KURT HILLER, Berlin

APPELL
an den Zweiten Internationalen Kongress für Sexualreform,
30. 6. bis 5. 7. 1928, zugunsten einer unterdrückten Varietät des Menschen.

Verehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kongressteilnehmer!
Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Möglichkeit gegeben haben, die Gedanken vor Ihnen mittelbar zum Ausdruck zu bringen, die ich in Ihrer Mitte selber vortrüge, wenn ich nicht durch meine wirtschaftliche Lage gehindert wäre, die Reise nach Kopenhagen zu unternehmen.
Woran mir liegt, ist: das internationale Forum, das Sie errichtet haben, zu besteigen, um von ihm aus der Welt zuzurufen: Eine seltsame, aber vollwertige, unschädliche, unschuldige Spielart des Menschen existiert seit je unter allen Völkern und wird noch heute, als lebten wir im düstersten Mittelalter, von einem grossen Teil der Völker, unter Vorantritt ihrer Gesetzgeber, Regierungen und Richter, sinnlos und grausam verfolgt; die Welt der Geister, der forschenden und wegeweisenden Persönlichkeiten aller Nationen, stehe auf gegen diese Barbarei und gebiete ihr im Namen der Menschlichkeit Einhalt!
Die Spielart, von der ich spreche, ist jene Minderheit von Menschen, die ihr Liebestrieb nicht auf Vertreter des andern, sondern auf Vertreter des eignen Geschlechtes weist: sind die sogenannten Homosexuellen, Uranier oder Invertierten,
Man verfemt sie, weil, wie man sagt, ihr Fühlen und Handeln „widernatürlich" sei. Aber ihr Fühlen und Handeln wurzelt in ihrer Veranlagung ist ein Bestandteil ihres Charakters, wird ihnen von ihrer Natur vorgeschrieben ; und wenn die Geschichte aller primitiven und aller zivilisierten Völker uns das Vorhandensein solcher Minderheiten in allen Zeitaltern zeigt, so haben wir uns vor dieser Tatsache als einer eben natürlichen, wenn auch vielleicht erstaunlichen, zu beugen und haben zu versuchen, die Natur zu verstehen, nicht aber sie zu verleugnen und zu verleumden. Eine Naturerscheinung, die der Mehrheit unbegreiflich oder unbequem ist, hört deshalb nicht auf, eine Naturerscheinung zu sein. Die gleichgeschlechtliche Liebe ist kein Spott der Natur, sondern ein Spiel der Natur; und wer da-
gegen anführt, dass die Liebe bekanntlich der Arterhaltung diene, die gleichgeschlechtliche aber Geschlechtskraft zu anderen Zwecken als dem der Fortpflanzung verausgabe, der bedenkt nicht, in weicher Ueberfülle millionen-und billionenfach die Natur in allen ihren Reichen Samen verschwendet und dass, wie Nietzsche in der „Morgenröte" es ausdrückt, „die Zeugung eine oft eintretende gelegentliche Folge einer Art der Befriedigung des geschlechtlichen Triebes" ist, „nicht dessen Absicht, nicht dessen notwendige Wirkung". Die Theorie, wonach die Fortpflanzung der „Zweck" der Sexualität sei, wird gerade durch das Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe als eine voreilige, simplistische, falsche entlarvt. Naturgesetze, im Gegensatz zu Vernunftgesetzen, lassen sich überhaupt nicht übertreten. Die Behauptung, dass eine bestimmte Erscheinung in der Natur „widernatürlich" sei, enthält ausser dem Unsinn, den sie enthält, nichts. Aber diese unsinnige Behauptung schleppt sich seit vielen Jahrhunderten durch Literaturen und durch Gesetzgebungen, und selbst sehr berühmte Aufklärer machten den Unsinn mit.
Noch in jüngster Zeit hat ein weltbekannter Wortführer der europäischen Linken, Henri Barbusse, seinem Wissen und seiner Denkkraft ein wenig günstiges Zeugnis ausgestellt, als er (in der Pariser Zeitschrift „Les Marges" vom 15. März 1926) auf eine Rundfrage über Homosexualität antwortete: „Ich meine, diese Verkehrung eines natürlichen Instinkts ist, gleich vielen andern Perversionen, ein Merkmal des tiefei sozialen und sittlichen Verfalls eines bestimmten Teiles der gegenwärtigen Gesellschaft. Zu allen Zeiten zeigten sich die Zeichen des Verfalls in Raffiniertheiten und Anomalien des Sinnes-, des Empfindungs-, des Gefühlslebens." Man muss Herrn Barbusse erwidern, dass die angeblichen „Raffiniertheiten", von denen er, ein populäres Missverständnis kritiklos nachplappernd, spricht, sich in Zeiten des Aufsteigs einer Rasse allemal genau so gezeigt haben wie in Zeiten ihres Niedergangs; dass zum Beispiel aus der Jugend- und Blütezeit Griechenlands sich die Liebe zwischen Mann und Jüngling so wenig fortdenken lässt wie aus der Glanzzeit der islamischen Kulturen oder aus der Epoche Michelangelos; und dass ein Marxist sich lächerlich macht, wenn er die Homosexualität der Gegenwart mit dem Klassenkampf in Zusammenhang bringt, insofern er sie als ein Merkmal des „sittlichen Verfalls" eines „bestimmten Teils", nämlich des bürgerlichen Teils der Gesellschaft deutet: als ob die gleichgeschlechtliche Liebe unter Proletariern aller Art, unter Arbeitern, Bauern, Angestellten, kleinen Leuten sämtlicher Berufszweige, nicht oder nicht in gleichem Masse vorkäme wie unter Besitzenden! Die Erfahrung der Sexuologen und Psychotherapeuten lehrt das Gegenteil. Die Natur, wenn sie unter den Menschen ihre wunderlichen Spielarten schafft, macht vor keiner sozialen Klasse halt. Richtig ist, dass der Proletarier in der Regel weniger Zeit und Mittel als der Besitzende hat, sich den Freuden des Geschlechtsgenusses hinzugeben, auch den sublimeren einer sublimier-
ten Erotik; und dies ist, unter vielen Gründen, ein Grand, der den Kämpfer fürs Menschenglück zum Sozialismus führt ... oder führen sollte. Aber das gilt für die breite andersgeschlechtlich gerichtete Masse der Proletarier genau so wie für ihre gleichgeschlechtlich gerichtete Minderheit. Hört man von der Homosexualität der bescheidenen kleinen Leute in der Öffentlichkeit viel seltener als von der aus grossbürgerlichen Luxuskreisen, so ist es doch ungemein oberflächlich, daraus herzuleiten, das sie eine Art Monopol der Bourgeoisie sei. Man muss vielmehr erkennen, dass die Verfemung des gleichgeschlechtlichen Eros den homosexuellen Proletarier noch härter trifft als den homosexuellen Kapitalisten: weil der Kapitalist infolge aller Gelegenheiten und Hilfsmittel, über die er verfügt, ihr leichter entrinnen kann. Jedenfalls werden die gleichgeschlechtlich veranlagten Arbeiter Herrn Barbusse wenig Dank wissen, wenn er über das angebliche „Wohlgefallen", mit dem einige Schriftsteller ihr „delikates Talent" in den Dienst der homosexuellen Frage stellen, „während unsere alte Welt in furchtbaren ökonomischen und sozialen Krisen zuckt", giftig äussert, es mache „dieser dekadenten Intellektuellenphalanx keine Ehre" und könne „nur die Verachtung steigern, welche die gesunde und junge Volkskraft diesen Vertretern krankhafter und künstlicher Doktrinen entgegenbringt". — Die „furchtbaren ökonomischen und sozialen Krisen", in denen die Welt „zuckt", hindern Herrn Barbusse offenbar, sich von einem Vorurteil zu lösen, das er mit den rückständigsten Leuten aller Nationen teilt. Der Kaiser Napoleon und sein Kanzler Cambaceres, als sie in ihrem Strafgesetzbuch die homosexuellen Handlungen freigaben, waren vor vier Menschenaltern revolutionärer als dieser Revolutionär von heute, der über eine Materie, von der er nichts versteht, in der gleichen Melodie moralisch phrasiert wie die reaktionärsten deutschen Ministerialdirektoren, wenn sie „Motive" dichten zu Gesetzenwürfen über Materien, von denen sie gleichfalls nichts verstehen. „Verachtung", „gesunde Volkskraft" und „krankhafte Doktrinen" — das haben wir von den konservativ-klerikalen Juristen aus der Wilhelmszeit auch immer gehört.
In dem Augenblick, wo Sowjetrussland die Strafbarkeit homosexueller Handlungen (als solcher) aufhebt, wo der Fascismus sich anschickt, sie in Italien, welches sie seit Generationen nicht kennt, wiedereinzuführen, wo in Deutschland und einigen andern Ländern Reaktion und Fortschritt heftig um dieses Problem ringen, kommt Genosse Barbusse, Mitglied der Dritten Internationale, und fällt mit seinen von Sachkenntnis unbeschwerten, muckerischen, hetzerischen Tiraden gegen diese doch schon hinreichend gehetzte Species Mensch den Kämpfern für eine gute, aber naturgemäss unvolkstümliche Sache der Freiheit skrupellos in den Rücken!
Ich bedaure, dass ich genötigt bin, einem Meister, dessen dichterische und politisch-philosophische Arbeit ich sonst so schätze, so grobe Wahrheiten zu sagen; aber je höher der steht, der konservative Irrlehren ver-
breitet, desto schärfer muss man ihn zurückweisen; denn desto gefährlicher sind sie.
Es ist nicht wahr, dass die Homosexualität ein „Verfalls"-Merkmal oder überhaupt etwas Krankhaftes sei. Menschen von blühender physischer Gesundheit, von unbezweifelbarer seelischer Intaktheit und von grosser geistiger Kraft sind Träger dieser Veranlagung gewesen — gerade so, wie Schwache, Labile und Inferiore oft ihre Träger sind. Es gibt minderwertige, durchschnittswertige und überwertige Homosexuelle — genau, wie es minderwertige, durchschnittswertige und überwenige Heterosexuelle gibt. Nicht zur Regel, zur „Norm", sondern zur Ausnahme, zur Minderheit, zur Spielart zu gehören, ist an sich weder ein degeneratives noch ein pathologisches Symptom. Auch rote Haare zu haben, ist weder dekadent noch krankhaft. Wenn es wahr ist, dass der Prozentzatz der seelisch Schwachen, Verschrobenen, Gleichgewichtslosen, der Hypersensitiven und Ueberreizten unter Homosexuellen grösser ist als unter Personen mit der regulären Triebrichtung, so muss man nicht der Anlage, sondern der Lage dieser Menschen die Schuld geben: Wer ständig unter dem Druck von Anschauungen und Gesetzen lebt, die seine Eigenart zur Minderwertigkeit stempeln, muss von Natur ungewöhnlich robust sein, um in jeder Hinsicht vollwertig zu bleiben. Wird man von den Homosexuellen den fruchtbaren Druck der Verachtung und Verfolgung, der auf ihnen lastet, nehmen, so wird das Neu-ropathische an ihnen in demselben Grade schwinden, in dem die schöpferischen Werte ihres Wesens, besonders jene erzieherischen, von denen schon Platon schrieb, rar Geltung gelangen werden. Es kommt darauf an, die Gleichgeschlechtlichen in die allgemeine soziale Kultur einzubauen, der Homosexualität den Platz in der Gesellschaft anzuweisen, von dem aus sie produktiv wirken kann; sie hat nämlich ihre eigene Fruchtbarkeit. Hellas — vor allem Sparta — wusste darum und verstand, aus diesem Wissendie praktische Konsequenz zu ziehen.
Aber bevor man der Homosexualität jene positive und sublime Rolle im Staate zuweist, die ihrer Eigenheit entspricht und die zugleich dem Staate dient, ist vorerst die negative, befreierische und humanitäre Aktion, die sich aufs Gröbste bezieht, zu vollenden: dass die öffentliche Aechtung, unter der diese Spielart leidet, in allen Ländern aufgehoben wird. Es handelt sich dabei ganz gewiss nicht nur um das Strafgesetz; aber um das Strafgesetz handelt sichs in erster Linie.
England (man erinnere sich der Tragödie Oscar Wildes), die Vereinigten Staaten nebst Argentinien und Chile, Deutschland mit Oesterreich, einige skandinavische, Ost- und Balkanländer, ferner die deutschen Kantone der Schweiz bestrafen homosexuelle Handlungen, die zwischen voll willensfähigen Erwachsenen bei gegenseitigem freien Einverständnis vorgenommen worden sind, noch immer (nur die homosexuellen Frauen sind meist privi-
legiert!), und rwar drohen sie zum Teil langfristige Kerkerstrafen an. Der deutsche Strafgesetzentwurf von 1925 versteigt sich bis zu zehn Jahren Zuchthaus!
Nicht die Gesellschaft in diesen Ländern, sondern die Zunft der Erpresser profitiert davon, und Tausende sozial wertvoller Existenzen werden 2errüttet. Frankreich — trotz Herrn Barbusse — und mit Frankreich die grosse Mehrheit der lateinischen Staaten kennt die Bestrafung nicht mehr; auch die Länder des Islam, auch China und Japan kennen sie nicht; auch Sowjetrussland hat sie, wie ich schon erwähnte, beseitigt.
Klar ist, dass gesellschaftsschädliches Verhalten auf dem Gebiete der gleichgeschlechtlichen Liebe im selben Masse strafwürdig bleibt wie gesellschaftsschädliches Verhalten auf dem Gebiete der andersgeschlechtlichen Liebe; dass also die freie sexuelle Selbstbestimmung der Erwachsenen und die Unerfahrenheit geschlechtsunreifer Jugend strafrechtlich geschützt sein, dass auch der Missbrauch wirtschaftlicher oder amtlicher Abhängigkeit zu Lustzwecken verboten werden muss und die Erregung von Aergernis auf öffentlichen Strassen und Plätzen — bei völliger Parität zwischen hetero-und homosexuellem Handeln. Wer behauptet, dass die auf Befreiung der Homosexuellen abzielende Kulturbewegung der Hemmungslosigkeir gefährlicher Lüstlinge einen Freibrief ausgestellt sehen möchte und über den Interessen der Abnormen die Interessen der Gesellschaft vernachlässige, der lügt. Die Interessen der Geseilschaft stehen voran; aber ich frage, ob die Interessen der Gesellschaft fordern, dass Menschen, bloss weil ihr Liebesgeschmack von dem der Mehrheit abweicht, für Handlungen, durch die niemand geschädigt worden ist, ins Gefängnis geworfen, entehrt und sozial vernichtet werden. Ich frage, ob dem Interesse der Gesellschaft gedient ist, wenn das Gesetz eine Minderheit ihrer Mitglieder bei schwerer Strafe zu lebenslanger geschlechtlicher Enhaltsamkeir oder zu dauernder Selbstbefriedigung nötigt (also sie in die Lage lebenslänglicher Zuchthäusler bringt) — eine Minderheit, wohlgemerkt die, falls sie ihrer Narur folgt, nicht den geringsten Schaden stiftet. Dass Knabenschänder und homosexuelle Lustmörder geschützt werden sollen, davon ist ja nicht die Rede!
Prüderie, im Zusammenhang mit monströsen, der Wirklichkeit widersprechenden Vorstellungen über die Formen des Liebesverkehrs der Gleichgeschlechtlichen verhindert die breite öffentliche Aussprache über das Problem - gerade in den Ländern, auf die es ankommt. Und mehr noch als die Prüderie: die Stumpfheit der persönlich Uninteressierten, in der Masse und unter den Intellektuellen. Es gehört schon ein reiches Mass von Gerechtigkeitssinn und Noblesse dazu, sich einer zu Unrecht verfolgten Minderheit anzunehmen, der man nicht angehört. Aber glücklicherweise gibt es noch immer einer bedeutende Anzahl von Menschen, die sich durch solche Fairness auszeichnen. Diese Menschen begreifen, dass ein Zeitalter,
dessen Sorge um die nationalen Minderheiten so ausserordentlich lebhaft und tätig ist, sich auch aufraffen muss, eine Minderheit zu schützen, die zwar keine nationale, die aber in allen Staaten anzutreffen und die eine um so schutzwürdigere ist, als es keinen Staat der Welt gibt, in dem sie die Mehrheit hätte und an den sie sich gleich den nationalen Minderheiten, anlehnen könnte. Das internationale Minderheitenrecht, das sich langsam herausbildet, sollte nicht nur die nationalen, die rassischen und die religiösen, sondern auch die psycho-biologischen, die sexuellen Minderheiten, soweit sie unschädlich sind, unter seinen Schutz nehmen; und wenn der Zweite Internationale Kongress für Sexualreform sich für diesen Gedanken aussprechen wollte, so wäre das eine mutige Tat sittlicher Vernunft.