Erwin J. Haeberle

Goethes 'Faust' - sexualwissenschaftlich betrachtet

Dieser Vortrag wurde am 20. April 2011 auf Einladung des Thalia Theaters in Hamburg gehalten

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Um es gleich vorweg zu sagen: Goethes „Faust“ ist sexualwissenschaftlich uninteressant.

Wir alle wissen: Es ist Deutschlands größtes sprachliches Meisterwerk. Kein anderer Text bietet soviele literarische Stilebenen, einfache Prosa sowohl wie die verschiedensten Versformen  -  vom Knittelvers, Blankvers und Madrigalvers bis zum Alexandriner. Hier finden wir das einfache Volkslied ebenso wie den Spottgesang, den Kirchenchoral und die ekstatische Hymne. Dabei ist das Stück keineswegs nur ausgeklügelte, papierene Literatur, sondern es „greift hinein ins volle Menschenleben“. Mit einer überbordenden Fülle von Geschehnissen und Gedanken schreitet es „den ganzen Kreis der Schöpfung aus“. Es enthält sowohl Tragik wie Komik, spielt mit Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung, amüsiert mit historischen Anspielungen, überrascht mit unerwarteten Wendungen und verblüfft mit theatralischen Effekten. Es liefert viele Paraderollen für Schauspieler und fast unendliche Möglichkeiten für Bühnenbildner, Kostümschneider und Bühnentechniker. Es ist auch kühn in seiner Dramaturgie. Besonders der zweite Teil ist für seine Zeit geradezu avantgardistisch, da erst die heutigen technischen Mittel ihm zur vollen Bühnenwirkung verhelfen können. Kurz: Goethes „Faust“ enthält, soviel „Stoff“, soviel Gewagtes und Experimentelles, soviele denkbare Interpretationen, dass man all das nur demütig bestaunen kann. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, so heißt es im Vorspiel, und am Ende muss der Zuschauer zugeben: Das Überwältigende, Massenbezwingende  -  hier wurde es wirklich Ereignis. Das beinah Unmögliche - hier ward es getan.

Was aber Sexualität und Erotik angeht, so bleibt alles im engen Rahmen des Konventionellen.

Das ist schon merkwürdig, denn in Goethes anderen Dichtungen lernen wir einen ganz anderen Autor kennen, einen, dem nichts Menschliches fremd ist, der alle sexuellen Praktiken kennt, der auch von erotischen Abgründen weiß und erstaunlich offen über seine eigenen skandalösen sexuellen Gedanken und Taten schreibt. Ja, eigentlich werden von ihm mit großer Kennerschaft alle Themen behandelt, die in der Sexualwissenschaft bis heute aktuell sind. Aber eben nicht im „Faust“.

Wer den Erotikexperten Goethe kennen lernen will, muss zu seinen Romanen greifen  -  zu den „Wahlverwandtschaftenmit ihren emotionalen Verwirrungen und Verstrickungen und zum „Wilhelm Meister“ mit der rätselhaften, sexuell ambivalenten Figur der Mignon und ihrem  ebenso rätselhaften Gebieter, dem Harfner. Vor allem jedoch muss man Goethes Lyrik lesen. Hier durchbricht er die zu seiner Zeit üblichen Sittsamkeitsschranken - von den „Römischen Elegien“ bis zu den „Venezianischen Epigrammen“. Aber auch anscheinend „harmlose“ volkstümliche Gedichte haben es in sich: Wer erkennt schon gleich, dass im „Heideröslein“ ein Mädchen ihren Vergewaltiger mit der vorher offen angedrohten Syphilis ansteckt? Und nun gar zur heute so aktuellen Pädophilie: Die meisten Leser bemerken nicht oder wollen nicht bemerken, wie unheimlich die Ballade vom „Erlkönig“  tatsächlich ist. Das Erschreckende, ja Schockierende darin ist die Vision des fiebrigen Knaben, die der Vater allzu leicht als törichte Einbildung abtut. Aber woher hat denn sein kleiner Sohn die Vorstellung, dass der Erlkönig, ein Mann mit halbwüchsigen Töchtern, sich in ihn verliebt hat, ihn mit Versprechungen umwirbt und ihn schließlich, gereizt von  seiner „schönen Gestalt“ vergewaltigt? Wie nur kommt ein Kind auf solche Gedanken? Doch nicht von selbst! Da muss es doch irgendein reales, traumatisches Erlebnis gegeben haben!  Aber welches? Wer hat ihm wirklich „ein Leids getan“? Der verzweifelte Vater, der nur das kindliche Wimmern hört, kann es nicht ahnen, und der verstörte Leser, der vom Dichter erfährt, von welcher Angst der sterbende Junge so gequält wird, steht am Ende immer noch vor einem unaufgeklärten, entsetzlichen Geheimnis.

Von solchen sexuellen Abwegigkeiten sind die beiden Teile des „Faust“ völlig frei. Hier gibt es Verliebtheit, chemische Potenzverstärker und konventionellen Sex. Es gibt einen Bericht über die Infizierung  und Ausbeutung des Herrn Schwerdtlein durch eine italienische Prostituierte, primitive heterosexuelle Zoten in der Walpurgisnacht auf dem Brocken, und am Schluss ein derb-komisches Beispiel für Homosexualität - nichts, was nicht damals jeder als alltäglich kannte und heute als „völlig normal“ akzeptiert. Es gibt im „Faust“ nichts sexuell Ungewöhnliches, Auffälliges, Aufregendes, Überraschendes oder Kontroverses. Kurz gesagt: Es gibt hier nichts, worüber es sich sexologisch zu diskutieren lohnt.

Damit wäre nun mein bescheidener Vortrag zu Ende, denn die wirklich dramatischen  Ereignisse  im  „Faust“ -  fahrlässige Massentötung, Kindestötung, Mord, Finanzspekulation, Betrug, Zauberei mit Knalleffekt, die Erzeugung menschlichen Lebens im Labor, der Unfalltod eines Kindes, Staatsbankrott und Krieg, Deichbau und Landgewinnung im großen Stil, die Zwangsräumung unliebsamer Bewohner, wobei Brand und Tod in Kauf genommen werden  -  all das gehört in das Gebiet anderer Fachleute. Der Sexualwissenschaftler räumt hier gerne das Feld.

Dennoch: Es gibt etwas, das ihn innerlich weiter beschäftigt, etwas, von dem er nicht weiß, was es bedeutet, und das vielleicht doch irgendwie indirekt in sein Fachgebiet fällt. Es ist der Schluss des zweiten Teils der Tragödie. Dieser hat etwas Rätselhaftes, Beunruhigendes schon für den flüchtigen Leser. Erst recht gilt dies für jeden, der ihn szenisch umsetzen soll. In ihm verbindet sich höchstes Pathos mit obszöner Komik - eine Herausforderung für das Theater, die aber letztlich über den Gesamterfolg entscheidet.

Deshalb scheint es mir klug, eine Inszenierung beider Teile des „Faust“ vom Schluss her zu konzipieren und sie sozusagen vom Ende her rückwärts nach vorne aufzubauen. Nach dieser Methode möchte ich nun auch selber mit meinen Anmerkungen verfahren, also mit dem Schluss beginnen, um dann vielleicht doch noch im Rückwärtsgang einiges Diskussionswerte in den früheren Akten zu finden.

Auf den ersten Blick scheinen die letzten Szenen des „Faust“ zu ihrem Verständnis die Kennerschaft eines Mediävisten zu erfordern wegen ihrer theologischen Versatzstücke und heute kaum noch verständlichen Allegorien. Auch ein Theaterhistoriker könnte hier hilfreich sein indem er etwa auf Elemente der Mysterien und anderer geistlicher Spiele des Mittelalters und der Renaissance  verweist und auf deren Einschübe derber Volkstümlichkeit. Er könnte aber auch seinen Horizont bis zu unserer Gegenwart erweitern und, von seinem Studienfach belehrt, sich selbst und uns eine großzügige, neue Fernsicht auf das Werk eröffnen.

Dann könnte er den Schluss der gesamten Dichtung als eine Art großes musikalisches Finale auffassen. Es ist ja kein Zufall, dass Komponisten von Spohr über Berlioz, Schumann, Gounod und Boito bis zu Mahler und Busoni ihre eigenen Faustvertonungen geschaffen haben. Ja, das lehrreichste Beispiel für uns Heutige ist vielleicht ein reguläres Opernfinale, weil es eben nicht für den Konzertsaal, sondern für die Bühne geschrieben ist.  

Der hohe Anspruch, den die Schlußszene von Goethes Faust an seine Zuschauer stellt, hat mich immer an das ebenso anspruchsvolle Finale von Wagners „Götterdämmerung“ erinnert. Hier stellt eine große Rheinüberflutung die von überheblichen Göttern und Menschen gestörte Ruhe der Natur wieder her. Am Ende aber ist es allein die überwältigende Flut der Musik, die durch Wiederholung der wichtigsten Leitmotive das Bühnengeschehen von vier vorausgegangenen Opern noch einmal zusammenfasst und für das Publikum im Rückblick verständlich, ja bis in die tiefsten seelischen Schichten hinein fühlbar macht.

Wir wissen, dass Goethe nicht so dachte und dass er eine überwältigende, seelisch tief aufwühlende Musik keineswegs schätzte. So mochte er z.B. auch Schuberts eigentlich kongeniale Vertonung des „Erlkönig“ nicht. Wenn ich nun trotzdem - sozusagen gegen Goethe - noch zwei weitere Opernbeispiele aus der Zeit nach seinem Tode anführe, so verstehen Sie dies bitte als Umweg, der uns am Ende doch wieder zu Goethe zurückführt.

Nehmen wir zunächst das Finale zur Faustoper von Charles Gounod, der nur den ersten Teil der Tragödie vertont hat: Er hält sich recht getreu an die Vorlage, aber er weiß auch, dass eine Oper einen musikalisch besonders effektvollen Schluss erfordert. Wenn bei Goethe eine einzige „Stimme von oben“ Gretchens Rettung verkündet, so wird bei Gounod daraus ein gewaltiger Chor, der mit einem laut anschwellenden Orchester das Publikum bis ins Mark erschüttern soll. Der Kulturhistoriker Egon Friedell hat diese Musik „erstklassigen Schund“ genannt, und wer sie einmal im Opernhaus erlebt hat, wird zumindest ihre applausstimulierende Wirkung nicht bestreiten. Allerdings: Wenn er dabei auf die Bühne blickt, so sieht er oft gleichzeitig ein blamables Versagen der Regie, die keine visuelle Entsprechung findet und entweder eine unpassende Nüchternheit oder penetranten Kitsch produziert.

Etwas leichter hat es der Regisseur mit Arrigo Boitos „Mefistofele“, der beide Teile des „Faust“ textlich und musikalisch zu einer einzigen Oper verbindet. Sie beginnt mit dem Prolog im Himmel und endet mit der Schlussszene des zweiten Teils. Somit ist von vornherein eine gewisse dramaturgische Abrundung vorgegeben: Die erste und die letzte Szene finden im gleichen Bühnenbild statt, und in beiden dominieren Chöre von Engeln und der Teufel als Solist.

Interessant ist nun, wie der Librettist und Komponist  Boito in der Schlussszene den von Goethe gewollten Kontrast von Profanität und  Erhabenheit darstellt. Für sein großbürgerlich gesittetes Publikum klammert er das sexuell Skandalöse des Originals einfach aus. Dafür aber erlaubt er dem düpierten Mephistopheles, mit grölendem Gesang, lauten Zwischenrufen und gellenden Pfiffen gegen die Harmonien der himmlischen Heerscharen  anzukämpfen. Das ist meisterhaft und sehr bühnenwirksam miteinander zu einem großen musikalischen Ganzen verwoben - ein grandioses Finale wir nur wenige andere in der Opernliteratur.

Hiermit nähern wir uns nun den originalen Schlussszenen bei Goethe, zunächst der „Grablegung“:

Wir erinnern uns, dass es dabei um den Ausgang zweier Wetten geht  -  einer großen, die Mephisto mit dem „großen Herrn“ des Himmels  eingegangen war, und einer kleinen, die er mit Faust abgeschlossen und vertraglich besiegelt hatte. Diese „kleine“ Wette mit Faust gewinnt er; die „große“ mit dem Herrgott aber verliert er, und damit entgeht ihm auch noch der rechtmäßige Gewinn aus der „kleinen“  Wette. Am Ende steht er also als doppelter Verlierer da.

Wie kam es dazu?

Der „Prolog im Himmel“  zeigt uns die Wette des Herrn mit Mephistopheles: Wenn es diesem gelingt, Faust  vom rechten Wege abzubringen und mit sich herab zu ziehen, so darf er seine Beute behalten und triumphieren.

Die zweite Wette schließt Mephistopheles mit Faust selber in dessen Studierzimmer ab. Dieser sagt ihm:

„Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!“

Der Ausgang dieser zweiten Wette ist eindeutig: Am Ende des Stücks erscheint auf der Bühne ein greiser, erblindeter Faust als Großunternehmer, dessen Projekt einer Landgewinnung kurz vor dem Abschluss steht. Vor seinem inneren Auge sieht er schon die neuen, glücklichen Siedler und ruft voller Stolz auf die eigene Leistung:

„Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“

Damit hat er selber sein Schicksal besiegelt. Er stirbt und wäre nun die Beute seines Wettpartners, wenn nicht…. ja, wenn nicht  Mephistopheles noch seinen ersten, großen  Wettpartner hätte. Wie sich nun aber herausstellt, hat dieser sozusagen noch „ein Ass im Ärmel“ und spielt es auf einmal für alle überraschend aus:

Der Herr des Himmels kannte selbstverständlich von Anfang an eine Schwäche des Mephistopheles, die bisher für niemanden sonst zu erkennen war. Die nutzt er jetzt, um ihm die Beute abzujagen: Er sendet eine Schar von Engeln aus - schöne junge Männer, von denen er weiß, dass sie ihn ablenken werden. In der Tat, sie erregen in ihm sofort die heftigsten Liebesgefühle, und so beschwört er sie:

„Ihr seid so hübsch, - fürwahr ich möcht euch küssen! ….
Auch könntet ihr anständig-nackter gehen,
Das lange Faltenhemd ist übersittlich –
Sie wenden sich – Von hinten anzusehen! –
Die Racker sind doch gar zu appetitlich!“

Heutzutage kann ein Theater es sich leisten, dass die engelhaften Jünglinge bei diesen Worten ihre Hemden abwerfen und ihre nackten, erotisch attraktiven Rückseiten darbieten. Das wäre jedenfalls ganz im Sinne des Dramas. Denn hier handelt es sich um eine jener volkstümlich derben Szenen, die schon Jahrhunderte vorher das Volk auf der Straße belustigt hatten. Schon in den Mysterien-, Fastnachts- und Passionsspielen des Mittelalters und der Renaissance hatte es komische Einlagen und  Zwischenspiele gegeben, wie etwa einen Kampf der guten gegen die bösen Seelen. Da mussten zum Beispiel die Verstorbenen an ihrem Grabe groteske Kämpfe gegen den Teufel ausfechten, der sie in die Hölle mitnehmen wollte, oder er wurde von Engeln verprügelt und so als erbärmlicher „armer Teufel“ dem Gespött der Menge preisgegeben.

Bei Goethe nun geht es subtiler, aber auch infamer zu: Mephistopheles wird am Ende als schwul „geoutet“ und damit ebenfalls lächerlich gemacht. In seinem plötzlich brennenden  Liebeswahn bemerkt er zu spät, dass die von ihm angeschmachteten Epheben nur gekommen sind, ihm seinen wohlverdienten Lohn zu stehlen. Während er noch versucht, sich zu fassen, schweben sie schon himmelwärts „ Faustens Unsterbliches entführend“.

An dieser Stelle erlauben Sie mir bitte eine persönliche Bemerkung als Leser und Theaterbesucher:  Es ist mir immer aufgefallen, wie Interpreten dieser Szene unbehaglich herumdrucksen, wenn es um den völlig eindeutigen Inhalt geht. Einige wollen schon bestreiten, dass der Teufel überhaupt irgend etwas gewonnen hat, denn Fausts Genuss des „höchsten Augenblicks“ sei nicht real empfunden, sondern nur „konditional“ im Vorgriff auf die Zukunft ersehnt gewesen. Andere mogeln sich über den „schwulen“ Aspekt der Sache hinweg und tun so, als wären die Engel geschlechtsneutral oder gar weiblich. In der ansonsten großartigen Radioproduktion Wilhelm Semmelroths von 1949 zum Beispiel muss Erich Ponto als Mephistopheles auf eindeutig weibliche Engelsstimmen reagieren, indem er brünstig ausruft: „Sie wenden sich – Von hinten anzusehen! – Die Racker sind doch gar zu appetitlich!“ Hier wurde also gewissermaßen schon das „absurde Theater“ der folgenden Jahre vorweg genommen. Ein halbes Jahrhundert später, in Peter Steins ungekürzter „Faust“-Inszenierung aus dem Jahre 2000, waren dann die Engel zwar männlich, blieben aber immer noch züchtig bekleidet.

Nun wird man in Falle der WDR-Produktion verständnisvoll auf die gesellschaftlichen Umstände der prüden Adenauer-Ära verweisen, die es dem Regisseur eben nicht erlaubte, textgerecht zu inszenieren. Da ich diese Zeit als Heranwachsender noch selber miterlebt habe, bin auch ich hier sehr gerne nachsichtig.

Dies umso mehr, als ich auch heute noch fürchte, dass die Szene ein großes gesellschaftliches Tabu berührt, wenn auch ein anderes als damals. Aber, wie schon gesagt, das ist kein sexualwissenschaftliches, sondern eher ein sozialpolitisches Thema. Heute, im Zeitalter offen schwuler Politiker, mag die Homosexualität an sich kein Skandal mehr sein, aber ist es nun wirklich erlaubt, einen Schwulen auf der Bühne lächerlich zu machen, selbst wenn er der Teufel ist? Ist das noch „politisch korrekt“? Und vergessen wir nicht, wie er hier vorgeführt wird, nämlich mit dem allerbilligsten und  plattesten Klischee: Wie einem pawlowschen Hund auf ein Klingelzeichen der Speichel rinnt, so läuft auch Mephistopheles automatisch das Wasser im Mund zusammen, als er die schönen Jünglinge und dann ihre schönen Ärsche sieht. Ja, sagen wir es offen: Hier bewegt Goethe sich auf dem Niveau primitivster Schwulenwitze. Soll man das wirklich so im Theater zeigen? Und was ist, wenn ganze Schulklassen eine solche Aufführung besuchen? Gehört nicht gerade heute eine wachsende Homophobie zum schulischen  Alltag, besonders bei Schülern „mit Migrationshintergrund“? Soll man deren Vorurteile noch verstärken? Und ausgerechnet mit Goethe?

Auch diese Fragen fallen nicht in mein Fachgebiet, und so kann ich die Antworten glücklicherweise ganz dem Theater überlassen. Ich möchte nur noch einmal auf die „große“ Wette zu sprechen kommen: Wie gesagt, viele Interpreten wollen dem Herrgott keinen Wettbetrug unterstellen, ja noch nicht einmal seine sich hier offenbarende Hinterhältigkeit zugeben. Stattdessen verweisen sie auf seine Bemerkung im Prolog: „Es irrt der Mensch, solang er strebt“. Dieses Streben soll nun, trotz allem, Fausts Rechtfertigung sein, denn die Engel, die  sein „Unsterbliches“  in immer höhere Sphären tragen, singen dazu:

„Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen“.

Da Faust aber nie aufgehört hat, zu streben, werde er völlig zu Recht dem Teufel entrissen und erlöst. Auch Goethe selbst bestätigt dies gegenüber Eckermann (am 6. Juni 1831), betont aber zugleich die Rolle der „von oben zuhilfe kommenden ewigen Liebe.“  Ja, er fährt fort: „Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.“ Eben davon singen die Engel: 

 „Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichen Willkommen.“

Hier nun erscheint ein Wort, das auch dem Sexualwissenschaftler auffällt, obwohl es ihn eigentlich nichts angeht,  -  nämlich das Wort „Liebe“. Wie so oft bei anderen Gelegenheiten muss ich auch hier wieder einmal betonen, dass Liebe und Sex nicht dasselbe sind, und dass die Sexualwissenschaft, wie ihr Name schon sagt, sich nur mit dem letzteren und nicht mit der ersteren befasst. Für das Thema Liebe sind eigentlich andere zuständig.

Auffällig ist das Wort in den Schlußszenen des „Faust“ deshalb, weil es auf einmal in wachsender Häufigkeit auftritt. Der greise Faust hatte es nicht in den Mund genommen, aber schon als Mephistopheles von den Engeln in Versuchung geführt wird, spricht dieser von „allerliebsten Jungen“, „Liebsten“, „Verliebten“, „Liebschaft“, „Liebesspuk“ und  „Liebeselement“. Aber dann erst, wenn in den Bergschluchten „Faustens Unsterbliches“ höher und höher getragen wird, entwickelt das Wort „Liebe“ durch Wiederholungen in immer neuen Zusammenhängen eine eigene Suggestionskraft, einen Sog, der das Publikum mit nach oben reißt. Man hört da von einem „heiligen Liebeshort“, von einem „glühenden Liebeband“, von „ewiger Liebe“, „ewiger Liebe Kern“, allmächtiger Liebe“, „Liebesqual“, „Liebenden“ und „Liebesboten“, von „ewigen Liebens Offenbarung“, „heiliger Liebeslust“, „liebend-heiligen Büßerinnen“ und einer „früh Geliebten, nicht mehr Getrübten“.

Die letztere ist das einst von Faust so schnöde verlassene Gretchen, das nun bei der Heiligen Jungfrau Fürbitte für ihn einlegt. Sie hat Faust immer geliebt und so dafür gesorgt, dass die „Liebe von oben“ an ihm teilnehmen und ihn so erlösen konnte.

Von der Grablegungsszene mit dem erotisch entbrannten Mephistopheles bis zum Ende des Dramas wandelt das Wort „Liebe“ also zunehmend seine Bedeutung. In „höhern Sphären“ streift es sozusagen seine Körperlichkeit ab und wird zu einer rein geistigen Kraft. Diese nun wiederum strahlt von der Jungfrau Maria aus, und ihr Abglanz übergießt auch noch die reuige Kindsmörderin Gretchen. Sie, die „Büßerin“, lockt „Faustens Unsterbliches“ liebend nach oben zur endlichen Reinigung von jedwedem „peinlichen irdischen Rest“. Die vollkommene himmlische, nicht die unvollkommene irdische Liebe, bringt also Faust die Erlösung. Es ist die entsinnlichte Liebe von entsinnlichten Frauen, die einen entsinnlichten Faust in ihrem Reich willkommen heißt, und die am Ende von einem mystischen Chor als allgemeines Prinzip beschworen wird:

„Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.“

Wenige Zeilen der deutschen Literatur haben soviele Interpretationen herausgefordert. Generationen von Germanisten haben sich daran abgemüht, und mit diesen Fachleuten will ich nicht  ernsthaft konkurrieren. Ich möchte hier nur einige knappe, prosaische Bemerkungen machen.

Im Jahre 1827, erst vier Jahre bevor Goethe seinen „Faust“ abschloss, publizierte Karl Ernst von Baer seine Entdeckung der menschlichen Eizelle. Die wahre Bedeutung dieser Entdeckung wurde aber zunächst noch nicht einmal von seinen wissenschaftlichen Kollegen erkannt. Erst später begannen andere Forscher durch weitere Arbeit die weibliche Rolle bei der menschlichen  Fortpflanzung besser zu verstehen. Goethe hat diese Zeit nicht mehr erlebt.

Inzwischen weiß die Sexualwissenschaft mit Sicherheit eines: Das weibliche ist das erste, das ältere, ja, das grundlegende Geschlecht - das Ur-Geschlecht sozusagen. Das männliche Geschlecht entsteht nur durch Zutaten, d.h. durch bestimmte hormonelle Zugaben vor der Geburt. Bleiben diese aus, so entwickelt ein Embryo sich „automatisch“ in weiblicher Form weiter. Man könnte  diese Wahrheit auch als Mythos darstellen, etwa so, dass Gott den Adam aus Evas Rippe erschafft. Das entspräche dann der heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis. Aber, wie alle Synagogen-, Kirchen- und Moscheebesucher bestätigen können: Unsere patriarchalischen abrahamitischen Religionen haben uns von jeher das Gegenteil erzählt.

Das Patriarchat ist nun wieder ein Thema für sich. Betrachten wir nur, welche Spuren davon in den Schlußszenen des „Faust“ zu finden sind! Der schwule Mephistopheles ist für sein Glück auf das Weibliche nicht angewiesen. Auch hat er kein Interesse an erotischer Vergeistigung. Die Liebe von der er spricht, ist und bleibt eine sinnliche, rein körperliche Angelegenheit. Genaugenommen, ist es gar keine Liebe, sondern  -  in unserer heutigen Alltagssprache  -  einfach nur „Sex“.

Nun aber Faust, die Hauptfigur: Als Greis redet er nicht mehr von Liebe. Sie gehört zu früheren Phasen seines Lebens, als er noch Gretchen und Helena umwarb. Erst nach seinem Tode  offenbart sie unerwartet ihre Bedeutung auch für seine letzten Stunden. Nun ist sie aber mit der vergänglichen, irdischen Liebe, die er kannte, nicht mehr zu vergleichen. Sie ist unvergänglich und unbeschreiblich. Sie wird ihm als Gnade zuteil - ein Geschenk  des weiblichen Prinzips in der Natur.

Aber worin sieht Goethe dieses Prinzip?

Erinnern wir uns, dass die ganze Szene auf eine Huldigung an die Jungfrau Maria hinausläuft - nein, hinaufschwebt. Diese ist nicht nur die sexuell „Unberührte“, nein, sie ist die „Unberührbare“. Dabei ist sie aber gleichzeitig die große, ruhmreiche Mutter, die Fausts Unsterbliches immer weiter hinauf  in „höhere Sphären“ locken lässt. Die auch szenisch augenfällige Erhöhung wird von dem ihr ergebenen Doctor Marianus in entsprechender rhetorischer Steigerung schwärmerisch begleitet:

„Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!“

Diese Steigerung muss uns den Schlüssel zu Fausts Erlösung geben.

Wir erinnern uns, dass Faust in einer früheren Szene von Mephistopheles tatsächlich einen Schlüssel bekam, um mit dessen Hilfe zu „den Müttern“ zu gelangen. Auch diese Mütter nennt der  Teufel „Göttinnen“, hat aber trotz seines Schlüssels keinen Zugang zu ihnen. Sie befinden sich in einer eigenen, ihm ewig verschlossenen Dimension. Nur Faust  kann es wagen, in ihr ort- und zeitloses Reich einzudringen. Er nutzt diese Gelegenheit aber nur für den profanen Zweck eines Zauberspektakels, mit dem er die Antike beschwört. Was „Mutter“ und  „Göttin“ in Wahrheit bedeuten, erfährt er erst jetzt nach seinem Tod als ein Gereinigter, dem alle irdischen Absichten fremd geworden sind.

Das „ewig Weibliche“ ist also das Prinzip der Reinigung von allem Irdischen und Sinnlichen, auch vom Sexuellen. Es ist eine asexuelle Weiblichkeit, die Fausts Erlösung bewirkt, und so drängt sich die Frage auf: Was ist denn daran überhaupt noch weiblich? Wird hier nicht eher ein unsinnliches, übersinnliches, damit auch geschlechtsneutrales, ja völlig geschlechtsloses Prinzip besungen? 

Goethe selbst bemerkte dazu in dem bereits zitierten Gespräch mit Eckermann, dass er sich „bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen  Figuren  und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte“.

Beschränkung und Festigkeit kann man dieser Schlußszene ohne Weiteres  zugestehen, aber wie christlich-kirchlich sind denn nun Goethes Intentionen? Die Bezeichnung „Göttin“ für die Jungfrau Maria ist jedenfalls unchristlich und heidnisch. Heidnisch ist auch, dass Fausts Wille zum Leben weiterbesteht, indem sein „Unsterbliches“ gerettet wird. Das jedenfalls war die Ansicht Arthur Schopenhauers, für den ein wahrhaft christlicher Standpunkt die Verneinung des Willens zum Leben  verlangte. Für ihn war der Traum vom ewigen Leben ein heidnisches Relikt. Goethe aber wählte für seine Tragödie einen willensbejahenden Schluss. So konnte das ursprünglich freundschaftliche Verhältnis zwischen ihm und Schopenhauer auch nicht von Dauer sein. Hier, wie auch in anderen Punkten entfernten sie sich in entgegengesetzte Richtungen von einander fort.

Goethes gesamte Schlußszene ist aber abendländisch religiös allumfassend, also im ursprünglichen Wortsinne wahrhaft „katholisch“. Sie vermischt antike, mittelalterliche und  moderne Elemente auf eine sehr eigene Weise, und eben dies löste Unbehagen nicht nur bei Schopenhauer, sondern auch bei anderen deutschen Philosophen aus. So wandte sich etwa Friedrich Nietzsche später protestierend direkt an den längst verstorbenen Autor (in dem Gedicht „An Goethe“): 

Das Unvergängliche
Ist nur dein Gleichniss!
Gott der Verfängliche,
Ist Dichter-Erschleichniss
...

Ein anderer aber, in seiner Jugend selbst noch Zeitgenosse Goethes, reagierte mit offenem Sarkasmus: Friedrich Theodor Vischer, Professor in Tübingen, verfasste eine Persiflage „Faust - Der Tragödie dritter Teil“, und darin werden in der Sprache von Goethes zweitem Teil die trivialsten und albernsten Inhalte vermittelt. Schließlich ruft der Doctor Marianus dem Publikum zu:

Empor nun, ganzes Auditorium!
Aufschwingt euch zum Emporium,
Allwo unbeschnipfelt
Die Idee sich gipfelt,
 Wo das I sich tüpfelt,
      Wo der Weltbaum wipfelt,
     Wo die Weltwurst zipfelt!

Darauf singt dann der Chorus Mysticus:

Das Abgeschmackteste,
Hier ward es geschmeckt,
Das Allervertrackteste,
Hier war es bezweckt;
Das Unverzeihliche,
Hier sei es verziehn;
Das ewig Langweilige
Zieht uns dahin!

(Der Vorhang fällt.)

Der Ästhetik-Forscher Vischer spürte deutlich die Gefahr, die in allzu hohem Pathos lauert, besonders, wenn es ins Religiöse zielt. Nicht nun in dieser, sondern auch in anderen seiner parodistischen Szenen entlarvt er dessen Nähe zum sinnlosen Wortgeklingel. Er sieht, wie nahe hier das Erhabene und das Lächerlichen bei einander liegen, und mit boshaftem Instinkt tut er nur noch den letzten, allzu kleinen Schritt, um die Balance kippen zu lassen.

Diese Gefahr droht aber auch heute noch jeder Inszenierung des Originaltextes. Ihn still zu lesen, ist eine Sache, ihn auf der Bühne zu sprechen, eine völlig andere. Welcher Schauspieler hat heute noch das natürliche Pathos des unvergleichlichen Horst Caspar, das immer echt und niemals  peinlich wirkte?  Womöglich gab es schon zu Goethes Zeiten kaum einen Sprecher, der diesen gefährlichen Text angemessen gestalten konnte. Goethe selbst jedenfalls spielte deshalb durchaus mit dem Gedanken, den Text singen zu lassen und einem Opernkomponisten anzuvertrauen. Andererseits aber traute er keinem Zeitgenossen zu, dem teilweise „Abstoßenden, Widerwärtigen und Furchtbaren“ des Stückes musikalisch gerecht zu werden. Zu Eckermann sagte er (am 12. Februar 1829): „Die Musik müsste im Charakter des „Don Juan“ sein; Mozart hätte den “Faust“ komponieren müssen, Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.“

Meyerbeer schien deshalb geeignet, weil er ein Schüler Carl Friedrich Zelters war, den Goethe nicht nur als Komponisten, sondern auch als guten Freund sehr schätzte. Zelter aber ließ immer das Wort dominieren. Er vertrat also gerade die Umkehrung des von Mozart geforderten Prinzips:Bei der Oper muß schlechterdings die Poesie der Musik gehorsame Tochter sein.  Bei Zelter - und, wie Goethe hoffte, auch bei Meyerbeer - würde der Primat des Textes gewahrt bleiben.

Ironie der Geschichte: Erst 1831, also ausgerechnet in dem Jahr als Goethe seinen „Faust“ abschloss, erlebte Meyerbeer seinen künstlerischen Durchbruch, und zwar nicht in Italien, sondern in Paris mit einer „grand opéra“ in der ebenfalls der Teufel eine Rolle spielt: „Robert le diable“. Auch in dieser mittelalterlichen Rittergeschichte wird ein Mann durch die Liebe einer jungen Frau vor der ewigen Verdammnis bewahrt: Ein Bösewicht namens Bertram ist mit dem Teufel im Bunde und will seinen eigenen, leicht verführbaren Sohn Robert, der im Volke ohnehin schon als Teufel verschrien ist, ebenfalls zu einem Teufelspakt überreden. Dies wird aber in letzter Minute von Roberts edelmütiger Stiefschwester verhindert, Bertram fährt zur Hölle, der gerettete Robert heiratet eine Prinzessin, und so endet alles in einem glücklichen Finale.

Mit dieser Oper hatte sich Meyerbeer völlig und für immer von dem entfernt, was Goethe hätte gefallen können. In der „grand opéra“, wie sie fortan in Paris gepflegt wurde, dominierten starke Bühneneffekte, spektakuläre Massenszenen, sensationelle Balletteinlagen und eine entsprechende mitreißende Musik. Meyerbeer selbst schrieb noch weitere erfolgreiche Werke dieser Art, und andere Komponisten eiferten ihm nach. Heute aber werden die Werke kaum noch aufgeführt. Das ist besonders bedauerlich im Falle von Donizettis Meisterwerk „Dom Sebastien“, der besten aller dieser Opern - damals ein Riesenerfolg, heute völlig zu Unrecht vergessen. Man bekommt aber einen Ahnung vom ihrem Stil - und damit von dem des ganzen Genres -  wenn man erfährt, dass in einer ihrer Szenen fast 500 Mitwirkende auf der Bühne standen.

Der theatralische und musikalische Aufwand einer „grand opéra“ ist - das kann man wohl mit ziemlichem Recht sagen - mit dem Geist von Goethes „Faust“ nicht vereinbar. Meyerbeer und seine damaligen Konkurrenten haben deshalb auch nie eine Vertonung versucht. Man könnte in diesem Zusammenhang natürlich ebenfalls Berlioz nennen, dessen groß angelegte Faust-Komposition noch in diese Epoche fällt. Aber erstens endet sie - ganz gegen Goethes Intentionen - mit Fausts Verdammnis, und zweitens ist sie als „dramatische Legende“ weder eine richtige Oper, noch ein reines Oratorium. Stattdessen hat Berlioz hier eine Zwischenform geschaffen, die - jedenfalls zu seinen Lebzeiten - beim Publikum nie den erhofften Anklang fand. Zwar wurde und wird „La damnation de Faust“ gelegentlich als Oper inszeniert, aber diese Versuche bleiben immer problematisch. Letztlich überzeugt das Werk doch am ehesten in konzertanter Form. Komponisten wie Schumann und Mahler, die sich mit großen orchestralen Mitteln und Chören an den Originaltext wagten, haben deshalb sehr folgerichtig von vornherein statt der Bühne den Konzertsaal gewählt.

Diese Tatsache gibt uns aber im Umkehrschluss auch einen Hinweis für die Theaterinzenierung: Wenn man Goethes „Faust“ in seinem Sinne auf die Bühne bringen will, dann muss das Wort Vorrang vor allem anderen haben und behalten. Dies bedeutet auch eine gewisse Zurückhaltung in Bühnenbild, Kostüm, begleitender Musik oder akustischen Effekten. Zwar wird die Aufgabe der Regie damit nicht einfacher. Es hilft aber vielleicht, sich dabei des „Vorspiels auf dem Theater“ zu erinnern. Anders nämlich, als der Theaterdirektor es sich dort gewünscht hatte, ist man als Zuschauer mit dem Drama bei dessen Ende „vom Himmel durch die Welt zum Himmel“ gewandelt. Die Hölle wurde einfach ausgespart. 

Die Dramenhandlung kehrt also zu ihrem Ausgangspunkt zurück  -  dem Himmel des Prologs. Auch darin steckt ein Hinweis für die Regie. Man kann also die Eingangs- und die Schlußszene in der gleichen Dekoration spielen lassen, wie ja auch Boito das in seiner Oper „Mefistofele“ nahegelegt hatte.

Ein weiterer Hinweis liegt in der wichtigen Rolle, die am Schluss das lange vergessene Gretchen wieder spielt. Damit wird im zweiten Teil der Tragödie bewusst eine Verbindung zum ersten Teil hergestellt, und dies sollte auch inszenatorisch deutlich werden. Beide Teile müssten also optisch irgendwie auf einander abgestimmt sein.

Dabei muss auch plausibel werden, was Gretchen für Faust einmal bedeutete, und warum er sie einfach vergessen hat. Das ist für viele Verehrer des Dramas ein heikles Thema. Hier hilft aber eine genaue Lektüre des Textes.

Goethe dachte sich den sterbenden Faust als etwa hundertjährigen Greis, aber wie alt ist er zu Beginn des Stückes? Hier ist der Text widersprüchlich. Einerseits spricht Faust von seinem “langen Bart“ und fragt Mephistopheles, ob man ihm in der Hexenküche „ dreißig Jahre vom Leibe“ schaffen kann. Nach diesen Worten zu urteilen, wäre er also etwa 50 Jahre alt – „zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein“. Andererseits beklagt er vorher, dass er als Magister und Doktor seine Schüler „schon an die zehen Jahr“ an der Nase herumführt. Nach dieser Rechnung wäre er jedoch höchstens Anfang 30. Wie das?

Der Eingangsmonolog versetzt uns eindeutig ins 16. Jahrhundert, denn Faust erwähnt ein „Buch von Nostradamus‘ eigner Hand“. Nostradamus aber lebte in der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts, und damals erwarb man seine akademischen Titel sehr viel früher als heute. Nostradamus selbst wurde als Student von der Universität verwiesen, aber sein Zeitgenosse Martin Luther zum Beispiel, der sogar von Mephistopheles in einem Spottlied erwähnt wird, erhielt seinen Magistergrad mit 22 Jahren und begann seine Lehrtätigkeit an der Universität Wittenberg mit 25. Philipp Melanchton wurde mit 17 Jahren Magister und war mit 21 Professor an der gleichen Universität. Rechnet man nun jeweils „an die zehen Jahr“ Lehrtätigkeit hinzu, so handelt es sich in beiden Fällen immer noch um sehr junge Männer. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass ausgerechnet der wissensdurstige Faust als „Magister und Doktor gar“ diesem damals typischen Muster nicht gefolgt sein sollte. Wie alt soll also Faust bei seinem ersten Auftritt sein?

Generationen von großen Schauspielern, von Adolf Sonnenthal bis Werner Krauss, haben Faust beim Eingangsmonolog als greisenhaft dargestellt, aber das widersprach eigentlich immer den dazu gesprochenen Versen. Tatsächlich spielten sie so den Faust der Volkssage und des Puppenspiels, wie ihn F. W. Murnau mit Gösta Ekman ja auch verfilmt hat. Dies ist aber nicht der Faust Goethes, der eben weit jünger sein muss. Wie viel jünger genau  - das ist eine Interpretationsfrage

Mir scheint es am sinnvollsten, die im Text gegebene Interpretationsbreite zu nutzen und ihn als möglichst jung darzustellen, d.h. als einen Mann um die 30. Dann nämlich gewinnt das Folgende - Hexenküche und Liebeswerben um Gretchen - einen leichter verständlichen Sinn. Schon vor dem Trank in der Hexenküche ist ja Faust schon jung und lebendig genug, sich in das Bild der schönen Helena zu verlieben. Der folgende Trank dient also weniger der Verjüngung als der sexuellen Anstachelung und Potenzverstärkung, damit er bald „Helenen in jedem Weibe“ sieht. Und in der Tat, das erste weibliche Wesen, das dann seinen Weg kreuzt - die Zufallsbegegnung Gretchen - erregt sofort seine „Liebeslust“. Eben darin liegt die Tragik: Für ihn ist sie ein Objekt chemisch induzierter sexueller Begierde; für sie ist er „die große Liebe“. Dies Missverständnis und Missverhältnis kann für Gretchen nur in der Katastrophe enden; Faust aber hat nach dem Abklingen seines Drogenrausches  das arme Mädchen schnell vergessen.

Den Beginn des zweiten Teils der Tragödie - Fausts Erwachen aus einem Heilschlaf - darf man also auch als Ergebnis einer erfolgreichen Entzugstherapie sehen. In der Tat, eine solche Interpretation wirft noch einmal ein erhellendes Licht auf das Voraufgegangene. Was dann kommt, stellt weitere Verbindungen zum ersten Teil her - eine neue Szene zwischen Mephistopheles und dem einstmaligen „Schüler“, aus dem inzwischen ein arroganter Baccalaureus geworden ist, eine zweite Walpurgisnacht, aber mit „klassischen“ Personal, und schließlich für Faust eine neue Liebe, diesmal zu Helena, und die Geburt seines zweiten Kindes. Aber auch dieses überlebt nicht lange, sondern stirbt jung bei einem Unfall vor den Augen der Eltern. Solche „Parallelszenen“  illuminieren sich gegenseitig und fordern den Zuschauer auf, das Drama im Rückblick als ein Ganzes zu sehen.

Allerdings sind die Szenen im zweiten Teil weniger konkret und handfest, sondern eher phantastisch-philosophischer Natur. Das beste Beispiel dafür ist das magische Verschwinden Helenas beim Tod ihres Sohnes. Aber auch sonst lösen sich gegen Ende die Bühnengeschehnisse zunehmend ins Abstrakte auf, die Dramaturgie lockert sich, es stellen sich Längen ein, und manche Textpassagen sind kaum noch in Aktion umzusetzen. Die Lyrik gewinnt zunehmend die Oberhand über die Dramatik. Blutvolles Theater gibt es noch einmal beim Tod und der Grablegung Fausts, aber danach geht es rein lyrisch weiter bis hin zu der kaum spielbaren Schlußszene.

In gewisser Weise erinnert mich dies an ein anderes Alterswerk Goethes - „Wilhelm Meisters Wanderjahre“. Wie dieser Roman sich zu seinem Vorläufer, „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ verhält, so verhält sich auch der Fausttragödie zweiter Teil zu ihrem ersten. In den „Lehrjahren“ wird ohne retardierende Momente eine klar erkennbare Handlung erzählt, in den „Wanderjahren“ dagegen ist jede Konzentration und Straffung aufgegeben. Stattdessen finden wir in lockerer Folge allerlei belehrende und amüsante Abschweifungen und Einschübe, und so wird der Verlauf des Erzählten für den Leser merklich entschleunigt. Dem Roman kommt es nun nicht mehr auf Spannung oder eine bestimmte Zielrichtung an, sondern eher auf die Sensibilisierung seiner Leser für die feine Ironie des gereiften Erzählers, der nun die Welt aus einigem Abstand betrachtet. Lässt man sich darauf ein, dann lernt man, diese Sichtweise zu teilen und kommt so dem Autor persönlich viel näher als in dessen früherem Werk. Manche Liebhaber der „Lehrjahre“ aber sind für Goethes Altersstil nicht empfänglich und geben bei den „Wanderjahren“ allzu bald auf.

Ähnlich verhält es sich auch mit den beiden Teilen des „Faust“. So seltsam es klingen mag: Auch hier ist das Alterswerk, trotz seiner zunehmenden Abstraktion, persönlicher als das Jugendwerk. Eben deshalb glaube ich, dass man die gesamte, zweiteilige Tragödie am besten von ihrem Schluss her versteht.

Vielleicht glaube ich das aber auch, weil ich inzwischen selber alt geworden bin und sehe, wie sich mein eigenes Leben im Rückblick allmählich zu einem Muster zu ordnen scheint. Dies Muster mag sehr wohl eine Täuschung sein, eine zum seelischen Selbstschutz  bemühte „Sinngebung des Sinnlosen“, aber gerade darin liegt das Persönliche. Jedenfalls verschieben sich mit dem Alter frühere Prioritäten und Gewichtungen. Im Nachhinein erscheint manches einstmals intensiv Erlebte als unbedeutend, und anderes, das man seinerzeit kaum beachtet hat, zeigt sich nun als wegweisend und entscheidend. Selbst wenn man sich also an vieles erinnert, so zieht man doch andere Schlüsse daraus.

Damit komme ich bei meinem Rückwärtsgang durch den Text des „Faust“ nun bei seinen allerersten Zeilen an - der „Zueignung“, die selbst dem Prolog und dem Vorspiel noch vorausgeht. Goethe schrieb dies Gedicht, als er nach langer Pause die Arbeit an seiner Tragödie wieder aufnahm und schon an eine Fortsetzung ihres ersten Teils dachte. Er war damals noch keine 50 Jahre alt, fühlte sich aber durch wehmütige Erinnerungen an verlorene alte Freunde zu Tränen gerührt und seinen „Busen jugendlich erschüttert“. Was er aber dann, durch diese Erschütterung angeregt, in den folgenden 30 Jahren zu Papier brachte, hat eben nichts Jugendliches mehr, weder im Inhalt, noch in der Form. Es ist stattdessen der Versuch, dichterisch die Summe eines exemplarischen Lebens zu ziehen, den Idealtypus Faust als abgerundete Erscheinung darzustellen.

Diesen Versuch müssen seither auch alle Theaterleute machen, die das ungeheure, vielschichtige und vieldeutige Werk auf die Bühne bringen wollen. Auch sie müssen am Ende aus Jugend- und Alterswerk ein in sich stimmiges Ganzes machen, und zu diesem Zweck müssen sie auswählen. Das wiederum heißt: Sie müssen interpretieren.

Es ist und war immer schon selbstverständlich, dass man für die Bühne den Text erheblich kürzen muss, besonders den des zweiten Teils. Ungekürzte Aufführungen, ob in Hannover oder in Dornach, inspiriert von Stein oder Steiner, sind ihrer Natur nach Ausnahmen. Alle „regulären“ Produktionen für ein möglichst breites Publikum müssen einen Standpunkt finden und dem Zuschauer vermitteln, von dem aus er das Erlebte verstehen kann, auch bei zusammengestrichenem Text. Die Handlung muss für ihn einen Sinn ergeben oder erzeugen und ihm erlauben, Goethes Lebens- und Weltverständnis zu begreifen.

Nicht nur das: Es sollte auch anschaulich werden, wie sich dies Weltverständnis des Autors in der lebenslangen Beschäftigung mit dem Stoff gewandelt hat, und wie er im Alter das jugendlich Begonnene inhaltlich und stilistisch in einem kühn gewagten Wurf  zur Vollendung führt.                                             

Das aber ist vor allem eine künstlerisch-praktische, keine wissenschaftlich-theoretische Aufgabe, und, wie gesagt, die Sexualwissenschaft kann hier am allerwenigsten helfen. Es tut mir also sehr leid, wenn ich als Vertreter dieses Faches Ihre Erwartungen vielleicht enttäuscht habe. Mich selbst hat der heutige Anlass noch einmal  daran erinnert, dass die Sexualität nicht die ganze Welt beherrscht - auch nicht die Welt Goethes - , dass nicht überall etwas Sexuelles lauert, dass nicht alles und jedes sexuelle Aspekte hat, und dass nicht alle Kunstwerke sexuelle Geheimnisse bergen.

Wie Sie bemerken, bin ich kein Anhänger Sigmund Freuds, der an meiner Stelle wahrscheinlich eine Fülle von unbewussten erotischen Symbolen in tiefenspsycho­logischen Urgründen aufgespürt hätte. Ich selbst aber fühle mich unbehaglich, wenn der Begriff des Sexuellen ins Allgegenwärtige, letztlich Unbestimmbare und Ungreifbare ausgeweitet wird. Ich sehe mich eher dem Erbe Alfred Kinseys verpflichtet, d.h. einer pragmatischen, rein empirischen Sexualwissenschaft, die nicht spekuliert, sondern sich vor allem an das hält, was man beobachten, zählen und messen kann. Davon aber bieten die beiden Teile des „Faust“ in all ihrer Lebensfülle nur wenig, und das mit völliger Absicht des Autors.

So kann ich am Ende für Sie eigentlich nur eines tun: Ihnen allen für Ihre Premiere wünschen, dass meine heute für Sie gereimten Hoffnungen wahr werden, und dass es dann über Ihre Aufführung in der Presse sinngemäß heißt:

Das Ungewöhnlichste   
Ist hier geschehn.
Das Allerersehnlichste  
Ist nun zu sehn.

Das schwer Verdauliche
Ist endlich verdaut.
Das Unanschauliche
Hier  wird es erschaut.

Das Uninszenierbare
Hier wird’s inzeniert.
Das kaum Kalkulierbare
Hier ist es passiert:

Das  einstmals Unspielbare
Nun wird es gespielt.
Das sonst kaum Erfühlbare
Wird deutlich gefühlt.

Das Unerwartete
Wird hier enthüllt.
Das voll Hoffnung Gestartete
Hat sich erfüllt.

Das bei Proben Erzwungene,
Bringt nun Gewinn.
Das dem Text Abgerungene
Ergibt einen Sinn:
Jetzt reißt das Gelungene
sein Publikum hin.

Sollte aber wider Erwarten nur das Publikum Sie lieben und die Kritik Sie hassen, dann werden Sie hoffentlich sagen können:

Das die Kritiker Quälende
Macht uns nichts aus.
Das uns Künstler Beseelende,
Am Schluss allein Zählende,
Seinen Zweck nie Verfehlende
Ist der Applaus.