J. Edgar Bauer

Debatte

Über Hirschfelds Anspruch. Eine Klarstellung.

 

- Revidierte Fassung -
Hier veröffentlicht mit Genehmigung des Autors.
Ursprünglich erschienen in: Bauer, J. Edgar:  Über Hirschfelds Anspruch.  Eine Klarstellung.  In:  Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Herausgegeben von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V.  Redaktion:  Ralf Dose.  Berlin:  Nr. 29/30, Juli 1999,  S. 66-80.

"Premier soldat: Quel vacarme! Qui sont ces bêtes fauves qui hurlent?

Second soldat: Les Juifs. Ils sont toujours ainsi. C´est sur leur religion qu'ils discutent."

Oscar Wilde: Salomé[1]

 

1. In seiner ausführlichen Replik auf meinen Essay "Der Tod Adams. Geschichtsphilosophische Thesen zur Sexualemanzipation im Werk Magnus Hirschfelds"[2] hat Manfred Herzer den Versuch unternommen, die dort vertretene Deutung von Hirschfelds Œuvre in drei Schritten – "Der Einzige und sein Geschlecht", "Religiöser Atheismus" und "Das dritte Geschlecht der Romantik" – zu widerlegen. Während Herzer sowohl in seinem eigenen Buch über Hirschfeld[3] als auch in der Replik im Grunde nur um eine historische Würdigung der vorgeblich schon überholten Ansätze Hirschfelds bemüht ist, wird im folgenden – wie schon im Essay – davon ausgegangen, daß die sachgemäße Befragung und Interpretation der Texte Hirschfelds zur Freilegung einer fundamentalen und noch gültigen Kritik an der bisherigen Theorie und Befreiung des Sexuellen führt.

 

2. Die Art von Herzers interpretatorischem Umgang mit Texten zeigt sich exemplarisch schon im ersten Satz seiner Replik. Um Hirschfelds "Vision des neuen Lebens" (45)[4], die der Essay herausarbeitet, zu charakterisieren, gebraucht Herzer den auf Stefan George zurückgehenden Ausdruck "übergeschlechtlich". In dem Zusammenhang ist die Verwendung des Begriffes irreführend und falsch, da Hirschfelds Aufhebung der bimorphen Sexualität weder ein "Jenseits" der sexuellen Differenzen noch die "Überwindung" des Geschlechtlichen überhaupt, sondern die Vervielfältigung der Sexualdifferenzen und die damit zusammenhängende Bereicherung und Potenzierung des Geschlechtlichen anvisiert. Schon der Titel "Tertium non datur", mit dem die Vortragsfassung des Essays angekündigt war, deutete daruf hin, daß aus Hirschfelds letztgültiger Perspektive es nicht ausreichen würde, die Erweiterung auf eine dritte Sexualform zu postulieren, um die menschliche Ge­schlechtlichkeit adäquat erfassen zu können. Die eigentliche emanzipatorische Alternative zur Kategorialität des ersten, zweiten und dritten Geschlechts ist die der "unendlichen Geschlechter", der zufolge die Sexualdifferenzen so vielfältig konzipiert werden müssen, wie es sexuierte Individuen gibt. Diese grundlegende Position Hirschfelds stellt strenggenommen einen "epochalen Bruch" mit dem theologisch sanktionierten Sexualdimorphismus dar, der im abendländischen Kulturraum seit der Christianisierung der heidnischen Völker gilt. Auch wenn die dimorphische Sicht des Geschlechtlichen vielfach in vor- und parabiblischen Kulturräumen vorhanden war, die das abendländische Verständnis des Sexuellen beeinflußten, erlangte dieses seine wirkungsmächtigste Entfaltung dank der religiösen Sanktionierung durch den monotheistischen Gott der abrahamitischen Offenbarung. Um dies zu verdeutlichen, wurde im zweiten Absatz des Essays auf einige schöpfungstheologische Prämissen bezüglich des Sexualdimorphismus hingewiesen, die für die abrahamitische Religiosität zwischen dem Buch Genesis und den kanonischen Bahai-Texten charakteristisch sind. Herzers Vorwurf der einseitigen Konzentration auf den "biblischen Teil der Geschichte" (45) und der daraus resultierenden Vernachlässigung etwa Platons basiert letztlich darauf, daß er die spezifische Sanktionsmächtigkeit des Monotheismus verkennt und infolgedessen nicht einzusehen vermag, daß die griechische Antike nichts Vergleichbares zu bieten hatte. Daß nicht die bloße Ideengeschichte des Sexualdimorphismus, sondern die historische Durchsetzungsmacht dieser Sexualauffassung im Zentrum von Hirschfelds Interesse stand, wird darin ersichtlich, daß er den Kampf des Wissenschaftlich-humanitären Komitees als einen Kampf gegen Irrtümer beschreibt, die "fast zwei Jahrtausende alt sind".[5] Die Frage, "ob nun Jerusalem oder Athen auf die Geschlechterordnung in Europa den entscheidenden Einfluß geübt hat" (45), erhält bei Hirschfeld insofern eine entschiedene Antwort, als seine Argumentation und Polemik sich nicht gegen die sexualdimorphistischen Auffassungen der heidnischen Antike richtet, sondern gegen die theo-politische Macht des Christentums, die den "Irrtum" des Sexualdimorphismus geschichtlich durchsetzte. Auf diese Selbstverständlichkeiten erneut und ausführlich hinzuweisen, wäre nicht notwendig gewesen, wenn es Herzer gegenüber nicht klarzustellen gälte, daß das im Essay behandelte Thema sich nicht auf die Patriarchat-Problematik reduzieren läßt, die Herzer zufolge der Bibel und dem griechischen Kulturerbe gemeinsam ist. Bei aller befreiungsgeschichtlichen Relevanz der Auflösung männlicher Herrschaftsstrukturen darf diese Frage mit der anthropologisch grund­legenderen Fragestellung der Zwischenstufenlehre nicht verwechselt werden. Denn zum einen ist zu berücksichtigen, daß Frauen trotz ihrer geschichtlichen Unterdrückung als Bestandteil der vorgesehenen Schöpfungsordnung angesehen wurden und daß die Unterdrückung derjenigen, die sich offenkundig dem bipolaren Sexualschema entzogen, anders begründet und flagranter war, als die der vorgeblich eindeutig bestimmbaren Frauen. Zum anderen ist daran zu erinnern, daß die Konstitution einer geschlossenen "Klasse" unterdrückender Männer erst auf Grund des Mißverständnisses möglich wurde, das die Zwischenstufenlehre berichtigt. Vor diesem Hintergrund erscheint Herzers Zurückführung der sexualemanzipatorischen Frage auf die negativen gesellschaftlichen Konsequenzen des asymetrischen Verhältnisses zwischen den zwei sanktionierten Geschlechtern nicht zulässig und seine unkritische Bereitschaft zur Übernahme der vom geschlechtlichen Dimorphismus geprägten Konzeption des Sexuellen besonders fraglich. Kraß kommt Herzers ideologisch anmutende Verweigerung einer radikaleren Fragestellung zum Ausdruck, wenn er unüberlegt behauptet, daß "eine sexuelle Partnerwahl jenseits von Homosexualität, Heterosexualität oder Bisexualität [...] heutzutage ähnlich schwer vorstellbar wie zu Hirschfelds Zeiten [ist]". (50) Dabei übersieht er, daß diese Alternativen die Möglichkeiten der Sexualkombinatorik nur dann erschöpfen könnten, wenn man von der theoretischen Legitimität sexualdimorphistischer Subsumptionen von Individuen ausgehen würde. Just diese Annahme wird aber von der radikal aufgefaßten Zwischenstufenlehre und der daraus folgenden Einsicht in die "Unendlichkeit der Geschlechter" in Frage gestellt und verworfen. Unter Herzers unreflektierten Voraussetzungen nimmt es nicht Wunder, daß für ihn Hirschfeld als ein "abgeschloss­enes Kapitel"[6] der Sexualwissenschaft zu gelten hat.

 

3. Im Essay wurde darauf hingewiesen, daß Hirschfelds Diskurs sich auf zwei grundsätzlich verschiedenen Problemebenen bewegt. Während der Themenkomplex "drittes Geschlecht" im Vordergrund steht und die Hirschfeld-Rezeption beherrscht, wird das Thema der "unendlichen Geschlechter" zwar mehrfach angesprochen, aber es bleibt letztlich unausgeführt, mit der Folge, daß Hirschfelds Kritiker und Kommentatoren seine eigentliche Bedeutung unterschätzen. Im Hinblick darauf wurde im Essay unterstrichen, daß die Lehre der sexuellen Zwischenstufigkeit eines jeden Menschen zur biologisch fundierten und messianisch motivierten Auflösung der bis dahin geltenden, grundlegenden Sexualkategorien führt und insofern einen epochalen Bruch mit der Art und Weise darstellt, wie Menschen ihre eigene Sexualidentifikation herkömmlicherweise konzipieren und vollziehen. Wie schon im Essay erwähnt wurde, hatte Herzer selbst in seinem Hirschfeld-Buch die Auffassung vertreten, daß "eine höchst umstürzlerische Konsequenz" der Zwischenstufenlehre in der Auflösung des binären Musters Mann/Frau und in der Postulierung einer "unendliche(n) Vielzahl von Geschlechtern" zu sehen ist und daß Hirsch­feld diese Konsequenz nie sehr deutlich betont hatte, um "einen allzu provozierenden Angriff auf das Selbstverständnis der Majorität"[7] zu vermeiden. Nun aber kündigt Herzer in seiner Replik an, diese "Vermutung" dahingehend revidieren zu wollen, daß Hirschfeld "seine grundlegende Idee [...] überhaupt nicht verbergen mußte." (46) Zwei Gründe dafür führt er an. Zum einen meint Herzer, daß "spätestens seit der Romantik" die Vorstellung, daß alle menschen körperliche und seelische Anteile des jeweils anderen Geschlechts haben, in "liberalen deutschen Bildungsbürgertum" (46) sich immer weiter ausbreitete. Zum anderen ist Herzer jetzt der Meinung, daß die Vorstellung der konträrsexuellen Anteile in jeden Menschen sich nicht gegensätzlich, sondern komplementär zur These verhält, daß es wirkliche Männer, Frauen und geschlechtsuneindeutige Menschen gibt, da es sich nur um zwei verschiedene "Abstraktionsstufen" (46) handelt. Es braucht kaum eigens betont zu werden, daß Herzers Versuche, die Zwischenstufenlehre als eine beinahe Allerweltsweisheit zu präsentieren und die kritische Pointe dieser Lehre zu Gunsten ihrer Konziliation mit einer anderen "Abstraktionssstufe" zu entschärfen, höchst zweifelhaft sind. Besonders gravierend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß Herzer die Gefahr als gering einstuft, die aus den Reaktionen auf eine deutlichere Darlegung der Zwischenstufenlehre hätte ausgehen können, obwohl Herzer genauestens darüber informiert ist, welche tatsächlichen Gefahren für Hirschfelds Leben von den Reaktionen der Nazis auf seine weitaus weniger "umstürzlerischen" Thesen über das "dritte Geschlecht" ausgingen. Darüber hinaus scheint Herzer den Unterschied zwischen mehr oder weniger diffusen, unverbindlichen Allgemeinvorstellungen einer gesellschaftlichen Schicht und einer fundamentalanthropologischen Lehre zu übersehen, die in der Konsequenz Anspruch darauf erheben müßte, das Verständnis der Sexualidentität und die darauf basierenden zwischenmenschlichen Bezüglichkeiten von Grund auf zu verändern. Da Herzers konzilianter Versuch, ein Komplementaritätsverhältnis zwischen den zwei erwähnten Abstraktionsstufen des Sexuellen nachzuweisen, schlußendlich der theoretischen Aufwertung des aus pragmatischen Gründen von Hirschfeld verwendeten Provisoriums einer Dreiteilung des sexuellen Spektrums dient, muß daran erinnert werden, daß die von der Zwischenstufenlehre vertretene Abstraktionsebene allein diejenige ist, die ihrem Anspruch nach der Konkretion des sexuierten Individuums gerecht werden kann. Da der theoretische und emanzipatorische Vorzug der Zwischenstufenlehre in diesem Sachverhalt gründet, hat Herzers befremdliche "Revision" den Hauptanlaß aufgehoben, weswegen seine Hirschfeld-Biographie im Essay als "verdienstvoll"[8] bezeichnet wurde.

 

4. In einem weiteren Schritt seiner Argumentation verweist Herzer darauf, daß Hirschfeld die aus den zwei Abstraktionsstufen resultierenden Vorstellungen "sehr oft" thematisiert und daß er "natürlich" wußte, daß es "Mann und Weib [...] tatsächlich als gesellschaftliche Realität" (46) gibt. In diesem Zusammenhang zitiert Herzer eine schon im Essay kommentierte Stelle Hirschfelds, wonach man "sehr streng wissenschaftlich" nicht von Mann und Frau sprechen dürf­te, sondern von Menschen, die größenteils männlich bzw. weiblich sind. Gegenüber der Sicht strenger Wissenschaftlichkeit gibt es die Alternative, bestimmte Segmente des sexuellen Spektrums mit den Kategorien "genus masculinum" bzw. "genus femininum" zu belegen, aller­dings unter der Voraussetzung eines dazwischen liegenden Segments, das "als eine Art genus ter­tium" aufzufassen ist. Selbstverständlich kann man Menschen "auf vielerlei Weise sortieren, eti­kettieren, ordnen und verstehen" (46). Aber nicht alle Sichtweisen entsprechen dem strikten Kriterium der von Hirschfeld angestrebten Wissenschaftlichkeit. Darum kann nur unter Verzicht auf den Anspruch der bis dahin erkannten Wahrheit vom genus masculinum, femininum und tertium gesprochen werden. Obwohl Hirschfeld oft von tatsächlichen Männern und Frauen spricht, verschweigt er nicht das Unbehagen, das bei ihm der Begriff "drittes Ge­schlecht" auslöst. Er verwendet ihn jedoch dann, wenn es gilt, die herkömmliche, vollständige Disjunktion von Mann und Frau zumindest ansatzweise aufzulösen. Wie Hirschfeld unterstreicht, ist die drit­te Sexualalternative nur ein "Notbehelf", der über das "leider nur allzu oberflächliche Eintei­lungsschema [...] in Mann und Weib"[9] hinausführen soll. Obwohl dieser Notbehelf eine Kor­rektur des sexuellen Dimorphismus darstellt, bleibt er weit hinter den Erfordernissen der "sehr streng wissenschaftlich" erkannten Wahrheit. Der intrinsische Anspruch der Zwischenstufenleh­re müßte deswegen in der Konsequenz zur Aufhebung solcher Zugeständnisse an inadäquate Klas­sifikationsschemata führen. So gesehen erweist sich Hirschfelds unausgeführte Sexuallehre als gesell­schaftskritisch in einem wesentlich umfassenderen Sinne als seine Bemühungen um das "dritte Ge­schlecht". Denn die konsequent entfaltete Zwischenstufenlehre entlarvt in emanzi­patorischer Absicht den fiktionalen Charakter jeglicher Subsumption des Individuums unter eine Ge­schlechtskategorie und bietet als Alternative zu diesen Subsumptionsverfahren die Ver­wendung der idealtypischen Paradigmen von Mann und Frau, die als solche in der Natur nie vor­kommen können und nur zur Ermittlung des aus ihnen resultierenden Mischungsverhältnis­ses dienen, das sich auf den verschiedenen Beschreibungsebenen des sexuierten Individuums kon­kretisiert. Wenn man bedenkt, daß eine solche Ermittlung heutzutage die genetische, endokri­ne, morphologische, psychologische und ausdruckmäßige (gender expression) Ebene zu be­rücksichtigen hat, und daß all diese Ebenen sich zueinander nicht immer konvergent verhalten, dann gewinnt man eine Vorstellung der sexuellen Komplexität eines jeden Menschen. Die ent­scheidende Bedeutung der Zwischenstufenlehre besteht vor diesem Hintergrund freilich nicht in der mehr oder weniger gelungenen, inhaltlichen Bestimmung der "Idealtypen", mit denen sie ope­riert, sondern in der Tatsache, daß auf Grund ihrer "Idealität" das sexuierte Individuum von der Herrschaft des Begriffes befreit wird, insofern dies die Unvermeidbarkeit sprachlicher Ar­ti­kulation zuläßt. Die Würdigung von Hirschfelds "epochalem Bruch" mit dem Sexualdimorphis­mus erfolgte nicht auf Grund der Annahme, daß die Zwischenstufenlehre "hundertprozentig non-fiction" (48) sei. Als unerläßlich erwies sich nur die kritische Einsicht, daß die Zwischenstufenlehre mit erkannten "Fiktionen" operiert und darum nicht in die Versuchung gerät, das irreduktible Individuum "auf den Begriff" zu bringen.

 

5. Entsprechend der These, daß die Zäsur, die Hirschfelds Sexuallehre markiert, vor dem Hinter­grund der abendländischen Heilsgeschichte einzuschätzen ist, wurde im 5. Absatz des Essays auf die sachliche Affinität aufmerksam gemacht, die zwischen Hirschfelds Werk und Max Stirners philosophischem Entwurf besteht. Im Gegensatz zu Karl Marx’ Ansicht, daß die Religionskritik von Ludwig Feuerbach im wesentlichen abgeschlossen wurde,[10] vertrat Max Stirner den Standpunkt, daß Feuerbachs eigene Anthropologie einer fundamentalen Religionskritik un­terzogen werden müßte, da sie im Grunde nur eine atheistische Transformation des christlichen Menschenbegriffs darstellt. Stirner, der Feuerbach und Marx an religionskritischer Schärfe überbot, fordert das Ende des Heiligen als Aufhebung des "Jenseits in Uns"[11], das sich zuletzt bei Feuerbach als Apotheose der menschlichen Gattung verdichtet. Stirners Philosophie des "apo­phatisch" Einzigen ist danach bestrebt, die Beendigung der anthropologischen Wirkungsge­schichte des Christentums herbeizuführen, das aus seiner Sicht sogar diejenigen Atheismen wei­terhin beeinflußte, welche die Ansprüche des letztlich unausprechbaren Individuums im Na­men eines vorgeblich allgemein menschlichen Logos auszublenden versuchen. Friedrich Nietzsche, der den philosophischen Weg Stirners auf eine weniger radikale Art vielfach fortsetzte, war sich der eminenten Rolle bewußt, die der individuellen Ausprägung der Geschlechtlichkeit zu­kommt, ohne daß er sich zugetraut hätte, den im Abendland offenba­rungstheologisch sanktio­nierten Sexualdimorphismus denkerisch in Frage zu stellen. Insofern als diese kritische Aufga­be von Hirschfeld mit den ihm zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln in Angriff genommen wurde, ist man dazu berechtigt, in seiner Zwischenstufenlehre eine "entscheiden­de Ergänzung"[12] der Stirnerschen Bemühungen um die Befreiung des "Einzigen" von der Wir­kungsmächtigkeit verdeckter Heilsgeschichte zu sehen. Diese geistesgeschichtliche Ein­ord­nung bedeutet freilich nicht, daß Hirschfelds Werk als "so etwas wie eine Vollendung" (48) von Stirners philosophischer Kritik betrachtet werden könnte, das als ein notwendiges Korrektiv dessen fungieren würde, daß der "Einzige" Stirners "wie Adam ein Mann ist, der sich nach sei­nen "Liebchen", seiner Eva sehnt" (48) und darum dem Menschen der Bibel gleicht. Nirgends in seiner Replik entfernt sich Herzer von den Anforderungen argumentativer Stringenz so sehr wie in diesem Abschnitt. Denn abgesehen davon, daß Stirners persönliche Partnerwahl in keinem näher zu bestimmenden Verhältnis zu seinen eigenen oder zu Hirschfelds theore­ti­schen Leistungen steht, ist nicht einzusehen, aus welchen stichhaltigen Grund Herzer einem Den­ker vom Rang Stirners "die bloße Verkündigung des Ichs und seiner Freiheit" (48) unterstellt. Vermutlich deswegen, weil seine Rezeption von Stirner ausschließlich oder vorwiegend über die Texte von Marx und Engels stattgefunden hat, sieht sich Herzer dazu berufen, Hirschfeld vom Verdacht zu befreien, er habe "in Stirnerscher Manier die Geltung aller gesellschaftlichen Kategorien, die die Entfaltung und Emanzipation der Individuen verhindern, gewissermaßen per Dekret außer Kraft" (48) setzen wollen. Sowohl die Unterstellung, daß Stirner "tautologisch" (48) oder dogmatisch ("per Dekret") verfährt, als auch der Vorwurf, daß seine Philoso­phie sich auf eine triviale "Sprachregelung" (48) reduzieren läßt, rühren von Herzers Ignorierung der Tatsache her, daß für Stirner "die Erlösung vom Reich des Gedankens aufgrund der 'schaffende(n) Gedankenlosigkeit' [...] als ein Hineingehen in den eigentlichen Bereich des un­sag­baren Einzigen zu verstehen [ist], der die Einsicht erlangt hat, daß 'für Mich [...] die armselige Sprache kein Wort' hat."[13] Stirners Werk Der Einzige und sein Eigentum, das mit einer "neue[n] Dreieinigkeit" (48) nach Herzerscher Vorstellungsart nicht das geringste zu tun hat, be­­schreitet denkerisch einen dekonstruktiven Weg der Sprachherrschaft hin zur Dimension des Un­­aussprechlichen, für die sicherlich der philosophisch und religiös versierte Hirschfeld mehr Ver­­ständnis zeigen würde, als seine vorwiegend psycho-soziologisch orientierten Kommentatoren.

 

6. Auch wenn Herzer nicht bestreitet, daß die theologische Sanktionierung der Sexualdisjunktion durch die Offenbarungstexte zur "Verfolgung und Vernichtung" (49) der diesem Schema sich entziehenden Menschen führt, wäre für ihn das Problem der geschichtlichen Vorherrschaft des "primitiven Entweder-Oder-Schema(s)" ohne Belang, wenn dieser Binarismus nicht "an das wirklich verhängnisvolle Institut von Herrschaft und Knechtschaft geknüpft wäre." (49) Das eigentliche Geschlechterproblem liegt für Herzer darum nicht so sehr in der falschen Erfassung der irreduktiblen Sexualdiversität, sondern in der durch nichts zu rechtfertigenden Verbindung von Geschlechtszuschreibung und Werturteil, auf der die weltgeschichtlichen Entmündigung des "alles andere als fiktionalen Grundtyp(en) Frau" (49) beruht. Von daher sieht Herzer eine Art panacea universalis des Sexuellen im Ersatz der "unterschiedliche(n) Bewertung der Geschlechter und Geschlechterrollenidentitäten durch Wertneutralität" (50) und hält Hirschfelds Beitrag zur Beschleunigung der Entkoppelung von Geschlecht und Wert durch sein Engagement in der Frauen-, Schwulen- und Arbeiterbewegung für seine entscheidende Leistung. Darum opponiert Herzer gegen die Überschätzung der "Abstraktionsstufe" der Zwischenstufenlehre und plädiert für eine nüchterne Einschätzung des Beitrags Hirschfelds zur emanzipatorischen Durchsetzung der sozialen Wertneutralität der Geschlechter. Im argumentativen Duktus von Herzers Replik wird deutlich, daß er in der Rede vom "epochalen Bruch" Hirschfelds eine Überbewertung seiner Bedeutung sieht, weil er allzu gern an "der an sich trivialen Tatsache des Geschlechtsdimorphismus" (49) festhalten will. Denn nur unter dieser Voraussetzung läßt sich weiterhin mit der Opposition Hetero-/Homosexualität operieren, auf die ein Großteil der Frauen- und Schwulenbewegung nolens volens sich beruft. Herzer bleibt nicht verborgen, daß die Ernstnahme von Hirschfelds Zwischenstufenlehre die Existenzberechtigung beider Bewegungen insofern in Frage stellen würde, als die soziale Konstruktion abgeschlossener Sexualgruppierungen sich im Licht des Naturkontinuums menschlicher Sexuiertheit auflösen müßte. Angesichts derartig radikaler Konsequenzen optiert Herzer für die Rolle des "Justifikator(s) dessen, was da ist."[14] Nicht die entstellende Schematisierung individueller Sexuiertheit, sondern nur die Wertsetzung als Ausdruck sozialer Machtverhältnisse innerhalb dieser Schematisierung soll nach Herzer aufgehoben werden. Dabei übersieht er, daß die angestrebte "Wertneutralität" des Geschlechtlichen nur auf einen menschenfreundlichen Appell zur Toleranz angewiesen wäre, wenn die auf der Zwischenstufenlehre basierende Einsicht nicht obwaltet, daß die gängige "Natürlichkeit" des Sexuellen dessen eigentliche Perversion darstellt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Emanzipation des "zweiten" und "dritten" Geschlechts höchstens als ein gut gemeintes Provisorium, das nur solange gelten kann, als man – gegen besseres Wissen – am Sexualdimorphismus festhält. Wenn anstatt einer auf das Wohlwollen der "Urteilenden" angewiesenen "Wertneutralität" die begründete Einsicht in das Naturkontinuum des Sexuellen als Möglichkeitsbedingung der nicht-hierarchischen Einordnung eines jeglichen sexuierten Individuums zur Geltung kommt, eröffnet sich ein emanzipatorischer Ambitus, in dem nicht nur die Unterdrückten, sondern auch die Agenten der Unterdrückung sich von der falschen, nach sexualdimorphistischen Kriterien erfolgten Erfassung ihrer eigenen Sexuiertheit befreien können. Diese radikal emanzipatorische Dimension wird von Leslie Feinberg anvisiert, wenn sie meint, daß ihre Beziehung zu ihrer Frau eine Art "Teflon" ist, an dem keine herkömmliche Klassifikation der Sexualität haftet. Herzers kurzsichtige Vermutung, daß es Feinberg nicht gleichgültig sein kann, ob ihre Frau eine Frau ist oder nicht, könnte Feinberg u.U. mit dem Hinweis darauf parieren, daß "Frau" in dem Zusammenhang nur eine letztlich unzulässige Kurzformel für die Bezeichnung des unwiederholbar sexuierten Individuums ist, das sie liebt.

 

7. Im zweiten Teil seiner Replik, der mit der Überschrift "Religiöser Atheismus" versehen ist, geht es Herzer um den Erweis seiner folgenreichen Annahme, daß Hirschfeld ein ausgeprägtes Desinteresse an religiösen Fragen zeigte. Diese Annahme, die auch eine wichtige Arbeitshypothese seines Hirschfeld-Buches ist, steht im Gegensatz zu der in Hirschfelds Schriften bekundeten Haltung und führt zu einer besonders gravierenden Verzerrung der geistigen Koordinaten des Sexualforschers. Vielfach läßt sich zeigen, daß es Herzer offensichtlich schwer fällt, die religiösen Aspekte in Hirschfelds Werk wahrzunehmen und zu würdigen. So ist gegenüber seiner Behauptung, daß die Erklärung des Essays über das religiöse Moment in Hirschfelds Atheismus sich "leider nur auf die Andeutung beschränkt, [...] in Hirschfelds Gerechtigkeitsethos [sei] 'die messianische Inspiration der Propheten Israels' am Werk" (51), nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß das zugegebenermaßen schwierige und gewichtige Problem einer religiösen Einordnung Hirschfelds an mehreren Stellen des Essays thematisiert wurde und daß es aus diesen Stellen deutlich hervorgeht, daß das Messianische nicht die einzige religiöse Komponente in Hirschfelds Weltsicht darstellt. Wie im Essay hervorgehoben wurde, bewegte sich Hirschfeld "offenbar gern" in verschiedenen religiösen Feldern, auch wenn er "keinen eindeutig bestimmbaren religiösen Standpunkt"[15] aus den Quellen entwickelte, auf die er sich bezog. In seiner Replik verschweigt oder vergißt Herzer, daß im Essay darauf verwiesen wurde, daß Hirschfeld jahrelang Mitglied des Monistenbundes war und daß er ein "reges Interesse" an der theosophischen Weltanschauung zeigte.[16] Vor diesem Hintergrund ist es nicht über­raschend, daß Hirschfeld sich sowohl für die Naturkonzeption Spinozas und Goethes als auch für das Werk Arthur Schopenhauers und Walt Whitmans interessierte, die eine paradigmatische "Hinwendung zur religiösen Philosophie Indiens"[17] vollzogen hatten. Hirschfelds "Vorliebe für pantheistische Positionen und fernöstliche Religiositäten"[18] lassen eine Sensibilität erkennen, die für die religiöse Valenz denkerischer Positionen offen ist, welche sich im Gegensatz zu den Offenbarungstexten abrahamitischer Tradition befinden. In diesem Zusammenhang ist auf die methodische Unzulässigkeit von Herzers impliziter Einschränkung der religiösen Problematik auf "Religionsgemeinschaften und Glaubensfragen" (53) aufmerksam zu machen. Denn Religionen und Religiositäten können sich bekanntlich unabhängig von dogmatisch strukturierten und soziologisch organisierten Religionsgemeinschaften entwickeln und brauchen nicht auf den "Glauben" bzw. auf "Glaubensfragen" zu rekurrieren, um ihr Selbstverständnis zu artikulieren. Ersteres wird von der Religiosität im Leben und Werk Baruch de Spinozas exemplifiziert und letzteres vom Buddhis­mus, der eine Weltreligion darstellt, die nicht auf "Glauben", sondern auf einsichtsvollem Wissen basiert. Bezüglich der religiösen Frage ist ferner zu präzisieren, daß die im Essay vertretene These über das messianische Moment im Werk Hirschfelds sich nicht auf eine bloße Behauptung beschränkte, wie Herzer meint. Entsprechend der argumentativen Entfaltung des Essays wurde mehrfach darauf hingewiesen, daß dieses Moment nicht nur Hirschfelds Konzeption der Geschichte als Ort der Sexualbefreiung, sondern zuweilen auch seine Diktion prägt. In Anbetracht der verschiedenen Ausführungen zur religiösen Problematik im Essay ist schwer nachvollziehbar, warum Herzer den religiösen Atheismus Hirschfelds mit dem völlig anders gearteten parallelisiert, den Georg Lukács im Werk des christlichen Denkers Søren Kierkegaard "als unbewußtes, ungewolltes Produkt seiner Konzeption" (51) ausgemacht zu haben meinte. Gegen Herzers willkürlichen Vergleich ist zu betonen, daß Hirschfelds "religiöser Atheismus" in der Traditionslinie steht, die im 19. Jahrhundert von Schopenhauer, Stirner, Nietzsche und Oscar Wilde vertreten wurde und die von Fritz Mauthner in seinen beiden Hauptwerken Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland[19] und Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache[20] in geistesgeschichtlich und philosophiekritisch fundierter Weise erörtert hat. Aus dieser Perspektive können Herzers mühevolle Versuche, Kurt Hillers Zeugnis bezüglich der "Religiosität" von Hirschfelds humanitärer Wissenschaftsauffassung umzudeuten und zu trivialisieren, keine kritische Überprüfung bestehen. Die Tatsache, daß der "antireligiös" ausgerichtete Hiller – wie Herzer meint – die "Religiosität" Hirschfelds mit persönlichen Eigenschaften und politischen Einstellungen in Verbindung brach­te, die er auch sonst beanstandete, bietet keinen Anlaß zur Annahme, daß Hiller bei der Verwendung des Begriffes "religiös" auf dessen herkömmliche Denotation habe verzichten wollen.

 

8. Da Herzer den Einfluß der Prophetie Israels auf den an Religion vorgeblich desinteressierten Hirschfeld bestreitet, versucht er die Inspirationsquellen seines Wissenschaftsethos und Mensch­heitspathos in der jüngeren Geschichte ausfindig zu machen. Ausgehend davon, daß Hirschfelds frühe Auseinandersetzung mit dem Zionismus und dem frommen Judentum "seine Abkehr von Religionen aller Art" (52) bestärkte, meint Herzer zeigen zu können, daß sowohl Hirschfelds "Panhumanismus und Kosmopolitismus" als auch sein "glühende(r) Gerechtigkeitssinn" auf seine Rezeption des "wissenschaftlichen Sozialismus" (52) zurückzuführen sind. Abgesehen davon, daß bei Hirschfeld keine "Abkehr von Religionen aller Art" festzustellen ist, impliziert Hirschfelds Zurückweisung des "so politischen wie frommen Judentum(s)" (51-52) im Prinzip keine Ablehnung von anderen, geistesgeschichtlich mächtigen Grundtendenzen der jüdischen Tradition. Dies läßt sich am Leitfaden der ersten autobiographischen Stelle zeigen, die Herzer anführt und als Beleg dafür gelten lassen möchte, daß das prophetische Gedankengut bei Hirschfeld keine nennenswerte Rolle spielt. In der zitierten Passage unterscheidet Hirschfeld als Alternativen zum Zionismus zwei Assimilationsformen. Deutlich geht daraus hervor, daß Hirschfeld sich gegen die von ihm "Halbassimilation" genannte Form entscheidet und für eine "höhere", "übernationale Menschheitsassimilation" plädiert, die "im Zeitalter des Nationalismus zu rühmen fast als Vermessenheit erscheint." (52) Es handelt sich dabei um Hirschfelds auch sonst belegbare Befürwortung von "Panhumanismus und Kosmopolitismus" im Zusammenhang mit der Frage nach der politischen Zukunft des Judentums. Wie eine vergleichbare, schon im Essay[21] zitierte Stelle über die "übernationale Menschheitsassimilation" als "Lösungsmodell" der jüdischen Frage zeigt, sahen Hirschfeld und viele seiner jüdischen Zeitgenossen diese Problematik im geistesgeschichtlichen Horizont des von der alt-jüdischen Prophetie angekündigten Messianismus. Der Hinweis darauf, daß Hirschfeld in diesem sachlichen Zusammenhang "eine Gedichtzeile des sozialistischen Dichters [Ferdinand] Freiligrath zitiert" (52), diente im Essay freilich nicht dazu, das Vorhandensein des Messianischen in Hirschfelds Werk nachzuweisen, wie Herzer inkorrekterweise behauptet. Zwar geht es in dieser Zeile um die kommende Zeit einer universellen Versöhnung zwischen Menschen, aber sie liefert keinen Beweis für das Vorkommen des Messianischen bei Hirschfeld, das sich in der tieferen Strukturiertheit seines Denkens auswirkt und darum unabhängig von der zitierten "Gedichtzeile" nachweisbar ist. Hirschfeld, der sich an der Diskussion über Zionismus und Assimilation lebhaft beteiligt hatte, war sich dessen bewußt, daß der Panhumanismus und Kosmopolitismus der sozialistischen Ideale, auf denen die von ihm angestrebte "Menschheitsassimilation" beruhte, vielfach als Hervorbringungen des prophetischen Messianismus Alt-Israels betrachtet wurden. Daß es eine enge Verbindung zwischen Prophetie und Sozialismus gibt, war keine Entdeckung Hirschfelds, sondern eine gemeinsame Auffassung von Zionisten und ihren Gegnern, wie das markante Beispiel des neukantianischen Philosophen Hermann Cohen zeigt, der als hervorragender Vertreter der Marburger Schule jahrelang bis zu seinem Tod 1918 an der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" in Berlin lehrte. Cohen, dessen prinzipieller Anti-Zionismus allgemein bekannt war, unterstrich, daß der jüdische Prophet in sich den religiösen Märtyrer und Politiker mit dem Anwalt des Armen paradigmatisch vereinte. In seinem Aufsatz "Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten" von 1916 schreibt er: "Die Propheten sind dadurch die Begründer der sozialen Religion geworden, und in ihr die des sozialen Bewußtseins überhaupt, daß sie der Mystik die Gottesidee entzogen, und ohne den Leitfaden der Wissenschaft zu benutzen, in der Liebe einen Weg der Erkenntnis zu bahnen suchten."[22] Diese Einsichten, die erst in seinem postum veröffentlichten, religionsphilosophischen Hauptwerk "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" systematisch ausgearbeitet werden, führen zu seiner These, daß der Prophetismus "der geistige Mittelpunkt des jüdischen Schaffens"[23] ist, aus dem der Gedanke der einen Menschheit als Korrelat des einen Gottes entstanden ist. So wird der Prophet "für das internationale Verhältnis zum Geschichtsdenker, zum Urheber des Begriffes der Weltgeschichte"[24], die sich im Hinblick auf das messianische "Sein der Zukunft"[25] verwirklicht. In diesem Horizont läßt sich die Geschichte selbst als Ort der Realisierung des "ethischen Sozialismus" begreifen, dem zufolge "die materiellen, die wirtschaftlichen Bedingungen [...] niemals zur Hemmung [...] für die Durch­führung der sittlichen und geistigen Kultur für alle Menschen ohne Unterschied"[26] werden dürfen. Bezüglich dieses Messia­nismus hebt Cohen hervor, daß "die nationale Eigenart [des jüdischen Volkes] in ihrer staatlosen Isolierung [...] das Symbol für die Einheit der Staatenbund-Menschheit [ist], als den letzten Wert der Weltgeschichte [...]."[27] In Anbetracht dieser Ausführungen, die als durchaus repräsentativ für ein zugleich liberales und anti-zionistisches Judentum angesehen werden können, läßt sich nachvollziehen, daß eine im Zeichen von Sozialismus und Weltbürgertum stehende "Menschheitsassimilation" des Judentums von einem atheistisch, aber nicht prinzipiell anti-religiös eingestellten Juden wie Hirschfeld als eine mögliche Realisierung des messianischen Wesenszuges der Weltgeschichte und des jüdischen Volkes in ihr verstanden werden konnte. Hirschfelds sonstige "sozialistische" Inspirationsquellen stellen so gesehen keinen Gegensatz zum prophetischen Messianismus dar. Sie fungieren vielmehr als entscheidende Vergegenwärtigungen seines hohen und weitsichtigen Anspruches.

 

9. Dadurch, daß Hirschfeld während seines Pariser Aufenthaltes als Student die Bekanntschaft des Zionisten Max Nordau pflegte, daß er 1922/1923 die Juden als "Weltsündenböcke[n] [...] für alles Leid und Unglück dieser Welt"[28] seit Einführung des Christentums bezeichnete und daß er in späteren Jahren seinen Besuch in Jerusalem als den Kulminationspunkt seiner Weltreise betrachtete[29], ließ er ein andauerndes Verhältnis zum Judentum erkennen, das – im Gegensatz zu Herzers Meinung – mit dem des getauften Juden Karl Marx zum Volk seiner Vorfahren nicht verglichen werden kann. In Hirschfelds eigentümlicher und problematischer Nähe zum Judentum ist aber nicht der einzige Grund zu suchen, weswegen sein Atheismus als "religiös" zu qualifizieren ist. Denn die religiöse Valenz in Hirschfelds Weltsicht steht auch im Zusammenhang mit seinem Interesse an nicht-jüdischen Formen von Religiosität, die – wie der Monismus oder die Theosophie – einen nicht zu vernachlässigenden Einfluß auf die Kunst, Wissenschaft und Philosophie seiner Zeit ausübten.[30] Auf Grund des nicht seltenen Rekurses dieser religiösen Alternativen auf die Lehren des Βuddhismus oder auf die Philosophie des Baruch de Spinoza konnte die Ansicht an Plausibilität gewinnen, daß der Theismus keine unabdingbare Voraussetzung von Religion konstituiert und daß infolgedessen die Frage nach einer "atheistischen Religiosität" voll berechtigt ist. Damit eröffnete sich für Hirschfeld und andere jüdische Intellektuelle seiner Zeit die Möglichkeit, ein lebendiges Verhältnis zu wesentlichen Teilen des jüdischen Kulturerbes im Rahmen eines biblisch freilich nicht zu begründenden Atheismus herzustellen. Hirsch­feld erlangte so die notwendige Distanz und Freiheit vom herkömmlichen Selbstverständnis des Judentums, welche eine messianische Konzeption der Sexualemanzipation ermöglichten, die eben nicht "auf die Bibel fixiert" (52) bleibt. Denn der Messianismus Hirschfelds, der ein Ergebnis seiner eigenen atheistischen Umdeutung traditioneller Religionsgehalte ist, wendet sich entschieden gegen die fundamentale Offenbarungslehre des Sexualdimorphismus. Eine nicht ganz sachgerechte Vorstellung von der Art und Weise, wie ein kreativer Autor mit einer umfassenden Überlieferung umzugehen hat,[31] läßt Herzer offensichtlich befürchten, daß die Betonung von Hirschfelds Bezug zur jüdischen Tradition die Vernachlässigung der in seinem Werk artikulierten, emanzipatorischen und revindikativen Momente implizieren könnte. Unter den interpretatorischen Voraussetzungen, die Herzer dem Essay unterstellt, wären dann "Hirschfelds geistige Bildungserfahrungen mit der Lektüre von klassischen Schriften der sozialistischen Arbeiterbewegung [...] nur eine Art Übersetzungsarbeit oder Oszillation zwischen dem Glauben der Väter und der Hoffnung auf den Kommunismus." (52) Wie wenig die Gefahr einer Instrumentalisierung moderner Emanzipation durch religiöse Apologetik in dem Zusammenhang gegeben ist, zeigt sich u.a. im dahingehenden Ergebnis der Untersuchung, daß Hirschfelds Messianismus sich de facto gegen die theologischen Voraussetzungen und anthropologischen Konsequenzen der Religion wendet, die den Sexualdimorphismus offenbarungsmäßig erstmalig sanktionierte und aus der Hirschfeld hervorging.

 

10. Daß Hirschfeld trotz seiner Bekämpfung des Christentums "eine offene Konfrontation mit dem Judentum vermied" (53), war – im Gegensatz zu Herzers Vermutung – kein Anlaß zur Verwunderung. Ferner wird die Nicht-Explizierung seiner Kritik am Judentum Hirschfeld nirgends im Essay als Mangel angerechnet, sondern als eine "symptomatische"[32] Grundhaltung verstanden, die die Konfiguration seiner Texte entscheidend mitbedingte, und deren Berücksichtigung die Voraussetzung einer hermeneutisch sachgerechten Erschließung seines Werkes konstituiert. Nicht von ungefähr wurde gleich in der zweiten Fußnote des Essays[33] darauf hingewiesen, daß Hirschfelds Œuvre als ein "großangelegtes, spätmodernes Beispiel" für das, was Leo Strauß "Persecution and the Art of Writing" genannt hat, betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang ist aber auch daran zu erinnern, daß die "Wahrheitsfrage" für Hirschfeld keine Angelegenheit leerer Rhetorik war. So besteht kein Grund zur Annahme, daß Hirschfeld sich aus­schließlich von pragmatisch-politischen Gesichtspunkten leiten ließ und darum die Auseinandersetzung mit dem im Kaiserreich "politisch bedeutungslos(en)" (53) Judentum für irrelevant hielt. Wenn man bedenkt, daß Hirschfelds historische und politische Sensibilität von seiner Erfahrung als Jude in einem christlichen Umfeld mitgeprägt wurde, dann kann nicht überraschen, daß er es vorzog, keine offene Auseinandersetzung mit den religiösen Prämissen einer Schicksalsgemeinschaft zu unternehmen, um deren Gefährdungen er genauestens wußte, weil sie seine eigene war. Hirschfelds diesbezügliche Reserviertheit ist die des Galut[34]-Juden, die auch bei dem sonst so kritikfreudigen Heinrich Heine feststellbar ist, wenn er in einer "Auf­zeichnung" schreibt: "Niemals von jüdischen Verhältnissen sprechen."[35] Dies bedeutet freilich nicht, daß Hirschfeld gänzlich auf eine Auseinandersetzung verzichtete, sondern daß diese andere Formen annahm, als die einer direkten Konfrontation. Darum heißt es im Essay: "Hirsch­felds Mißbehagen an den theologischen Prinzipien und anthropologischen Konsequenzen des Judentums ist generell nur indirekt ablesbar in seiner Abweisung der christlichen Wirkungsgeschichte der Bibel sowie in seiner Vorliebe für pantheistische Positionen und fernöstliche Religiositäten."[36] Noch unberechtigter als Herzers Unterstellung einer Verwunderung über die fehlende offene Konfrontation mit dem Judentum ist seine Mutmaßung, daß diese vermeintlicheVerwunderung deswegen zustande kam, weil der Essay zu unrecht von einer prinzipiellen Konfrontation Hirschfelds mit dem Christentum ausgeht. Herzer beanstandet, daß im Essay Hirschfelds "defensive Verteidigung" (sic!) gegen staatskirchliche Angriffe zu einem "Kampf gegen das Christentum" (53) umgedeutet wurde, und unterstreicht, daß Hirschfelds kritisches Verhältnis zum Christentum sich auf eine mehr oder weniger reaktive Haltung beschränkte, die von gelegentlichen Anfeindungen seiner zeitgenössischen Vertreter ausgelöst wurde, und die generell im Zeichen "eines ausgeprägten Desinteresses [...] an religiösen Fragen" (53) stand. Daß Hirschfeld tatsächlich an religiösen Fragen interessiert war, braucht hier nicht nochmals erörtert zu werden. Die Berücksichtigung von Hirschfelds religiösem Interesse im Zusammenhang mit der Verfolgungsgeschichte des Judentums und der Alternativformen sexueller Lebensgestaltung durch die theo-politische Macht des Christentums[37] macht aber deutlich wie wenig vertretbar Herzers Ansicht ist, wenn er schreibt: "Tatsächlich hat Hirschfeld die offene Konfrontation mit allen religiösen Mächten und Organisationen vermieden, einfach deshalb weil sie ihm ziemlich gleichgültig waren." (53) An dieser und ähnlichen Stellen wird offenkundig, daß Herzer Hirschfelds langes Gedächtnis unterschätzt. Gleich in den ersten Zeilen seiner Artikelsammlung "Von einst bis jetzt" umschreibt Hirschfeld die Sexuallehre des Christentums als fast zweitausendjährige Irrtümer, die "zwar nicht zu Wahrheit wurden, immerhin aber durch die lange Überlieferung den Anschein der Wahr­heit [...] angenomen haben."[38] Daß Herzer diese Stelle in seinem eigenen Buch zitiert, aber dann in ihrer Tragweite nicht zu würdigen vermag, überrascht wenig vor dem Hintergrund seiner unhaltbaren Behauptung, daß Hirschfelds Desinteressiertheit an religiösen Fragen "besonders deutlich [...] in seinem ersten sexologischen Werk Sappho und Sokrates von 1896 [wird], wo irgendwelche Religionsgemeinschaft oder Glaubensfragen überhaupt nicht vorkommen." (53) Einschränkend gibt Herzer nur das Vorhandensein von "einige(n) milde(n) ironische(n) Anspielungen" (53) zu. Eine etwas gründlichere Lektüre des Textes aber läßt an mehreren Stellen einen religionskritischen Grundton erkennen, der von allem anderen als Desinteresse an Religion bezeugt. Die Anspielung auf die theologische Interpretation eines Genitaldefektes "als Sünde und Verirrung" ist weder milde noch ironisch.[39] Auch die zu Gunsten der weiblichen Homosexualität versuchte Deutungserweiterung von Genesis 2, 18 läßt keine ironische Distanz erkennen,[40] vor allem wenn man bedenkt, daß Hirschfeld kurz darauf auf das theologische Grund­problem der Theodizee in Verbindung mit der "sinnliche(n) Liebe zum eigenen Ge­schlecht"[41] verweist. Schließlich stellt Hirschfeld die rhetorische Frage: "Wird denn ein Irrtum dadurch zur Wahrheit, daß er mehrere tausend Jahre alt ist?"[42] Diese Frage, die an den Satz über die christliche Sexualwahrheit am Anfang der schon zitierten Artikelsammlung mahnt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erwähnung der Hexen- und Ketzerprozesse, als deren Opfer der Kapuziner Pascal "wegen mannmännlicher Liebe"[43] kurz vor der Französischen Revolution in Paris hingerichtet wurde. Wie man unschwer erkennen kann, ist Herzer einiges zum Thema Religion bei seiner sicherlich sonst aufmerksamen Lektüre Hirschfelds entgangen. Dieser Mangel wäre nicht erwähnenswert, wenn er nicht zu einer falschen Einschätzung des Horizontes führen würde, in dem Hirschfeld die für ihn entscheidende Frage nach der Wahrheit des Sexuellen artikuliert.

 

11. "Das dritte Geschlecht der Romantik" - die Überschrift des dritten Teils der Replik – kündigt Herzers ideengeschichtliche Argumentation gegen die These von dem "epochalen Bruch" Hirsch­felds an. Da Herzer im Essay bemängelt, daß das Thema der Rückdatierung und der möglichen Vorläufer dieses Bruches nicht erörtet wurde, versucht er seinen eigenen Beitrag zum Thema zu leisten, indem er zunächst auf Autoren verweist, die zum Teil von Hirschfeld selbst als Vorläufer der These der Bisexualität bzw. der Zwischenstufenlehre angesehen wurden, und dann Belege für seine Vermutung bietet, daß die Grundidee der Zwischenstufenlehre erstmalig von Autoren der deutschen Frühromantik formuliert wurde. Gleich am Anfang seiner diesbezüglichen Ausführungen behauptet Herzer, daß die in Fußnote 9 des Essays befindliche Aussage über den wesentlichen Unterschied zwischen den religiösen bzw. wissenschaftlichen Konstruktionen eines dritten Geschlechts und Hirschfelds eigener Konzeption der sexuellen Zwischenstufigkeit eines jeden Menschen nicht haltbar ist. Herzer meint damit den einzigen Versuch einer geschichtlichen Erhärtung der These über Hirschfelds Paradigmenwechsel abgewiesen und so den Weg für die Darlegung seiner eigenen Version der "Archäologie" des Problems freigemacht zu haben. Wie schon im Zusammenhang vom Verhältnis zwischen Stirners Philosophie und Hirschfelds sexualemanzipatorischem Projekt läßt Herzer leider auch hier ein Minimum an argumentativer Stringenz völlig vermissen. Denn obwohl er in seinem Hirschfeld-Buch und sonst in der Replik davon ausgeht oder zugibt, daß es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Konstruktionen einer dritten Sexualalternative und Hirschfelds Zwischenstufenlehre gibt, scheint er nun dieses bestreiten oder abschwächen zu wollen. In seinen früheren Erläuterungen zu dem von ihm angenommenen Komplementaritätsverhältnis zwischen den zwei "Abstraktionsebenen" des Sexuellen nahm Herzer an, daß die Unterschiedlichkeit der Ebenen eine notwendige Bedingung ihrer Komplementarität ist. In der Konsequenz müßte aber dann diese Annahme den weiteren Versuch Herzers ausschliessen, die Konstruktionen einer dritten Sexualalternative in der Romantik als Vorformen der von ihnen in Anspruch und Fundiertheit so verschiedenen Zwischenstufenlehre zu erweisen. Insofern als die oben erwähnte Fußnote des Essays den systematischen Unterschied beider Ansätze unterstrich, konnte sich der Essay auf die Feststellung beschränken, daß die Zwischenstufenlehre auf Grund ihrer Irreduktibilität auf andere Konstruktionen des Geschlechtlichen ein Novum konstituiert. Auch wenn Hirschfelds Zwischenstufenlehre in der Wissenschaftsgeschichte der Sexualwissenschaft eingeordnet und somit als ein Konvergenzpunkt der verschiedensten Beeinflussungen und Anregungen betrachtet werden kann, war die selbstgestellte Aufgabe des Essays nicht der Nachweis der ideen- und wissenschafts­geschichtlichen Einflüsse in Hirschfelds Werk, sondern die Explizierung des wissenschaftlich-emanzipatorischen Anspruches seiner nur zum Teil ausgeführten Zwischenstufenlehre, dessen Novum vor dem Hintergrund des Sexualdimorphismus gewürdigt wurde, welcher von der Bibel bis zu Sigmund Freud die Kategorialisierung menschlicher Sexuiertheit bestimmt hat. Bei Unterschätzung der Bedeutung dieses Novums kann die vorangehende Entwicklung der Sexualwissenschaft leicht zu einer Fundgrube vermeintlicher "Vorläufer" der Zwischenstufenlehre gemacht werden. Auch wenn Hirschfeld den vor ihm erbrachten sexualwissenschaftlichen Leistungen großzügig Anerkennung und Dankbarkeit zollte, hat er damit selbstredend keine Genealogie einer "Lehre" aufzustelllen versucht, die er nur zögerlich zu artikulieren bereit war.

 

12. Seine ideengeschichtliche Argumentation untertützt Herzer mit dem Hinweis darauf, daß Hirschfeld gegenüber Wilhelm Fließ sich abweisend verhielt, als dieser Anspruch darauf erhob, der Entdecker der menschlichen Bisexualität zu sein. Herzer hebt hervor, daß Hirschfeld in seinem 1906 erschienenen Buch Vom Wesen der Liebe geltend macht, daß Autoren wie Charles Darwin oder Karl Heinrich Ulrichs früher als Fließ ähnliche Ansichten vertreten hatten. Dann verweist Herzer darauf, daß "der entscheidende Punkt in Hirschfelds Zwischenstufenlehre" (54) bereits 1862 in einer von Hirschfeld zitierten Stelle Ulrichs formuliert wurde, wo es um den graduellen, nicht qualitativen Unterschied des in jedem menschlichen Individuum vorhandenen, geschlechtlichen Dualismus geht. Darüber hinaus findet Herzer Hirschfelds "Kerngedanken der Zwischenstufenlehre" (55) formuliert sowohl in einer Passage von Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung über die "unzählige(n) Grade" (55) der Mannheit und Weiblichkeit, als auch in Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohrs Buch Venus Urania (1798), der die These der "doppelten Disposition zur Stärke und zur Zartheit" (55) in jedem Menschen aufstellte. Um diese Autoren aber als spezifische "Vorläufer" der Zwischenstufenlehre bezeichnen zu können, genügt Herzers Feststellung nicht, daß sie mehr oder weniger ausführlich das, was Herzer für "den entscheidenden Punkt" bzw. "den Kerngedanken" Hirschfelds hält, vorwegnahmen. Denn die Zwischenstufenlehre Hirschfelds beansprucht wesentlich mehr und anders als die bloße Kenntnisnahme eines nur graduellen Sexualunterschiedes zwischen Menschen, von dem schon "die Physiologen" wußten, wie Schopenhauer in der von Herzer zitierten Stelle anmerkt. Lehrreich in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen Otto Weiningers, der zwar die umstrittene Urheberschaft der Bisexualitäts-Theorie für sich beanspruchte, aber zugleich sich um die Klärung der Frage nach seinen eigenen "Vorläufern" bemühte. Im Anhang seines 1903 postum erschienenen Hauptwerkes Geschlecht und Charakter verweist er auf die Stelle von Schopenhauers "Metaphysik der Liebe", die auch Herzer ausführlich zitiert, und auf Albert Molls Buch Untersuchungen über die Libido sexualis, wo es um "alle möglichen Übergänge" zwischen dem typischen weiblichen und männlichen Geschlechtstrieb geht. Dann notiert Weininger: "Beide Stellen waren mir unbekannt, als ich (Anfang 1901) dieses Gesetz als erster gefunden zu haben glaubte, so eng sich meine Darstellung speziell mit der Schopenhauers sachlich, ja manchmal wörtlich berührt."[44] Obwohl Weininger die Genealogie seiner eigenen Bisexualitäts-Theorie fünf Jahre vor Hirsch­felds entsprechendem Verweis auf Darwin und Ulrichs aufstellte, und auch wenn er seinen Gedanken von der dauernden Doppelgeschlechtlichkeit – und nicht bloß von der bisexuellen Anlage – für "durchaus neu" hält und sich dagegen wehrt, daß man den Begriff "sexuelle Zwischenstufen" nur im Sinne von "sexuellen Mittelstufen"[45] versteht, wird er das von ihm entdeckte "Gesetz" in einer Weise ausarbeiten, daß völlig andere Resultate erzielt werden, als diejenigen, die die strenge Durchführung der Zwischenstufenlehre Hirschfelds impliziert. Weininger, der früh starb und darum aus anderen Gründen als Freud[46] die Bedeutung Hirschfelds nicht richtig erkannte, kann zuweilen konsequenter als Hirsch­feld anmuten, wie wenn er schreibt, daß Magnus Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen noch "verdienstvoller als es ist" wäre, "wenn es nicht nur die Homosexuellen und die Zwittergeburten, das sind die sexuellen Mittelstufen, in den Kreis seiner Betrachtung zöge."[47] Im Endeffekt wird Weininger aber die behauptete Universalität der sexuellen Zwischenstufigkeit aus system-philosophischen Gründen nicht aufrecht erhalten können und die gewonnenen Einsichten weitgehend zurücknehmen, wenn er schreibt, daß "trotz allen sexuellen Zwischenformen [...] der Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib [ist]."[48] Exemplarisch zeigt sich hier, wie vorsichtig und differenziert die Frage nach "Vorläufern und Rückdatierungen" der Hirschfeldschen Zwischenstufenlehre gestellt werden muß, wenn die eigentliche Leistung des um "Originalität" unbekümmerten Hirschfeld nicht verkannt werden sollte. Da Hirschfelds Zwischenstufenlehre sich nicht auf den "Kerngedanken" des "graduellen Unterschiedes" im Sexuellen reduzieren läßt, kann Herzers Zitaten-Samm­lung nicht halten, was sie verspricht. Das Novum, von dem "Der Tod Adams" handelt und das Herzer genealogisch nicht zu erklären vermag, besteht in der biologisch legitimierten und emanzipatorisch motivierten Auflösung jeglicher kategorialen Subsumption sexuierter Individuen.

 

13. Im abschließenden Absatz seiner Replik zitiert Herzer Autoren der Frühromantik, die der letzten Überschrift zufolge zu den Repräsentanten der These des "dritten Geschlechts" zu zählen sind, und zugleich nach Herzer zu denen gehören, die die "Grundidee der Zwischenstufenlehre" (56) vermutlich erstmalig formuliert haben. Mit dieser "Rückdatierung" möchte Herzer offensichtlich belegen, daß die Vorstellung von "konträrsexuellen" Anteilen bei jedem Menschen mehr als ein Jahrhundert vor Hirschfeld angefangen hatte, sich zu verbreiten, und zu Hirschfelds Zeiten schon zum Alltagsbewußtsein des liberalen Bildungsbürgertums gehörte. Diese Überlegungen dienen Herzer dazu, die im ersten Teil der Replik angekündigte Revision bezüglich Hirschfelds Freiheit zur Explizierung der Zwischenstufenlehre ideengeschichtlich zu untermauern. Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß die vorgenommene Rückdatierung stillschweigend das Verwischen des Unterschieds zwischen dem "dritten Geschlecht der Romantik" und den "unendlichen Geschlechtern" Hirschfelds voraussetzt. Herzer, der von der vermeintlichen Komplementarität der zwei "Abstraktionsstufen" des Sexuellen ausging, behandelt am Ende seiner Ausführungen die Unterschiedlichkeit der Ansätze als eine quantité négligeable und versucht somit die für ihn so schwer annehmbare Eigenständigkeit der Zwischenstufenlehre gegenüber den Konstruktionen des dritten Geschlechts zurückzudrängen. In diesem Kontext bringt Herzer neben der Ramdohr-Passage drei weitere Zitate aus der Romantik. Diese Belegstellen sind indes nur drei seiner "schönsten Funde", von denen künftig noch mehr zu erwarten sind, da es sich hier nur um eine "vorläufige Mitteilung" (56) handelt. Dabei geht es um zwei 4-zeilige Zitate aus Briefen von Friedrich Gentz und Wilhelm von Humboldt sowie um ein Zitat aus Friedrich Schlegels Roman Lucinde. Während es sich in Gentz’ Brief an Rahel Levin um einen ideellen gegenseitigen Austausch geschlechtlicher Identitäten innerhalb einer heterosexuellen Beziehung, und in von Humboldts Brief an seine Braut um das Bekenntnis zur Weiblichkeit seiner eigenen Gefühle handelt, hält der Ich-Erzähler Julius in Lucinde das Rollen-Vertauschen für "eine wunderbare, sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen Menschheit." (56) Die Annahme, daß diese frühromantischen Äußerungen als Belege für die Grundidee der Zwischenstufenlehre gelten sollen, wäre zunächst nur unter der allgemeinen Voraussetzung zulässig, daß es sich dabei um eine relevante Feststellung zur prinzipiellen Sexualkonstitution des Menschen handeln würde. Die drei zitierten Stellen leisten dies jedoch nicht. Sie erschöpfen sich nur in Andeutungen auf die Komplexität der eigenen, möglicherweise als "androgyn" empfundenen Geschlechtsorientierung. Da das Bekenntnishafte den Anspruch einer "universellen" Lehre nicht erheben kann, müßte Herzer "noch schönere Funde" vorlegen, um sein Anliegen erst plausibel zu machen.

 

14. Die historische Einordnung eines geistesgeschichtlichen oder wissenschaftlichen Paradigmen­wechsels kann zweckdienlich und sachgerecht erst dann erfolgen, wenn die geschichtliche Per­spektive die Aufmerksamkeit auf das in Entstehung begriffene Novum nicht nachlassen läßt. Die Tragweite und Relevanz der "epochalen Brüche", die Descartes’ Subjektivitätsphilosophie, Dar­wins Evolutionslehre und Freuds Psychoanalyse markieren, werden nicht dadurch verringert, daß man zur Kenntnis nimmt, daß Descartes’ Cogito-Formulierung von Augustinus vorwegge­nommen wird, daß Ansätze zu Darwins Evolutionstheorie schon bei den Vorsokratikern vor­kom­men oder daß Schopenhauer und Eduard von Hartmann in mancherlei Hinsicht Freuds Ent­deckung des Unbewußten antizipieren. Dementsprechend kann die Frage nach Hirschfelds Vorläufern nur dann sinnvoll gestellt werden, wenn man von der spezifischen Konfiguration seiner ra­dikal verstandenen Zwischenstufenlehre ausgeht, welche als fundamentum inconcussum in sexualibus[49] die biologische Begründbarkeit eines kritisch-emanzipatorischen Entwurfes nachweist, der einen prinzipiellen Bruch mit den vorangegangenen Vorstellungen dessen vollzieht, was mit Be­zug auf Sexualität als kulturell wünschenswert und realisierbar galt. Erst unter Berücksichtigung dieses grundlegenden Sachverhaltes können die geschichtlichen Einflüsse und Bedingungen adäquat ermittelt werden, die zur erstmaligen und freilich nur prekären Kristallisierung der Zwischenstufenlehre im Werk Hirschfelds führten. Allerdings darf dabei nicht übersehen wer­den, daß eine geschichtliche Würdigung Hirschfelds auch die prospektive Geschichte des Sexuellen zu beachten hat, zu der seine messianisch inspirierte Sexuallehre beigetragen hat. In die­sem Zusammenhang wäre zu klären, ob die "neuen" Krypto-Apologeten des "alten" dritten Geschlechts bedacht haben, welche Entgrenzung des bisher Vorstellbaren sich anvisieren läßt, wenn ein Philosoph der Postmoderne wie Vilém Flusser sich fragt, "warum neben den zwei anatomischen Geschlechtern nicht dritte, vierte und n-te Geschlechter entworfen werden sollten [...]."[50]



[1]    )  Wilde, Oscar: Salomé. Dessins Aubrey Beardsley. Les Pavillons-sous-Bois: Éditions Ressouvenances, 1991, S. 9

[2]    )      Erschienen in: 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste. Ausgewählt und herausgegeben von Manfred Herzer. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1998, S. 15-45

[3]    )  Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 1992

[4]    )  Die Seitenzahlen in runden Klammern verweisen auf: Herzer, Manfred: Hirschfelds Utopie, Hirschfelds Religion und das dritte Geschlecht der Romantik. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft. Herausgegeben von der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Redaktion: Ralf Dose. Berlin, Nr. 28; Dezember 1998

[5]    )      Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897 – 1922. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Manfred Herzer und James Steakley. Berlin: Verlag rosa Winkel, 1986, S. 7. Vgl. auch a.a.O., S. 126

[6]    )  Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld, a.a.O., S. 7

[7]    )  Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld, a.a.O., S. 60f 

[8]    )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 29

[9]    )      Hirschfeld, Magnus: Die intersexuelle Konstitution. Erweiterung eines am 16. März 1923 im hygienischen Institut der Universität Berlin gehaltenen Vortrags. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, Jahrgang 1923, S. 23

[10]  )  Vgl. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Philosophie. In: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Berlin: Dietz Verlag, 1978, Bd. 1, S. 378: "Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik."

[11]  )  Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1972, S. 170

[12]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 26

[13]  )  Bauer, J. Edgar: Max Stirner: Das Ende des Heiligen, in: Max Stirner e l´individualismo moderno. A cura di Enrico Ferri, introduzione di Francesco de Sanctis. Napoli: Pubblicazioni dell´Istituto Suor Orsola Benincasa, CUEN, 1996, S. 387

[14]  )  Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Herausgegeben von Klaus Briegleb. Band 5: Schriften 1831-1837. München – Wien: Carl Hanser Verlag, 1976, S. 438

[15]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 24

[16]  )  Vgl. Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 24

[17]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 24

[18]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 20

[19]  )  Mauthner, Fritz: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Vier Bände. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt, 1920-1923. Neusetzung: Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 1989

[20]  )  Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Drei Bände. Zweite, vermehrte Auflage. Leipzig: Verlag von Felix Meiner, 1923. Dazu siehe auch: Mauthner, Fritz: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Drei Bände. 3. Auflage (identisch mit der zweiten). Leipzig: Cotta-Verlag, 1923. Nachdruck: Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein, 1982

[21]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 24

[22]  )  Cohen, Hermann: Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten. In: Hermann Cohens Jüdische Schriften. Erster Band: Ethische und religiöse Grundfragen. Mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig herausgegeben von Bruno Strauß. Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn / Verlagsbuchhandlung, 1924, S. 312

[23]  )  Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. Nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß. 2. Auflage. Leipzig: Fock, 1929. Nachdruck: Wiesbaden: Fourier Verlag, 1978, S. 29

[24]  )  Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, a.a.O., S. 288

[25]  )  Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, a.a.O., S. 305

[26]  )  Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, a.a.O., S. 361

[27]  )  Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, a.a.O., S. 296

[28]  )      Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt, a.a.O., S. 126

[29]  )      Hirschfeld, Magnus: Die Weltreise eines Sexualforschers. Brugg: Bözberg, 1933, S. 389

[30]  )      Grundlegend dazu: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900 – 1915. [Katalog: Schirn-Kunsthalle Frankfurt, 3. Juni bis 20. August 1995] Herausgegeben von der Schirn-Kunsthalle Frankfurt und Veit Loers. Ostfildern: Edition Tertium, 1995

[31]  )  Für ein diesbezüglich lehrreiches Beispiel siehe: Fromm, Erich: You shall be as Gods. A Radical Interpretation of the Old Testament and its Tradition. New York: A Fawcett Premier Book, 1969, insbesondere das 4. Kapitel über "The Concept of History". Das "radical" im Titel ist auch im Sinne von "atheistisch" zu verstehen. Deutsche Übersetzung: Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seiner Tradition. Deutsch von Liselotte und Ernst Mickel. In: Fromm, Erich: Gesamtausgabe. Herausgegeben von Reiner Funk. Band VI: Religion. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1989, S. 83-226

[32]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 19

[33]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S.16

[34]  )   Diaspora (Anm. d. Red.)

[35]  )  Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Herausgegeben von Klaus Briegleb. Band 11: Schriften 1851-1855. München – Wien: Carl Hanser Verlag, 1976, S. 639

[36]  )  Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 20

[37]  )      Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt, a.a.O., S. 126

[38]  )      Hirschfeld, Magnus: Von einst bis jetzt, a.a.O., S. 7

[39]  )      Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates. Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? Zweite Auflage. Leipzig: Verlag von Max Spohr, 1902, S. 24

[40]  )      Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates, a.a.O., S. 28

[41]  )      Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates, a.a.O., S. 31f

[42]  )      Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates, a.a.O., S. 33

[43]  )      Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates, a.a.O., S. 33

[44]  )      Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Annegret Stopczyk, Gisela Dischner und Roberto Calosso. München: Matthes & Seitz Verlag, 1980, S. 489

[45]  )      Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 10

[46]  )  Vgl. Bauer, J. Edgar: Der Tod Adams, a.a.O., S. 33, 38

[47]  )      Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 469, Fußnote zu S. 10, Zeile 18

[48]  )      Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter, a.a.O., S. 98

[49]   )   unerschütterliche Grundlage in sexuellen Dingen (Anm.d. Red.)

[50]  )  Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Bensheim und Düsseldorf: Bollman Verlag, 1994, S. 113