelbar die Umwälzung der Gesellschaft oder des Staates und somit eine soziale oder politische Tat bezweckt, zielt die Empörung grundsätzlich darauf ab, die Erhebung bzw. das Emporkommen des Einzelnen herbeizuführen. Die Empörung intendiert darum die Umwälzung der Zustände nur als indirekte Folge ihres hauptsächlichen Anliegens. Strebt die revolutionäre Umwälzung nach einer neuen "Einrichtung", von der man sich die Gewährung der ersehnten Freiheit verspricht, so besteht das Ziel der Empörung darin, "Uns nicht mehr einrichten zu lassen."[21] Zu den Eigentümlichkeiten von Stirners argumentativen Strategien gehört die Tatsache, daß er ausgerechnet Jesus als Prototyp des Empörers betrachtet, der auf das Umwerfen des Bestehenden verzichtete und eben darum zu dessen "Todfeind und wirkliche[m] Vernichter"[22] wurde. Auch wenn Stirners Versuch einer philosophischen Rekuperation des historischen Jesus im Namen des anbrechenden Egoismus am Ende der christlichen Geschichte nicht weniger anfechtbar ist, als die neutestamentliche Verwandlung Jesu in einen gottmenschlichen Messias, ist sein Unterfangen vor allem deswegen von Bedeutung, weil Stirner zu den schärfsten Kritikern der abendländischen Humanismus-Tradition und speziell der christlichen Ideologie der Liebe zählt. Deutlich zeigen sicht die Konturen seiner Kritik in der Auseinandersetzung mit der Feuerbachschen Vernichtung des Glaubens zugunsten der Liebe, die von sich aus - nach Stirner - keine Tilgung der Religion impliziert, sondern nur den Übergang zu einer neuen Religionsform markiert, in der die "Liebe zum übermenschlichen Gott" durch die "Liebe [...]zum homo als Deus"[23] ersetzt wird. Feuerbachs humanistische Kritik an der "theologischen" Religion genügt Stirner deswegen nicht, weil eine solche Kritik - obgleich atheistisch - zuletzt doch religiös bleibt. Damit deutet sich den Standort von Stirners potenzierter Kritik an, der vom Sprachphilosophen Fritz Mauthner "als jenseits von Gläubigkeit und Atheismus"[24] charakterisiert wurde und der den Blick auf den neuen Horizont der philosophischen Arbeit ermöglicht, die das Ende des Heiligen vollbringt. Um Stirners Position sachgerecht einzuschätzen, ist zu beachten, daß seine Nähe zur "anti-humanistischen" Kritik von Denkern wie Nicolò Machiavelli, Thomas Hobbes oder Charles Darwin keineswegs ein Plädoyer für Haß oder Machtmißbrauch impliziert, sondern den philosophischen Versuch anzeigt, Einsicht in die tatsächlichen Konfigurationsvarianten der Macht zu erlangen. Stirner geht es in dem Zusammenhang nicht um die blosse Entlarvung der Liebe als ihr eigenes Gegenteil, sondern um die Klarheit darüber, daß man "mit dem Bewußtsein des Egoismus"[25] lieben muß, um der Entfremdung und "Besessenheit" durch die Liebe zu entkommen. Der Grundsatz: "Die Liebe des Egoisten quillt aus dem Eigennutz, flutet im Bette des Eigennutzes und mündet wieder in den Eigennutz"[26] steht Stirner zufolge dann nicht im Widerspruch zur Möglichkeit, das eigene Leben für andere hinzugeben, wenn man bereit und in der Lage ist, in völliger Souveränität die eigene Existenz als "Kaufpreis" für die Rettung fremden Lebens einzusetzen. Im Gegensatz zum religiösen Idealismus, auf dem die abendländische Kultur basiert, und der stets den der Liebe zugrundeliegenden Egoismus zu verdecken versucht hat, geht es Stirner primär um den Nachweis, daß "auch die Religion [...] auf unseren Egoismus begründet [ist]".[27] Daß vor dem Hintergrund dieser kritischen Ausführungen der Nazarener als "Empörer" erscheint, bedeutet in der Konsequenz, daß für Stirner der vorgebliche Stifter des Christentums in Wirklichkeit einen paradigmatischen Religionsüberwinder im emphatischen Sinne des philosophischen Egoismus darstellt. Von daher wird ersichtlich, daß Stirners Verständnis der christlichen Religionsgeschichte wesentlich komplexer ist, als Mackays Andeutung vermuten lassen[28], und daß es ein gravierendes Versäumnis seines Buches ist, Stirners Sicht des Verhältnisses zwischen Jesus und der Religion, die sich auf ihn beruft, nicht einmal im Ansatz thematisiert zu haben.

 


4. Daß schon der Name von Brands Zeitschrift ein besonderes Verhältnis zum Denken Max Stirners kenntlich machen wollte, kann als unumstritten gelten. Der Begriff des "Eigenen", der auch in der reflexiven Form des "Selbsteigenen oder Selbstangehörigen"[29] bei Stirner vorkommt, ist in seinem Hauptwerk bekanntlich reichlich belegbar. Diese Feststellung darf aber nicht zu der Annahme führen, daß der "Eigene" terminologisch als eine Äquivalenz des Begriffs des "Einzigen" verstanden werden könnte, der im Stirnerschen Diskurs eine entscheidende ontologische Tragweite aufweist. Nach Stirner definiert sich der "Eigene" in bezug auf das, was Eigentum ist oder werden kann. Von daher erscheint seine Domäne als der Ort, in dem die Machtverhältnisse, die die Eigentumsfragen regeln, sich konstellieren, wobei die Macht selbst das Mittel ist, das dem "Eigenen" Eigentum "aneignet". Dieser Vorgang, der als ein Prozeß der "As-similation" von Alteritäten verstanden wird, ermöglicht die Aufhebung desjenigen entfremdenten Verhältnisses zum Seienden, das Stirner zuweilen als "Fremdentum"[30] bezeichnet. Insofern als das "Fremde" ein Wesensmerkmal des Heiligen konstituiert, stellt der Vollzug der Aneignung der Alterität durch die "eigene" Macht eine "Entheiligung"[31] dar. Der "Eigene" stellt sich somit als einen "Entheiliger"[32] dar, der alles vom Standpunkt der Brauchbarkeit betrachtet und wertet. Indem er sich weigert, seine Ansprüche auf Eigentum unter Rekurs auf "fremde" Prinzipien oder Instanzen zu regeln, kündigt er seine Bereitschaft an, solche Ansprüche nur unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Machtmittel der beteiligten "Eigenen" und der eventuellen Konfigurationen der Macht im Wirkungszusammenhang des do ut des durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund plädiert Stirner für einen luziden Umgang mit der tatsächlichen Beschaffenheit des Wirklichen als eines "Krieg[es] Aller gegen alle"[33], der auch dort stattfindet, wo Idealisierungs- und Sublimierungsstrategien die faktische Macht sub contrario erscheinen lässen, um ihr um so wirksamer zu ihrer Durchsetzung verhelfen zu können. Die eigentlich unabschließbare Aufgabe der Verwandlung des "Fremdentums" in "Eigentum" ist die unvermeidbare Konsequenz der Einsicht in die ontologische Verfaßtheit des Realen als herakliteischen [polemos], in dem es durchaus möglich ist, daß Macht in Gestalt der "Ohnmacht" zur Aneignung "ihres" Eigentums gelangt. In grundlegendem Gegensatz zur Verachtung der Schwachen aus der Sicht einer nietzscheanischen "blonde[n] Bestie"[34], plädiert Stirner für eine klarsichtige Einschätzung bislang verkannter Mächtigkeit. Fern von nationalistischen und rassistischen Parolen im Stil Elisarion von Kuppfers oder Adolf Brands legt Stirner ein befreiungstheoretisches Konzept vor, dessen Tragweite und Relevanz erst vor dem Hintergrund derjenigen allgemein-menschlichen Entfremdung gewürdigt werden kann, welche in Gestalt des "Heiligen" von Religion und Philosophie bislang erfolgreich sanktioniert und gefördert wurde.



5. Das Ich, das sich durch seine Macht als "Eigener" seines Eigentums erweist, erlangt die ihm gebührende Bestimmung erst als "Einziger", der sich nicht bloß mit Bezug auf eine zu verbrauchende Welt definiert, sondern sich coram nihilo im Prozeß der Selbstauflösung begreift.[35] Erst im Akt der Überwindung seiner Bestimmung als "Eigener" erfährt sich das Ich als Nichts, aber "nicht im Sinne der Leerheit, sondern [als] das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe".[36] Dabei handelt es sich freilich nicht um das herkömmliche theologische Verständnis von Schöpfung, sondern um die Erschaffung einer Welt durch die unaufhebbar endliche Macht eines sterblichen Schöpfers und ausschließlich für ihn, wobei die Erschaffung selbst als eine ursprüngliche Aneignung und Assimilation von seiender Alterität durch das Ich aufgrund seiner Selbstermächtigung vollzogen wird. Stirner präzisiert: "Ich, dieses Nichts, werde meine Schöpfungen aus Mir hervortreiben."[37] Das Nichts ist aber nicht nur der Ausgangspunkt der schöpferischen Tätigkeit, sondern auch ihre letztgültige Bestimmung, denn: "Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird."[38] Die Readsorption des Eigenen im Einzigen stellt die letzte Konsequenz von Stirners These dar, daß auch der eigene Geist, seine Gedanken und seine Machtverhältnisse zum Schöpfungs- und darum Anspruchsgebiet des Einzigen gehören. Daß der Einzige zwar Gedanken hat, aber kein Gedanke ist, und daß nur Gedanken sagbar sind und im Sagen bestehen, führt dann zur Stirners zentralen Einsicht von der Unaussprechlichkeit des Einzigen[39], dessen apophatische Titulatur besagt, daß er "der Undenkbare", "der Unbegreifliche", "de[r] Unnennbare"[40] und "der Unsagbare"[41] ist. Damit wird der Horizont anvisiert, in dem der Einzige – nach erfolgtem Rückkunft der Macht in den Ursprung des sterblichen Schöpfers – sein eigenes Werden ohne Vorbehalt annimmt und sich eo ipso letztlich dem Nichts ausliefert. Vor dem Hintergrund der schöpferisch-assimilatorischen Tätigkeit des Einzigen stellt sich heraus, daß seine "eigene" Person mit ihm selbst nicht identisch ist, sondern nur sein "erstes Eigentum"[42] konstituiert. Im Gegensatz zu all dem, was Eigentum ist oder werden kann, fungiert das Nichts als das schlechthin Unverfügbare, das in der differierenden Negativität des "sterblichen Schöpfers"[43] am Werk ist und diesen als "das nie seiende Ich"[44] zum Zuge kommen läßt, das die assimilatorische "Ver-nichtung" des "Fremdentums" in Materie und Geist als Abwehr der stets lauernden Gefahr der Wiedereinsetzung vom Heiligen vollzieht. Die aneignende Tätigkeit des Ich stößt allerdings dort auf ihre Grenzen, wo die Sprache sich als untauglich zur Artikulation dessen erweist, was sich dem Eigentumsverhältnis prinzipiell entzieht. Aus dieser Perspektive erscheint

der philosophische Dirkurs Stirners schlußendlich als der Prozeß einer eigentümlichen Selbstaufhebung der Sprache und des mit ihr artikulierten Denkens. Wenn auf die Frage: Wer ist der Einzige? die allein zulässige Antwort lautet: "Ich", dann kommt diese sprachlich artikulierte Entgegnung einem deiktischen Zeichen gleich, das schweigend auf das Unsagbare hindeutet. Das Schweigen , in dem das Denken zu seiner Selbstaufhebung gelangt, ist das Ereignis, das die Beherrschung der Geschichte durch das Heilige beendet. Erst aufgrund dieses Bruches mit dem Heiligen eröffnet sich die Möglichkeit des Heils, "das nicht mehr von den Gebenden, Schenkenden, Liebevollen [...], sondern von den Nehmenden, den Aneignenden (Usurpatoren), den Eignern"[45] kommt. In Anbetracht des zugleich religionskritischen und ontologischen Tiefganges Stirners, der hier freilich nur summarisch angezeigt werden konnte, lassen sich die "Reduktionen" abschätzen, die vorgenommen werden mussten, um aus seinem philosophischen Denken ideologische Leitlinien für eine Lebenspraxis im Stil der "Gemeinschaft der Eigenen" ableiten zu können.


6. Im Gründungsjahr der "Gemeinschaft der Eigenen" erschien ein programmatischer Essay von Edwin Bab in Der Eigene  mit dem Titel "Frauenbewegung und männliche Kultur", in dem die befreiungsgeschichtlichen Grundpositionen der "Kunstzeitschrift" skizziert wurden.[46] Der Essay, der die Studie von Elisarion von Kupffer Die ethisch-politische Bedeutung der Lieblingsminne[47] vom Jahre 1899 als den "Beginn [der] Bewegung"[48] für männliche Kultur charakterisiert, greift auf Kupffers Ansichten über die Notwendigkeit einer "Emanzipation des Mannes"[49] in einer künftigen Kultur zurück, welche die Ablehnung sowohl der diagnostizierten zeitgenössischen "Unterwerfung unter weiblichen Geschmack"[50] als auch der vorgeblichen Diskreditierung weltgeschichtlicher Genies durch die homosexuelle Bewegung voraussetzen wird. Hauptanliegen von Babs Aufsatz ist es , die Kulturbewegung der "Eigenen" als eine unabdingbare "Ergänzung" der Frauenbewegung bei der "vollkommene[n] Lösung der sexuellen Frage"[51] zu deuten. Die von Bab vertretene These des Komplementaritätsverhältnisses beider Emanzipationsansätze geht von einer geschichtlich vorgegebenen Gegensätzlichkeit der zwei Geschlechter aus, deren jeweilige Bevorzugung Bab als eine Folie der kulturellen Opposition zwischen "Griechenland" und "Palaestina"[52] ansieht. In Babs angedeutetem Geschichtsbild verkörpert das alte Judentum das zu Gunsten der Frau gestaltete "Ideal des Familienlebens"[53], während die griechische Antike eine herausragende Realisierung der Freiheit des Mannes zur "Lieblingsminne" und zum "Freundschaftskultus" darstellt. Dabei wird aber hervorgehoben, daß diese geschichtlichen Sozialkonstellierungen nicht ohne weiteres als Vorbilder moderner Befreiungsbestrebungen zu übernehmen sind. Denn einerseits stellt die "alt-jüdische" Norm der Heirat eines "Jünglings zu der Zeit der Pubertät"[54] eine unzumutbare Forderung in der gegenwärtigen Gesellschaft dar. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die griechische Päderastie mit einer heute unvertretbaren Verachtung und Rechtlosigkeit der Frau verbunden war.

Die Lösung des Konfliktes der Geschlechter sieht Bab darum im Ergänzungsverhältnis der zwei Emanzipationsansätze aufgrund der Verschmelzung beider antiken Kulturidealen. Erst als Ergebnis dieser geschichtlichen Symbiose, die Bab als den Weg einer höheren "Schraubenwindung"[55] der Menschheit beschreibt, verspricht er sich eine "wahrhaft menschliche Kultur"[56], welche den Erfördernissen einer modernen Konfiguration der geschlechtlichen Interessen gerecht wird. Wie Otto Weiningers ebenfalls 1903 erschienene Postumschrift "Geschlecht und Charakter" hebt Babs Essay die Menschheitsdimension der Frauenproblematik hervor. Im Gegensatz zu Weininger aber, der seine polemischen Theorien vor dem Hintergrund einer radikalisierten Sittlichkeit im Sinne dessen entfaltet, was er "das 'Dionysische' Kantens"[57] nennt, ist Babs Bevorzugung von Nietzsches Gedankenhorizont klar erkennbar. Während Weininger in negativer und unmißverständlicher Anspielung auf den "Zarathustra" schreibt: "Kantens einsamster Mensch lacht nicht und tanzt nicht , er brüllt nicht und jubelt nicht"[58], qualifiziert Bab die von ihm erwartete Kultur ausgesöhnter Emanzipationsbestrebungen explizit als "eine übermenschliche".[59]

 



7. Noch deutlicher als in Babs Ausschau nach einer "übermenschliche[n] Kultur" tritt der programmatische Bezug auf Nietzsche in einem von Adolf Brand verfassten Gedicht in Erscheinung, das bereits 1896 in Der Eigene  abgedruckt wurde. Über die Inanspruchnahme des damals schon schwer kranken Philosophen hinaus versucht Brand, die Grundzüge einer prinzipiellen Synthese vom nietzscheanischen "Übermenschen" und Stirnerschen "Einzigen" zu skizzieren. Damit wird die fortan immer deutlicher erkennbare Tendenz angekündigt, den weltanschaulichen Bezugsrahmen des "Eigenen" in der Verbindung beider Denker zu suchen. In knapper Form stellt Brand in seinem Gedicht die Hauptgehalte dar, die er den Werken Stirners und Nietzsches entnimmt und als ideologisches Gerüst seiner "Gemeinschaft" verwendet. Dabei ist aber die Entschärfung und Trivialisierung nicht zu übersehen, denen Brand die Grundgedanken beider Philosophen unterzieht, um sie für seine Zwecke einsetzen zu können. Zudem deutet nichts darauf hin, daß Brand bereit oder fähig war, dem wesentlichen Unterschied bezüglich kritischer Radikalität Rechnung zu tragen, der zwischen Stirner und Nietzsche besteht. Brand scheint nicht wahrgenommen zu haben, daß Stirners Herbeiführung des Endes des Heiligen einen philosophisch grundsätzlicheren und umfassenderen Anspruch erhebt, als Nietzsches religionsphilosophische Beanstandung von Christentum oder Buddhismus, die als eine gleichsam "negative" Propädeutik zu den verkappten Retheologisierungen des "Zarathustra" angesehen werden kann. So verquickt Brand den "Einzigen" Stirners mit der Gestalt eines Herausförderers der Götter, der "Selber ein Gott"[60] ist. Auch wenn man Brands Großschreibung von Ich / Mich / Mir als ein Zeichen der Ehrerbietung gegenüber Stirner versteht, bleibt der ganze Gestus vordergründig und zuletzt überflüssig , wenn man bedenkt, daß das Ich , dessen Leben nach Stirner im Horizont einer unentrinnbaren Endlichkeit vergeht, sich bei Brand auf die Hoffnung auf ein "Noch einmal"[61] einläßt, das eindeutig auf "Zarathustras" Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen verweist. Vor diesem Hintergrund erscheint Brands "solares" Ich[62] als eine Gestalt mit den eigentümlichen Schwächen der sogenannten "Siegernaturen", die "nur den Gleichen, / Den Starken"[63] achten. Damit setzt er die weltanschauliche Verachtung der "'Enterbte[n]' des Lebens"[64], die in Kupffers schon zitiertem Essay angedeutet wird, fort und nimmt die zur "Eugenik" führende Verherrlichung derjenigen vorweg, "die adelig und tadellos an Geist und Körper sind."[65] Angesichts der Tatsache, daß Brand keinen Zugang zu den dialektischen Einsichten Stirners und Nietzsches über die Macht der Schwachen und Entrechteten[66] fand, ist es anzunehmen, daß er von der Subtilität seiner eigenen philosophischen Heroen vor allem dann überfordert wurde, als er ihr abgründiges Denken kulturideologisch "anwenden" zu dürfen meinte.

 


8. Adolf Brands Beanspruchung der Philosophie Stirners und Nietzsches kontrastiert mit der Ablehnung und Feindschaft, die er und andere Repräsentanten seiner Kulturbewegung den aufklärerischen Ansichten und emanzipatorischen Aktivitäten Magnus Hirschfelds vielfach entgegenbrachten. So z.B. wendet sich Kupffer in seinem schon zitierten Aufsatz gegen die Mode "in human-wissenschaftlichen und andererseits in nah beteiligten Kreisen [...], von einem 'dritten' Geschlecht zu reden".[67] Obwohl er Hirschfeld nicht namentlich erwähnt, ist davon auszugehen, daß Kupffer auch an Hirschfelds 1896 anonym erschienene Broschüre Sappho und Sokrates, oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? dachte, als er sich gegen den "ganzen Wust von krankhaften und albernen Geschichten, die unser Kultur zu nichts fruchten"[68], wehrt. Aber auch wenn Hirschfeld an der Stelle nicht gemeint gewesen wäre, verweist die Tatsache, daß Edwin Bab im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit den Zielen des "wissenschaftlich-humanitären Comité[s] zu Charlottenburg"[69] die polemischen Äusserungen Kupffers zitiert, darauf, daß schon Bab darin eine kritische Pointe gegen Hirschfeld sah oder sehen wollte. Nach Bab warf Kupffer der homosexuellen Bewegung "Verzerrung der Spitzen unserer Menschheitsgeschichte" vor, "so daß man diese reichen Geister und Helden in ihren urnischen Unterröckchen kaum wiedererkennen mag".[70] Brands diesbezügliche Äußerungen lassen den Beweggrund der Animosität gegenüber Hirschfeld besser erkennen. Denn sein Plädoyer für einen Männlichkeitskultus auf vorwiegend philhellenischer Basis ist mit der im "Übermensch"-Gedicht ausgesprochener Prämisse aufs engste verknüpft , daß "nur am Helden der Held sich empört"[71], und impliziert darum eine ideologische Gegnerschaft zu Positionen, die den "Schwächling" vertreten. Brands Tiraden gegen "sämtliche[ ] Krüppelheimen und Idiotenanstalten aller Länder, wo sie [= "solche unglücklichen Wesen"] auf Kosten der Gemeinden und Staaten künstlich am Leben erhalten werden, obwohl ein rascher Tod der größte Segen für sie wäre"[72], lassen vermuten, welche Meinung Brand von den 'schwachen' Sexualitätsformen hegte, für die Hirschfeld und sein "Comité" sich unbeirrbar einsetzten. Dabei fällt vor allem ins Gewicht, daß Brand in Hirschfeld hauptsächlich den Wortführer einer Emanzipationsform sah, die von den "Eigenen" selbst als alles andere als hilfreich bei "Deutschlands Wiederaufstieg zu neuer Höhe"[73] hätte betrachtet werden können. Wie übrigens auch Sigmund Freud und die meisten Hirschfeld-Interpreten unserer Tage übersah Brand, daß hinter Hirschfelds Publizistik und Aktivitäten eine fundamentale Kritik in Gestalt seiner "Zwischenstufenlehre" sich andeutete, die zur epochalen Auflösung des bis heute weitgehend unhinterfragten Sexualbinarismus und dessen simplistischer Kombinatorik führte. Wenn Brand in der Lage gewesen wäre, die Tragweite dieser "Lehre" Hirschfelds sachgerecht zu würdigen, hätte er auch die eigentliche Dimension ergründen können, in der seine eigene Gegensätzlichkeit zum Sexualforscher sich abspielte. Gegenüber Brands Ideal einer Wiedererstarkung des deutschen Volkstums unter Rekurs auf die vergangenen Kulturwerte Hellas und Germaniens verkörperte Hirschfeld eine aufklärerische und emanzipatorische Haltung, deren Kern darin bestand, ein geschichtlich bislang nie dagewesenes Ausmaß an Freiheit in sexualibus zu ermöglichen.

 


9. Anders als Adolf Brand und "Die Gemeinschaft der Eigenen" berief sich Magnus Hirschfeld auf das Werk Max Stirners nicht, um seine emanzipatorischen Bemühungen weltanschaulich zu untermauern. Auch wenn kein unmittelbar genealogisches Verhältnis des Sexualwissenschaftlers zum Denker nachzuweisen ist, kann Hirschfelds grundlegende, aber nur unzureichend ausgeführte "Zwischenstufenlehre" als eine entscheidende Ergänzung der Befreiungsprogrammatik im Sinne Stirners aufgefaßt werden. Diese Lehre führt zu einer biologisch begründeten Auflösung des seit den Schöpfungsberichten der abrahamitischen Religionsformen geltenden Sexualdimorphismus und somit zu einer Veränderung der fundamental-anthropologischen Voraussetzungen des Abendlandes, welche mit den Paradigmenwechseln durchaus vergleichbar ist, die Darwins Evolutionstheorie oder Freuds Psychoanalyse herbeiführten.[74] Die These, daß ein Mensch weder Mann noch Frau, sondern zugleich Mann und Frau in je individueller und folglich unwiederholbarer Ausprägung ist, markiert das Ende der in der Geschichte wirkungsmächtigen Prämisse der Sexualdisjunktion, derzufolge ein Individuum deswegen als Mann zu betrachten ist, weil es die sexuellen Eigenschaften seines menschlichen Anderen nicht hat: Adam ist nicht Eva, ein Mann ist keine Frau. Im Gegensatz dazu weist Hirschfelds "Lehre" nach, daß nicht bloß die vorgeblich abnormen, sondern "alle Menschen [als] intersexuelle Varianten"[75] anzusehen sind. Denn zum einen läßt sich feststellen, daß auch Menschen, deren morphologisches Geschlecht eindeutig bestimmbar zu sein scheint, immer Charakteristiken in jeweils individueller Graduierung des Geschlechtes aufweisen, dem sie nicht zugeordnet werden. Zum anderen ist eine vergleichbare Graduierung auch auf den anderen Ebenen der Beschreibung des Geschlechtlichen auzutreffen, wobei nicht davon auszugehen ist, daß die Proportionsverhältnisse von Männlichkeit und Weiblichkeit auf den verschiedenen Ebenen sich gegenseitig entsprechen. Vielmehr ist damit zu rechnen, daß bei keinem sexuierten Individuum die Ebenen des chromosomatischen, drüsenbedingten, morphologischen und psychischen Geschlechts miteinander sensu stricto kongruieren. Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Sexuellen, die sich daraus ergeben, führen zur Postulierung einer Unendlichkeit der Geschlechter an Stelle des herkömmlichen Sexualdimorphismus, der die diskursive Artikulation des Geschlechtlichen zwischen der Bibel und Sigmund Freud auch dann prägt, wenn in Namen der Freiheit oder der Toleranz für die Gleichberechtigung einer nicht-heterosexuellen Geschlechtskombinatorik plädiert wird. Deswegen ist es um so notwendiger darauf hinzuweisen, daß die zu Ende gedachte "Zwischenstufenlehre" Hirschfelds seine eigene Postulierung eines "dritten Geschlechtes" als ein im Hinblick auf die Befreiung von Unterdrückten entworfenes Provisorium erscheinen läßt, das vor dem Hintergrund der unermeßlichen Vielfalt der "Geschlechtsübergänge" keinen höheren Status als den einer zweckdienlichen "Fiktion"[76] bzw. eines "Notbehelfs"[77] beanspruchen kann. Wenn man bedenkt, daß für Stirner Aufklärung und Liberalismus am Ende der mit dem Christentum ansetzenden "neuen Zeit" zwar den Tod Gottes am gekreuzigten Gottmenschen, aber nicht den Tod des menschlichen Momentes an ihm nachvollzogen[78], dann wird ersichtlich, daß der "Einzige" als Chriffre für das Ende des die Transzendenz in sich projizierenden und sie verinnerlichenden Menschen steht, welcher sein eigenes Selbstverständnis gemäß den Paradigmen eines durch göttliche Offenbarung sanktionierten Sexualdimorphismus lange Zeit keiner radikal kritischen Befragung unterzog. Insofern als Hirschfelds wissenschaftlich fundierte Dekonstruktion des durch das Sexualbinomium geprägten Menschenbildes dem Desiderat Stirners entspricht, das "Jenseits in Uns" zu beenden, trug der Sexualwissenschaftler dazu bei, den mit dem Tod des monotheistischen Gottes korrelierenden Tod des von ihm erschaffenen Menschen herbeizuführen. Vor dem Hintergrund der kritischen Tragweite von Hirschfelds "Zwischenstufenlehre" wird das eigentliche Ausmaß der theoretischen Selbstüberschätzung von Brands "Gemeinschaft" erkennbar, die in der pädophilen Sexualkombinatorik der hellenischen Antike eine Art panacea gegen die Kulturmalaise der Moderne zu finden glaubte.




10. In seiner Biographie unterstreicht John Henry Mackay, daß Stirner "einsam wie seine Gedanken durch das Leben ging"[79], und daß obwohl Stirner Lehrer war, "nicht ein Wort seines Buches den philosophischen Schulmeister [verräth]".[80] Nachdem Mackay das Buch des Philosophen als "das Leben selbst"[81] apostrophiert hat, kann es nicht gänzlich überraschen, wenn er – allerdings ohne die ironische Distanz eines Karl Marx gegenüber "Sankt Max"[82] - "das unheilige [Buch] des ersten, sich selbstbewußten Egoisten" mit dem "'heilige[n]' Buch an dem Anfang der christlichen Zeitrechnung"[83] parallelisiert. Auch wenn Mackay in dem Zusammenhang darauf verweist, daß Stirner den Begriff des Heiligen auflöste und somit "das Christentum in seinen letzten Konsequenzen"[84] überwand, läßt er die eigentlichen ontologischen Implikationen von Stirners religionskritischen Bemühungen außer acht. Weil Mackay Stirners Auflösung des Heiligen im Grunde nur eine religionshistorische Bedeutung beimißt, bleibt sein Versuch, Stirners Überlegenheit gegenüber Nietzsche herauszustellen, wenig überzeugend. Auch wenn der schon zitierte Satz, daß "Eines Tages [...] sich auch der ‘Übermensch’ an der Einzigkeit des Ich zerschmettert haben [wird]"[85], von einer größeren philosophischen Einsicht als Adolf Brands Versuch einer Kompatibilisierung von Stirner und Nietzsche bezeugt, kommt Mackay nicht einmal in die Nähe von Fritz Mauthners Standortbestimmung des Stirnerschen Denkens als jenseits von Gläubigkeit und Atheismus und somit als "jenseits" der atheistischen Religiosität eines Nietzsche-Zarathustra.[86] Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Mackay sich darüber beklagt, daß Stirner "keine eigentlichen Anhänger" fand und daß "im Grunde [...] Keiner da [war], der die ganze Bedeutung seiner That ihrem vollen Umfange nach begriffen hätte"[87], um vor diesem desolaten Hintergrund sich und die "Eigenen" als diejenigen zu präsentieren, die das denkerische Erbe Stirners endlich angetreten waren. Offenkundig war Mackay nicht in der Lage zu begreifen, daß Stirner zwar einem "Verein von Egoisten", aber nicht der "Gemeinschaft der Eigenen" hätte beitreten können.[88] Trotz anders lautenden Äußerungen scheint Mackay in der Konsequenz darüber hinwegsehen zu wollen, daß Stirners kritische Radikalität eine geistesgeschichtlich außergewöhnliche Herausforderung darstellt, die keine Übereinkunft mit vorgeblichen "Gleichgesinnten" im Stile der "Eigenen" zuläßt. Parallelen zu den grundlegenden Momenten seines Denkens sind selten und am ehesten bei Dichtern von Rang im 19. Jahrhundert anzutreffen. In dem Zusammenhang ist zum einen der visionäre Dichter und Maler William Blake (1757-1827) zu erwähnen, dessen Dichtung –in erstaunlicher Analogie zu Stirner- den ontologisch dimensionierten Prozeß der Beendigung und Überwindung des Heiligen beschreibt. Dieses erscheint bei Blake in Gestalt von "Satan’s Mathematic Holiness"[89] bzw. von den "Cruelties of Holiness"[90] und indiziert somit eine Verbindung sowohl zu "Urizen", der in Blakes Mythologie u.a. den vom Menschen abgelösten, kalten Rationalismus repräsentiert, als auch zu dem teuflichen "Accuser", der im Namen einer unbarmherzigen Gerechtigkeit den menschlichen Jesus kreuzigen will, weil er "the secrets of Holiness"[91] offenlegt. Zum anderen ist auch an den Dichter von "Les Chants de Maldoror", Isidore Ducasse, genannt Comte de Lautréamont, (1846-1870) zu erinnern, der "par tous les moyens"[92] seiner imprekativen Dichtung den "Céleste Bandit"[93] und "la grande famille universelle des humaines"[94] angreift, in einem Versuch, die seiner eigenen Individualität gebührende, aber von Gott und Mensch usurpierte Mächtigkeit ("puissance")[95] zu revindizieren. Obwohl weder Philosoph noch Dichter kann auch der Magnus Hirschfeld der "Zwischenstufenlehre" zu diesem Kreis radikal kritischer Denker insofern gezählt werden, als er mit seinem epochalen Paradigmenwechsel in sexualibus einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur künftigen Ausgestaltung der Stirnerschen "nachchristlichen Geschichte"[96] bzw. "der nachchristlichen Zeit"[97] leistet. Hirschfelds Verwerfung der von den "Eigenen" vertretenen Sexualprogrammatik auf der Basis der "Wiederbelebung" vergangener Kulturideale war eine notwendige Voraussetzung seiner Bemühungen, die Geschichte als Verwirklichungsfeld der in der Natur angelegten, aber zumeist noch ungeahnten Möglichkeiten sexueller Zwischenmenschlichkeit offenzuhalten. Die befreiungsgeschichtliche Dimension, die Hirschfelds Einsicht in die unwiederholbare Geschlechtlichkeit eines jeden sexuierten Individuums anvisieren läßt, kann als denkwürdige Bestätigung einer Voraussage Max Stirners gelten. Sie lautet: "Die Menschen der Nachwelt werden noch manche Freiheit erkämpfen, die Wir nicht einmal entbehren."[98]

 



[1]Kate Bornstein: Gender Outlaw. On Men, Women, and the Rest of Us. New York: Vintage Books, 1995, S. 123.

[2]Vgl. John Henry Mackay: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. Mit vier Abbildungen, zahlreichen Facsimilen und einem Anhang. Reprint der dritten, völlig durchgearbeiteten und vermehrten, mit einem Namen- und Sach-Register versehenen Auflage. Freiburg/Br.: Mackay Gesellschaft und Wetzlar/Lahn: Neuland-Druck: 1977, S. 16.

[3]Vgl. Hubert Kennedy: Anarchist der Liebe. John Henry Mackay als Sagitta. Berlin: Edition AurorA, 1988, S. 8.

[4]Vgl. dazu die Beiträge des 1994 dortigen Kolloquiums in: Max Stirner e l’individualismo moderno. A cura di Enrico Ferri, introduzione di Francesco de Sanctis. Napoli: Pubblicazioni dell’Istituto Suor Orsola Benincasa, CUEN, 1996.

[5]Vgl. Mackay, Max Stirner (wie Anm. 2), S. 5.

[6]Ebda. S. 7.

[7]Ebda. S. VIII.

[8]Ebda. S. 110. Mackay spricht auch von "ein[em] Genie ersten Ranges" (S. 152).

[9]Ebda. S . VII.

[10]Ebda. S. 157.

[11]Ebda. S. XIII.

[12]Vgl. Kennedy, Anarchist der Liebe (wie Anm. 3), S. 38.

[13]Ebda. S. 27.

[14]Für die Klärung diesbezüglich relevanter, geschichtlicher Zusammenhänge vgl. Marita Keilson-Lauritz: Adolf Brand und die Gemeinschaft der Eigenen oder: Emanzipation hinter der Weltstadt. In: Hinter der Weltstadt. Mitteilungen des Kulturhistorischen Vereins Friedrichshagen e.V., Nr. 8 (2000), S. 6-9.

[15]Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihrer Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin: Dietz Verlag, 1958, S. 176.

[16]Siehe unten, These 8.

[17]Mackay, Max Stirner (wie Anm. 2), S. 19.

[18]Ebda. S. 24.

[19]Ebda. S. VII.

[20] Den Text ließ Brand drei mal erscheinen: zunächst 1898 unter der Überschrift Prolog (Der Eigene  2/1, S. 1-4), dann 1903 (Der Eigene  4/5, S. 293-295) und 1919 (Die Gemeinschaft der Eigenen 1919/1) unter dem Titel Inseln des Eros. Hier zitiert nach: Adolf Brand: Inseln des Eros. In: Der Eigene  4/5, Mai 1903, S. 295. In der Fassung von 1889 fehlt das Ausrufezeichen am Ende des Satzes. Die zweite Fassung erschien auch in: Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur. Ein Querschnitt durch die erste Homosexuellenzeitschrift der Welt. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim S. Hohmann. Frankfurt / Berlin: Foerster Verlag, 1981. Der Band enthält keine eigene durchgehende Paginierung. Die Seitenzahlen wurden vom jeweiligen Heft übernommen, in dem die von Hohmann ausgewählten Beiträge erschienen.

[21]Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer. Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1985, S. 354.

[22]Ebda. S. 356.

[23]Ebda. S. 62.

[24]Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Neugesetzt nach der Ausgabe Stuttgart, 1920-1923. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 1989, Bd. 4, S. 350.

[25]Stirner, Der Einzige (wie Anm.21, S. 324.

[26]Ebda. S. 328.

[27]Ebda. S. 182.

[28]Vgl. dazu Mackay: Max Stirner (wie Anm. 2), S. 176.

[29]Stirner, Der Einzige (wie Anm. 21), S. 187.

[30]Vgl. z.B.: ebda. S. 353.

[31]Vgl. z.B.: ebda. S. 202.

[32]Vgl. z.B.: ebda. S. 202.

[33]Ebda. S. 286.

[34]Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Berlin und New York: Walter de Gruyter, 1980, Bd. V, S. 275 (1. Abhandlung, § 11).

[35]Die hier vertretene, ontologische Interpretation Stirners wurde ausführlicher thematisiert in: J. Edgar Bauer: Max Stirner. Das Ende des Heiligen. In: Max Stirner e l’individualismo moderno (wie Anm. 4), S. 357-391.

[36]Stirner, Der Einzige (wie Anm. 21), S. 5.

[37]Ebda. S. 259.

[38]Ebda. S. 412.

[39]Vgl. ebda. S. 348 und 400.

[40]Ebda. S. 164.

[41]Ebda. S. 400.

[42]Ebda. S. 272.

[43]Ebda. S. 412.

[44]Ebda. S. 199.

[45]Ebda. S. 346.

[46]Edwin Bab: Frauenbewegung und männliche Kultur: In: Der Eigene 4, 1903, 6, S. 393-407, hier: 402. Der Aufsatz erschien auch in: Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur. Ein Querschnitt durch die erste Homosexuellenzeitschrift der Welt. Vgl. Anm. 20.

[47]Erschienen in : Der Eigene [3], 1899, 6/7 (= 1./2. Oktoberheft; Neue Folge, 1. Jahrgang). Der Text stellt zugleich die "Einleitung des Herausgebers" der 1900 erschienenen, homoerotischen Anthologie Kupffers dar. Zitiert wird diese "Einleitung" im folgenden nach: Elisarion vonKupffer: Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur. Eine Sammlung mit einer ethisch-politischen Einleitung. Nachdruck der Ausgabe von 1900 mit einem Vorwort von Marita Keilson-Lauritz. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1995.

[48]Bab, Frauenbewegung (wie Anm. 46), S. 403.

[49]Kupffer, Lieblingsminne (wie Anm. 47), S. 2.

[50]Bab, Frauenbewegung (wie Anm. 46), S. 404.

[51]Ebda. S. 402.

[52]Ebda. S. 401.

[53]Ebda. S. 401.

[54]Ebda. S. 401.

[55]Ebda. S. 407; vgl. S. 393.

[56]Ebda. S. 407.

[57]Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calasso. München: Matthes & Seitz Verlag, 1980, S. 211.

[58]Ebda. S. 211.

[59]Bab, Frauenbewegung (wie Anm. 46), S. 407.

[60]Das Gedicht wurde in Der Eigene in zwei Fassungen abgedruckt: 1/0 (1896) und 5/6 (1905). Hier wird nach dem Erstdruck zitiert: Adolf Brand: Der Übermensch. In: Der Eigene 1 , 1896, 1  (die sog. Nullnummer vom 3. März 1896), S. 9. Die zweite, leicht modifizierte Fassung ist abgedruckt in: Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur. Ein Querschnitt durch die erste Homosexuellenzeitschrift der Welt (wie Anm.20#).

[61]Brand, Der Übermensch (wie Anm. 60), S. 9.

[62]Brands häufiger Rekurs auf die Sonnenmetaphorik ist auffallend. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß auf der Flagge der "Gemeinschaft" "ein goldenes Kreuz auf einem grünen Grunde" stand, als ein "Zeichen [...], das wie das ewige Sonnenlicht, immer neues Leben erweckend, der ganzen Erde leuchtet" (Adolf Brand: Die Gemeinschaft der Eigenen. Bund der Freundschaft und Freiheit. 1903(-)1925. Satzung. Berlin-Wilhelmshagen: Adolf Brand / Der Eigene [1925], S. 27) Dementsprechend fand "der Bundestag der Gemeinschaft der Eigenen [...] jedes Jahr in Berlin um die Weihnachtszeit zur Feier der Wintersonnenwende statt" (ebda. S. 29) Die Tendenz zur Umdeutung christlicher Symbolik und Zeitreferenz ist nicht zu übersehen.

[63]Brand, Adolf: Der Übermensch...ebda., S. 9.

[64]Kupffer, Lieblingsminne (wie Anm. 47), S. 9.

[65]Adolf Brand: Freundesliebe als Kulturfaktor. Ein Wort an Deutschlands männliche Jugend. In: Der Eigene 13, 1930, 1,  S. 3. Der Text ist abgedruckt in: Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur. Ein Querschnitt durch die erste Homosexuellenzeitschrift der Welt (wie Anm. 20). Es handelt sich bei dieser Äußerung nicht bloß um eine persönliche Ansicht Brands. In den “Satzungen" der "Gemeinschaft der Eigenen" von 1925 wird für mehr Qualität "bei dem Nachwuchs unseres Volkes" plädiert: "Denn Kranke, Kümmerlinge, Schwachköpfe und Idioten haben wir schon genu" (Brand, Gemeinschaft der Eigenen, wie Anm. 62, S. 15).

[66]Grundlegend zu diesem Thema bei Nietzsche ist: Richard Maximilian Lonsbach: Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch. Zweite, um einen Anhang und ein Nachwort erweiterte Auflage. Herausgegeben von Heinz Robert Schlette. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann, 1985.

[67]Kupffer, Lieblingsminne (wie Anm. 47), S. 3.

[68]Ebda.

[69]Bab, Frauenbewegung (wie Anm. 46), S. 403.

[70]Ebda. S. 404.

[71]Brand, Der Übermensch (wie Anm. 60), S. 9.

[72]Brand, Freundesliebe (wie Anm. 65), S. 4.

[73]Ebda. S. 8.

[74]Die im folgenden skizzierte Deutung Hirschfelds wurde bislang in zwei Beiträgen erörtert: J. Edgar Bauer: Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds. In: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Herzer. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1998, S. 15-45; und J. Edgar Bauer: Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Nr. 29/30, Juli 1999, S.66-80.

[75]Magnus Hirschfeld: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897 – 1922. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Manfred Herzer und James Steakley. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1986, S. 49.

[76]Vgl. Magnus Hirschfeld: Die intersexuelle Konstitution. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 23, 1923, S. 24.

[77]Vgl. ebda. S. 23.

[78]Stirner, Der Einzige (wie Anm. 21), S. 170.

[79]Mackay, Max Stirner (wie Anm. 2), S. 87.

[80]Ebda. S. 131.

[81]Ebda. S. 158.

[82]So der Titel des Stirner-Kapitels in: Marx, Engels: Die deutsche Ideologie (wie Anm. 15), S.101.

[83]Mackay, Max Stirner (wie Anm. 2), S. 177.

[84]Ebda. S. 176.

[85]Ebda. S. 19.

[86]Vgl. Mauthner, Der Atheismus (wie Anm. 24), S. 352.

[87]Mackay, Max Stirner (wie Anm. 2), S. 131.

[88]Hier sei nur darauf hingewiesen, daß die "Gemeinschaft" in ihrer "Satzung" Werbung für ein Projekt mit Sätzen wie folgendem machte: "Besonders Aertze, Landwirte und Gärtner können sich eine ganz hervorragende gesellschaftliche Stellung sichern, indem sie hier eine Kulturarbeit ersten Ranges unterstützen" (Meine Hervorhebung). Die philisterhafte Haltung der "Eigenen" kommt erneut zum Ausdruck, wenn sie kurz darauf sogar "Litteraten, Künstler und Pädagogen" mit Versprechungen über "einen hochgeachteten Namen und eine sehr angesehene Stellung" zu ködern versuchen. (Beide Zitate: Brand, Die Gemeinschaft der Eigenen, wie Anm. 65, S. 33).

[89]William Blake: Complete Writings with variant readings. Edited by Geoffrey Keynes. Oxford: Oxford University Press, 1979, S. 521. Vgl. auch "Satan’s holiness" (S. 530); "Satanic Holiness" (S. 693) und "the Satanic Body of Holiness" (S. 737).

[90]Ebda. S. 348. Vgl. zudem S. 501 und 707. Blake schreibt auch von "cruelty of holiness" (S. 705) und von "cruel holiness" (S. 737).

[91]Ebda. S. 755. Die wichtige Passage lautet: "Crucify this cause of distress, / Who don’t keep the secrets of Holiness!"

[92]Vgl. Lautréamont / Germain Nouveau: Œuvres complètes. Textes établis, présentés et annotés par Pierre-Olivier Walzer. Paris: Bibliothèque de la Pléiade, Éditions Gallimard, S. 87, wo es heißt: "Ma poésie ne consistera qu’à attaquer, par tous les moyens, l’homme, cette bête fauve, et le Créateur, qui n’aurait pas dû engendrer une paraille vermine."

[93]Ebda. S. 197.

[94]Ebda. S. 58.

[95]Vgl. ebda. S. 236.

[96]Stirner, Der Einzige (wie Anm. 21), S. 103.

[97]Ebda. S. 79.

[98]Ebda. S. 139.