Erwin J. Haeberle

Das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts
in der globalen Informationsgesellschaft

Eine kürzere Fassung dieses Vortrags wurde vom Autor am 22. Juni 2008 in der Charité gehalten,
wo ihm der Wilhelm-von-Humboldt-Stiftungspreis verliehen wurde.
Copyright E.J. Haeberle 2008


1. Unser Erbe
2. Unsere Zukunft

Unser Erbe

Der Begriff der Bildung, wie wir ihn hierzulande seit unserer Klassik und Romantik kennen, ist ein zuinnerst deutsches Kulturerzeugnis. Er ist in keine andere Sprache übersetzbar.

Im Englischen zum Beispiel haben wir keine Wahl als ihn mit "education" wieder­­zugeben, aber dieses Wort ruft ganz andere Assoziationen hervor. In seiner lateinischen Wurzel bedeutet "educatio" zunächst ein Herausführen aus Unwissenheit und Unbeholfenheit, später dann aber ganz pragmatisch das Einüben von Fähigkeiten, die bei der Bewältigung von Berufs- und Lebensaufgaben erforderlich oder nützlich sind.

Dies ist aber sehr verschieden von der umfassenderen Vorstellung, dass sich ein Individuum selbst bilden, d.h. seine eigenen Fähigkeiten nach allen Richtungen entfalten soll. Es soll nicht an ein vorher bestimmtes Ziel herangeführt, nicht unbefragten Traditionen blind unterworfen werden, nein, seine ureigensten guten Anlagen sollen sich frei entwickeln. Es soll sich nicht vorgegebenen Zwecken anbequemen, sondern soll, im Dialog mit anderen, "sein Ich mit der Welt verknüpfen". Das Ziel ist ein wahrhaft gebildeter, d.h. "innerlich verbesserter und veredelter" Mensch, der als intellektuell autonomes Wesen seinen angemessenen Platz in der Gesellschaft findet und ihn mit voller Einsicht in die eigenen Grenzen und die Zwänge der äußeren Realität ausfüllt. Er soll Wissen und Können auf eine ganz persönliche Art so in sich vereinen, dass sein geistiges Wachstum befördert und er zu sinnvoller äußerer Tätigkeit angeregt wird. Durch seine eigene Selbstvergewisserung und innere Selbstbereicherung hebt er das allgemeine Kulturniveau und bereichert so auch seine Mitmenschen. In dieser Weise dient er nicht nur sich selbst am besten, sondern auch der Gemeinschaft. Die Veredelung des Individuums, vielfach in anderen wiederholt, führt zur Veredelung der Nation.

Dies Bildungsideal wurde zur Grundlage der preußischen Universitäts­reform, die bis heute mit dem Namen Wilhelm von Humboldts verbunden ist. Folgerichtig verlangte diese Reform die völlige Freiheit der Wissenschaft, denn wie das selbstbestimmte Individuum sich nur in "Einsamkeit und Freiheit" wirklich bilden konnte, so war auch die Universität auf diese Freiheit angewiesen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass die geforderte Freiheit von Lehre und Studium nun die Verpflichtung einschloss, über die Vermittlung des bereits Gewussten hinauszugehen. Der Professor sollte nicht nur Bekanntes lehren, sondern auch Neues erforschen und seine Studenten an der Forschung beteiligen. Neue Einsichten sollten das Resultat eines ständigen Gesprächs miteinander, einer "gemeinsamen Erzeugung" sein. Das Reformziel einer neuen universitas magistrorum und studiorum  war also nur zu erreichen durch vereintes Streben in der Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre.

In der Praxis erwies sich diese Reform vielleicht damals schon als zu idealistisch, aber in der Theorie war sie keineswegs naiv. Die Reformer waren sich der Grenzen wissenschaftlicher Forschung sehr wohl bewusst, auch wenn sie im offenen Dialog von freien Individuen betrieben wurde. Gerade auch der Sprachforscher Wilhelm von Humboldt wusste, dass eine unüberschreitbare Grenze jedes Dialogs, ja jeder individuellen Erkenntnis, schon allein durch die Sprache selbst gegeben ist: Die Sprache ist eben kein bloßes Verständigungsmittel, denn sie "enthält eine eigentümliche Weltansicht". Der Mensch erfährt die Welt nur so, wie die Sprache sie ihm vorgibt. Deshalb kann man sich beide, Sprache und Geist "nie identisch genug denken." Der Mensch spricht die Sprache ebenso, wie die Sprache den Menschen spricht. Sie befördert und behindert zugleich die Kommunikation: "Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere denkt. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen".  Dennoch glaubte Humboldt, dass der forschende Geist, wie auch immer bedingt und eingeschränkt durch die Sprache, neue, wenn auch nur bruchstückhafte Entdeckungen machen könnte.

Bitte, gestatten Sie mir, diese flüchtige philosphiegeschichtliche Skizze mit einer persönlichen Erfahrung zu ergänzen: Als Student in Heidelberg habe ich oft, wie Unzählige vor mir und nach mir, das Hauptgebäude der Universität betreten und dabei die Inschrift gesehen, die über dem Eingang steht:

"Dem lebendigen Geist"

Diese Inschrift war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Friedrich Gundolf vorgeschlagen worden. Die Nazis hatten sie dann in die engstirnige, chauvinistische Parole "Dem deutschen Geist" abgeändert, aber nach Kriegsende wurde der Originalwortlaut wiederhergestellt. Seither begrüßt die alte Inschrift wieder alle, die eintreten, und, wie gesagt, damals begrüßte sie auch mich. Es dauerte aber einige Jahre, bis ich verstand, was diese Inschrift bedeutet, und dann begriff ich auch gleichzeitig, dass sich diese Bedeutung den allermeisten Besuchern wohl niemals erschließen wird. Ja, ich glaube sogar, dass schon das Universitätsgremium, das seinerzeit Gundolfs Vorschlag annahm, sich dessen verborgener Ironie nicht bewusst war. Es handelt sich hier nämlich um die wohl tiefsinnigste Inschrift überhaupt, mit der eine Universität sich schmücken kann.

Der Germanist Gundolf kannte natürlich die Literatur der deutschen Klassik und spielte hier offensichtlich auf ein Distichon Friedrich Schillers an, das lautet:

"Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?
Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr!"

Schiller drückte hier eine Überzeugung aus, die er mit seinen geistesverwandten Zeit­genossen, auch mit seinem Freund Wilhelm von Humboldt, teilte: Jeder Versuch des Forschergeistes, den "lebendigen Geist" zum Erscheinen zu bringen, ist vergeblich. Der Rationalist bleibt immer an seine eigene Begrifflichkeit, an seine eigene Sprache gefesselt. Was er entdeckt, ist immer nur das Seelenlose. Die Seele der Dinge aber kann ihr Geheimnis mit Worten nicht offenbaren. Wer sie zum Sprechen bringt, macht eben dadurch ihr Wesen unbegreiflich. Was er zu hören bekommt, ist immer nur das Unwesentliche. Das Wesentliche bleibt unfassbar – es verflüchtigt sich, indem es ausgesprochen wird.

Wenn nun aber eine Universität als Stätte des Geistes bewusst den "lebendigen Geist" beschwört, so  liegt darin eine Anstrengung, die ihr Scheitern vorausweiss. Ihr Ziel vollständiger Erkenntnis kann und wird sie niemals erreichen. Sie demonstriert aber ihren Willen, das Unmögliche immer wieder zu versuchen und mit der Erreichung immer neuer Zwischenziele die Grenzen des Möglichen zu erweitern. Die Universität in Heidelberg jedenfalls scheut sich nicht, das gebildete Publikum öffentlich auf ihre eigene, ehrgeizige, wenn auch letztlich vergebliche Kühnheit hinzuweisen und sich dafür bewundern zu lassen.

Aber zurück zum Erkenntnisproblem: Ein anderer Freund Wilhelm von Humboldts stellte sich selbst schon sehr früh die nächste, unvermeidliche Frage: Was wäre, wenn ein Mensch ohne den verfälschenden Umweg über die Sprache, das Wesen der lebendigen Welt unmittelbar erblicken könnte? Goethes Faust will gerade dies erzwingen. In seinem Eingangsmonolog erklärt er, warum all sein Bücherstudium fruchtlos war und er sich nun der Magie ergeben hat. Sie soll die rein sprachlich formulierte und somit verfälschende intellektuelle Einsicht durch konkrete, lebendige Anschauung ersetzen:

"Dass ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält,
schau alle Wirkungskraft und Samen
und tu nicht mehr in Worten kramen
."

Tatsächlich gelingt es ihm, kurz darauf den sehr lebendigen Erdgeist zu beschwören, und bei seinem Anblick ruft er enthusiastisch aus:

"Der Du die weite Welt umschweifst,
geschäfttger Geist, wie nah fühl ich mich Dir!"

Die Antwort der magischen Erscheinung aber ist vernichtend:

"Du gleichst dem Geist, den Du begreifst,
nicht mir."

Was Schiller und Goethe aussprachen, war aber auch Wilhelm von Humboldts bewusst: Jede menschliche Erkenntnis ist doppelt begrenzt:: Weder die analytische Untersuchung, noch die unmittelbare Anschauung reichen aus, die Seele der Dinge, die eigentliche Wirkungskraft des Lebens, zu erfassen. Sie ist und bleibt für den Menschen auf jeden Fall unbegreiflich. Er hat es bestenfalls immer nur mit einzelnen Wahrheiten zu tun. Die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle bleibt ihm ewig verschlossen. Eine gute Universität soll und kann das jeweilige Potential ihrer Mitglieder voll zur Entfaltung bringen, sie kann aber niemanden über sich selbst hinauswachsen lassen. So bleibt auch die Wissenschaft als menschliche Unternehmung immer nur Stückwerk.

Auf dieser Basis der bewussten Selbstbescheidung ruhte das Bildungsideal der deutschen Klassik, und es bestimmte auch die preußische Universitätsreform. Für diese war es ein "realistisches" Ideal des "Dennoch", "Trotzdem" und "Jetzt erst recht", das aus kriegsbe­dingter ökonomischer Verarmung heraus nach neuer geistiger Größe strebte: Der wahrhaft gebildete, d.h. "innerlich verbesserte und veredelte", intellektuell autonome Mensch sollte gerade in Anerkennung seiner Grenzen umso wirkungsvoller tätig werden und in seiner Welt, wie sie nun einmal war, einen allgemein kultivierenden Einfluss entfalten.

Dies ist nicht der Ort, auf gewisse Schwächen und Fragwürdigkeiten der humboldtschen Reform einzugehen, mit der sie schon damals behaftet war. Jedenfalls wurde sie als erfolgreiches neues Modell einer Universität bald weltweit nachgeahmt. Besonders in den USA erweiterten sich berühmte Colleges durch sogenannte Graduate Schools, in denen Humboldts Bildungsideal gehuldigt wurde. Heute werden diese amerikanischen Einrich­tungen bei uns oft als "Eliteuniversitäten" bezeichnet und, in einer ironischen Wendung der Geschichte, umgekehrt den Deutschen als Vorbild empfohlen.

Inzwischen hat sich das deutsche Ursprungsmodell nämlich in die bekannte und immer wieder beklagte "Massenuniversität" verwandelt. Ich selbst saß schon vor über 40 Jahren in Heidelberg in einem Oberseminar mit mehr als 150 Teilnehmern, und bei meiner dortigen Doktorprüfung begegnete ich zweien meiner drei Prüfer zum ersten und letzten Mal in meinem Leben. Als Assistent im Anglistischen Seminar war ich mitverantwortlich dafür, dass keine "Fachfremden" unsere Bibliothek betraten. Nur Anglisten mit "Seminarausweis" hatten Zutritt. Wer etwa als Germanist Shakespeare oder die englischen Romantiker im Original lesen wollte, musste abgewiesen werden und hatte eben Pech gehabt. Auch damals schon war also eine Bildung im Sinne Wilhelm von Humboldts praktisch kaum noch möglich. Glücklicherweise hatte ich das Material für meine Dissertation unter idealen Arbeits­bedingungen an der Yale-Universität sammeln können. Kurz nach meiner Promotion kehrte ich erleichtert dorthin zurück und verbrachte die nächsten 21 Jahre an verschiedenen Universitäten in den USA. Dann kam ich wieder nach Deutschland, aber nicht an eine Universität, sondern an ein Forschungsinstitut des Bundes, wo ich bis zu meiner Pension­ierung blieb. Meine eigene Erfahrung ist also nicht typisch für irgendetwas oder irgendwen, aber sie erlaubt mir jetzt doch, die hiesige Situation mit einigem inneren Abstand zu betrachten. Ich muss allerdings vorausschicken, dass ich die Situation in den Naturwis­sen­schaften nicht gut genug kenne und hier nur als Kulturwissenschaftler sprechen kann.

Ich sehe zum Beispiel, dass nun in Deutschlands Universitäten gewisse "amerikanische Verhältnisse" geschaffen werden, allerdings nur halbherzig und ohne deren stärkere finanzielle Grundlage. Vor allem aber wird das Zahlenverhältnis von Lehrenden und Lernenden kaum wesentlich verbessert. Stattdessen geht es nur darum, die deutschen Studentenmassen irgendwie zu bewältigen und die meisten von ihnen so schnell wie  möglich, gewissermassen im Schnelldurchlauf, für irgendeine Praxis fit zumachen. Zu diesem Zweck führt man nun kürzere, "effizientere" Studiengänge ein mit den neuen Abschlüssen Bachelor und Master (in Goethes "Faust" hießen sie noch Baccalaureus und Magister). Mit den englischen Begriffen übernimmt man aber gleichzeitig auch ihren Inhalt, also das angelsächsi­sche Modell der "education", d.h. der Einübung nützlicher Fertigkeiten. Einer der heute zunehmend beliebten Anglizismen trifft die Sache genauer und nennt diese Art Erziehung einfach Training. Von wirklicher Bildung ist also nun keine Rede mehr. Hier geht es nur noch um Ausbildung. Selbst der Master - Studiengang ist so "gestrafft", der Weg zum Ziel so klar vorgezeichnet, das Tempo so festgelegt, dass für Sonderexpeditionen in andere, unbekannte, aber vielleicht fruchtbare geistige Gefilde keine Muße bleibt. Kurz, die deutsche Universität verwandelt sich jetzt zu großen Teilen in die reine Lehranstalt zurück, die sie vor der humboldtschen Reform gewesen war. Deren Bildungsideal kann, wenn überhaupt, nur noch von Doktoranden angestrebt werden. Für die meisten aber bleibt in überfüllten Hörsälen und bei nicht erreichbarer Literatur alles beim Alten.

Es handelt sich hier allerdings nicht nur um ein deutsches Problem, sondern der so genannte Bologna-Prozess ist dabei, sämtliche europäische Hochschulen diesem Muster zu unterwerfen. Deutschland muss hier wohl oder übel mitspielen. Man fragt sich aber, warum man das reine Ausbildungsstudium hierzulande nicht in die vorhandenen Fachhochschulen verlagert hat. Wie es scheint, will man aber den neuen Schmalspurabschlüssen noch ein bisschen Prestige mit auf den Weg geben. Man drückt ihnen das altehrwürdige Universitätssiegel auf und verleiht ihnen so einen Abglanz vom Ruhm der früheren humboldtschen Reform, die man in Wirklichkeit längst ad acta gelegt hat. So verkaufen sie sich besser.

Damit wird ein offenes Geheimnis indirekt noch einmal bestätigt: Die Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre wird aufgegeben. Die Universitäten werden zu Dienstleistungsbe­trieben, die Studenten zu Kunden. Wissensvermitlung wird zum Geschäft. Ökonomische Gesichts­punkte diktieren die Lehrinhalte und auch die Methoden ihrer Vermittlung. Zwar verlangt man weiterhin Forschung, sogar "Spitzenforschung", aber darunter versteht man hauptsächlich naturwissen­schaftliche und technische Forschung, die sich am Ende wirtschaftlich auszahlt. Zum großen Teil ist diese aber schon längst in außer­universitäre Institute, Akademien und Wissenschaftszentren abgewandert. Den Universitäten bleibt im Wesentlichen die Aufgabe, durch das Angebot "effizienter", d.h. modular gestückelter Curricula ihre eigene weitere "Verschulung" zu betreiben. Da, aus welchen Gründen auch immer, für Alternativen das Geld fehlt, ist die Tendenz nun wohl unumkehrbar.

Unsere Zukunft

Dies alles wird seit Jahren von vielen diskutiert, die kompetenter sind als ich, und ich will deshalb hier nicht weiter darauf eingehen. Stattdessen stelle ich mir die einfache Frage, ob sich aus der jetzigen Not doch noch irgendeine Tugend machen lässt. Kann die Universität heute noch, wie damals im verarmten Preussen, den ökonomischen Zwängen ein neues "Trotzdem" entgegensetzen? Vielleicht finden wir die Antwort, wenn wir uns das nun empfohlene amerikanische Vorbild einmal sehr viel genauer ansehen als bisher.

In den USA hat man zum Beispiel früher als bei uns die Bedeutung der gegenwärtigen elektronischen Revolution erkannt und sich ihre Vorteile sehr viel schneller zunutze gemacht.  Die deutschen Universitäten bieten im Internet noch bis heute kaum mehr als vergrößerte Visitenkarten an – Adressen und Beschreibungen ihrer Fakultäten und ihrer Verwaltung, Auflistung ihres Lehrangebots, gelegentlich auch noch ihr aktuelles Vorlesungsverzeichnis, und das alles nur in deutscher Sprache. Wirklich weltweit nutzbare Inhalte bieten sie nicht.

Da sind die Amerikaner schon weiter: Yale und die UC Berkeley, wo ich ebenfalls gearbeitet habe, stellen mittlerweile eine wachsende Zahl ihrer Vorlesungen kostenlos zugänglich ins Internet. Das Massachusetts Institute of Technology (M.I.T) hat sogar schon die Materialien für 1800 seiner Kurse auf diese Weise weltweit frei verfügbar gemacht und lässt sie auch gleich ins Chinesische übersetzen. Die Harvard-Universität hat vor wenigen Monaten eine eigene Internet-Plattform geschaffen, auf der ihre Professoren wissenschaftlichen Aufsätze gebührenfrei lesbar publizieren können. Das ist eine offene Kampfansage an die traditionellen Zeitschriftenverlage, deren hohe Subskriptions- und Internet-Lesegebühren viele Bibliotheken und noch mehr individuelle Leser abschrecken. Das heißt aber, dass die unbezahlten, umso mehr verärgerten Autoren weltweit immer weniger zur Kenntnis genommen werden. Harvard  will nun, dass Harvard-Professoren so viele Leser wie möglich finden, gerade auch in Entwicklungsländern und überall, wo das Geld knapp ist.

Die amerikanischen Universitäten machen solche frei zugänglichen Angebote  vor allem deshalb, weil sie, wie sie offen bekennen, eine globale Führungsrolle übernehmen und diese konsequent ausbauen wollen. So stellt etwa die Harvard Medical School schon seit längerer Zeit ein gebührenfreies, konkurrenzloses Internet-Angebot zur gesundheitlichen Aufklärung bereit: Leicht verständliche, aber wissenschaftlich fundierte Auskünfte über jede erdenkliche Krankheit, ihre Symptome, Behandlung und Heilungsaussichten  - von den Allergien zum Zungenkrebs. Bezahlt wird das alles mit dem Sponsorengeld einer großen Versicherung. Ich selbst habe die Informationen dankbar genutzt als ich völlig überraschend meine beiden Krebsdiagnosen bekam. So war ich schon bei meiner Einlieferung ins Krankenhaus auf alles folgende vorbereitet.

Es versteht sich von selbst, dass diese Beispiele des "freien Zugangs" die beteiligten amerika­nischen Universitäten tatsächlich weltweit bekannt und beliebt machen, denn nicht nur Studenten in vielen Ländern, sondern zahllose andere Interessierte, auch Nicht­akademiker, profitieren ja davon. Schließlich ist Englisch heute, wie im Mittel­alter das Lateinische, die international führende Sprache für den wissen­schaft­lichen Austausch - eine Tatsache, die Amerikanern, Kanadiern, Engländern, Australiern und Neuseeländern quasi automatisch zugute kommt.

Dennoch könnten auch wir in Deutschland mithalten, wenn wir nur wollten. Natürlich kann nun kein Internet-Angebot der Charité das der Harvard Medical School mehr einholen, die sich inzwischen weltweit als erste Autorität in Gesundheitsfragen etabliert hat. Es ist aber auf vielen anderen Gebieten weiterhin möglich, auch deutsche Führungspositionen aufzubauen.

Voraussetzung ist allerdings, dass die deutschen Universitäten das Internet endlich als das begreifen, was es ist - ein globales Medium. Das heißt aber auch, dass sie ihre eigene Rolle im globalen Kontext erkennen und neu definieren müssen. Universitäten sind Schatzhäuser des Wissens, und sie existieren nur zu dem Zweck, dieses Wissen zum Wohle der Mensch­heit zu bewahren, zu vermehren, zu vertiefen und an möglichst viele andere weiterzugeben. Deshalb unterhalten sie Biblio­theken, publizieren Bücher und Aufsätze und bringen immer neue Studentenjahrgänge dazu, den Wissenstransfer von einer Generation zur anderen fortzusetzen.

Das Internet ermöglicht, ja erzwingt nun, dass wir die nächste Generation nicht nur im eigenen Land, sondern in allen Ländern ins Auge fassen. In den so genannten Entwicklungs­ländern gibt es Millionen von hochintelligenten, hochmotivierten potentiellen Studenten, die bisher nie Zugang zu einer akademischen Ausbildung hatten. Viele sind zu arm, um die vorhandenen Angebote in ihrer Umgebung wahrzunehmen, aber allzu oft gibt es dort eben überhaupt keine Bibliotheken und keine höheren Lehranstalten.

Das Internet kann ihnen aber nun zum ersten Mal ein Tor zur Wissenschaft öffnen. Deshalb bieten nicht nur bekannte traditionelle Universitäten wie Yale und das M.I.T. frei zugängliche Vorlesungen und Kursmaterialien an, sondern neue "Internet-Universitäten" wie die englische Open University und die amerikanische University of Phoenix liefern bereits komplette Fernstudiengänge in den verschiedensten Fächern.

Wohlgemerkt, ich spreche von Ausbildung, nicht von Bildung im Sinne Wilhelm von Humboldts. Dessen Vorstellungen gelten ja auch bei uns schon längst als veraltet, weil nicht mehr bezahlbar. Tatsächlich rückt nun die Wirtschaftlichkeit universitärer Angebote immer mehr in den Mittelpunkt der Diskussion. Mir scheint aber, dass diese Diskussion in Deutschland und vielen anderen Ländern bisher unter falschen Voraussetzungen geführt wird.

Die erwähnten Beispiel-Angebote aus amerikanischen "Eliteuniver­si­­täten" sind alle frei zugänglich. Finanziert werden sie bisher von mächtigen Stiftungen oder Sponsoren. Für die Zukunft gibt es auch noch andere Möglichkeiten, über die zweifellos schon nachgedacht wird. Jedenfalls wird hier ausgetestet, wie und wieweit man der ständig lauter werdenden Forderung nach "open access". d.h. dem freien Zugang zu wissenschaftlichen Informationen, nachkommen kann.

Wenn Sie mir noch einmal eine persönliche Bemerkung erlauben: Ich selbst bin inzwischen überzeugt, dass die "Open Access"-Bewegung" sich am Ende weltweit durchsetzen wird. Wissenschaftliche Information, die nicht frei zugänglich ist, wird man dann einfach ignorieren.

Aufgrund dieser Überzeugung habe ich vor einigen Jahren begonnen, einen kompletten Studiengang von 6 Semestern zum Thema "sexuelle Gesundheit" zum freien Gebrauch ins Netz zu stellen. Ein solcher Studiengang wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit Jahrzehnten gefordert, aber bisher wurde er noch nirgendwo angeboten. Es war mir also möglich, hier eine echte Lücke auszufüllen. In Deutschland wird zwar diese Lücke noch nicht wahrgenommen, aber in anderen Ländern besteht offensichtlich ein erheblicher Bedarf.

Das zeigt sich nicht nur daran, dass mein Website schon jetzt jeden Monat über 7 Millionen Zugriffe aus aller Welt verzeichnet (d.h. aus über 28 000 Städten in über 190 Ländern), sondern vor allem auch daran, dass mir begeisterte ausländischen Kollegen ohne jede Bezahlung Übersetzungen meiner Kurse liefern. Diese werden dann von ihnen selbst und ihren Sprachgenossen genutzt, so etwa die spanische Übersetzung vor allem in Lateinamerika. Eine besondere - und besonders ehrenvolle - Bestätigung meiner Arbeit war für mich vor 4 Jahren eine Einladung aus Peking, dort meinen Internet-Studiengang in der Großen Halle des Volkes vorzustellen. Damals konnte ich nur die englische Fassung zeigen, aber aufgrund dieser Vorführung erboten sich chinesischen Kollegen spontan, mir auch eine chinesische Übersetzung zu liefern. Diese ist nun zweifach, d.h. sowohl in vereinfachter wie traditioneller Schrift ebenfalls frei zugänglich. Inzwischen kann ich meine Kurse in 8 Sprachen anbieten.

Ich erwähne dies Beispiel meines eigenen elektronischen Angebots vor allem deshalb, weil es die neuen Möglichkeiten illustriert, wie Wissenschaftler weltweit zusammenarbeiten können. Es illustriert gleichzeitig, wie sehr diese Zusammenarbeit gewünscht wird und wie sie den Beteiligten die eigenen Aufgaben erleichtert. So haben inzwischen viele Kollegen mir ihre Bücher und Aufsätze zur Verfügung gestellt, so dass ich jetzt schon je eine englische, deutsche, spanische und ungarische Online-Bibliothek anbieten kann. Diese Bibliotheken sind bei mir ebenfalls frei zugänglich und verschaffen nun den Texten im Internet viel mehr Leser als sie je vorher im Buchdruck hatten. Gleichzeitig liefern sie aber auch noch die notwendige vertiefende Zusatzliteratur für meine Kurse, mit denen sie durch so genannte "Links" elektronisch verknüpft sind. Solche "Links" ermöglichen es auch, ein- und denselben Kurs gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen anzubieten. Wer zum Beispiel nur den Text des Kurses selber studiert, lernt den Inhalt sozusagen auf dem Niveau der "undergraduate studies" kennen, die zum Grad des Bachelor führen. Wer aber dazu noch die vielen internen und externen "Links" und die angebotene Zusatzliteratur anklickt und sorfältig liest, kann sein Verständnis soweit vertiefen, dass er damit als "graduate student" den Grad des Master anstreben kann. All dies ist möglich, ohne dass der Student einen Hörsaal oder eine traditionelle Bibliothek aufsuchen muss.

Mittlerweile bekomme ich aus vielen Ländern Anfragen von Interessenten, die wissen wollen, wo und wie sie für das Studium meiner Kurse einen akademischen Abschluss bekommen können. Da die Humboldt-Universität keinen solchen Abschluss anbietet, muss ich diese potentiellen Studenten an die über 30 Universitäten in 20 Ländern verweisen, die sexologische Studiengänge haben und für deren erfolgreichen Abschluss Zertifikate, Diplome oder akademischen Grade verleihen. Einige dieser Universitäten bieten auch ein entsprechendes Fernstudium an.

Gerade auf dem Gebiet des Fernstudiums scheinen mir die größten Chancen für die Zukunft der akademischen Lehre zu liegen. Um dies zu erkennen, muss man allerdings die wahren Implikationen des "open access" verstehen. Diese erzwingen nämlich am Ende völlig neue Wege der Finanzierung, und diese wiederum können nur nach erheblichen Strukturver­änderungen in der Universität selbst beschritten werde.

Heute glauben viele Universitäten immer noch, dass wissenschaft­liche Informatio­nen im Internet nur dadurch finanziert werden können, dass man den Zugang auf zahlende Nutzer beschränkt. Diese können die eigenen Studenten sein, denen man nach Zahlung ihrer Studiengebühren ein Kennwort zuteilt.  Es können aber auch interessierte Außenstehende sein, die für bestimmte Internet-Angebote vorab bezahlen. Sehr oft sind solche Zugangsbeschränkungen auch einfach dadurch bedingt, dass die Universität keine eigenen Originaltexte und Originalillustrationen anbietet, sondern Auszüge aus Werken, deren Copyright bei  verschiedenen externen Autoren liegt. Solche Werke können "intern" für die Lehre genutzt, dürfen aber nicht weltweit frei zugänglich gemacht werden.

Meine eigene Erfahrung zeigt mir jedoch, dass es sich lohnt, die Mühe eines originalen Lehrangebots auf sich zu nehmen. Allein schon in den ersten 6 Monaten dieses Jahres verzeichnete mein Website über 1 Million "unique visitors", d.h. Intensivleser, die mein Angebot ausgiebig studieren. Wenn nur 1% dieser Intensivleser potentielle Studenten sind, dann sprechen wir hier von 10 000 echten Interessenten, bei 0.1 % immer noch von 1000. Mit anderen Worten: Durch ihre freie Zugänglichkeit erreichen meine Kurse viele interessierte, aber sonst unerreichbare Leser und werben sozusagen für sich selbst. Die Leser ihrerseits können das Angebot vorab prüfen und beurteilen.  Sollten sie sich also tatsächlich für ein förmliches Studium einschreiben wollen, so wüssten sie genau, was sie erwartet. Sie würden sich bei einer geeigneten Universität anmelden, Studien- und Prüfungsgebühren zahlen, ihre Seminararbeiten einreichen und Zwischenprüfungen ablegen. Die Universität ihrerseits würde Kontakt zum eigenen Lehrpersonal und den anderen Studenten herstellen, die Prüfungen abnehmen und die entsprechenden Diplome oder akademischen Grade verleihen. Das alles lässt  sich leicht als elektronisches Fernstudium im weltweiten Maßstab organisieren und kann, auch bei geringen Gebühren, wegen der großen Studentenzahl finanziell sehr einträglich sein.

Wie gesagt, in Deutschland werden meine Kurse bisher nicht genutzt, aber ich weiss, dass dies in anderen Ländern, auch in China, durchaus der Fall ist. Von den dortigen Einnahmen sehe ich natürlich nichts. Aber darum geht es mir auch nicht. Mir liegt vielmehr daran, mit einem praktischen Beispiel zu demonstrieren, wie Lehre und Studium in der künftig immer enger vernetzten Welt aussehen könnten. Überfüllte Hörsäle und unerreichbare Bücher werden jedenfalls auch für Deutschland nicht mehr typisch sein. Stattdessen wird es für viele Fächer ein elektronisches Basisangebot geben, das weltweit für alle jederzeit frei nutzbar ist. Dementsprechend wird sich auch die internationale Konkurrenz zwischen den Universitäten entwickeln. Der gute Name einer Universität, die Höhe ihrer Studiengebühren, die Qualität ihres Internet-Angebots und ihrer elektronischen Studentenbetreuung werden zu entscheidenden Faktoren im globalen Wettbewerb. In diesem Wettbewerb werden kleinere, bisher wenig bekannte Institutionen in führende Positionen gelangen während große und altbekannte, aber unflexible Universitäten durchaus zurückfallen können.

Eines scheint mir jedenfalls sicher: Auf Dauer lässt sich wissenschaftliche und überhaupt jede andere faktische Information im Internet und selbst in Buchform nicht mehr verkaufen. Dies musste zuletzt auch der Verlag Brockhaus einsehen, der nun sein gesamtes Lexikon frei zugänglich ins Internet stellt, wo schon längst andere große Lexika zu finden sind. Die "Flucht nach vorne" in den freien elektronischen Zugang ist der einzige Weg in die Zukunft. Unter anderem bedeutet dies auch das Ende des traditionellen Lehrbuchs, das nur noch in leicht aktualisierbarer elektronischer Form überleben kann, und auch dann nur, wenn es es frei zugänglich ist. Ebenso ist das Ende der großen wissenschaftlichen Zeitschriftenverlage abzusehen. Sie sind überflüssig geworden, da die ohnehin unbezahlten Autoren ihre Schriften nun selbst direkt im Internet publizieren können. So werden sie mehr Leser finden als je zuvor, besonders wenn die Universitäten, so wie Harvard es nun tut, seinen Wissen­schaftlern eine eigene Plattform dafür bietet. Ohnehin sind hier die großen amerikanischen Universitäten im Vorteil, weil sie seit jeher eigene Verlage, die sog. university presses besitzen. Diese können sehr leicht auch elektronische Zeitschriften in ihr Programm aufnehmen.

Die Implikationen eines global durchgesetzten "open access" gehen natürlich noch viel weiter als ich hier skizzieren kann. Ich möchte daher zum Schluss nur noch einige Bemerkungen zur Finanzierung machen.

Wie bereits erwähnt, können sich frei zugängliche elektronische Lehrangebote sehr wohl selbst finanzieren, indem sie aus aller Welt Fernstudenten anziehen. Außerdem können die Universitäten selbst, große Stiftungen und Sponsoren solche Angebote unterstützen. Einige Websites können auch Werbeeinnahmen erzielen solange dabei materielle Interessen­konflikte ausgeschlossen bleiben. Andere können bestimmte kostenpflichtige Zusatzan­gebote machen. Universitätsbibliotheken, die teure Subskriptionskosten nicht länger tragen wollen, können das ihnen verfügbare Geld in frei zugängliche Internet-Plattformen stecken und dabei auch mit anderen Bibliotheken kooperieren. Schließlich ist noch daran zu erinnern, dass viele wissenschaftliche Zeitschriften durch Mitgliedsbeiträge entsprechender Gesellschaften zumindest mitfinanziert werden. Diese Beiträge können direkt für die Publikation im Internet verwendet werden.

All dies setzt natürlich eine erhebliche Änderung der bisherigen Universitätsstruk­turen voraus - von der Ausstattung der Lehrstühle und der Bewertung und Bezahlung der Professoren bis hin zur Verteilung der auch in Zukunft knappen finanziellen Mittel. Diese zunehmend ins Internet zu stecken, wird nicht leicht, aber unvermeidlich sein.

Diese Hinweise müssen hier genügen, um die großen Chancen der gegenwärtigen elektronischen Revolution anzudeuten. Für das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts wird sie allerdings kaum etwas leisten. Bildung für alle scheint immer weniger möglich. Wenn wir allerdings ehrlich sind, so müssen wir uns eingestehen, dass dies Ideal auch zu Humboldts eigener Lebenszeit nicht ereichbar war. Auch damals waren es nur wenige Priviligierte, die in den Genuss von "Einsamkeit und Freiheit" kamen. Die Masse der Bevölkerung konnte höchstens indirekt von der Bildung und Veredelung ihrer wenigen Akademiker profitieren.

Heute aber besteht zum ersten Mal die Möglichkeit, eine akademische Ausbildung für viele, ja sogar sehr viele bereitzustellen, und das weltweit. Es ist höchste Zeit, dass sich auch die deutschen Universitäten dieser Aufgabe stellen und ihr Wissen in allen großen Weltsprachen überall frei zugänglich machen.